Skip to main content

Full text of "Abhandlungen zur Erd- und Völkerkunde"

See other formats


m 


^^,- 


J^JÜ^' 


.i 


w% 


t%^ 


& 


ABHANDLUNGEN 


ERD-  UND  VÖLKERKUNDE. 


NEUE  FOLGE. 


ABHANDLUNGEN 


ERD-  UND  VÖLKERKUNDE 


OSCAR    PESCHEL. 


HERAUSGEGEBEN 

r  VON 

j!:'  Löwenberg. 


NEUE  FOLGE. 


.mi^ 


54G518  ■ 


LEIPZIG, 

VERLAG  VON  DUNCKER  &  HUMBLOT 
1878. 


Das  Recht  der  Uebersetzung  in  fremde  Sprachen,  wie  alle  anderen  Rechte  vorbehalten. 


^0. 


Vorwort. 


Die  vor  noch  nicht  voller  Jahresfrist  erschienenen  „Ab- 
handlungen zur  Erd-  und  Völkerkunde  von  Oscar  Peschel" 
haben  eine  so  günstige  Kritik  und  Aufnahme  gefunden,  dass 
es  zweckmässig  schien,  eine  Fortsetzung  derselben  in  einem 
zweiten  Bande  zu  geben.  Wir  weichen  daher  von  dem  ur- 
sprünglichen Plane  zur  Herausgabe  der  anderweitigen  Abhand- 
lungen Peschels  etwas  ab,  und  geben  auch  in  diesem  Bande 
lediglich  Abhandlungen  erd-  und  völkerkundlichen  In- 
halts. Derselbe  ist  indess  nichts  desto  weniger  ein  selbst- 
ständiges Ganzes,  wenn  er  sich  auch  seinem  Vorgänger 
nach  Form  und  Inhalt  vollkommen  anschliesst.  Die  Gruppi- 
rung  des  Einzelnen  ist  wie  früher  nach  Zusammengehörigkeit 
möglichst  chronologisch  geordnet,  und  mit  Pietät  jede  sach- 
liche Emendation  von  Nachträgen,  Berichtigungen  aus  späterer 
Zeit  als  nicht  hergehörig  fern  geblieben ,  weil  es  auch  hier 
wesentlich  darauf  ankam ,  Alles  nur  so  wiederzugeben ,  wie 
Peschel  es  zu  einer  bestimmten  Zeit  niedergeschrieben  hatte. 
Daher  ist  auch  bei  jeder  Abhandlung  das  Datum  ihres  Er- 
scheinens sorgfältig  angegeben. 

Leipzig  im  April   1878. 

J.  Loew^enberg. 


Inhalt. 


Seite 

I.     Zur  Geschichte  der  Geographie. 

1.  Ibn  Batuta 3 

2.  Massudi's  goldne  Wiesen  und  Edelsteingruben 18 

3.  Der  arabische  Geograph  Ibn-Chordadbeh 43 

4.  Christian  Lassen  über  die  Geschichte  des  indischen  Handels  im  Mit- 

telalter      49 

5.  Friedrich  Kunstmann  über  die  frühesten  directen  Handelsverbindungen 

der  Deutschen  mit  Indien 60 

6.  Die  früheren  Christenverfolgungen  in  Japan 65 

7.  Die  57.  Ausgabe  des  Marco  Polo 75 

8.  Die  mittelalterl.   Handelsniederlassungen  der   Italiener    in    d.  Levante  85 

9.  Die  italienischen    Colonien    in  der   Krim    und  am  Don  im  Mittelalter  90 

10.  Reisen   des  Johannes  Schiltberger 105 

11.  Pflege   der  Erdkunde  in  Italien III 

12.  Lebensbeschreibung  und  Würdigung  Gerh.  Mercators 119 

13.  Zur   Geschichte   der   holländischen    Colonien    und  überseeischen  Ent- 

deckungen        127 

14.  Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren    1849 — 1856 137 

II.  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

1.  lieber  die  Pluralität  der   Welten 187 

2.  Was  ist  eine  Sonne 203 

3.  Ueber  die  Gestalt  der  Erde 210 

4.  Ueber  die  Aufgaben  der  heutigen  Erdmessungen 223 

5.  Zur  Geschichte  des  Pflanzenreiches 234 

6.  Die  Rolle   der  Gewürze  im  Welthandel  und    auf  der  Londoner    Aus- 

stellung       252 

7.  Die    narcotischen    und    einige    exotische   Genussmittel    im  Welthandel 

und  auf  der  Londoner  Ausstellung 261 

8.  Ueber  die  Veränderungen  in   der  Ernährung  der  europäischen  Völker 

seit  dem  sechzehnten  Jahrhundert 271 

9.  Ueber  das  gegenwärtige  Wissen  von  den   Erdbeben 281 

10.  Thäler  und  Seen  in  den  Schweizer  Alpen 293 

1 1 .  Die  Naturgesetze  der  Verbreitung  des  Goldes  auf  der  Erde      .     .     .  305 

12.  Die  Alpenreisen  als  geistiges  Bildungsmittel 314 

III.     Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 

1.  Ueber  den  Mann  im  Monde 327 

2.  Ueber  den  Baum-  und  Schlangendienst 338 

3.  Die  australischen  Goldfelder 344 

4.  Der  Werth  Indiens  für  England 360 

5.  Süd  und  Nord   in   Deutschland 366 

6.  Wanderziele  der    Deutschen 375 

7.  Ferienreisen 418 

1855.  ^'"^  Rigifahrt.  —  Das  Reussthal.  —  Ueber  den  Oberalp- 
pass  nach  Graubünden.  S.  418.  —  1858,  Ein  Ausflug  in  die  Salzburger 
und  Tiroler  Alpen  S.  430.  —  1865.  Eine  Ferienreise  nach  dem 
Mittelmeer:  I.  Von  Lyon  nach  Nizza.  —  II.  Die  Riviera  di  Po- 
nente.  —  III.  Genua.  —  IV.  Der  Corner  See.  S.  449  —  1869. 
Eine  Ferienreise   über  den   Apennin.     S.  489. 

Nachtrag 544 


I. 

Zur    Geschichte    der   Geographie. 


Pescliel,  AbhandUuigen      II. 


1.    Ibn  Batuta. 

(Ausland   1855.     Nr.   19.     11.   Mai.) 

Wenige  Dinge  gewähren  eine  höhere  geistige  Erfrischung  als 
die  Leetüre  mittelalterlicher  Reisebeschreibungen.  In  höherem 
Grade  noch  als  die  reinhistorischen  Quellen  vermögen  sie  uns',, in 
den  Geist  der  Zeiten  zu  versetzen",  denn  das  zeitlich  Ferne  wird 
zur  unmittelbaren  Gegenwart.  Wir  verkehren  mit  Völkern  und 
mit  Zuständen,  die  längst  der  Geschichte  verfallen  sind,  aber  alles 
ist  noch  neu,  alles  ist  noch  voller  Ansprüche,  alles  hofft  noch  auf 
die  Zukunft.  Diese  Zukunft  ist  den  Menschen,  mit  denen  wir 
Bekanntschaft  machen,  verschleiert,  uns  aber  ist  sie  bekannt. 
Was  damals  Zukunft  war,  ist  die  letzte  Vergangenheit  eines  hal- 
ben Jahrtausends.  Unser  historisches  Wissen  gleicht  daher  einem 
prophetischen  Blick  über  Zeitdistanzen  hinweg,  die  für  uns  be- 
schränkten Geschöpfe  einer  Unendlichkeit  gleichen.  Auf  diese 
Art  wird  es  uns  vergönnt  die  Empfindungen  göttlicher  Vorsehung 
zu  ahnen.  Wir  schauen  gegenwärtigen  Dingen  über  die  Schulter 
hinweg,  wir  sehen  sie  beschäftigt  ihrem  Untergang  zueilen ,  wäh- 
rend rings  herum  das  Gefühl  herrscht,  als  wolle  die  Welt  sich 
niemals  ändern. 

Die  arabische  Ausgabe  mit  französischer  Uebersetzung  des 
zweiten   Bandes   von    Ibn  Batuta   ist  eben    erschienen  ^),    und    wir 


i)  Voyages  d'Ibn  Bathouta,  texte  araue,  accompagne  d'une  traduction  par 
C.  Defremery  et  le  Dr.  B.  R,  Sanguinetti.  Tome  II.  [Die  Besprechung  des 
I.  Bandes,  Ausland  1853,  war  nicht  von  Peschel ,  dagegen  besprach  er  ausser 
dem  II.  auch  den  III.  und  IV.  Band:  Ausland  1856  Nr.  19,  1858  Nr.  46. 
47 ;  von  der  Aufnahme  dieser  Artikel  konnte  hier  bei  beschränktem  Räume 
um  so  mehr  Abstand  genommen  werden,  weil  der  obenstehehde  Artikel  schon 
allein  ein  Gesammtbild  von  I.   B.  giebt.     A.  d.  H.l 


A  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

durchwandern  darin  mit  dem  Reisenden  das  jetzt  so  gewaltig 
belebte  Gebiet  der  „orientalischen  Frage".  Man  hat  Ibn  Batuta 
den  arabischen  Herodot  und  den  Vater  des  geographischen  Wis- 
sens genannt.  Man  hatte  grosses  Unrecht.  Er  ward  am  Beginn 
des  14.  Jahrhunderts  geboren,  und  ist  daher  nicht  der  Vater, 
sondern  einer  der  spät  gebornen  Enkel  arabischer  Geographen. 
Er  ist  und  bleibt  aber  nach  Ritters  Ausspruch  der  grösste  Con- 
tinentalreisende,  den  je  ein  Volk  aufzuweisen  gehabt  hat.  In  Tanger 
geboren,  von  Herkunft  ein  Berber,  aber  islamitisch  erzogen,  geht 
er  zuerst  nach  Aegypten  bis  zu  den  Katarakten  hinauf.  Dann 
besucht  er  die  heiligen  Wallfahrtsorte  in  Syrien  und  Arabien. 
Wir  sehen  ihn  ferner  im  südlichen  Persien,  in  Ormuz,  von  wo  er 
sich  einschifft  nach  Zanguebar,  der  Ostküste  Afrika's,  die  er  bis 
Quiloa  besucht.  Er  kehrt  darauf  um,  reist  durch  Kleinasien,  durch 
die  Reiche  des  damals  erwachenden  osmanischen  Staates,  nach 
Sinope  und  nach  der  Krim,  die  damals  unter  genuesischer  Herr- 
schaft die  höchste  Blüthe  erreicht.  Wir  finden  ihn  dann  in  Süd- 
russland am  Hofe  der  Tataren-Chane  des  Kiptschak,  wir  begleiten 
ihn  nach  Astrachan  und  nach  der  grossen  Tatarenstadt  Sarai, 
die  so  völlig  vom  Erdboden  verschwunden,  dass  sie  nicht  mehr 
mit  Sicherheit  geographisch  sich  fixiren  lässt.  EndUch  geht  er  in 
Begleitung  einer  griechischen  Prinzessin  in  die  Stadt  der  Ungläu- 
bigen, nach  Konstantinopel.  So  weit  reicht  der  zweite  Band, 
allein  die  Reisen  des  berühmten  Arabers  reichen  viel  weiter.  Er 
besucht  die  Bucharei,  Indien,  die  Maldiven,  Ceylon,  Sumatra, 
China. 

Er  kehrt  zurück  in  sein  afrikanisches  Heimathland,  von  da 
nach  dem  arabischen  Spanien,  und  begleitet  die  Gesandtschaft 
eines  marokkanischen  Königs  bis  nach  Timbuktu,  dem  westafrika- 
nischen Babylon,  über  dessen  Breite  und  Länge  die  Europäer  des 
19.  Jahrhunderts  selbst  nach  Dr.  Barths  Vermessungen  sich  noch 
immer  streiten.  Vielleicht  staunt  mancher  Leser,  dass  im  Beginn 
des  14.  Jahrhunderts  Reisen  von  dieser  Ausdehnung  überhaupt 
unternommen  werden  konnten ,  die  mehr  als  das  Doppelte  von 
dem  betragen,  was  die  FamiUe  der  Poli  ein  halbes  Jahrhundert 
früher  unter  grossen  Gefahren  zurückgelegt.  Es  war  aber  damals 
für  Lateiner  viel  schwieriger  zu  reisen,  als  für  Bekenner  des  Islam, 
Im  12.  Jahrhundert  sehen  wir  den  spanischen  Juden  Benjamin 
durch  Aegypten,  Syrien,  Mesopotamien  bis  nach  Persien  vordringen. 


Ibn  Batuta.  e 

Diess  war  ihm  nur  möglich,  weil  die  Judenschaft  des  Abendlandes 
und  des  Morgenlandes  in  einem  geheimen  Verkehr  stand.  Ueber- 
all  wo  er  hinkommt,  findet  er  befreundete  Gemeinden,  die  ihn 
aufnehmen  und  mit  Reisegeldern  ausstatten,  und  zwar  an  den 
Grenzen  von  Tübet,  in  Samarkand  so  gut  wie  in  Palermo,  und 
in  den  Judenstädten  am  Rhein,  in  Coblenz,  x\ndernach,  Kaub, 
Kreuznach,  Bingen,  Germersheim,  wo  überall  Synagogen  standen. 
Was  ein  Jude  im  12.  Jahrhundert  leistete,  musste  einem  Araber 
im   14.  Jahrhundert  viel  leichter  werden. 

Die  Pilger  fanden  an  allen  morgenländischen  Höfen  gastliche 
Aufnahme,  und  sie  wurden  mit  den  reichsten  Geschenken  ent- 
lassen ;  es  bestanden  sogar  zu  ihrer  Aufnahme  Institute  und  milde 
Stiftungen.  Von  Aegypten  aus  erhielt  Ibn  Batuta  nach  den  grössten 
indischen  Städten  Empfehlungsbriefe.  Der  Islam  aber  reichte  da- 
mals noch  über  Indien  hinaus.  In  den  chinesischen  Küstenplätzen 
gab  es  arabische  Quartiere  mit  Tausenden  von  Einwohnern,  die 
ihren  eigenen  Gemeindeverband  besassen.  Ibn  Batuta  traf  in 
China  einen  Jugendfreund  aus  Ceuta,  der  am  Hofe  von  Delhi  ein 
hohes  Amt  bekleidet  und  in  China  später  ein  grosses  Vermögen 
sich  erworben  hatte.  Dem  Bruder  dieses  Freundes  begegnete  er 
später  im  Innern  Afrika,  und  er  selbst  kann  das  Staunen  nicht 
unterdrücken.  „Welche  Entfernung",  ruft  er  aus,  „trennt  nicht 
diese  Brüder!"  Und  Ibn  Batuta  wusste  was  Entfernung  war,  da- 
mals, wo  man  zu  Fuss  oder  im  Sattel,  selten  zu  Schiff,  und  auf 
welchen    Schiffen,  reisen  musste. 

Es  war  in  den  dreissiger  Jahren  des  14.  Jahrhunderts,  als 
Ibn  Batuta  Kleinasien  der  Kreuz  und  der  Quere  durchstrich. 
Damals  befanden  sich  jene  Länder  auch  in  einer  ,,orientaUschen 
Krisis",  und  gerade  dieser  Zustand  ist  es,  der  Ibn  Batuta's  Schil- 
derungen einen  populären  Reiz  für  unsere  Gegenwart  giebt.  Die 
Herrschaft  der  Christen  in  Syrien  war  im  Jahr  1291  vöUig  er- 
loschen. Die  Kreuzzüge,  auch  ein  Stück  ,, orientalischer  Frage", 
waren  geschlossen,  die  Handelscolonien  der  Mittelmeerstädte  waren 
verloren,  der  indische  Handelsweg  führte  über  Alexandria,  und 
Europa  seufzte  unter  den  Tarifen  der  ägyptischen  Sultane,  welche 
ihr  Monopol  unbarmherzig  ausbeuteten.  Es  gab  damals  nur  drei 
Seemächte  im  Mittelmeer;  die  genuesische,  die  venetianische  und 
die  catalanische.  Pisa's  Macht  hatte  das  erste  Jahrhundert  der 
Kreuzzüge  nicht  überdauert,  und   der    griechischen    Marine    wurde 


(f  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

mehrmals  von  den  Genuesen  der  Handel  nach  dem  schwarzen 
Meere  untersagt. 

Es  hatte  also  jenes  Jahrhundert  begonnen,  wo  sich  Venedig 
und  Genua  um  die  Herrschaft  der  damaligen  maritimen  Welt 
streiten  sollten.  Die  Genueser  waren  augenblicklich  im  VortheiL 
Sie  hatten  das  lateinische  Kaiserreich  gestürzt,  sie  waren  factisch 
die  Herren  von  Konstantinopel,  und  sie  durften  eine  Zeit  lang 
das  schwarze  Meer  den  Venetianern  schliessen.  Richteten  die 
Genueser  ihr  Hauptaugenmerk  auf  Pera,  Trapezunt  und  Kaffa  auf 
der  Krim,  so  legten  die  Venetianer  den  höheren  Werth  auf  ihre 
alexandrinischen  A'erbindungen.  Die  einen  nährte  der  Pontus,  die 
andern  der  Nil.  Inzwischen  waren  beide  Seemächte  bedacht  sich 
gegenseitig  zu  beschädigen  und  zu  verkürzen,  und  das  14,  Jahr- 
hundert ist  der  Zeitraum,  wo  sich  der  Verfall  des  mächtigen  Ge- 
nua vorbereitete,  welches  sich  zweier  Feinde,  der  Venetianer  und 
der  ihnen  alliirten  Catalanen,  zugleich  nicht  erwehren  konnte. 

Um  die  nämliche  Zeit  als  die  letzte  Festung  der  Lateiner  in 
Syrien  verloren  ging,  war  auch  das  grosse  seldschukische  Reich 
in  Trümmer  gefallen.  Im  13.  Jahrhundert  schien  es,  als  bereite 
dieser  Verfall  eine  ungeheure  Continentalherrschaft  vor,  und  als  wür- 
den die  Enkel  Dschingis  Chans  von  Peking  bis  nach  Cairo  ihre 
Herrschaft  ausdehnen.  Die  Macht  des  Mongolenreiches  aber  ward 
schon  am  Ausgange  des  Jahrhunderts  gebrochen,  und  sie  war  in 
Kleinasien  nicht  mehr  dem  Einfluss  einer  andern  orientalischen 
Grossmacht  gewachsen.  Die  Mamelukkensultane  in  Aegypten 
waren  offenbar  die  stärksten  politischen  Säulen  des  Islam,  und 
seitdem  die  Mongolenherrschaft  aufgehört,  schienen  sie  zur  Erb- 
schaft der  Seldschukenherrscher  von  Ikonium  berufen.  Ibn  Batuta 
zählt  einmal  die  Grossmächte  seiner  Zeit  auf.  Er  nennt  deren 
sieben,  nämlich  als  guter  Unterthan  zuerst  den  Sultan  von  Fez, 
2)  den  Sultan  von  Aegypten  und  Syrien,  3)  den  Sultan  der  beiden 
Irak,  4)  den  Sultan  Usbek  (Tataren  -  Chan  von  Kiptschak),  5)  den 
Sultan  von  Turkistan  und  Transoxanien,  6)  den  ,, Sultan  von  In- 
dien" und  y)  den  Kaiser  von  China.  Was  ist  aus  diesen  Gross- 
mächten geworden  gegenüber  dem  damals  durch  seine  Feudalver- 
fassungen kraftlosen  Europa?  Und  man  bemerke  wohl,  dass  Ibn 
Batuta  ganz  schweigt  von  einer  bereits  gebornen  [Macht,  von  der 
jungen  osmanischen  Dynastie. 

Wer  ahnte  damals,  dass  eine  neue  Grossmacht    in    den    Win- 


Ibn  Batuta.  n 

dein  lag,  welche  die  seldschukische  Erbschaft,  das  griechische 
Reich,  die  Tataren  von  Kiptschak  und  das  ägyptische  Sultanat 
verschlingen  würde?  Durch  Ibn  Batuta  lernen  wir  die  unzähligen 
,, Sultane"  kennen,  die  in  jeder  grössern  Stadt  zwischen  dem 
schwarzen  Meer  und  dem  persischen  Meerbusen  ihren  Hofstaat 
hielten.  Die  politische  Karte  von  Kleinasien  gUch  damals  der 
Karte  des  deutschen  Reiches  im   i6.  Jahrhundert. 

Hören  wir  jetzt  unsern  Reisenden. 

Er  kommt  nach  Brussa  und  findet  dort  eine  grosse  Stadt  mit 
geräumigem  Marktplatze  und  breiten  Strassen,  umgeben  von 
Gärten  und  ernährt  von  lebendigem  Gewässer,  Er  beschreibt  uns 
die  warmen  Quellen  und  die  Bäder  für  Männer  und  Frauen,  er 
vergisst  auch  nicht,  dass  sich  dort  ein  Kloster  und  eine  Pilger- 
herberge befindet,  die  von  einem  turkmanischen  Fürsten  gestiftet 
worden,  und  wo  man  drei  Tage  frei  verpflegt  wird.  Von  dem 
,, Sultan  von  Brussa",  dem  Sohne  Osmans  des  Kleinen,  von  Ur- 
chan  Bech,  erzählt  er:  „Dieser  Sultan  ist  der  mächtigste  unter 
den  Türkenkönigen,  der  reichste  an  Schätzen,  an  Städten,  an 
Soldaten.  Er  besitzt  mehr  als  hundert  feste  Burgen,  die  er  der 
Runde  nach  besucht,  um  sie  zu  beaufsichtigen  und  ausbessern  zu 
lassen.  Man  behauptet,  er  wohne  nie  länger  als  einen  Monat  in 
einer  Stadt.  Er  kämpft  gegen  die  Ungläubigen  und  belagert  sie. 
Sein  Vater  hat  den  Griechen  Brussa  abgenommen,  und  das  Grab 
dieses  Fürsten  wird  in  der  Moschee  der  Stadt,  einer  ehemaligen 
christlichen  Kirche,  gezeigt.  Man  erzählt,  dieser  Fürst  habe 
zwanzig  Jahre  lang.  Isnik  (Nicäa)  belagert  und  sei  darüber  gestor- 
ben. Sein  Sohn  setzte  die  Belagerung  noch  zwölf  Jahre  fort  und 
bemeisterte  sich  endlich  der  Stadt.  Dort  war  es  auch,  wo  ich  ihn 
traf  und  er  mich  reichlich  mit  Geld  beschenkte."  Das  Reisetage- 
buch wendet  sich  nun  andern  Dingen  zu,  und  Ibn  Batuta  ahnet 
nicht,  dass  120  und  190  Jahre  später  die  Enkel  dieser  „Sultane 
von  Brussa"  siegreich  einziehen  würden  in  die  grössten  Städte  der 
mittelalterlichen  Welt,  in  Konstantinopel  und  in  Cairo. 

Der  Reisende  begiebt  sich  nach  Sinope,  welches  damals  dem 
Sultan  Soliman  von  Kastamunija  gehörte.  Die  peninsular  gele- 
gene Stadt  selbst  war  damals  noch  sehr  volkreich,  sie  vereine 
Stärke  mit  Schönheit,  das  Meer  umspüle  sie  von  allen  Seiten,  mit 
Ausnahme  gegen  Osten.  Ausserhalb  der  Stadt  lag  ein  Berges- 
vorsprung    hart    am    Meer,    der   den    Araber   an    den    Hafen  von 


^  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Ceuta  erinnert.  Oben  findet  er  Weingärten,  Feldbau  und  Wasser- 
reichthum.  Die  Anhöhe  sei  so  steil,  dass  sie  einen  Angriff  mit 
Sturmleitern  aushalten  könnte.  Oben  fänden  sich  eilf  Ortschaf- 
ten ungläubiger  Griechen,  die  unter  muselmännischer  Schutzherr- 
schaft lebten.  Ibn  Batuta  rühmt  uns  dann  die  marmorne  Pracht 
der  Hauptmoschee,  die  von  einem  Fürsten  der  früheren  Dynastie 
erbaut  ward,  ehe  sich  Soliman  auf  den  Thron  schwang.  Der 
A^'orgänger  dieses  Fürsten  hiess  Ghazi  Tschelebi,  und  wir  erfahren 
hier  das  Geheimniss  der  Existenz  dieser  kleinen  Staaten.  Sie 
lebten  nämlich  von  Seeräuberei,  und  zwar  auf  Kosten  der  Grie- 
chen. ,, Tschelebi  bestieg  oft  seine  Kriegsschiffe,  um  die  Griechen 
zu  bekämpfen.  Wenn  die  beiden  Flotten  das  Gefecht  eröffnet, 
sprang  er  ins  Meer,  tauchte  unter  und  bohrte  mit  einem  spitzigen 
Eisen  die  feindlichen  Schiffe  an ,  die  Kämpfenden  merkten  erst 
ihre  Gefahr,  als  das  Schiff  bereits  sank."  Soliman  hatte  seinen 
Sohn  Ibrahim  als  Emir  nach  Sinope  gesetzt,  und  Ibn  Batuta  be- 
hauptet von  ihm,  er  sei  ein  Hadschischesser.  Der  Hadschisch, 
der  den  Assassinen  bekanntlich  den  Namen  gegeben,  scheint  da- 
mals in  Kleinasien  so  verbreitet  gewesen  zu  sein,  als  das  Opium 
im  heutigen  China.  Ibn  Batuta  sah  in  Sinope  auf  den  Stufen  zur 
grossen  Pforte  der  Moschee  öffentlich  mehrere  höhere  Officiere 
der  Landestruppen  sitzen,  die  sich  von  ihren  Bedienten  in  Säcken 
oder  Schachteln  ein  Pulver  reichen  Hessen,  das  wie  gelbes  Henna 
aussah,  und  welches  sie  mit  Löffeln  genossen.  Er  erfuhr  dann, 
dass  es  Hadschisch  sei,  jenes  berauschende  Mittel,  welches  in  den 
Erzählungen  des  ,, Alten  vom  Berge"  eine  so  wichtige  Rolle  spielt, 
Von  Sinope  schifft  sich  der  Reisende  auf  einem  griechischen 
Schiff  nach  der  Krim  ein.  Drei  Tage  bereits  auf  dem  schwarzen 
Meer  wird  das  Fahrzeug  durch  einen  Sturm  in  die  Nähe  von 
Sinope  zurückgeworfen,  und  erst  nach  einem  zweiten  Versuche 
nähern  sich  die  Reisenden  Kertsch,  wagen  aber  nicht  einzulaufen, 
sondern  landen  an  dem  Decht  Kiptschak,  an  der  Ebene  von  Kip- 
tschak ,  von  wo  sie  in  drei  Tagen  Kaffa  erreichen  und  in  der 
muselmännischen  Moschee  absteigen.  Kaffa  gehörte  damals  den 
Genuesen,  und  alle  seine  Bewohner  sind  in  den  Augen  unsers 
Arabers  Ketzer.  Der  fromme  Reisende  befahl  seinen  Begleitern 
auf  das  Minaret  zu  steigen  und  den  Ruf  zum  Gebet  erschallen 
zu  lassen.  Da  stellte  sich  ihm  ein  Muselmann  vor ,  der  sich  als 
Kadi  der  gläubigen  Gemeinde  in  Kaffa  zu  erkennen  gab  und  sich 


Ibn  Batuta.  n 

sehr  ängstlich  über  die  Folgen  von  Ibn  Batuta's  Kühnheit  äusserte. 
Es  geschah  indessen  nichts,  und  die  Lateiner  beunruhigten  die 
Araber  nicht  durch  Intoleranz.  Kaflfa  besitze  herrliche  Marktplätze. 
Der  Hafen,  den  sie  besuchten,  sei  wunderbar.  Sie  trafen  etwa 
200  Segel  an,  Kriegsschiffe  und  Kaufifahrer,  grosse  und  kleine- 
„Dieser  Hafen,  ruft  der  Araber  aus,  welcher  drei  Viertel  der  da- 
mals bekannten  Länder  durchwandert,  ist  einer  der  berühmtesten 
der  Welt."  Was  ist  aus  Kaffa  geworden,  seit  es  die  Türken  1475 
zerstörten  ?  Und  welcher  Hafen  hat  den  leeren  Platz  eingenommen  ? 
Ueber  Solghat  begiebt  sich  nun  Ibn  Batuta  nach  der  Haupt- 
stadt des  Tatarenreiches  von  Kiptschak,  nämlich  nach  Sarai  im 
Norden  des  kaspischen  Meeres,  durch  das  heutige  Land  der  doni- 
schen  Kosaken.  Er  hat  schon  früher  erwähnt,  dass  sich  dort  kein 
Strauch  und  kein  Baum  findet,  und  dass  die  Einwohner  nur  den 
Mist  der  Thiere  als  Brennstoff  benutzen  können.  Ibn  Batuta 
durchreist  die  Wüste  auf  tatarische  Art.  Er  verschafft  sich  näm- 
lich eine  Araba  oder  einen  Karren,  auf  dem  eine  Art  Pavillon 
errichtet  ist.  In  diesem  Häuschen  kann  er  lesen  und  schreiben. 
Es  ist  mit  Gitterfenstern  geschlossen,  durch  die  man  wohl  hinaus, 
nicht  aber  von  aussen  herein  sehen  kann.  Die  Türken')  beob- 
achten bei  ihren  Reisen  durch  jene  Ebenen  die  Methode  der  Pil- 
ger im  Hedschas.  Sie  brechen  mit  der  Morgenröthe  auf  und  la- 
gern um  neun  Uhr,  bis  sie  dann  wieder  von  Nachmittag  bis 
Abend  sich  in  Bewegung  setzen.  Sie  spannen  ihre  Pferde  aus 
und  lassen  sie  frei  grasen,  denn  die  Pferde  werden  nicht  gefüttert, 
sondern  finden  ihre  Nahrung  in  dem  Graswuchs  der  Steppe.  Die 
Lastthiere  sind  daher  ausserordentlich  zahlreich.  Niemand  hütet 
sie,  denn  die  Türken  bestrafen  den  Dieb  mit  neunfachem  Ersatz 
des  Gestohlenen,  oder  mit  der  Sklaverei,  wenn  er  Ersatz  nicht 
leisten  kann.  Natürlich  vergisst  der  Reisende  nicht,  uns  mit  dem 
Nationalgetränk  der  Söhne  Dschingis  Chans,  mit  der  gegohrnen 
Stutenmilch,  bekannt  zu  machen.  Er  hat  sie  gekostet,  versichert 
aber,  dass  sie  ihm  nicht  gemundet  habe.  Die  Reise  geht  weiter 
über  Azak  (Azof),  wo  -die  Genuesen  und  andere  Lateiner  damals 
noch  Comptoire  besassen. 


i)  So  nennt  Ibn  Batuta  die  mongolischen  Tataren  und  mit  Recht ,  denn 
im  Mittelalter  verstand  man  unter  Türken,  was  das  Alterthum  unter  Skythen 
und  wir  jetzt  etwa  unter  Tataren  verstehen,   nämlich  Nomadenvölker. 


jo  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Als  Ibn  Batuta  die  mongolischen  Tataren  besuchte,  hatte  sich 
der  Schrecken  dieses  Namens  im  westhchen  Europa  längst  gemil- 
dert. Die  römische  Kirche  hatte  ihre  Missionäre  bereits  an  die 
ambulanten  Höfe  der  Steppe  gesendet,  und  es  bestand  damals 
gerade  noch  ein  römisches  Erzbisthum  in  Peking.  Später  waren 
die  Mongolen  die  AUiirten  lateinischer  Fürsten  gegen  die  Sultane 
von  Aegypten  geworden,  wie  denn  eine  beständige  politische  Ge- 
vatterschaft zwischen  den  christlichen  armenischen  Königen  und 
den  kleinasiatischen  Statthaltern  der  Mongolen  im  13.  Jahrhundert 
gepflegt  wurde.  Die  ,, Tataren  des  Kiptschak"  oder  Südrusslands, 
deren  letzten  Trümmern  die  AUiirten  in  der  Krim  noch  begegnen, 
hatten  zu  Ibn  Batuta's  Zeit  ihre  alten  Gewohnheiten  noch  mit 
Treue  bewahrt.  Sie  waren ,  Nomaden  geblieben ,  sie  hatten  nur 
aufgehört  Eroberer  zu  sein.  Ihren  Hauptreichthum  erwarben  sie 
durch  Pferdezucht,  und  wir  hören  durch  Ibn  Batuta  hier  zum 
ersten  Male,  dass  die  mongoHschen  Pferdehändler  oft  in  Kara- 
wanen mit  sechstausend  Stücken  bis  nach  Indien  hineinwanderten, 
wo  sie  in  Multan  und  im  Sind  hohe  Preise  erzielten,  denn  Indien 
hat  nie  Pferde  gezogen,  und  der  Pferdehandel  nach  Indien,  den 
schon  Plinius  kennt,  dauert  noch  bis  zum  heutigen  Tag,  wie  wir 
aus  Layards  Schilderung  des  arabischen  Pferdehandels  wissen. 
Ibn  Batuta  fügt  hinzu,  die  meisten  mongolischen  Pferde  seien  in 
Indien  gestorben,  weil  sie,  an  die  Steppennahrung  gewöhnt,  das 
indische  Körnerfutter  nicht  vertragen  hätten. 

Der  Reisende  erreicht  nun  eine  der  berühmtesten  Tataren- 
städte ,,an  einem  grossen  Fluss"  (Kuma),  die  er  Madschar  nennt, 
(das  Matriga  des  Rubruquis),  und  von  der  sich  heute  keine  Spur 
mehr  findet.  Dort  überraschte  ihn,  den  Araber  und  Zögling  des 
Koran,  zuerst  die  hohe  Stellung  der  Frauen  innerhalb  der  tatari- 
schen Familie.  Er  traf  dort  die  Frau  eines  tatarischen  „Emirs", 
die  unverschleiert  neben  ihrem  Mann  Platz  nahm  und  von  drei 
Kammerjungfern  begleitet  wurde,  welche  ihr  Kleid  an  Knöpfen 
aufhoben,  so  dass  die  Frau  mit  diesen  Schleppenträgerinnen  majestä- 
tisch einherschritt.  Man  findet  ähnliches  selbst  bei  den  Frauen  gerin- 
ger Kaufleute.  Auch  sie  hielten  sich  Schleppen trägerinnen  und  der 
kostbarste  Theil  ihrer  Kleidung  bestand  in  einer  kegelförmigen 
Mütze,  mit  Edelsteinen  besetzt  und  mit  einem  Busch  Pfauenfedern 
an  der  Spitze  geziert.  ,,Oft,  setzt  der  Araber  hinzu,  wird  die 
Frau  von  ihrem  Manne  begleitet,  den  jedermann  geneigt  wäre  für 


ihren  Bedienten  anzusehen.     Er  trägt  nämHch  nur  einen  Schafpelz 
und  eine  Mütze,  die  zu  diesem  Kleide  passt." 

Bei  Bichdagh  —  oder  den  „fünf  Bergen"  —  stösst  Ibn 
Batuta  auf  das  kaiserliche  Lager  Mohammed  Usbek  Chans.  Die 
Horde  hielt  dort,  weil  es  warme  Quellen  in  der  Umgegend  gab. 
,,Wir  bekamen  dort  eine  grosse  Stadt  zu  Gesicht,  die  sich  mit 
ihren  Bewohnern  bewegt,  die  ihre  Marktplätze  und  Moscheen  hat, 
und  wo  der  Rauch  der  Küchen  in  die  Luft  wirbelt ,  denn  die 
Türken  (Tataren)  bereiten  ihre  Speise  auf  der  Reise.  Auf  Wagen, 
mit  Pferden  bespannt,  rücken  diese  Völker  von  Ort  zu  Ort ;  so- 
bald sie  den  Lagerplatz  erreicht,  schlagen  sie  die  Zelte  auf,  die 
sich  auf  ihren  Fahrzeugen  befinden,  und  die  sehr  leicht  sind. 
Das  gleiche  geschieht  mit  ihren  Moscheen  und  Waarenbuden." 
Da  unsere  Civilisation  auf  Ackerbau  und  Gewerbe  beruht,  so  wird 
es  einem  Europäer  schwer  daran  zu  glauben,  dass  auch  das  No- 
madenleben seinen  Luxus  und  seine  Bequemlichkeit  besitzen 
könnte.  Ibn  Batuta  giebt  uns  indessen  einen  guten  Begriff  von 
der  Pracht  dieser  ambulanten  Residenzen.  Das  goldene  Trink- 
und  Essgeschirr,  womit  die  Nomaden  prunkten,  war  vielleicht  der 
Raub  aus  einer  christHchen  Kirche  des  Abendlandes,  welches  diese 
furchtbaren,  durch  Taktik  und  Disciplin  den  lateinischen  Heeres 
mächten  weit  überlegenen  Cavalleriemassen  heimsuchten  und 
plünderten.  Europäische  Handwerker,  die  man  bei  Städteerobe- 
rungen geraubt  und  in  die  Sklaverei  geführt  hatte,  wurden  die 
,, Hofhandwerker"  der  centralasiatischen  Höfe.  Perlen  und  Edel- 
steine kamen  aus  Indien.  Alles,  was  der  Orient  an  Luxus  damals 
producirte,  die  Leinengewänder  Aegyptens,  der  Brocat  aus  Da- 
mascus ,  persische  Seidenstoffe  und  die  feinen  Waaren ,  welche 
chinesische  Kaufleute  nach  Samarkand,  nach  Balkh  oder  Buchara 
brachten,  fanden  ihren  Weg  zum  Hoflager  der  Tataren,  während 
andererseits  europäische  Kaufleute  von  der  Krim  und  von  der 
Donaumündung  aus  die  beweglichen  Residenzen  der  mongohschen 
Fürsten  mit  flandrischen  Tuchen,  mit  englischem  Stahl  und  Kupfer 
und  mit  italienischen  Seidenzeugen  versahen.  Die  Chatuns  oder 
die  Gemahlinnen  des  Chans  wohnten  in  grossen  Wagen,  die  uns 
der  Reisende  als  kuppeiförmige  Behausungen  aus  vergoldetem 
Silber,  oder  aus  Holz  mit  eingelegter  Goldarbeit  beschreibt.  Ein 
genaues  Ceremoniell  herrschte  am  Hofe,  und  jede  der  Königinnen 
hatte  ihre  Hofmeisterin,  ihre  Kammerfrauen  und  ihre  Pagen.     Der 


12  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Chan  selbst,  wenn  die  erste  Frau  nahte,  ging  ihr  bis  zur  Zelt- 
pforte entgegen,  reichte  ihr  die  Hand,  führte  sie  zum  Thronsessel, 
und  nahm  erst  nach  und  neben  ihr  Platz.  Die  Königin  selbst  ist 
bedeckt  mit  Geschmeide,  sie  trägt  einen  Stirnschmuck  aus  Edel- 
steinen mit  Pfauenfedern.  Ihre  Hofmeisterin  starrt  in  Brocat  und 
lässt  einen  Schleier  mit  Goldsaum  und  Perlenstickereien  wehen. 
Die  männliche  und  weibliche  Hofdienerschaft  ist  nicht  minder 
kostbar  ausstaffirt.  Nach  Ibn  Batuta's  Beschreibung  schienen  die 
vier  Frauen  im  Rang  selbst  den  Prinzen  vorauszugehen,  die 
Frauen  selbst  rangirten  nach  der  Nummer,  das  heisst  die  erste 
ging  der  zweiten,  die  dritte  der  vierten  voran.  Ibn  Batuta  be- 
schreibt diese  vier  Frauen  nach  der  Reihe.  Die  höchste  Rolle 
spielte  jedoch  die  erste  Frau,  die  Gross-Chatun  des  Chan.  Am 
Hofe  erzählte  man  sich,  der  Fürst  wisse  an  ihr  die  seltene  Eigen- 
schaft einer  unverwüstlichen  Virginität  zu  schätzen.  Man  ver- 
sicherte ihm,  zur  ,, Erklärung"  dieses  Phänomens,  die  Frau  sei  ein 
Nachkomme  jenes  Weibes,  welches  einst  den  Ring  von  Salomo 
besessen.  Als  aber  Salomo  dieses  Weib  wiedergefunden,  befahl 
er  sie  in  eine  Einöde  auszusetzen  und  zwar  gerade  in  das  Kip- 
tschak  (Südrussland).  Jene  Eigenschaft  aber  habe  sich  dann  auf 
die  Descendenten  weiblichen  Geschlechtes  vererbt.  In  China 
hört  der  Reisende  dasselbe  Märchen,  fügt  aber  mit  naiver  Gewis- 
senhaftigkeit hinzu:  ,,Eine  solche  Frau  ist  nie  in  meine  Hände 
gefallen,  also  vermag  ich  auch  die  Richtigkeit  der  Thatsache  nicht 
zu  verbürgen." 

Da  der  Hof  Usbek  Chans  damals  bereits  zum  Islam  über- 
getreten war,  so  fehlte  es  dem  gelehrten  Araber  nicht  an  einer 
guten  Aufnahme.  Er  durfte  den  Königinnen  seine  Aufwartung 
machen  und  wurde  von  ihnen  mit  der  höchsten  Auszeichnung 
empfangen.  Die  dritte  Chatun,  welche  Ibn  Batuta  zuerst  „bei 
Hofe  eingeführt",  war  eine  Tochter  des  „Sultans  von  Konstanti- 
nopel", also  eine  griechische  Prinzessin.  Sie  erbat  sich  bald 
darauf  von  ihrem  Gemahl  die  Erlaubniss  zu  einer  „Ferienreise 
nach  Stambul  um  ihren  Vater  wiederzusehen",  und  in  ihrem  Ge- 
folge betritt  Ibn  Batuta  später  die  grösste  Stadt    der   Christenheit. 

Vorher  aber  besuchte  er  noch  Sarai,  die  Hauptstadt  des 
westlichen  Tatarenreiches,  die  er  von  Hadsch-Terchan  (Astrachan), 
unterscheidet,  und  die  oberhalb  der  Wolgamündungen  gesucht 
werden    muss.     Von    dem    Hoflager    des    Chans    machte    er  eine 


Ibn  Batuta.  j-7 

Reise  nach  der  Stadt  Bolgar  in  zehn  Tagereisen,  um  sich  zti  un- 
terrichten, ob  im  Sommer  dort  wirklich  die  Nächte  so  kurz  seien, 
als  man  ihm  gesagt.  Da  er  sich  davon  überzeugt,  so  muss  jene 
Stadt  sehr  nördlich  gelegen  haben.  Von  Bolgar  aus  wollte  er  das 
,,Land  der  Dämmerung"  besuchen,  von  dem  auch  Marco  Polo 
spricht.  Die  Entfernung  aber  —  vierzig  Tagereisen  —  ist  ihm 
doch  zu  gross.  Aus  diesem  Lande  kommen  die  kostbarsten  Pelz- 
werke, Zobel  und  Hermelin,  Man  verstand  also  offenbar  Sibi- 
rien unter  jenem  Lande  der  Dämmerung.  Die  dortige  Einöde  sei 
mit  Eis  bedeckt,  so  dass  kein  Pferd  mehr  fortkommen  könnte, 
wohl  aber  die  Hunde,  deren  scharfe  Klauen  das  Ausgleiten  auf 
der  glatten  Fläche  verhinderten.  Niemand  besucht  diese  Wildniss 
als  die  reichen  Pelzhändler.  Sie  nehmen  auf  ihren  Schlitten  Mund- 
vorrath  und  Brennholz  mit,  denn  nirgends  finden  sich  Bäume  oder 
Behausungen.  Der  Führer  dieser  Reisenden  ist  der  Hund,  der 
schon  unendliche  Male  den  Weg  zurückgelegt  hat.  Der  Preis  eines 
solchen  kundigen  Thieres  steigt  oft  über  looo  Dinar.  Er  wird 
den  andern  Hunden  vorangespannt ,  als  deren  Häuptling  er  sich 
betrachtet,  und  die  ihm  folgen.  Wenn  er  still  hält,  halten  die  an- 
dern auch.  Der  Reisende  hütet  sich  wohl,  ihn  zu  misshandeln 
oder  zu  schelten.  Wenn  man  die  Mundvorräthe  öffnet,  erhalten 
die  Hunde  ihr  Futter  zuerst,  und  vor  den  Menschen.  Wollte  man 
es  anders  machen,  so  würde  sich  der  ,,Chef"  der  Hunde  beleidigt 
fühlen,  entlaufen,  und  seinen  Herrn  dem  Verderben  überlassen. 
Im  Lande  der  Dämmerung  angekommen  beginnt  dann  mit  den 
Eingeborenen  ein  stummer  Tauschhandel  um  Pelzwerk. 

Das  Gemälde,  welches  Ibn  Batuta  von  einer  sibirischen 
Schlittenfahrt  vor  500  Jahren  entwirft,  ist  ausserordentlich  treu, 
und  gleicht  Zug  für  Zug  den  heutigen  Beschreibungen  der  kam- 
tschatkischen  Schhtten,  wo  auch  der  Häuptling  der  Hunde  das 
Fahrzeug  leitet,  und  ebenso  sorgfältig  von  seinem  Herrn  behandelt 
und  theuer  bezahlt  wird.  Wie  weit  östlich  und  nördlich  man 
sich  Ibn  Batuta's  ,, Reich  der  Dämmerung"  zu  denken  hat,  und 
ob  seine  vierzig  Tagesdistanzen  genau  sind,  wagen  wir  lieber  nicht 
zu  entscheiden,  die  Thatsache  einer  sehr  weit  reichenden  Ver- 
bindung mit'  dem  nordwestlichen  Asien  im  14.  Jahrhundert  ist 
indessen  an  und  für  sich  von  grossem  historischen  Werthe. 

Bei  seinem  Besuch  in  Sarai  lernte  Ibn  Batuta  auch  die 
Russen    kennen,    die    damals    bekanntlich    unter    dem    tatarischen 


JA  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Joch  standen.  „Die  Russen,  sagt  er,  sind  Christen,  sie  haben 
rothe  Haare,  blaue  Augen,  sind  hässHch  von  Angesicht,  und  sehr 
verschlagene  Leute.  Sie  besitzen  Silberbergwerke,  und  man  bringt 
aus  ihrem  Gebirge  die  Saum,  das  heisst  Silberbarren,  die  als 
Münze  in  jenen  Gegenden  umlaufen.  Jeder  Barren  wiegt  fünf 
Unzen."  Was  der  Araber  Saum  nennt,  und  als  Plural  von  Sauma 
erklärt,  nannte  man  in  den  italienischen  Factoreien  am  Don 
Somma ,  und  wir  kennen  genau  den  Werth  einer  Somma  durch 
Balducci.  Für  die  Handelsgeschichte  aber  ist  es  von  höchstem 
Interesse,  dass  Ibn  Batuta  die  damalige  Existenz  von  Bergbau  im 
Ural  mit  obigen  Worten  bezeugt. 

Unser  Autor  tritt  nun  im  Gefolge  der  griechischen  Prinzessin 
seine  Reise  nach  Konstantinopel  an,  und  zwar  über  Sudak  in  der 
Krim,  das  Soldaja  der  Italiener.  Die  Stadt  befand  sich  damals 
unter  tatarischer  Hoheit,  und  man  hatte  ihre  griechische  Bevölke- 
rung bis  auf  einen  kleinen  Theil  vertrieben.  Noch  war  die  Stadt 
immerhin  blühend ,  und  gefeiert  im  Orient ;  —  was  ist  sie 
heute?  Die  Türken  haben  alle  blühenden  Colonien  der  Krim  am 
Ende  des  15.  Jahrhunderts  vernichtet,  und  was  die  Türken  ver- 
nichtet, Vermochten  die  Russen  nicht  wieder  zu  beleben,  denn  der 
Handel,  den  einst  das  azofische  Meer  und  der  Pontus  getragen, 
ist  wohl  für  immer  in  andere  Bahnen  gelenkt  worden,  weil  die 
Civilisation  jetzt  flieht,  was  sie  ehemals  suchte,  nämlich  die  Bin- 
nenmeere, seit  der  Ocean  der  grosse  Vermittler  der  Menschen- 
geschlechter geworden  ist. 

Es  ist  acht  tatarisch,  dass  die  Prinzessin  und  ihr  fürstliches 
Gefolge  statt  den  kurzen  Weg  über  das  Wasser,  den  Landweg 
am  nördlichen  Ufer  des  schwarzen  Meeres  nach  Konstantinopel 
einschlägt. 

Damals  scheinen  Cherson  und  Bessarabien ,  jetzt  so  reiche 
Provinzen,  völlig  verödet  gewesen  zu  sein.  Achtzehn  Tage  geht 
die  Reise  durch  die  ,, Wüste",  bis  die  Karawane  die  erste  grie- 
chische Festung  erreicht.  Ibn  Batuta  beschreibt  uns  nun,  dass 
der  Zug  über  drei  „Canäle"  setzen  musste,  wobei  man  immer  die 
Zeit  der  Ebbe  abwartete.  Diese  drei  „Canäle"  sind  wahrschein- 
lich die  Donauarme.  Die  Zahl  der  griechischen  Festungen ,  die 
man  passirt,  nimmt  jetzt  zu.  In  einer  grossen  Stadt,  deren  Na- 
men der  Araber  vergessen ,  wahrscheinlich  Varna  oder  Burgas, 
wurde  die  Gemahlin    des  Chans  von  ihrem    Bruder ,    dem   Thron- 


Ibn  Batuta.  ic 

erben  des  griechischen  Reiches,  mit  einer  Armee  von  10,000  ge- 
panzerten Soldaten  eingeholt.  Da  das  Jahr  von  Ibn  Batuta's 
Besuch  in  Konstantinopel  bis  jetzt  nicht  genau  ermittelt  werden 
konnte,  so  lassen  sich  auch  die  Persönlichkeiten  nicht  benennen, 
mit  denen  er  am  griechischen  Hofe  in  Berührimg  kam.  Ibn  Ba- 
tuta, als  Araber  und  Bekenner  des  Propheten,  hatte  vielleicht 
nicht  mit  Unrecht  Furcht  vor  der  Intoleranz  des  griechischen 
Städtepöbels,  und  hielt  sich  nach  seiner  Ankunft  drei  Tage  lang 
still  auf  seinem  Zimmer  in  Konstantinopel.  Hundertundzwanzig 
Jahre  später  hatten  die  christlichen  Bewohner,  die  Kaufleute  in 
Pera  und  Galata,  umgekehrt  Ursache  als  „Christenhunde"  die 
Strassen  von  Konstantinopel  zu  meiden,  während  wir  es  jetzt  er- 
leben, dass  französische  Gensdarmen  in  Konstantinopel  comman- 
diren,  und  die  Türken  vor  Pariser  Zuaven  sich  verkriechen.  Ibn 
Batuta  ward  endlich  bei  Hofe  vorgestellt.  Hatte  der  Araber 
schon  auf  der  Reise  Gelegenheit  gehabt  byzantinische  Pracht  zu 
bewundern,  welche  allen  Nomadenluxus  unter  den  Filzdächern  in 
der  Steppe  überstrahlte,  so  steigert  sich  seine  Bewunderung  mit 
jedem  Schritt.  Er  betritt  den  grossen  Audienzsaal,  dessen  Wände 
in  Mosaik  ihm  Landschaften  und  Thiere  zeigen.  Ein  fliessendes 
Wasser  geht  durch  die  Halle  mit  künstlichen  Baumgruppen  besetzt. 
Ueberall  steht  die  Hofdienerschaft  in  ehrfurchtsvollem  Schweigen. 
Der  Reisende  wird  nun  vor  den  Kaiser  geführt,  der  ihn  mit 
Hülfe  eines  jüdischen  Dolmetschers  über  seine  Reisen  in  Aegyp- 
ten,  Syrien,  Persien  etc.  befragt  und  ihn  mit  einem  Ehrenkleide 
und  einem  Sonnenschirm  beschenkt  entlässt.  Diese  Geschenke 
waren  sehr  wichtig,  denn  von  nun  an  konnte  der  Araber  die  Stadt 
sicher  durchstreifen.  Es  ward  ihm  ein  Begleiter  beigegeben;  er 
bestieg  ein  Ross  aus  dem  kaiserlichen  Marstall,  und  mit  Trom- 
petenklang wurden  in  der  Stadt  die  ihm  ertheilten  hohen  Ehren 
verkündigt. 

Die  Stadt,  sagt  Ibn  Batuta,  wird  durch  einen  „Fluss"  ge- 
trennt, der  von  Ebbe  und  Fluth  bewegt  wird.  Der  eine  Theil 
am  östUchen  Ufer,  wo  der  kaiserliche  Hof  wohne,  heisse  Istambul, 
der  andere  Galata,  das  Quartier  der  fränkischen  Nationen.  ,, Diese 
Leute  gehören  verschiedenen  Völkern  an.  Es  sind  Genueser,  Ve- 
netianer,  Römer  und  andere  Franken.  Die  Oberhoheit  über  sie 
gehört  dem  Kaiser  von  Konstantinopel.  Er  stellt  an  ihre  Spitze 
einen  Alcomes  (Graf),    den  sie    sich    selbst   erwählen.     Sie    zahlen 


l5  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

dem  Kaiser  eine  jährliche  Abgabe,  sie  empören  sich  aber  oft  ge- 
gen ihn,  und  er  bekriegt  sie  dann,  bis  sich  der  Papst  dazwischen 
legt  und  den  Friec^  Yi'tet.  Alle  treiben  Handel,  und  ihr  Hafen 
gehört  zu  den  gros,-  ,,  die  es  giebt.  Ich  sah  dort  hundert  Schiffe 
liegen,  Galeeren  und  andere  grosse  Fahrzeuge.  Die  kleinen  kön- 
nen nicht  gezählt  werden,  so  gross  ist  ihre  Anzahl.  Die  Markt- 
plätze in  diesem  Stadttheile  sind  geräumig,  aber  bedeckt  mit  Un- 
rath.  Ein  sehr  schmutziges  Gewässer  führt  durch  die  Stadt.  Die 
Kirchen  dieses  Volkes  sind  ekelhaft  schmutzig  und  enthalten  nichts 
sehenswerthes."  Man  kann  nicht  naiver  schreiben,  denn  Ibn  Ba- 
tuta hört  nur  was  ihm  sein  griechischer  Cicerone  wissen  lässt. 
Die  Kaufleute  von  Galata  und  ihre  selbst  gewählten  Consuln 
waren  die  Herren  von  Konstantinopel;  wenn  sie  sich  ,, empörten" 
stürzten  sie  die  Dynastien  um  und  setzten  neue  ein,  denn  schon' 
damals  stand  das  morsche  Reich  unter  der  Vormundschaft  west- 
licher Seemächte  und  spielten  die  Repräsentanten  der  ,, Krämer- 
völker" die  Protectoren  der  heutigen  Türkei. 

Der  nächste  Gang  des  Reisenden  führt  ihn  nach  der  Hagia 
Sophia,  die,  wie  er  uns  versichert,  von  einem  ,, Vetter  des  Königs 
Salomon"  erbaut  worden  sei.  Um  die  Kirche  herum  lief  ein  ge- 
schlossener Raum  mit  Alleen  und  Gärten,  mit  einer  Reihe  Buden 
und  einem  Forum,  wo  Recht  gesprochen  wurde.  An  der  Kirche 
selbst  standen  Portiers  mit  Besen  bewehrt,  um  das  HeiHgthum  rein  zu 
halten.  Sie  Hessen  niemand  eintreten,  bevor  er  nicht  der  kost- 
baren Kreuzesreliquie  seine  religöse  Ehrfurcht  bewiesen.  Das 
Kreuz  selbst  befand  sich  über  der  grossen  Pforte  in  einem  gol- 
denen Gefäss  eingeschlossen.  ,,Der  Papst,  versichert  uns  der 
Reisende,  begiebt  sich  jährlich  einmal  zu  dieser  Reliquie.  Der 
Kaiser  zieht  ihm  dann  vier  Tagereisen  entgegen  und  steigt  vom 
Pferde.  Beim  Einzug  in  die  Stadt  geht  der  Kaiser  zu  Fuss  vor 
dem  Pontifex  einher,  und  stattet  ihm,  so  lange  er  in  der  Stadt 
weilt,  des  Morgens  und  des  Abends  einen  Besuch  ab."  Ueber 
das  Innere  der  Kirche  kann  Ibn  Batuta  nichts  berichten,  denn  die 
Griechen  wollten  ihn  nicht  eher  einlassen,  als  bis  er  sich  vor  dem 
Kreuz  niedergeworfen.  Der  Reisende  war  aber  ein  zu  guter 
Muselmann ,  um  nicht  seine  Neugierde  zu  bekämpfen.  Er  be- 
schreibt uns  dafür  das  Innere  mehrerer  Mönchs-  und  Nonnen- 
klöster. Die  letzteren  namentlich  waren  für  ihn  eine  Neuigkeit, 
während   sich   für   die   andern   ein   Aequivalent  in  der  mohamme- 


Ibn  Batuta. 


17 


danischen  Welt  vorfand.  Ueberall  wurde  der  Araber  ehrerbietig 
von  den  ,, Spitzen  der  Behörde"  behandelt,  und  die  Griechen 
scheinen  ihn  mit  einer   Art  religiöser  El  it   betrachtet    zu  ha- 

ben, denn  sie  wussten  sämmthch,  dass  e.  aisalem  und  die  hei- 
ligen Stätten  besucht  hatte,  worüber  sie  selbst  sein  afrikanisches 
Blut  und  sein  Bekenntniss  zum  Propheten  vergassen. 

Nach  36  Tagen  Aufenthalt  kehrt  Ibn  Batuta  auf  dem  Weg, 
den  er  gekommen,  in  das  Kiptschak  zurück,  wo  er  einen  sehr  hef- 
tigen Winter  erlebt.  Er  war  in  Wolfspelze  so  eingehüllt,  dass  er 
kein  GHed  rühren  konnte  und  auf  das  Pferd  sich  heben  lassen 
musste.  Sein  Bart  füllt  sich  mit  Eisstücken,  worüber  er  die  grösste 
Verwunderung  äussert.  Endlich  kommt  er  nach  Astrachan,  hört 
aber,  dass  der  Chan  seine  Residenz  in  Sarai  aufgeschlagen.  Er 
bricht  also  auf  und  erreicht  diese  Stadt  nach  einer  dreitägigen 
Reise  längs  dem  Ufer  des  gefrornen  Itil  (Wolga).  Diese  Stadt 
schildert  er  so  gross,  dass  er  einen  vollen  Tag,  freilich  einen 
kurzen  Wintertag  gebraucht  habe,  um  von  dem  einen  Ende  zum 
andern  und  wieder  zurückzugelangen.  Er  setzt  ausdrücklich  hinzu, 
die  Häuser  stiessen  dicht  aneinander  und  es  gäbe  weder  Gärten 
noch  Ruinen  dazwischen.  Man  zweifle  desshalb  noch  nicht  an 
Ibn  Batuta's  Glaubwürdigkeit.  Es  giebt  noch  heute  in  Russland 
kolossale  Dörfer,  und  die  Tatarenresidenz  war  nur  ein  solches 
Dorf,  vielleicht  von  der  Grösse  des  heutigen  Paris.  Die  Stadt 
selbst  wurde  bewohnt  von  Mongolen,  von  den  Ass  (Osseten),  von 
Leuten  des  I^iptschak,  von  Tscherkessen  und  von  Russen.  Die 
Kaufleute  aus  Aegypten,  Syrien  und  den  beiden  Irak  bewohnten 
ihr  eigenes  Viertel,  das  sie  mit  einer  Mauer  geschlossen  hielten, 
aus  Besorgniss  für  ihre  Reichthümer  und  aus  Furcht  vor  der  Lü- 
sternheit des  Pöbels.  Auch  diese  Stadt  wie  so  viele  andere  ist 
vom  Erdboden  so  rasch  verschwunden  wie  die  Luftbilder  in  der 
Steppe  zerrinnen. 


Pcschel,  Abhandlungen.     II. 


2.    Massudi's  goldne  Wiesen  und 
Edelsteingruben. 

I. 

(Ausland  1862.     Nr.  20.     14.  Mai) 

Wenn  ein  arabisches  Werk  in  vergleichsweise  kurzer  Zeit 
zweimal  herausgegeben  wird '),  während  so  viele  andere  Schätze 
noch  lange  auf  Veröffentlichung  warten  dürfen,  so  muss  sein  Inhalt 
jedenfalls  von  hohem  Werth  sein.  Massudi  behauptet  es  wenigstens 
selbst:  „Genannt  habe  ich  dieses  Buch  , goldene  Wiesen  und 
Edelsteingruben'  wegen  der  grossen  Wichtigkeit  der  Stoffe,  die  es 
enthält,  denn  man  findet  darin  alle  leuchtenden  und  merkwür- 
digsten Stellen  aus  meinen  früheren  Werken  wieder."  Man  sieht 
daraus ,  dass  der  Araber  ohne  grosse  Schüchternheit  vor  seine 
Leser  tritt,  und  nicht  gesonnen  ist,  sein  Licht  unter  den  Scheffel 
zu  stellen.  Dieses  Selbstbewusstsein  ist  aber  ein  erworbenes,  kein 
angemasstes ,  denn  wohl  ist  derjenige  zu  einer  hohen  Sprache  be- 
rechtigt, der  von  sich  sagen  kann:  „Begierig  durch  eigenes  An- 
schauen das  Merkwürdigste  bei  allen  Völkern  zu  erkennen  und 
die  Eigenthümlichkeiten  jedes  Landes  zu  erforschen,  habe  ich  mit 
diesem  Vorsatze  Sind ,    Zanguebar    (Ostafrika) ,   Sinf^),    China   und 

i)  Zuerst  von  Aloys  Sprenger ;  El-Massudis  Meadovvs  of  Gold  and  Mines 
of  Gems.  London  1841.  Diess  war  nur  eine  Uebersetzung  im  Auszug.  Jetzt 
dagegen  haben  die  HH.  C.  Barbier  de  Meynard  und  Pavet  de  Courtreille  den 
arabischen  Text  mit  der  französischen  Uebersetzung  herauszugeben  angefangen. 
Der  erste  Band  (Magoudi,  les  Prairies  d'or.  8,  Paris.  Impr.  imp.),  der  voriges 
Jahr  erschien ,  enthält  die  meisten  Länderbeschreibungen  Massudi's,  während 
der  zweite  sich  vorzugsweise  mit  der  Geschichte  der  Chalifen  beschäftigen  wird. 

2)  Die  Herausgeber  verstehen  darunter  Süd-Cochinchina ,  ob  mit  Recht, 
wird  sich  später  zeigen. 


Massudi's  goldne  Wiesen  und  Edelsteingruben.  iq 

Sabedsch  (Java)  besucht;  in  der  Reihenfolge  von  Ost  nach  West 
habe  ich  durchwandert  die  äussersten  Grenzen  Chorassans  im  Innern 
Armeniens  (sie),  Adscherbaidschan,  Erran  (Arriana)  und  Beilak,  so 
wie  auch  Irak,  (Mesopotamien)  und  Syrien  erforscht."  Wenn  man 
seinen  Nachfolger  Ibn  Batuta,  der  um  vier  Jahrhunderte  älter  ist, 
den  Marco  Polo  der  Araber  genannt  hat,  so  ist  Massudi  unstreitig 
ihr  Herodot.  Massudi  lautet  übrigens  sein  eigener  Name  nicht, 
wie  ja  durchgängig  die  Araber  nach  Namen  heissen,  die  sie  ur- 
sprünglich nicht  besassen.  Der  Name  des  Verfassers  der  goldenen 
Wiesen  und  Edelsteingruben  ist  vielmehr  AbuM-Hassan  Ali, 
Sohn  des  el-Hugein,  Sohn  des  AH,  mit  dem  Beinamen  el-Massudi, 
nach  Massud ,  einem  Ahnen  der  Familie,  die  aus  dem  Heäschas 
stammt.  Er  selbst  wurde  zu  Bagdad  in  den  letzten  Jahren  des 
dritten  islamitischen  Jahrhunderts  geboren,  und  begann  seine  Reisen 
um  300  (912  nach  Chr.),  wo  er  bereits  in  Multan  auftrat,  und 
setzte  sie  fort  bis  zu  seinem  Tode  345  (956)  zu  Fostat,  uA.lt-Kairo) 
in  Aegypten. 

Wir  haben  schon  oben  gesehen ,  dass  er  seine  ,, goldenen 
Wiesen"  nicht  unterschätzt.  An  einer  anderen  Stelle  finden  sich 
die  classischen  Worte:  ,, Dieses  Werk  ist  ein  Auszug  meiner 
früheren  Schriften  und  der  Kenntnisse,  welche  ein  Mann  -son 
Bildung  sich  jedenfalls  aneignen  muss ;  in  der  That  giebt  es  keinen 
Zweig  des  Wissens,  Erkennens  oder  der  Ueberlieferung,  der  nicht 
ausführlich  oder  abgekürzt,  oder  andeutungsweise  wenigstens,  von 
mir  in  diese  Schrift  hereingezogen  worden  wäre."  Hin  und  wieder 
denkt  wohl  einer  oder  der  andere  moderne  Autor  ebenso  von 
seinen  Werken,  und  beneidet  die  Araber  im  Stillen  um  ihre  Nai- 
vetät  in  Büchervorreden ,  aber  so  etwas  drucken  zu  lassen  wagt 
niemand  im  wohlerzogenen  Europa.  Statt  dass  man  jetzt  auf 
den  Titelblättern  unserer  Bücher  Androhungen  gegen  Nachdruck 
—  reproduction  interdite  —  oder  so  etwas  liest,  führt  der  Araber 
eine  andere  Sprache  gegen  Missbrauch  seines  geistigen  Eigenthums. 
,,Wer  sich  den  Sinn  dieses  Buches  zu  entstellen  unterfängt,  ruft 
IMassudi  aus,  oder  die  Grundlagen,  auf  denen  es  ruht,  zu  erschüttern, 
die  Klarheit  des  Textes  zu  verdunkeln ,  oder  Zweifel  über  eine 
Stelle  zu  verursachen  wagt  durch  Aenderungen ,  durch  Auszüge 
oder  Uebersichten,  den  möge  der  göttliche  Zorn  und  rasche  Strafe 
ereilen ,  den  mögen  Trübsale  befallen,  die  ihn  zur  Verzweiflung 
treiben,    und    deren   Vorstellungen    schon    ihm    Schauder   einjagen 


2  0  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

soll  u.  s.  \v."  Der  Araber  —  so  liebenswürdig  sind  morgen- 
ländische Autoren  —  setzt  seine  Verfluchung  noch  eine  Seite  lang 
fort,  die  natürUch  auch  auf  uns  sich  erstrecken  wird,  da  wir  durch 
unsere  nachfolgenden  Auszüge  allerdings  wohl  manche  Zweifel 
gegen  den  Besitzer  der  ,, Edelsteingruben"  werden  hervorrufen 
müssen. 

Da  nun  Massudi,  wie  er  selbst  sagt,  in  diesem  Buch  ,,von 
allen  Dingen  und  etlichen  mehr",  sprechen  will ,  so  ist  nur  seine 
Gründlichkeit  zu  loben,  wenn  er  bei  Erschaffung  der  Welt  beginnt, 
die  eines  Sonntages  und  eines  Montages  vor  sich  ging.  Mit  der 
Welt  .erschaffen  wurden  auch  die  sprüchwörtlichen  , .sieben  Himmel", 
wovon  der  erste  aus  grünem  Smaragd,  der  zweite  aus  Silber,  der 
dritte  aus  rothen  Rubinen ,  der  vierte  aus  Perlen ,  der  fünfte  aus 
gediegenem  Golde,  der  sechste  aus  Topas,  der  siebente  aus  Feuer 
gebildet  wurde,  auf  welchein  letzteren  die  Engel  stehen  mit  einem 
Bein  in  der  Luft,  Psalmen  zum  Preise  des  Herrn  singend.  Die 
Erde  selbst  wurde  auf  deni  Rücken  eines  Fisches  befestigt,  das 
Wasser,  in  welchem  dieser  Fisch  schwamm,  befand  sich  auf  Fels- 
blöcken, die  Felsblöcke  wieder  auf  dem  Rücken  eines  Engels,  der 
Engel  auf  einem  Felsen  und  der  Felsen  stand  auf  dem  Winde. 
Die  Weltschöpfung,  wie  sie  Massudi  beschreibt,  ist  der  mosaischen 
Kosmogonie  nachgebildet.  Der  Araber  bezeichnet  sie  als  diejenige, 
„welche  er  aus  dem  Munde  der  Alten  gehört  oder  in  ihren 
Büchern  gefunden  habe",  jedoch  wolle  er  auch  nicht  verschweigen, 
dass  sehr  viele  Secten  ein  anderes  System  der  Schöpfung  oder 
vielmehr  die  Ewigkeit  der  Körperwelt  annähmen.  Nach  der  An- 
sicht der  Juden  hätte  das  Schöpfungswerk  am  Freitag  geendigt, 
und  desshalb  wurde  bei  ihnen  der  Samstag  als  Sabbath  gefeiert, 
die  ,, Nachfolger  des  Evangeliums"  (Christen)  hätten  wiederum  den 
Sonntag  geheiligt,  weil  ihr  Messias  an  diesem  Tage  auferstanden 
sei,  die  Gläubigen  dagegen  feierten  den  Freitag,  weil  an  einem 
Freitag  und  zwar  an  einem  6,  April  die  ersten  Menschen  Adam 
und  Hawa  (Eva)  geschaffen  worden.  An  jenem  Tage  um  die 
dritte  Stunde  (9  Uhr)  gingen  sie  ins  Paradies  ein,  blieben  aber  in 
Folge  des  Sündenfalles  nur  drei  Stunden  oder  das  Viertel  eines 
Welttages  oder  225  irdische  Jahre  darin.  Nach  seinem  Falle 
wurde    Adam     nach    Serendib    (Ceylon)'),     Eva    nach    Dschedda 


l)  Bekanntlich  gehört  die  in  den  Felsen  eingedrückte  angebliche  Fussspur 
in  dem  Allerheiligen    auf  dem  Adamspic    nur    nach    arabischen   Ansichten  dem 


Massudi's  goldne  Wiesen  und  Edelsteingruben.  2  l 

(Hafenplatz  vor  Mekka)  verbannt.  Als  Adam  aus  dem  Paradies 
stürzte,  hatte  er  sich  eine  Schürze  aus  Blättern  verfertigt.  Letztere 
raubte  ihm  der  Wind  und  verbreitete  sie  über  Indien,  so  dass  von 
ihnen  die  Aloe,  der  Nelkenbaum,  die  Gewürze,  der  Moschus  (sie) 
und  alle  Wohlgerüche  stammen.  Adam  rettete  aus  dem  Paradies 
mit  vieler  Auswahl  und  Behendigkeit  noch  dreissig  Fruchtreiser, 
die  Früchte  von  zehn  derselben  haben  eine  Rinde,  "nämlich:  die 
Nuss,  die  Mandel,  die  Pistazie,  der  Mohn,  die  Castanie,  die  Gra- 
nate ,  die  Cocos ,  die  Haselnuss ,  die  Banane  und  der  Gallapfel ; 
ferner  zehn  Steinfrüchte :  der  Pfirsich,  die  Aprikose ,  die  Pflaume, 
die  Dattel,  die  Vogelbeere,  der  Lotuskern,  die  Mispel,  die  Jujube, 
die  Frucht  der  Dum-  oder  saidischen  Fächerpalme  und  die 
Kirsche i  dann  zehn  Schalenfrüchte:  die  Orange,  die  Feige,  die 
Birne,  die  Traube,  der  Apfel,  die  Quitte,  die  Maulbeere,  die 
Gurke,  der  Kürbis  und  die  Melone.  Der  Stammvater  des  Menschen- 
geschlechtes starb  übrigens,  wie  Massudi  versichert,  an  einem 
Freitag,  am  6.  April  und  im  Jahre  930  nach  Adams  Geburt,  an 
seinem  eigenen  Geburtstage. 

Die  Geschichte  der  Erzväter,  der  Könige  Saul,  David  und 
Absalon  wird  von  den  Arabern  mit  einigen  Ausschmückungen  nach 
der  Bibel  erzählt.  Die  Araber  halten  bekanntlich  die  Patriarchen 
in  hohem  Ansehen ,  in  höherem  vielleicht  als  die  Christen  selbst 
(mit  Ausnahme  der  Mormonen).  Ebenso  steht  die  Familie  des 
christlichen  Messias  in  höchstem  Ansehen  bei  ihnen.  Man  höre 
was  Massudi  wörtlich  sagt:  „Zacharias,  Adaks  Sohn,  vom  Samen 
Davids  aus  dem  Stamme  Juda  heirathete  Ischba  (Elisabeth), 
Tochter  des  Amram  und  Schwester  Miriams  (Maria's) ,  Tochter 
des  Amram  und  Mutter  des  Messias.  Dieser  Amram,  Sohn  des 
Maran,  Sohn  des  Joachim,  war  ebenfalls  vom  Geschlechte  David. 
Die  Mutter  von  Elisabeth  und  Maria  hiess  Hannah.  EHsabeth 
gebar  Zacharias  einen  Sohn ,  Namens  Jahia  (Johannes) ,  welcher 
also  der  Sohn  war  von  der  Mutterschwester  des  Messias.  Zacha- 
rias   war    ein  Zimmermann.     Die   Juden  nun    verbreiteten  das  Ge- 


Adam an.  Die  Buddhisten,  die  gegenwärtigen  Eigenthümer  dieses  Mirakels, 
verehren  darin  vielmehr  die  Fussspur  ihres  Religionsstifters,  welche  übrigens 
gerade  so  viel  Aehnlichkeit  mit  einem  menschlichen  Fusstapfen  besitzt  wie  der 
,, einzig  ächte"  Buddazahn,  der  früher  den  Kiefern  eines  Krokodils  angehört 
hat,   mit  einem   Menschenzahn. 


2  2  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

rücht,  dass  er  sträflichen  Umgang  gepflogen  mit  Marien  und  be- 
schlossen ihn  zu  tödten.  Unterrichtet  von  ihrem  Vorhahen  flüchtete 
sich  Zacharias  in  einen  hohlen  Baum,  aber  auf  den  Verrath  des 
Ibhs  (Teufels),  des  Feindes  Gottes,  schlugen  sie  den  Baum  um 
und  spalteten  mit  demselben  Schlage  den  Leib  des  Zacharias." 
Ferner :  „Als  Maria ,  die  Tochter  des  Amram ,  1 7  Jahre  zählte, 
sendete  ihr  Gott  Gabriel,  welcher  den  Geist  in  sie  hauchte,  davon 
sie  schwanger  wurde  mit  dem  Messias  Issa  (Jesus),  dem  Sohn  der 
Maria.  Jesus  wurde  geboren  in  einem  Dorf  Beit-laham,  wenige 
Meilen  von  Jerusalem,  am  24.  Decbr.,  einem  Mittwoch.  Seine 
Geschichte  wurde  von  Gott  offenbart  und  erzählt  durch  Ver- 
mitdung  seines  Propheten  im  Koran  (Sure  III.)  u.  s.  w." 

Der  Verfasser  beginnt  erst  im  7.  und  8.  Capitel  zu  seiner 
Hauptaufgabe,  nämlich  zur  Erdbeschreibung,  überzugehen.  Was 
die  mathematischen  Ansichten  der  Araber  betrifft,  so  hielten  sie 
sich  an  die  Griechen,  und  vorzüglich  an  die  „Dschografia"  d.  h. 
an  die  acht  Bücher  des  Ptolemäus,  die  bekanntlirh  unter  dem 
Chalifen  Almamun  ins  Arabische  übersetzt  worden  waren. 

Der  alexandrinische  Geograph  hatte  die  Grösse  eines  Grades 
am  Aequator  auf  500  Stadien  angegeben,  diess  war  um  Yö  ^^ 
wenig,  da  600  alte  Stadien  auf  einen  Grad  des  grössten  Kreises 
gerechnet  werden  müssen.  Der  Irrthum  wird  jedoch  geringer, 
wenn  man  annimmt,  dass  zu  Ptolemäus'  Zeiten  nur  7^2  Sta,dien 
auf  die  römische  Meile  gerechnet  wurden.  Das  Ptolemäische  Mass 
würde  daher  66 2/3  römische  Meilen  enthalten  haben,  oder  6^/3 
mehr  als  die  wahre  Grösse.  Die  Araber  beruhigen  sich  aber 
nicht  bei  der  griechi.schen  Ueberlieferung,  sondern  der  Chalif  Al- 
mamun liess  selbst  das  Stück  eines  Erdbogens  in  der  Ebene  von 
Sindschar  in  Mesopotamien  messen,  und  man  fand,  dass  der  Grad 
eines  grössten  Kreises  56  Meilen  betrage').  Die  Araber  selbst 
misstrauten  ihrer  eigenen  Erfahrung  so  sehr,  dass  Abulfeda,  nach- 
dem er  die  verschiedenen  Vermessungen  kritisirt  hat,  damit 
schliesst:  ,,In  Praxis  halte  man  sich  an  die  Angabe  der  Alten, 
dass    ein    Grad    66%    Meilen    enthalte."     Wie    es    überhaupt    zu 


1)  Später  p.  190  spricht  Massudi  von  einer  andern  Messung  zwischen 
Rakkah  und  Tadmor  (Pahnyra),  die  67  Meilen  für  einen  Bogengrad  ergeben 
habe.  Diese  Stelle  ist  aber,  was  die  Herausgeber  nicht  angezeigt  haben,  in 
den  Handschriften  völlig  verderbt. 


Massudi's  goldne  Wiesen  und  Edelsteingruben. 


23 


Massudis  Zeit  mit  der  messenden  Astronomie  stand,  das  kann 
man  aus  seiner  Angabe  schliessen,  dass  Mars  für  63  mal  grösser  als 
die  Erde  gehalten  wurde.  Ziemlich  nahe  der  Wahrheit  kommt 
Massudi's  Angabe,  dass  der  Mond  V37  der  Erde  sei.  Da  er  aber 
nur  V49  ^'om  Rauminhalt  der  Erde  besitzt,  so  hielten  sie  ihn  also 
für  grösser  und  ausserdem  (was  den  Fehler  noch  steigert)  der 
Erde  viel  näher,  denn  seinen  grössten  Erdabstand  berechnet  Mas- 
sudi  auf  124,000  arabische  Meilen,  während  er  doch  das  Doppelte 
beträgt.  Den  Abstand  des  Saturn  von  der  Erde  gaben  sie  auf 
77  Mill.  arabische  Meilen  an,  in  Wahrheit  aber  beläuft  er  sich 
mindestens  auf  das  Zehnfache,  „und  ebenso  weit  sind  auch  die 
Fixsterne  entfernt",  setzt  Massudi  hinzu.  Der  uns  nächste  Fix- 
stern (61  des  Schwans)  ist  jedoch  nicht  weniger  als  657,000  Halb- 
messer der  Erdbahn  ä  ao^'g  M^iH-  geograph.  Meilen  noch  von  uns 
entfernt.  Man  sieht  also ,  dass  der  Kosmos  der  Araber  beängsti- 
gende Dimensionen  hatte,  und  wie  viel  tiefer  unser  Blick  jetzt  in 
den  Weltraum  hineinzudringen  vermag. 

Seinen  Bericht  über  Indien  beginnt  der  Araber  mit  der 
erfreulichen,  wenn  auch  ungenauen  Bemerkung,  die  Gelehrten 
seiner  Zeit  seien  einig  darüber,  dass  dieses  Land  die  älteste  Ge- 
sittung besessen  habe.  Er  spricht  dann  von  der  Herrschaft  eines 
Mythenkönigs  Brahma  des  Grossen,  der  das  schöne  astronomische 
Alter  von  366  Jahren  erreichte,  und  unter  dessen  Regierung 
indische  Weise  das  Sindhind  (Siddhanta)  verfasst  hätten').  ,,Sie 
erfanden  auch",  setzt  er  hinzu ,  „die  neun  Ziffern,  welche  das 
numerische  System  der  Hindu  bilden." 

Diess  ist  eine  berühmte  Stelle,  weil  sie  den  ehemaligen  Irrthum 
beseitigt  hat,  als  verdankten  wir  die  sogenannten  „arabischen" 
Ziffern  den  Arabern  selbst,  durch  deren  Vermittlung  wir  sie  aus 
Indien  erhalten  haben.  Das  grosse  Verdienst  der  Inder  besteht 
natürlich  nicht  in  den  Zahlzeichen  selbst,  die  ganz  gleichgültig 
sind,  sondern  dass  nach  ihrem  System  der  Werth  der  Zahlen  durch 


l)  Die  Herausgeber  haben  ihren  Text  ohne  Noten  gegeben.  Unsere  Er- 
klärungen stützen  sich  daher  -meist  auf  Reinaud's  berühmte  Vorrede  zum 
Abulfeda,  sowie  auf  seine  kritischen  Bemerkungen  zu  den  arabischen  Reisenden 
des  neunten  Jahrhunderts.  Das  Siddhanta,  eine  Anleitung  zu  astronomischen 
Berechnungen ,  Hess  Almamun  aus  dem  Indischen  ins  Arabische  übersetzen,  es 
war  jedoch  kein  indisches  Originalwerk,  sondern  stammt  von  einem  griechischen 
Colonisten  Indiens  aus  dem  ersten  christlichen  Jahrhundert  her. 


2.A  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

ihre  Stellung  von  der  Rechten  zur  Linken  bedingt  wird  (Positions- 
werth).  Brahma  der  Grosse  soll  auch  zuerst  gezeigt  haben,  ,,dass 
die  Sonne  3000  Jahre  in  jedem  Zeichen  des  Thierkreises  verweile 
und  in  36,000  Jahren  den  ganzen  Kreis  durchlaufe! 

Die  Erscheinung,  von  welcher  hier  Massudi  spricht,  und  die 
wir  das  Vorrücken  der  Tag-  und  Nachtgleichen  nennen,  wurde 
nicht  von  den  Indern,  sondern  von  Hipparch  entdeckt ;  die  Sonne 
vollendet  auch  ihren  Kreislauf  durch  die  Zodiakalzeichen  nicht  in 
36,000,  sondern  in  25,868  Jahren  (nach  Sir  J.  Herschels  Outlines 
§  312).  „Gegenwärtig  (332  der  Flucht),  fährt  Massudi  fort,  be- 
findet sich  die  Apoge')  im  Zeichen  der  Zwilhnge,  wenn  aber  die 
Sonne  in  die  Zeichen  der  südlichen  Halbkugel  vorgerückt  sein 
wird,  dann  muss  sich  die  Gestalt  der  Erde  verändern,  der  be- 
wohnte Theil  wird  veröden  und  umgekehrt."  Diese  Ansicht  ist 
merkwürdig,  weil  sie  mit  der  höchst  geistreichen,  aber  höchst 
paradoxen  Hypothese  eines  modernen  Astronomen,  des  Hrn. 
Adhemar  übereinstimmt,  der  ebenfalls  in  Folge  des  Vorrückens 
der  Nachtgleichen  aller  13,000  Jahre  eine  grosse  Sündfluth  an- 
nimmt, die  abwechselnd  die  südliche  Erdhälfte  überschwemmen 
und  die  nördliche  trocken  legen,  und  umgekehrt  wieder  die  süd- 
liche trocken  legen  und  die  nördliche  überschwemmen  soll. 

Von  Brahma  dem  Grossen  stammen  die  heutigen  Brahminen, 
von  denen  Massudi  richtig  bemerkt,  dass  sie  sich  jeder  animaUschen 
Kost  enthielten  und  als  Kastenabzeichen  —  Frauen  wie  Männer  — 
,, gelbe  Seidenfäden  um  den  Hals  wie  Degengehänge"  (die  bekannte 
Schnur)  trügen.  Nach  Brahma' s  Tod  regierte  ein  zweiter  Fabel- 
könig, el-Bahbad,  100  Jahre.  Unter  seiner  Regierung  soll  das 
Nerd  (Triktrak)  erfunden  worden  sein.  Der  vierte  dieser  Dynasten 
ist  eine  historische  Persönlichkeit,  nämlich  Por  (Porus),  mit  dem 
Alexander  im  Fünfstromlande  focht.  Unter  seinem  zweiten  Nach- 
folger soll  das  Schachspiel  erfunden  worden  sein.  Wenn  auch  die 
Chronologie  Massudi's  ganz  werthlos  ist,  so  bezeichnet  er  doch 
ganz  richtig  das  Schach-  oder  richtiger  Schahspiel,  so  geheissen 
nach  den  zwei  Hauptfiguren  =) ,    als    eine    indische  Erfindung,   und 


i)  Natüriich  in  der  Sprache  der  damaligen  geocentrischen  Vorstellungen 
vom  Planetensystem. 

2)  Wenn  wir  im  Deutschen  sagen  Schach  dem  König,  so  ist  diess  eine 
sehr  sinnlose  Tautologie.  Schah  heisst :  der  König  (ist  bedroht) !  Schach  dem 
Könige!   ist  also   etwas  ganz  widersinniges. 


Massudi's  ffoldne  Wiesen  und  Edelsteinffruben. 


25 


höchst  merkwürdig  ist  es,  dass  es  zu  seinen  Zeiten  bereits  übei 
dieses  Spiel  eine  theoretische  Literatur  gab.  „Die  Griechen  und 
Römer ,  so  wie  andere  Völker",  bemerkt  der  Reisende ,  „haben 
über  dieses  Spiel  Theorien  und  Methoden  erdacht,  welche  man  in 
den  Schriften  der  Schachspieler  von  den  allerältesten  bis  auf 
es-Suli  und  el  Adh,  den  Meistern  der  Jetztzeit,  nachlesen  kann." 
Unter  dem  siebenten  Nachfolger  Brahma's  lebte  Sindbad,  der 
Verfasser  des  Buches  der  sieben  Wesire,  dessen  indischer  Ursprung 
also  von  Massudi  klar  bestätigt  wird. 

Unser  Araber  unterscheidet  sehr  deutlich  das  Sind  vom 
eigentlichen  Indien.  Zu  Sind  rechnet  er  das  Industhal  und  einen 
Theil  von  Afghanistan.  Indien  dagegen  ist  ihm  alles  vom  Indus 
östhch  gelegene  Land  bis  zur  Gränze  China's.  Zwischen  beiden 
Gebieten  liegt  das  Reich  des  Maharadscha  der  Sabedsch  Qavanen), 
der  über  alle  Inseln  des  Meeres  Sanf  (d.  h.  das  Meer  der  Sunda- 
Inseln)  herrscht.  Das  rascheste  Schiff  könnte,  sagt  der  Araber, 
nicht  in  zwei  Jahren  alle  die  Inseln  dieses  Meeres  umkreisen, 
welche  die  Gewürze  hervorbringen  (p.  34i)0-  Aus  diesem  Reiche 
wird  der  Kampher ,  die  Aloe ,  die  Gewürznelke ,  das  Sandelholz, 
die  Kardamome,  die  Kubebe  ausgeführt.  Auf  diesen  Inseln  finden 
sich  Berge,  welche  beständig,  Tag  und  Nacht,  Flammen  und  Rauch 
ausstossen  und  zu  den  grossen  Vulkanen  der  Erde  gehören.  Aus 
diesen  Angaben  wird  jeder  gebildete  Leser  hinlänglich  unterrichtet, 
dass  damit  nichts  anderes  gemeint  werden  kann,  als  die  malayische 
Inselwelt,  Dass  die  Sabedsch  Bewohner  Java^s  bedeuten  ,  können 
wir  ausserdem  daraus  schliessen,  dass  Java  bei  Ptolemäus  schon 
die  Gersteninsel  {^aßadlov)  genannt  wird.  Ein  Reich,  wie  es  die 
Araber  auf  der  Sundawelt  um  jene  Zeit  beschreiben ,  kennt  man 
aber  sonst  bis  jetzt  aus  keinen  andern  Geschichtsquellen.  Die 
älteste  Geschichte  der  Sundawelt  beginnt  für  uns  mit  der  Stiftung 
des  Reiches  Madschapahit   (1160    n.  Chr.),    welches    die   grössten 


l)  Wir  bemerken  die  Seitenzahlen,  weil  sich  Massudi's  Angaben  durch  das 
ganze  Buch  zerstreut  finden.  In  der  That  ermüdet  der  Araber  seine  Leser  ohne 
Schonung.  Wenn  wir  ihn  mit  China  beschäftigt  sehen,  springt  er  plötzlich 
über  zu  der  Eroberung  Spaniens  durch  die  Araber,  bald  beschreibt  er  uns  die 
Moschusziege ,  und  dann  beschäftigt  er  sich  ernstlich  mit  Verdauungserschei- 
nungen im  menschlichen  Körper ,  oder  mit  hydrographischen  Hypothesen ,  um 
dann  schliesslich  zu  einem  längst  vergessenen  Stoff  noch  einmal  zurückzu- 
kehren. 


2  0  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Sunda-Inseln  umfasste.  Für  etwas  älter  noch  wird  das  Reich 
Menangkabao  auf  Sumatra  gehalten,  aber  doch  nicht  so  alt,  dass 
wir  dorthin  den  Sitz  des  Maharadscha  der  Sabedsch  verlegen 
könnten.  Dass  aber  ganz  sicherlich  schon  in  den  ersten  Jahr- 
hunderten unserer  Zeitrechnung  auf  den  Sunda-Inseln  eine  höhere 
Cultur  und  grössere  politische  Organismen  bestanden  haben  müssen, 
können  wir  mit  Sicherheit  aus  einem  kleinen  Umstand  schliessen. 
In  den  Pandekten  wird  der  Name  der  Gewürznägel  erwähnt ,  die 
Gewürznägel  aber  fanden  sich  vor  der  Eroberung  Indiens  durch 
die  Holländer  nur  auf  der  kleinen  vulkanischen  Gruppe  der  Mo- 
lukken.  Ein  alexandrinischer  Kaufmann  des  sechsten  Jahrhunderts, 
Kosmas ,  beschreibt  uns  bereits  den  Nelkenbaum.  Bis  zu  den 
Molukken  reichte  also  in  der  römischen  Kaiserzeit  jedenfalls  der 
Handel,  und  aus  nautischen  Gründen  musste  der  Markt  der  Sunda- 
Gewürze  an  oder  in  der  Nähe  der  Sunda-Strassen  Hegen.  Die 
malayische  Inselwelt  wurde  also  damals  von  Handelsschiffen  durch- 
kreuzt, und  wo  ein  solcher  Handel  besteht,  da  setzt  er  geordnete 
Staaten  und  grössere  Hafenplätze  voraus ,  ganz  abgesehen  davon, 
dass  Java  und  Sumatra  an  den  Strassen  lagen,  wo  sich  indischer 
und  chinesischer  Verkehr  begegnete.  Massudi's  Nachrichten  über 
das  Reich  der  Sabedsch,  welche  von  dem  ihm  gleichzeitigen 
Kaufmann  Soleiman  und  Abu  Zeyd  in  den  ,, arabischen  Berichten" 
ergänzt  werden ,  besitzen  also  unbedingt  ein  hohes  Interesse  für 
Geschichte,  Geographie  und  Handel. 

Massudi  berichtet  ein  anderes  geschichtliches  Ereigniss,  wor- 
über wir  anderwärts  keine  Kunde  besitzen.  Der  Maharadscha 
der  Sabedsch  nämlich,  beleidigt  durch  den  Fürsten  von  Komar, 
rüstete  eine  Flotte,  fuhr  nach  dessen  Lande,  welches  lo — 20  Tage 
von  seinem  Reich  entfernt  liegt  (p.  171),  überfiel  seinen  Gegner 
völlig  unvorbereitet,  nahm  ihn  gefangen,  liess  ihn  enthaupten,  und 
setzte  auf  den  erledigten  Thron  den  Wesir  des  Hmgerichteten,  der, 
wie  es  scheint,  den  Sabedsch  geneigt  gewesen  war,  vielleicht 
seinen  Herrn  sogar  verrathen  hatte.  Der  Maharadscha  liess  zwar 
im  Kirchengebet  seinen  Namen  sprechen ,  nahm  also  die  Souve- 
ränetät  von  Komar  in  Anspruch,  hielt  aber  die  entlegene  Er- 
oberung nicht  weiter  fest,  sondern  kehrte  in  sein  Reich  zurück, 
doch  betrachtete  sich  zu  Massudi's  Zeiten  der  Nachfolger  auf  dem 
Throne  von  Komar  als  einen  Vasall  der  Sabedsch.  Das  Reich 
Komar   kennen    wir   aber   ganz  genau.     Es    ist   die    von  Tamulen 


Massudi's  goldne  Wiesen  und  Edelsteingniben.  2  7 

dicht  bevölkerte  Südspitze  Indiens ,  und  sein  Name  dem  Vor- 
gebirge Komorin,  welches  Ptolemäus  schon  kannte,  geblieben. 
Dass  ein  solcher  Wickingerzug  von  den  seetüchtigen  Sabedsch 
.unternommen  werden  konnte,  ist  gar  nicht  auffallend.  Schwieriger 
jedoch  ist  es  zu  erklären,  dass  Massudi  zu  den  Inseln  des  „Ma- 
haradscha" auch  Ceylon  (Serendib)  zählt.  Vielleicht  hatten  die 
Javanen  auf  der  Insel  einige  befestigte  Factoreien  wie  später  die 
Portugiesen ;  die  Annalen  von  Ceylon  wissen  jedoch  nichts  davon, 
sondern  die  Insel  war  im  9.  christlichen  Jahrhundert  ein  Schau- 
platz der  Anarchie,  und  die  einheimische  Bevölkerung  den  Raub- 
zügen der  sogenannten  „Malabaren"  ausgesetzt.  (Sir  Emerson 
Tennent,  Ceylon,  vol.  I,  p.  401.) 

Um  nach  Indien  zurückzukehren,  so  findet  sich  auch  bei 
Massudi  die  Eintheilung  der  süd-  und  ostasiatischen  Gewässer  in 
sieben  Becken  oder  sieben  Meere,  die  so  schwierig  zu  erklären 
waren  und  neuerdings  den  grossen  Indianisten  Hrn.  Lassen  be- 
schäftigt haben  ^).  Das  erste  Meer,  das  Meer  von  Fars,  kennen 
wir  sogleich  am  Namen ,  denn  es  ist  der  persische  Meerbusen. 
Ebenso  fest  begränzt  ist  das  zweite  Meer  von  Larewi,  denn  es 
beginnt  beim  Cap  Dschomdschomah  oder  bei  der  Meerenge 
(Hormus-Strasse),  welche  das  arabische  Oman  mit  der  persischen 
Südküste  bildet.  Bei  günstigem  Wetter,  d.  h.  während  der  pas- 
senden Mosun-Zeit,  kann  man  in  einem  Monat  das  Larewi-Meer 
durchkreuzen,  sonst  braucht  man  deren  zwei  oder  drei.  Massudi 
fügt  noch  hinzu,  dass  es  auch  das  Meer  von  Habesch,  Abessinien 
genannt  werde  und  die  Küsten  derSendsch^)  bespüle,  also  wurde 
damit  ein  Theil  des  indischen  Oceans  bezeichnet,  den  wir  jetzt 
das  arabische  Meer  nennen.  Die  südliche  Gränze  des  Larewi- 
Meeres  bezeichnet  Massudi  (S.  335)  mit  der  grössten  Deutlichkeit. 
Das  zweite  und  dritte  Meer  werden  nämlich  geschieden  von  einer 
grossen  Reihe  Inseln,  1900  an  der  Zahl,  auf  denen  die  Cocos-, 
aber  nicht  die  Dattelpalme  wächst.  Als  Geld  cursiren  auf  diesen 
Inseln  die  Cauris  (Otterköpfchen,  Cypraea  Moneta),  und  wenn  die 
Königin  dieser  Insel  in   ihrem  Schatze  Ebbe    spürt,    lässt  sie  von 


i)  S.  Art.  4:  Chr.  Lassen,  über  Gesch.  d.  ind.  Handels  im  Mittelalter. 

2)  Sendsch  sind  die  Somali.  Der  Name  hat  sich  erhalten  in  Sansibar. 
Azania  hiess  die  ostafrikanische  Küste  bekanntlich  bei  den  alten  griechischen 
Seefahrern,  Azan  aber  nennt  man  noch  heutigen  Tages  das  Gestade  südlich 
vom  Cap  Dschardhafun. 


28  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

ihren  Leuten  Cocoszweige  ins  Meer  werfen,  an  denen  sich  die 
Cauris  ansiedeln.  Man  nimmt  die  gefüllten  Zweige  heraus,  tödtet 
die  Muscheln  dadurch,  dass  man  sie  der  Sonne  aussetzt,  und  liefert 
die  leeren  Schalen  in  die  Schatzkammer.  Wir  brauchen  unsere 
Leser  nach  dieser  Beschreibung  gar  nicht  mehr  zu  orientiren,  denn 
die  Otterköpfchen  werden  noch  heutigen  Tages  Tonnenweise  von 
den  Malediven  und  Lakkediven  auf  britischem  Kiel  ausgeführt, 
und  wenn  sie  jetzt  auch  nicht  mehr  in  Indien  als  Münze  dienen, 
wie  früher,  so  haben  sie  dafür  Curs  bei  den  Negern  der  Gold-, 
Zahn-  und  Sklavenküste  und  in  Westindien  gewonnen ').  Zu  der 
Male-  und  Lakkedivengruppe  oder  den  Inseln  Dabihat  (das  ist 
eine  Verstümmlung  von  Dwipa,  oder  Diwa)  zählt  Massudi  auch 
Serendib  (Ceylon),  was  man  dem  Araber  schon  nachsehen  muss. 
Dort  endete  also  das  Meer  Larewi,  und  begann  das  dritte  Meer 
oder  das  Meer  von  Herkend,  worunter,  wie  man  unbestritten  an- 
nimmt, die  Araber  denjenigen  Theil  des  indischen  Oceans  verstanden, 
der  südlich  von  Ceylon  und  östlich  von  der  Maledivenkette  liegt. 
Leider  giebt  Massudi  nur  die  westliche  Gränze  des  Meeres  Herkend 
an,  und  zählt  dann  die  anderen  Meere  der  Reihe  nach  auf,  so 
dass  es  schwierig  ist,  den  Sinn  dieser  geographischen  Eintheilung 
zu  erfassen. 

Wir  müssen  also  von  dem  anderen  Ende  der  Meere  anfangen. 
Das  siebente  heisst  bei  ihm  Sandschi  oder  Meer  von  China.  Es 
ist  ein  stürmisches  Meer,  wo  sich  häufig  die  Erscheinung  einstellt, 
dass  bei  Unwetter  ein  Vogel  von  solcher  strahlenden  Klarheit  auf 
die  Mastspitzen  sich  niederlässt,  dass  die  Schiffer,  geblendet  von 
dem  Glänze,  seine  Gestalt  nicht  zu  unterscheiden  vermögen.  Nach 
seinem  Erscheinen  pflege  sich  das  Meer  zu  beruhigen  (St.  Elms- 
feuer). Ueber  China  hinaus  liegen  die  Inseln  Es-Sila.  Die  Luft 
ist  dort  so  gesund,  das  Wasser  so  rein,  der  Boden  so  fruchtbar, 
dass  von  allen  Leuten,  die  jemals  aus  dem  Irak  (Mesopotamien) 
dorthin  ausgewandert  sind,  keiner  in  die  Heimath  zurückkehren 
wollte.  Die  Bewohner  dieser  Insel  leben  mit  China  in  freund- 
lichem Verkehr,  und  gehören  auch  derselben  Menschenrace  an 
wie  diese  (S.  346).  Hier  bedarf  es  wohl  keiner  weiteren  Nach- 
hülfe, dass  der  Leser  unter  dem  Räthselnamen  Sila  den  japanischen 


l)  Siehe   deutsche  Vierteljahrsschrift  1858,    Nr.    83.     Ueber    den  Ursprung 
und  die  Natur  des   Geldes.     S.   234. 


Mas5udi's  goldne  Wiesen  und  Edelsteingruben.  29 

Archipel  erkennt.  Die  Stelle  ist  aber  höchst  merkwürdig,  denn  sie 
ist  die  erste  Erwähnung  Japans  bei  einem  Volke  des  westlichen 
Morgenlandes,  und  beweist  wiederum,  dass  die  Araber  300  Jahre 
früher  schon  diesen  Archipel  kannten,  ehe  er  den  Europäern  durch 
Marco  Polo  beschrieben  wurde.  Das  siebente  Meer  ist  also  ein 
Meer,  welches  die  Küsten  China's  bespült  und  den  japanischen 
Archipel  umfasst.  Es  reicht  aber  auch  vielleicht  herab  in  den 
Golf,  den  wir  jetzt  das  chinesische  Meer  nennen,  und  der  zwischen 
Annam,  Südchina,  den  Philippinen  und  Borneo  liegt.  Das  sechste 
Meer  dagegen  oder  das  Meer  von  Sanf  war,  wie  wir  oben  gesehen 
haben,  das  Meer,  welches  das  Inselreich  des  Maharadscha  der 
Sabedsch,  die  Sunda-Inseln  einschliesst,  und  es  gehört  zu  ihm 
wahrscheinlich  der  Golf  von  Siam,  der  südliche  Theil  des  chine- 
sischen Meeres  und  die  heutige  Java-See.  So  kennen  wir  demnach 
das  erste,  zweite,  dritte,  das  siebente  und  das  sechste  Meer,  nur 
das    vierte    und    fünfte  bleibt   räthselhaft. 

Massudi  sagt  an  einer  andern  Stelle:  von  Serendib  (Ceylon) 
in  einem  Abstand  von  1000  Parasangen  ^)  liegen  die  Inseln  Er- 
Ramin,  nicht  weit  entfernt  von  dem  Lande  Kansur,  wo  der  be- 
rühmte Kampher  herkommt.  Mit  diesen  Worten  ist  ganz  bestimmt 
der  District  Baros  an  der  Ostküste  Sumatra's,  der  Heimat*h  des 
Kansur-  oder  Fanfur-Kamphers  bezeichnet.  Unsere  Leser  erkennen 
also  ganz  sicher  nach  dieser  Beschreibung  unter  dem  Ramin- 
Archipel  die  Inselkette  an  der  Ostküste  Sumatra's,  also  Pulo  Babi, 
Pulo  Nias  und  die  Mandavigruppe.  In  der  Nähe  dieser  Inseln 
kennt  Massudi  einen  andern  Archipel,  Elendschmalus^),  bewohnt 
von  gänzlich  nackten  Völkern  mit  seltsamen  Gesichtern,  die  mit 
ihren  Canoes  zum  Tauschbetrieb  an  die  Schiffe  fahren.  Dass  man 
hier  die  Nikobaren  erkennen  sollte,  die  sich  ihr  Gesicht  durch 
Betelkauen  grauenhaft  zu  entstellen  pflegen,  würde  bei  der  Mager- 
keit der  geographischen  Merkmale  gewagt  erscheinen,  wenn  Mas- 
sudi nicht  fortführe:  in  ihrer  Nähe  liegen  die  Inseln  Andaman, 
bewohnt  von  schwarzen,  kraushaarigen  und  anthropophagen  Men- 
schen. Massudi  beschreibt  uns  hierauf  die  Wasserhosen,  die  sich 
auf  dem  Meere  Herkend  zu  bilden  pflegen,    und   fährt  dann  fort: 


i)  Massudi  rechnet  cap.  VIII,  p.   185   ff.    18V5  Parasangen  auf  einen  Grad 
des  Aequators,    also   il  Parasangen  =  9  deutsche  geogr.    Meilen. 
2)  Lendschbalus  heisst  er  bei  den  andern  Arab3rn. 


L 


3° 


Zur  Geschichte  der  Geographie. 


„das  vierte  Meer  ist  das  von  Kalah."  Es  scheint  also ,  dass  er 
die  Inseln  Er-Ramin ,  Elendschmalus  und  Andaman  zum  dritten 
Meere  Merkend  rechnete,  welches,  wie  wir  schon  oben  sahen,  den 
indischen  Ocean  südlich  und  östUch  von  Ceylon  bedeuten  musste. 
Das  Meer  von  Kalah-bar  beschreibt  er  als  seicht  und  inselreich, 
aber  seine  Angaben  sind  so  unbestimmt,  dass  man  durchaus  nicht 
zu  erkennen  vermag,  von  welchem  Raum  des  indischen  Oceans 
er  sprechen  will.  Nicht  besser  steht  es  mit  dem  fünften  Meere 
oder  dem  Meere  Kerdendsch.  Es  enthält  Inseln ,  auf  denen 
Kampher  wächst,  und  wo  es  Gruben  von  weissem  Blei  giebt,  worin 
eine  Andeutung  auf  die  Zinninsel  Banka  gefunden  werden  könnte'). 
Massudi  scheint  seine  Nachrichten  über  China  in  Basrah 
(Bassorah)  gesammelt  zu  haben ,  welcher  Handelsplatz  früher  un- 
mittelbaren Verkehr  mit  China  besass.  Der  Araber  traf  dort  zu- 
sammen mit  Abu-Zeid  Muhammet  aus  Siraf,  der  seit  dem  Jahre 
S'^S  (915  — 16  n.  Chr.)  sich  in  Basrah  angesiedelt  und  dort  einen 
Koraischiten  Ibn  Habbar  (Ibn  Wahab?),  welcher  letztere  in  China 
gereist  war,  über  dieses  Land  ausgeforscht  hatte.  Abu  Ze'id  ist 
der  Verfasser  ,,der  arabischen  Berichte  über  Indien  und  China"' 
die  von  Renaudot  und  später  von  Reinaud  herausgegeben  worden 
sind,-  Als  Massudi  schrieb  (332  n.  d.  Fl.  oder  943—4  n.  Chr.), 
hatte  der  directe  Verkehr  mit  China  bereits  aufgehört.  Die  muham- 
medanischen  Kaufleute  von  Siraf  und  Oman,  den  beiden  grossen 
Seestapelplätzen  im  persischen  Golfe,  fuhren  nur  noch  bis  Killah^), 
halben  Wegs  von  China,  wo  sie  mit  den  chinesischen  Dschunken 
zusammentrafen.  Früher  war  es  anders  gewesen.  ,,Die  chine- 
sischen Kauffahrer",  sagt  Massudi,  „fuhren  bis  zur  Küste  Omans, 
nach  Siraf  an  der  persischen  Küste,  nach  den  Bahrein-Inseln,  nach 
Obollah  3)  und  nach  Basrah,  wie  umgekehrt  die  Fahrzeuge  dieser 
Länder  nach  China  gingen."  Ein  muhammedanischer  Kaufmann 
aus  Samarkand  hatte  sich  nach  Oman   begeben,   auf  einem  China- 


i)  Ueber  die  Schwierigkeiten  das  vierte  und  fünfte  Meer  zu  bestimmen, 
vgl.  Art.  4:  Chr.  Lassen,  über  Gesch.  d.  ind.  Handels  im    Mittelalter. 

2)  Man  hat  Killah  für  synonym  mit  Kalah  oder  Kalahbar  halten  wollen. 
Wo  dieser  Platz  gesucht  werden  müsse,  ist  noch  nicht  ermittelt  worden,  sondern 
es  herrscht  noch  gegenwärrig  darüber  völlige  Uneinigkeit  bei  den  Orientalisten 
sowohl  wie  bei  den  Geographen. 

3)  Das  alte  Apologos  an  der  Euphratmündung. 


Massudi's  goldne  Wiesen  und  Edelsteingruben.  -^  j 

fahrer  eingeschifift,  und  war  in  dem  Grosshafen  China's  Khanfu') 
gelandet.  Dort  war  ein  grosses  Zollamt ,  und  der  Samarkandier 
wurde  von  dem  dortigen  Steuerbeamten,  einem  Eunuchen,  geprellt 
und  misshandelt.  So  gross  war  aber  das  Vertrauen  in  die  Justiz 
der  Chinesen,  dass  der  Muhammedaner  nach  An-mu,  der  da- 
maligen Hauptstadt,  sich  begab  und  seine  Beschwerden  vor  dem 
Kaiser  selbst  anbrachte.  Wirklich  gelang  es  ihm  auch,  dass  der 
Monarch  eine  Untersuchung  anordnete ;  Berichte  aus  der  Pro- 
vinz wurden  eingeholt,  der  Samarkandier  erhielt  Recht,  und  der 
Eunuch  wurde  abgesetzt.  Die  Araber  sind  überhaupt  grosse  Be- 
wunderer der  Chinesen  und  der  chinesischen  Cultur,  wie  sie  auch 
umgekehrt  damals  in  China  grosse  commercielle  und  religiöse 
Freiheiten  genossen.  So  reiste  der  obenerwähnte  Ibn  Habbar 
von  Khanfu  nach  Hamdan,  wo  sich  damals  die  Residenz  des 
Kaisers  befand,  und  begehrte  dem  Himmelssohn  vorgestellt  zu 
werden,  indem  er  sich  auf  seinen  Rang  als  Abkömmling  vom 
Propheten  berief.  Der  chinesische  Hof  liess  zuerst  Erkundigungen 
bei  den  in  Khanfu  ansässigen  Arabern  einziehen  und  als  sich  die 
hohe  Abkunft  des  Koreischiten  bestätigte,  erhielt  er  wirklich  eine 
Audienz ,  in  welcher  sich  der  Kaiser  huldvoll  mit  ihm  über  die 
Propheten  der  semitischen  Völker  unterhielt  und  dabei  auch  auf 
die  Sündfluth  '  zu  sprechen  kam.  Eine  solche  Ueberfluthung,  meinte 
der  himmlische  Sohn,  könne  nur  partiell  gewesen  sein,  denn  weder 
die  Bewohner  China's,  noch  die  Indiens  oder  des  Sind  besässen 
eine  solche  Ueberlieferung.  Als  der  Araber  das  Alter  der  Welt 
auf  6000  Jahre  angab,  brach  der  chinesische  Hof  in  ein  Gelächter 
aus ,  besonders  als  der  Fremdling  eingestehen  musste ,  diese  Zeit 
sei  im  Koran  angegeben.  Die  Chinesen,  die  ihre  freilich  mythische 
Zeitrechnung  viel  höher  hinauf  führen,  mochten  natürlich  sehr  ge- 
ringschätzend über  die  bescheidene  Chronologie  der  Araber  und 
ihres  Propheten  denken. 

Die  damalige  Hauptstadt  Hamdan  zerfiel,  wie  das  heutige 
Peking,  in  zwei  Städte,  nämlich  in  die  eigentliche  Residenz,  wo 
auch  die  Paläste  aller  höheren  Beamten  standen,  und  in  die  bür- 
gerUche  Stadt.  Beide  trennte  ein  breites  Glacis.  Es  gab  auch 
(wie  in  den  jetzigen  Städten)  keine  Marktplätze,  sondern  nur  breite 


i)  Das  Gampu  des  Marco  Polo,  in  der  Nähe  des  heutigen  Tschafu  (Tsche- 
kiang)  nach  Klaproth.      Andere  halten  es  für  Canton. 


3  2  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Strassen,  von  Canälen  durchzogen  und  von  Alleen  beschattet. 
„China",  fährt  Massud!  fort,  ,,ist  ein  reizendes  Land,  voll  üppigen 
Pflanzenwuchs ,  durchschnitten  von  unzähligen  Canälen ,  dennoch 
findet  sich  dort  die  Dattelpalme  nicht."  Diese  Wendung  ist  cha- 
rakteristisch. Als  die  Araber  Spanien  eroberten,  war  das  erste, 
was  sie  thaten:  Palmen  zu  pflanzen,  und  ein  Land  ohne  Datteln 
bleibt  in  ihren  Augen  immer  ein  Land  der  Armuth.  Ibn  Habbar 
rühmt  die  Leistungen  der  chinesischen  Maler  und  die  öffentlichen 
Ermunterungen  der  Künstler.  Sie  stellten  ihre  Bilder  ein  ganzes 
Jahr  lang  öffentlich  aus ,  und  erhielten ,  wenn  die  Kritik  günstig 
war,  eine  Belohnung  vom  Kaiser.  So  hatte  einer  dieser  Meister 
einen  Sperling  gemalt,  der  auf  einer  Kornähre  sass.  Das  chine- 
sische Publicum  war  entzückt  und  fand  die  Darstellung  der  Natur 
täuschend  ähnhch,  so  dass  dem  Künstler  sein  Preis  gesichert  schien. 
Da  trat  aber  ein  buckliger  Kunstrichter  auf  und  kritisirte  das 
Bild  sehr  ungünstig.  ,, Jedermann  weiss",  sagte  er,  ,,dass,  wenn 
sich  ein  Sperling  auf  eine  Aehre  setzt,  der  Halm  sich  umbiege, 
der  Maler  hat  ihn  aber  ganz  gerade  gelassen."  Als  der  Kaiser  von 
dieser  Kritik  hörte  und  sie  billigte,  musste  der  Spatzenmaler  mit 
seinem  Bilde  ohne  einen  Preis  abziehen.  —  Diess  war  der  Zustand 
der  materiellen  Civilisation  in  China  um  die  Zeit,  wo  die  Karo- 
linger den  Vertrag  von  Verdun  schlössen! 

Der  ausserordentlich  günstige  und  fruchtbare  Culturaustausch 
zwischen  China  und  dem  Reiche  der  Chalifen  wurde  aber  plötzlich 
unterbrochen  durch  eine  Begebenheit,  die  sich  heutigen  Tages  fast 
buchstäblich  wiederholt.  Im  Jahre  264  (877 — 78  n.  Chr.),  erzählt 
Massudi,  erhob  sich  in  China  ein  Prätendent  Namens  Yan-schu, 
der  unter  dem  verlornen  Gesindel  grossen  Anhang  fand.  Man 
legte  anfangs  dem  Aufstand  keine  Wichtigkeit  bei,  aber  der  Rebell 
sah  sehr  bald  seine  Macht  anschwellen,  und  verwegen  gemacht, 
marschirte  er  gegen  Khanku ') ,  eine  wichtige  Stadt ,  6  —  7  Tage- 
reisen oberhalb  der  Mündung  eines  Flusses  von  der  Grösse  des 
Tigris  gelegen,  der  sich  in  das  Meer  von  China  ergiesst,  und 
welchen  die  arabischen  Kauffahrer  aus  Basrah,  Siraf,  Oman, 
Indien,  den  Sabedsch-Inseln,  Sinf  und  andern  Königreichen  hinauf- 
gingen.     Die  Stadt  Khanku,    deren   Bevölkerung    aus    Muhamme- 


i)    In    den  ,, arabischen   Berichten"    heisst    sie    Khanfu,     darf   aber    nach 
Reinaud  nicht  mit  dem  Seehafen  bleichen  Namens  verwechselt  werden. 


Massudi's  goldne  Wiesen  und  Edelsteingruben.  23 

danem,  Juden,  Magiern  (Parsis)  und  Chinesen  bestand,  fiel,  nach- 
dem die  Rebellen  die  kaiserlichen  Truppen  in  die  Flucht  ge- 
schlagen, ihnen  in  die  Hände,  und  bei  dem  Blutbad,  welches  die 
Sieger  anrichteten,  erlagen  durchs  Schwert,  oder  ertranken  im 
Flusse  200,000  Muhammedaner ,  Juden,  Christen  und  Parsen. 
„Diese  Ziffemangabe",  setzt  Massudi  hinzu,  „ist  wahrscheinlich 
sehr  genau,  denn  die  Könige  von  China  lassen  Bevölkerungslisten 
nicht  bloss  über  ihre  eigenen  Unterthanen,  sondern  auch  über  die 
fremden  Ansiedler  von  eigenen  statistischen  Beamten  aufnehmen." 
So  bevölkert  waren  also  damals  die  Fremdenviertel  in  den  chine- 
sischen Stapelplätzen  und  so  eifrig  der  Handel !  Dass  auch  Christen 
genannt  werden,  darf  uns  gar  nicht  befremden,  denn  schon  in  den 
ersten  Jahrhunderten  unserer  Zeitrechnung  gab  es  Colonien  von 
Griechen,  die  bekannten  Thomas-Christen  in  Süd-Indien,  und  Juden 
kamen  ebenfalls  wahrscheinlich  von  Kotschin  aus  nach  China.  Die 
Rebellen  hieben  alle  Maulbeerbäume  um  Khanku  nieder  und  setzten 
ihre  Verheerungen  voo  Stadt  zu  Stadt  fort.  Aus  Hang  zum  Raub 
oder  aus  Furcht  vor  den  Räubern  schlössen  sich  ihnen  viele 
Völkerschaften  an,  und  zuletzt  stand  Yanschu  vor  Anmu,  der 
Hauptstadt  selbst.  Der  Kaiser  zog  ihm  mit  100,000  Mann  ent- 
gegen und  lieferte  ihm  eine  Schlacht,  welche  das  Schicksal  des 
Reiches  besiegelte ;  der  Monarch  wurde  geschlagen  und  der  Rebell 
zog  in  die  Hauptstadt  ein.  Der  Kaiser  war  indessen  nach  Med') 
an  der  Gränze  von  Tibet  geflohen,  und  hatte  an  den  Irchan,  den 
Türkenhäuptling,  um  Hülfe  geschrieben.  Wirkhch  erschienen  auch 
die  Tatarengeschwader  im  himmlischen  Reich,  vernichteten  die 
Rebellion  und  brachten  den  „Sohn  des  Himmels",  wie  Massudi 
seinen  Titel  richtig  bezeichnet,  nach  China  zurück,  aber  seine 
Macht  war  gebrochen.  Was  der  Araber  uns  so  treffend  schildert, 
war  der  Untergang  der  fremdenfreundlichen  Thang-Dynastie.  Der 
Kaiser,  unter  dem  Ibn  Habbab  in  China  reiste,  hiess  Y-tsung 
(f  874  n.  Chr.),  und  der  Herd  der  Rebellion,  die  nach  seinem 
Tode  ausbrach,  lag  im  PetschiH  und  Schantung^).  Die  Zustände, 
die  nach  der  Herbeirufung  der  verhängnissvollen  Tatarenhülfe 
nachfolgten,  kann  man  nicht  besser  schildern,  als  wie  es  Massudi 


1)  In    den  Relations   des  Voyages  I    p.  65    heisst    der  Name  Madu    oder 
Amdu  und  ist  identisch  mit  der  heutigen  gleichnamigen  Stadt  in  Tibet. 

2)  Reinaud,    Discours  prelim.  zu  den  Relations  des  voyages  p.  CXXXV. 
Pesckel,  Abhandlungen,    ü.  -, 


24  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

durch  zwei  historische  Parallelen  thut.  ,, Während  dieses  (Rebellen-) 
Krieges  hatten  sich  alle  Statthalter  in  ihren  Provinzen  unabhängig 
gemacht,  gerade  so  wie  die  Häupter  der  Satrapien,  als  Alexander, 
Sohn  Philipps  von  Macedonien,  den  Dara  (Darius),  Sohn  des  Da- 
rius,  König  von  Persien,  getödtet  hatte,  und  wie  es  sich  heutigen 
Tages  im  Jahre  332  (943 — 44  n.  Chr.)  bei  uns")  zuträgt.  Der 
König  von  China  musste  sich  mit  dem  Scheingehorsam  seiner 
Statthalter  und  mit  dem  Königstitel  in  ihren  Sendschreiben  be- 
gnügen. Ihm  selbst  aber  blieben  seine  Provinzen  unzugäwglich, 
und  die  Usurpatoren  niederzuschlagen ,  dazu  fehlte  es  ihm  an 
Macht.  Er  begnügte  sich  daher  mit  ihren  Huldigungen  und  liess 
sie  in  Ruhe,  ja  er  musste  sogar  zuschauen,  wie  diese  neuen  Fürsten 
untereinander  sich  befehdeten.  So  hörte  Ordnung  und  Eintracht 
auf,  wie  sie  unter  den  alten  Königen  geherrscht  hatte."  Abu 
Zeyd  fügte  noch  hinzu,  dass  in  Folge  dieser  Rebellion  aller  directe 
Verkehr  der  Araber  in  Persien  mit  China  aufhörte  und  auch  keine 
Seidenwaaren  mehr  gen  Westen  gelangten. 

Diess  ist  der  wichtigste  Inhalt  aus  dem  jetzt  ^-orliegenden 
ersten  Band  eines  arabischen  Geographen  der  ersten  Hälfte  des 
IG.  Jahrhunderts 

II. 

(Ausland   1863.     Nr.   36.     2.   September.) 

Der  zweite  Band  der  goldnen  Wiesen ^j  steht,  wie 

die  Herausgeber  selbst  bekennen,  an  Werth  tief  unter  dem  ersten, 
denn  er  ist  gefüllt  mit  einer  läppischen  Geschichte  der  alten  Per- 
serkönige, sowie  der  römischen  und  der  b)^zantinischen  Kaiserreiche, 
sonst  aber  giebt  der  vielgereiste  Araber  uns  nur  einige  gute  Auf- 
schlüsse über  die  damaligen  Zustände  im  Kaukasus  und  in  Russ- 
land, sowie  eine  Schilderung  Aegyptens. 

Treffend  bemerkt  er  über  das  kaukasische  Sprachengewirr: 
„Der  allmächtige  Schöpfer  allein  vermöge  alle  Völkerstämme  dieses 
Gebirgslandes  zu  nennen".  Schon  zu  Massudi's  Zeit  unterschied 
man  nicht  weniger  als  72  Völkerschaften,  die  in  Unabhängigkeit 
lebten  und  eine  gesonderte  Sprache  (oder  wenigstens  eine  besondere 


1)  Das  heisst  im  Reiche  der  Chalifen  aus  dem  Hause  Abbas. 

2)  Ma^oudi  les  Prairies  d'Or,    par  Barbier  de  Meynard  et  Pavet  de  Cour- 
treille.     Paris  186^. 


Massudi's  goldne  ^Yiesen  und  Edelsteingruben.  ^e 

Mundart)  redeten.  Der  Araber  nennt  uns  unter  andern  im  Schirwan 
die  Laks  (Lesghi) ,  die  Gumik ,  ihre  Nachbarn  die  Serikeran  (die 
heutigen  Kubetschi),  deren  persischer  Name  Verfertiger  von  Panzer- 
hemden bedeute,  die  Alanen,  welche  erst  im  Jahr  320  (932 — ;^^  n. 
Chr.)  ihre  christlichen  Bischöfe  verjagten  und  zum  Islam  übertraten, 
damals  noch  immer  eine  sehr  mächtige  -Nation ,  denn  ihr  König 
konnte  30,000  Reisige  ins  Feld  stellen.  Zwischen  dem  Kaukasus 
und  dem  Meer  von  Rum  (Pontus)  sassen  die  Kaschaken,  ihrem 
religiösen  Bekenntnisse  nach  Magier,  d.  h.  Feueranbeter,  nach 
Massudi's  Versicherung  der  schönste  Menschenschlag  von  reinster 
Hautfarbe,  schlankem  Wuchs  und  gut  ausgebildeten  Formen.  Sie 
lebten  unter  sich  zerfallen  und  waren  der  Unterwerfung  durch  die 
Alanen  nur  durch  die  Festigkeit  ihrer  am  Meer  gelegenen  Burgen 
entgangen,  von  denen  aus  sie  einen  Handelsverkehr  mit  Trebisonde 
unterhielten.  Wären  alle  Stämme,  mit  denen  sie  durch  Sprach- 
gemeinschaft verbunden  waren,  politisch  geeinigt ,  so  würde ,  ver- 
sichert der  Araber,  selbst  die  Macht  der  Alanen  vor  ihnen  weichen 
müssen.  Als  Nachbarn  der  Alanen  im  Kaukasus  nennt  Massudi 
die  Abchasen,  die  damals  noch  Christen  waren,  und  als  ihre  Nach- 
barn die  ebenfalls  noch  christlichen  Chasranen.  Zwischen  dem 
Kaukasus  und  der  Donau  in  den  südrussischen  Steppen  sassen 
damals  vier  Stämme :  die  Yadschni,  Bedschgarden,  Newkerdeh  und 
die  streitbaren  Bedschnaken  (Petschenegen ,  oder  Patzinaken  der 
alten  Byzantiner) ,  welche  beständig  und  gerade  kurz  vorher  im 
Jahre  320  (932  n.  Chr.)  mit  den  Völkern  von  Rum,  also  mit  dem 
oströmischen  oder  byzantinischen  Reiche  in  Krieg  lagen. 

Wichtiger  als  diese  flüchtigen  Mittheilungen  sind  seine  Nach- 
richten über  das  damalige  Chasarenreich.  Die  Chasaren  werden 
nach  Klaproth  zuerst  im  Jahre  626  von  byzantinischen  Schrift- 
stellern erwähnt.  Allein  Vivien  de  St.  Martin  (Geogr.  Ancienne, 
tom.  II,  p.  40)  glaubt  die  Katiaroi  des  Herodot  und  die  Aga- 
thyrsen  oder  Agatzir  der  alten  Geographen  in  ihnen  zu  erkennen. 
Nach  Attila's  Tode  im  Jahre  462  zogen  sie  von  der  Wolga  in  die 
Steppen  zwischen  Don  und  Kaukasus ,  breiteten  sich  dann  im 
7 .  Jahrhundert  über  die  Krim  aus ,  die  im  Mittelalter  nach  ihnen 
Gazaria  genannt  wurde,  mussten  aber  vor  den  Petschenegen  und 
im  10.  Jahrhundert  vor  den  W^irägern  weiter  östlich  zurückweichen. 
Da  der  arabische  Geograph  Isstachry  behauptet,  sie  hätten  dieselbe 
Sprache  geredet  wie  die  Bulgaren  oder  Wolgaren  (von  ihrem  Sitz 


^5  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

an  der  Wolga  so  geheissen),  so  müssen  die  Chasaren  ein  finnischer, 
oder  Avie  man  auch  sagt,  ein  uraUscher  Stamm  gewesen  sein. 

Massudi  nun  berichtet  uns,  dass  der  ehemahge  Sitz  der  Cha- 
sarenkönige  in  Semender  gewesen  sei,  acht  Tagereisen  von  Bab 
el  abwab  (eisernes  Thor)  oder  Derbend.  Dieses  Semender  ist  das 
heutige  Tarku  am  kaspischen  Meere ,  nördlich  von  Derbend.  Zu 
seiner  Zeit  aber  war  die  Hauptstadt  nach  Amol  verlegt  worden. 
Dieses  Amol  ist  nicht  etwa  die  Stadt  Mazenderans,  sondern  ein 
anderes  Amol,  welches  wir  nördlich  vom  Kaukasus  suchen  müssen. 
Der  König  und  sein  Hof,  erzählt  Massudi,  bekennen  sich  zur 
jüdischen  Religion.  In  der  Hauptstadt  gab  es  vier  Gerichtshöfe, 
nämlich  zwei  Richter  für  die  Muhammedaner,  zwei  für  die  Chasaren, 
die  nach  der  Tora,  zwei  für  die  Christen,  die  nach  den  Evange- 
lien, und  einen  für  die  heidnischen  Slaven  und  Russen,  der  nach 
Recht  und  Billigkeit  ohne  geschriebene  Satzungen  entschied,  nur  in 
schwierigen  Fällen  gingen  die  Rechtssachen  der  Heiden  an  einen 
der  Kadi.  Die  Chasaren  lebten  damals  unter  einer  eigenthümlichen 
Verfassung.  Als  nominelles  Oberhaupt  regierte  ein  Chachan,  der 
aber  nie  sich  öffentlich  zeigen  durfte,  sondern  in  seinem  Harem 
wie  in  einem  Käfig  eingesperrt  gehalten  wurde.  In  seinem 
Namen  regierte  einer  der  Häuptlinge,  welcher  aber  alle  Verant- 
wortlichkeit auf  den  Chan  übertrug.  Der  König  wurde  daher  für 
seinen  Major  domus  zur  Rechenschaft  gezogen.  Wenn  nämhch 
das  Reich  in  Noth  gerieth ,  versammelte  sich  das  Volk ,  ging  zu 
dem  Regenten  und  sprach:  „Von  unserm  jetzigen  Chachan  ist 
nicht  viel  zu  erwarten  als  Unheil,  tödte  ihn  daher  oder  liefere  ihn 
aus."  Der  Regent,  je  nach  seiner  Stimmung,  lieferte  dann  die 
königliche  Puppe  aus  oder  suchte  den  Unwillen  des  souveränen 
Volkes  zu  beschwichtigen. 

Zwischen  den  Chasaren  und  Bulgaren,  also  zwischen  Kaukasus 
und  Wolga ,  sassen  die  Barta ,  ein  Jägerstamm ,  der  zu  den  Cha- 
saren mitgerechnet  wurde.  Vielleicht  sind  die  Barta  unsere  jetzigen 
Kabarden  im  Norden  des  Kaukasus.  Es  würde  dadurch  Vivien 
de  St.  Martins  Behauptung  bestätigt,  welcher  die  heutigen  Kabarden 
als  die  Reste  der  Chasaren  erklärt. 

Nördlich  von  den  Chasaren  an  der  Wolga  sassen  die  Wol- 
garen oder  Bulgaren.  Ihr  Land,  welches  im  Mittelalter  die  grosse 
Bulgarei  hiess,  lag  zwischen  Wolga  und  Kama.  Dort  befand  sich 
die  Heimath  oder  die  älteren  Wohnsitze  der  Bulgaren.     Ein  Theil 


Massudi's  goldne  Wiesen  und  Edelsteingruben.  27 

dieser  Bulgaren  war  aber  früher  schon  über  die  Donau  gegangen 
und  hatte  dort  ein  neues  Bulgarenreich  gegründet,  von  dem  unsere 
heutige  Bulgarei  ihren  Namen  herleitet.  Die  jetzigen  Bulgaren 
haben  freilich  wenig  gemein  mit  dem  Volke,  welches  sie  einst 
unterwarf  und  ihnen  seinen  Namen  hinterliess,  denn  die  modernen 
Bulgaren  sind  serbische  Slaven,  die  alten  und  wahren  Bulgaren  da- 
gegen gehören  unter  die  finnischen  Stämme.  Massudi  sagt:  ,,Die 
Stadt  der  Bulgaren  ist  an  der  Küste  des  Meeres  Mayotis  gelegen, 
und  diese  Völker  türkischen  Ursprungs  bewohnen,  wenn  ich  nicht 
irre,  das  siebente  Klima."  Die  See  Mayotis  ist  natürlich  das 
asowsche  Meer,  dass  aber  jemals  die  Bulgaren  dort  eine  Stadt 
gegründet  hätten,  ist  nicht  bekannt,  richtig  dagegen  bemerkt  er, 
dass  sie  das  „siebente  Klima",  das  heisst  den  höchsten  bekannten 
Norden,  bewohnten.  Die  ehemals  berühmte  Bulgarenhauptstadt 
lag  nämlich  an  der  Wolga,  etwas  südlich  von  der  Einmündung 
der  Kama.  Dass  der  Araber  die  Bulgaren  zu  den  türkischen 
Völkern  zählt,  darf  uns  nicht  irre  machen,  denn  der  Ausdruck 
Türken  war  im  Munde  der  Araber  so  allgemein,  wie  der  Name 
Skythen  im  Alterthum,  und  lange  Zeit  bei  uns  der  Ausdruck  Ta- 
taren. Erst  seit  310  (922 — 923  n.  Chr.)  waren  die  Könige  der 
Bulgaren  zum  Islam  übergetreten. 

Massudi  berichtet  nun  weiter  folgenden  Vorfall.  Ungefähr 
im  Jahre  300  (913  n.  Chr.)  gingen  500  Schiffe  der  Russen,  jedes 
bemannt  mit  100  Streitern,  den  Canal  hinauf,  welcher  das  Meer 
Nitas  (Pontus)  mit  dem  Meer  der  Chasaren  (Kaspi-See)  verbindet. 
Als  sie  an  die  Stelle  kamen,  wo  der  Canal  sich  mit  dem  „Fluss 
der  Chasaren"  vereinigt,  erbaten  sie  beim  Chasarenkönig  die  Er- 
laubniss  zur  Durchfahrt.  Sie  wurde  ihnen  ertheilt,  und  die  russi- 
schen Kähne  fuhren  nun  den  Strom  der  Chasaren  hinab,  an  dem 
die  Stadt  Amol  liegt,  und  hinaus  in  das  Meer  der  Chasaren 
(Kaspi-See).  Dort  plünderten  sie  alle  dichter  bewohnten  Gestade : 
Dschilan ,  Täbristan ,  Adserbaidschan  und  das  Land  Baku.  Mit 
Beute  beladen  kehrten  sie  wieder  heim  und  wollten  den  Fluss  der 
Chasaren  hinauf  gehen.  Inzwischen  aber  waren  die  Muhammedaner 
im  Chasarenreich ,  aufgebracht  über  die  Räubereien,  welche  an 
ihren  kaspischen  Glaubensgenossen  begangen  worden  waren,  zum 
Chachan  der  Chasaren  gegangen  und  hatten  sich  die  Erlaubniss 
erbeten,  Rache  an  den  Russen  üben  zu  dürfen.  Der  Chachan 
wollte    es    mit    beiden  Theilen    nicht   verderben ,    er  gab  also  die 


-jg  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Russen  preis,  benachrichtigte  sie  aber  heimlich  von  der  drohenden 
Gefahr.  So  kam  es  denn  zur  Schlacht,  in  welcher  die  Muhamme- 
daner  siegten  und  die  Russen  aufgerieben  wurden  bis  auf  5000 
Mann,  die  später  den  Barta  in  die  Hände  fielen. 

Diese  Begebenheit  ist  historisch  und  Massudi,  der  jene  Länder 
bereiste,  konnte  sie  noch  im  frischen  Gedächtniss  bei  den  Ein- 
wohnern finden.  Auch  die  Zeitangabe  stimmt  ziemlich  gut  mit 
andern  arabischen  Berichten  zusammen.  Schwieriger  wird  es 
schon ,  zu  errathen ,  wen  man  sich  unter  den  Russen  zu  denken 
habe.  Massudi  selbst  gesteht  uns,  der  Name  Russ  werde  einer 
Pluralität  von  Völkerstämmen  ertheilt,  unter  denen  der  zahlreichste 
die  Lutaaneh  (Letten,  Litthauer)  seien.  Wir  haben  also  die  Wahl, 
hinter  den  Russen  entweder  Petschenegen  oder  Waräger  oder 
ächte  russische  Slaven  zu  suchen.  Allein  noch  schwieriger  ist  zu 
enträthseln ,  wie  die  russischen  Schiffe  vom  schwarzen  ins  kas- 
pische  Meer  gelangen  konnten.  Zu  Massudi's  Zeit  herrschte  bei 
den  Arabern ,  wie  eine  Zeitlang  auch  im  Alterthum  ,  die  Ansicht,, 
das  kaspische  und  das  schwarze  Meer  ständen  mit  einander  in 
Verbindung.  „Ich  habe  jene  Begebenheit  erzählt",  bemerkt  Mas- 
sudi, ,,um  diesen  Irrthum  zu  widerlegen,  denn  wenn  eine  Verbin- 
dung des  Chasaren-Meeres  mit  der  Mayotis  (asowsches  Meer)  und 
durch  die  Mayotis  mit  dem  Meere  Nitas  (Pontus)  sowie  mit  dem 
Canal  von  Konstantinopel  bestände,  so  würden  die  Russen,  welche 
dieses  Meer  (den  Pontus)  beherrschen ,  gewiss  jene  Verbindung 
benutzt  haben  (um  in  das  kaspische  Meer  zu  segeln)." 

Reinaud,  der  grösste  Kenner  der  arabischen  Geographie,  erklärt 
in  seiner  Vorrede  zum  Abulfeda  diese  Erzählung  folgendermassen^). 
Die  Araber  hielten  den  Don  für  einen  Gabelarm  der  Wolga  und 
glaubten,  dieser  letztere  Strom  theile  sich,  um  in  das  kaspische  und 
in  das  asow'sche  Meer  zu  fliessen.  Die  Russen  seien  daher  den 
Don  hinaufgegangen  bis  zu  der  Landenge,  die  er  mit  der  Wolga  bei 
Tzaritzyn  bilde ,  und  dort  hätten  sie  ausgeführt,  was  die  cana- 
dischen  Pelzhändler  eine  Portage  nennen ,  sie  hätten  nämlich  ihre 
Kähne  aus  dem  Don  in  die  Wolga  getragen.  In  der  That  kann 
sich  auch  die  Sache  so  verhalten  haben ,  und  demnach  wäre 
also     der     ,, Strom     der     Chasaren",     von    dem    Massudi    spricht, 


l)    Die  Herausgeber   des  Massudi    haben    sich    nur    auf  eine  Uebersetzung 
eschränkt,  ohne  den,  Text  zu  erklären. 


Massudi's  goldne  Wiesen  und  Edelsteingruben.  ■jg 

die  Wolga,  und  die  Chasarenhauptstadt,  die  er  Amol  nennt,  hätte 
an  der  Wolga  gelegen,  vielleicht  an  der  Stelle,  wo  jetzt  Astrachan 
liegt  oder  Sarai,  die  Hauptstadt  der  Usbekenchane  vom  Kiptschak, 
im   13.  und   14.  Jahrhundert  lag. 

Allein  die  Wolga  kann  nicht  der  ,, Strom  der  Chasaren" 
heissen.  Sie  führt  bei  den  Arabern  ihren  älteren  Namen  Itl,  den 
die  Byzantiner  unter  der  Form  Attila  kennen ,  während  sie  früher 
bei  den  alten  Griechen  bekanntlich  Rha  hiess.  Zu  Massudi's  Zeit 
sassen  an  der  Wolga  auch  nicht  Chasaren,  sondern  Bulgaren; 
wenn  man  also  den  Strom  nach  seinen  Anwohnern  hätte  benennen 
wollen,  so  würde  man  ihn  den  Wolgarenfluss  genannt  haben.  Es 
ist  daher  nicht  unwahrscheinlich,  dass  die  Russen  den  Don  nur 
bis  zur  Mündung  des  Manytsch  hinaufgingen  und  vom  Manytsch 
durch  die  Kumaniederung  in  die  kaspische  See  gelangten.  Dass 
eine  solche  Verbindung  früher  bestanden  haben  kann,  ist  durch  die 
Arbeiten  des  Dr.  Bergsträsser  (Petermann's  geogr.  Mitth.  1859, 
Blatt  III)  erst  ganz  neuerdings  bewiesen  worden.  Dadurch  erspart 
man  sich  die  Hypothese  einer  Portage  über  den  Isthmus  von 
Tzaritzyn,  die  etwas  schwierig  gewesen  wäre,  da  die  Russen  Fahr- 
zeuge tragen  mussten,  die  100  Mann  fassen  konnten.  Das  cha- 
sarische  Amol  aber  muss  man  in  der  Kuma-Manytschniederung  an 
dem  Manytsch  oder  der  Kuma  suchen. 

Die  „heiligen  Feuer"  von  Baku  werden  von  Massudi  ver- 
dientermassen  erwähnt.  Auf  dem  Gebiet  der  Naphthaquellen,  be- 
merkt der  Araber,  läge  auch  ein  Vulkan,  der  beständig  Feuer 
auswerfe.  Die  Flammen  erhöben  sich  bisweilen  so  hoch,  dass  man 
sie  vom  (kaspischen)  Meer  aus  auf  100  Parasangen  Entfernung 
sehe.  Da  22  Parasangen  auf  einen  Grad  des  grössten  Kreises 
gerechnet  werden  und  100  daher  etwa  70  deutsche  Meilen  be- 
tragen, so  ist  die  obige  Angabe  eine  morgenländische  Uebertrei- 
bung.  Auch  das  ist  ungenau,  dass  er  den  Vulkan  von  Baku  mit 
dem  Djebel  el  Borkan  auf  Sicilien  (Aetna)  vergleicht,  denn  die 
Vulkane  von  Apscheron  werfen  jetzt  nur  noch  Schlamm  aus,  be- 
gleitet von  Flammenausbrüchen  (Kosmos  IV,  p.  255).  Von  allen 
Feuerbergen  der  Erde ,  fährt  der  Araber  fort ,  sei  durch  die  Fre- 
quenz und  die  Heftigkeit  seiner  Ausbrüche  der  Vulkan  im  ,, König- 
reich des  Maharadscha"  der  berüchtigtste.  Der  Maharadscha,  von 
dem  er  spricht,  ist  bekanntlich  der  König  der  Sabedsch  oder 
Javanen;  da  sich  aber  die  Herrschaft  der  Sabedsch  über  Sumatra 


^O  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

SO  gut  wie  über  Java  erstreckte,  so  haben  wir  die  Wahl,  entweder 
an  einen  javanischen  oder  sumatranischen  Vulkan  zu  denken.  Den 
zweiten  Rang  nehme  der  Vulkan  von  Esch-Schihr  zwischen  dem 
jemenischen  Arabien  und  Oman  an  der  Küste  von  Hadramaut 
ein.    Er  werfe  glühende  Kohlen  aus,  welche,  setzt  Massudi  richtig 

hinzu,  nichts  sind  als  flüssig  geschmolzene  Steine '). 

Den  Schluss  des  Werkes  bildet  eine  Schilderung  Aegyptens. 
,,Ein  Gelehrter",  sagt  Massudi,  ,, beschreibt  uns  das  Land  Aegypten 
folgendermassen.  Während  drei  Monaten  ist  es  eine  weisse  Perle, 
während  anderer  drei  Monate  schwarzer  Moschus,  im  dritten  Quartal 
ein  Smaragd,  und  im  letzten  ein  Goldbarren."  Das  soll  heissen, 
dass  vom  Juni  bis  September  während  der  Nilüberschwemmungen 
das  Land  einer  weissen  Wasserfläche  gleiche,  aus  welcher,  sagt 
Massudi  vortreffHch,  die  einzelnen  hoch  liegenden  Gehöfte  wie 
Inseln  auftauchen,  so  dass  sie  nur  auf  Barken  miteinander  ver- 
kehren können.  Vom  October  bis  December  kommt  der  schwarze 
Nilschlamm  zum  Vorschein,  der  einen  angenehmen  Geruch  wie 
Moschus  verbreitet.  Vom  Januar  bis  März  schimmern  die  Saaten 
smaragdgrün  und  verwandeln  sich  in  Goldbarren  gegen  die  Zeit 
der  Ernte  hin.  Von  allen  Flüssen  der  Erde,  bemerkt  Massudi, 
heisst  der  Nil  allein  Bahr  (Meer)  im  Arabischen  2).  Sobald  die 
Ueberschwemmungen  16  arabische  Ellen  am  Nilmesser  in  Fostat 
(Alt-Cairo)  erreichen,  sind  die  Einkünfte  des  Sultans  und  die  Er- 
nährung des  Volkes  gesichert,  das  heisst  eine  gute  Mittelernte  zu 
erwarten.  Siebzehn  Ellen  -sind  das  Aeusserste  einer  guten  Ernte. 
Wenn  der^  Strom  auf  achtzehn  steigt ,  schadet  er  nicht  bloss  der 
Ernte,  sondern  jedesmal  nach  dem  Fallen  des  Wassers  stellen  sich 
auch  Seuchen  ein.  Achtzehn  Ellen  hält  man  für  das  Aeusserste, 
doch  sei  im  Jahre  97  (717)  ein  Wasserstand  von  ig  Ellen  beob- 
achtet worden.  Steigt  der  Strom  aber  nur  auf  13,  14  oder  14^2 
Ellen,  so  steht  dem  Lande  Hungersnoth  bevor,  und  es  werden  in 
den  Moscheen  Gebete  gelesen.  Aber  sobald  der  Nil  15  Ellen  er- 
reicht hat,  werden  die  Gebete  eingestellt.  Dann  bedeckt  das 
Wasser  zwar  nicht  alle  Felder,  und  der  Sultan  darf  nicht  alle 
Zehnten    erheben,    aber    der  Unterhalt    des   Volkes    ist   doch   ge- 


1)  Hier    folgen  Proben   von  Massudi's    werthlosen   Angaben    aus    der    Ge- 
schichte der  Perser,  Griechen,  Römer  und  des  ersten  Christenthums.     A.  d.  H. 

2)  Daher  sagen  wir  Bahr  el  Abiad,  weisser  Fluss  oder  weisser  Nil,  Bahr 
cl  Azrak,   blauer  Fluss  oder  blauer  Nil. 


Massudi's  goldne  Wiesen  und  Edelsteingruben.  41 

sichert.  Massudi  kennt  drei  Nilmesser :  den  von  ISIemphis ,  den 
auf  der  Insel  Es-Sanaah  (Rudah)  und  den  Nilmesser,  welchen  Su- 
leiman,  der  Sohn  des  Abd-el-MeHk,  bei  Fostat  (Alt-Cairo)  erbauen 
Hess.  Die  Ellen  an  diesem  Nilmesser,  behauptet  Massudi,  hätten 
vom  Nullpunkt  bis  zur  12.  Elle  28  Zoll,  von  der  zwölften  Elle 
aufwärts  24  Zoll.  Ob  diess  wirklich  bei  dem  Nilmesser  von  Fostat 
der  Fall  war,  wissen  wir  nicht.  Die  arabische  Elle  am  Nilmesser 
von  Rudah  dagegen  ist  die  schwarze  Elle  des  Chalifen  el  Mamum 
und  540,7  Millimeter  oder  239,69  Par.  Linien  lang.  (Böckh, 
Metrologie  S.   247.) 

Manchem  Leser  des  Massudi  wird  es  auffallen,  dass  der 
Araber  als  Erbauer  der  Pyramiden  Joseph,  den  Sohn  des  Jacob, 
bezeichnet.  Doch  weiss  der  Araber  recht  gut,  dass  die  Pyramiden 
Begräbnissplätze  der  Pharaonen  gewesen  sind.  Der  Glaube,  dass 
die  Pyramiden  von  Joseph  erbaut  worden  seien,  war  schon  früher 
weit  im  Abendland  verbreitet,  denn  Dicuil,  ein  irischer  Mönch  des 
neunten  christlichen  Jahrhunderts,  beschreibt  uns  eine  Nilfahrt  von 
Pilgern,  die  nach  Jerusalem  gingen  und  welche  die  Pyramiden  ,,die 
Kornspeicher  des  Joseph"  nennen. 

Ueber  die  Frage  der  Nilquellen  beruft  sich  Massudi  auf  die 
Aussage  eines  koptischen  Gelehrten.  Der  Nil  fliesse  aus  einem 
See,  dessen  Länge  und  Breite  unbekannt  seien  und  der  dort  liege, 
wo  die  Tage  und  Nächte  das  ganze  Jahr  über  gleich  seien.  Die 
Araber  waren  sehr  erfinderisch  mit  ihren  Niltheilungen.  Bald  sollte 
der  Nil  sich  spalten  und  einen  Arm  nach  Westafrika  bis  zum 
atlantischen  Meer  senden  (Nil  von  Ganah,  Niger),  bald  einen 
Arm  nach  Osten.  Diesen  letztern  kennt  auch  Massudi.  Er  fliesse, 
sagt  er,  nach  dem  Lande  der  Zendsch  und  ergiesse  sich  in  das 
Meer  der  Zendsch.  Die  Zendsch-Neger  sind  bekanntlich  die  Neger 
von  Sansibar,  denn  Sansibar  heisst  die  Küste  der  Sandsch  (Azania 
bei  Ptolemäus  und  dem  anonymen  Verfasser  des  erythräischen 
Periplus).  Massudi  will  also  sagen,  dass  einer  der  Flüsse  Ost- 
afrika's,  entweder  unser  Dschub  oder  der  Webi  gamana,  ein  Seiten- 
arm, des  Nil  sei.  Wir  haben  nicht  das  Recht,  uns  über  diesen 
hydrographischen  Irrthum  zu  verwundern,  denn  bis  vor  zwei 
Jahren  noch  wurde  der  Godscheb  für  einen  Zufluss  des  Nil  ge- 
halten, während  wir  jetzt  wissen,  dass  Godscheb  der  Quellenname 
des  Dschub  ist. 

Wir  beschliessen   unsere  Ueberschau    mit    zwei  Notizen.     Die 


42 


Zur  Geschichte  der  Geographie.     Massudi's  goldne  Wiesen  etc. 


eine  ist  ein  arabisches  Sprüchwort  über  die  Unzuverlässigkeit  der 
Bewohner  des  steinigen  Arabiens:  „Misstraut  den  Freigelassenen, 
der  Begeisterung  der  Jugend,  einer  Armee  von  Sklaven  und  den 
Nabatäern,  die  Araber  geworden  sind."  Die  andere  Angabe  ist 
wichtig  für  die  Geschichte  der  Verbreitung  unsrer  Citrusarten, 
Massudi  behauptet  sehr  bestimmt,  dass  nach  dem  Jahre  300 
(912  n.  Chr.)  die  Orangen  und  die  runden  Citronen  aus  Indien 
zunächst  nach  dem  Oman,  dann  nach  Basrah  am  persischen  Meer- 
busen, später  nach  dem  Irak  und  nach  Syrien  gebracht,  hierauf 
aber  sehr  rasch  gemein  wurden  nicht  bloss  in  Syrien  und  Palä- 
stina, sondern  auch  in  Aegypten.  Massudi,  der  um  die  damalige 
Zeit  reiste,  ist  ein  guter  Gewährsmann,  Gewöhnlich  nimmt  man 
an,  dass  die  Orangen  erst  durch  die  Portugiesen  ins  Abendland 
gelangten. 


3.    Der  arabische  Geograph 
Ibn-Chordadbeh. 

(Ausland   l866.     Nr.  14.     3.  Apr.) 

Im  frühen  Mittelalter  haben  die  Araber  eine  nicht  unrühm- 
liche Stellung  als  Geographen  eingenommen.  Sie  verdankten  diesi: 
hauptsächlich  ihrer  Bekanntschaft  mit  den  Meisterwerken  der 
griechischen  Astronomen  und  Geographen.  Das  scholastische 
Mittelalter  empfing  erst  durch  die  Araber  aus  zweiter  Hand  die 
Ergebnisse  der  alexandrinischen  Gelehrten  wieder,  und  die  Ueber- 
legenheit  der  deutschen  Geographen  am  Ende  des  15.  und  am 
Beginn  des  16.  Jahrhunderts  gründete  sich  darauf,  dass  sie  von 
neuem  aus  dem  Urquell,  aus  den  griechischen  Texten,  zu  schöpfen 
begannen  und  die  mathematischen  Methoden  des  Ptolemäus  ein- 
führten, welche  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  gelten.  Aber  auch 
als  Topographen  und  als  Länderbeschreiber  haben  die  Araber 
vortreffHches  geleistet.  Der  erste  arabische  Geograph,  dessen  An- 
gaben in  die  Länderkunde  europäischer  Gelehrten  und  zwar  schon 
im  16.  Jahrhundert  Eingang  fanden,  war  Abulfeda,  dann  folgten 
Jaqut  und  Edrisi.  Der  erste  und  der  letzte  galten  lange  als 
die  besten  Vertreter  des  arabischen  Wissens ,  bis  man  sich  in 
neuerer  Zeit  überzeugte,  dass  sie  nichts  weiter  gewesen  sind  als 
Compilatoren ,  die  ihre  Stoffe  aus  älteren  Originalnachrichten  zu- 
sammentrugen und  zusammenmischten.  In  neuerer  Zeit  ist  man 
mehr  und  mehr  auf  die  Urberichte  zurückgegangen,  auf  die  Nach- 
richten arabischer  Chinafahrer,  die  in  Syraf  gesammelt  wurden, 
aufMassudi,  Ib  n  Fosslan  undandere.  Zu  den  ältesten  Original- 
schriftstellern gehören  aber  drei:  Qodama,  Moqaddasi  und 
Ibn-Chordadbeh.     Die  beiden  ersten  hat  bisher  Sprenger  durch 


AA  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Auszüge  bekannt  gemacht,  der  letztere  ist  jetzt  im  Text  und 
durch  Uebersetzung  von  Barbier  de  Meynard  zugänglich  gemacht 
geworden  0- 

Leider  hatte  der  Herausgeber  nur  den  verstümmelten  und 
vielfach  beinahe  unleserlichen  Oxforder  Text  vor  sich,  von  dem 
er  unter  andern  bemerkt,  dass  er  die  Eigennamen  entweder  ohne 
diakritische  Zeichen  oder  nur  willkürlich  punktirt  enthalte.  Bei 
diesen  Worten  überläuft  wohl  jeden  Kundigen  ein  kalter  Schauder. 
Selbst  mit  den  diakritischen  Punkten  werden  arabische  Eigennamen 
gewöhnlich  verschieden  gelesen;  ohne  sie  oder  bei  nachlässiger 
Punktirung  hört  im  Grunde  alles  Lesen  auf,  es  bleibt  vielmehr 
gar  nichts  übrig  als  die  arabischen  Buchstaben  in  den  Text  zu 
setzen.  Wie  unser  Freund  Sprenger  in  den  Post-  und  Reiserouten 
schon  bemerkt  hat,  sind  solche  unleserliche  arabische  Ortsnamen 
Hieroglyphen,  die  geschrieben  aber  nicht  ausgesprochen,  und  deren 
Synonyme  vorläufig  gar  nicht  gefunden  werden  können.  Man 
muss  sie  so  lange  in  der  Wissenschaft  herumschleppen,  bis  einmal 
ein  besserer  Text  die  richtige  Schreibart  enthält  und  der  syno- 
nyme Name  bezeichnet  werden  kann.  Glücklicherweise  giebt  es 
noch  eine  zweite  Handschrift  des  Chordadbeh  in  Konstantinopel; 
allein  da  sie  Moscheeneigenthum  ist,  durfte  sie  nicht  nach  Paris 
gesendet  werden,  wohl  aber  verglich  der  frühere  türkische  Bot- 
schafter in  Paris,  der  gelehrte  Ahmed  Vefyk-Efendi ,  Barbiers  ab- 
schriftlichen Text  mit  dem  Moscheen-Exemplar  und  trug  an  Ort 
und  Stelle  die  Varianten  hinein. 

Ueber  Chordadbeh  ist  wenig  bekannt  geworden.  Wäre  er 
ein  noch  so  kleiner  Dichter  oder  gar  ein  Philolog  gewesen,  be- 
merkt der  französische  Herausgeber  bitter,  so  hätten  die  Araber 
für  eine  Biographie  gesorgt.  Um  einen  Geographen,  der  kein 
Sprachenkünstler  war,  kümmerten  sie  sich  blutwenig.  Doch  wissen 
wir  immerhin  so  viel,  dass  er  aus  einer  persischen  Familie  stammte 
und  sein  Grossvater  vom  Parsismus  zum  Islam  übertrat.  Er 
selbst  wurde  am  Beginn  des  dritten  Jahrhunderts  nach  der  Flucht 
geboren  und  war  Generalpostmeister  im  Dschebal  oder  dem  alten 
Medien  unter  dem  Chalifen  Mutamid  (256—272).  Das  Postwesen 
bezeichnen  die  Araber  mit  dem  Wort  berid,  welches  nach  Reinauds 
Vermuthung,    der  Barbier   beitritt,    von    dem    lateinischen    Worte 


l)  Le  livre  des  routes  et  des  provinces  par  Ibn-Khordadbeh. 


Der  arabische  Geograph  Ibn-Chordadbeh.  ^c 

V  e  r  e  d  u  s  abzuleiten  ist,  das  ein  Courirpferd  bedeutet,  und  aus  welchem 
Wort  bekanntlich  unser  deutsches  Pferd  abstammt.  Die  Posten 
waren  in  der  Chalifenzeit  vortrefiflich  organisirt,  denn  die  Erhal- 
tung des  Reiches  hing  von  der  Pünktlichkeit  des  Dienstes  ab.- 
Zu  Generalpostmeistern,  durch  deren  Hände  die  Depeschen  gingen, 
wurden  daher  nur  sehr  vertrauenswürdige  Personen  auserwählt ; 
denn  in  Folge  von  saumseliger  Beförderung  einer  Nachricht  konnte 
eine  ganze  Provinz  verloren  werden. 

Ibn-Chordadbeh's  Strassenbuch  gehört  zu  der  Classe  von 
Werken,  die  wir  auch  in  Deutschland  im  i6.  Jahrhundert  unter 
den  Titeln  „Postreiter"  oder  „Reisebücher"  antreffen,  und  die  wir 
veredelt,  weiter  ausgeführt  und  für  eine  besondere  Reise-Absicht 
eingerichtet,  jetzt  selbst  im  Gebrauch  haben,  und  nach  ihrem 
Verfasser  als  „Bädeker",  „Berlepsch"  u.  a.  bezeichnen.  Indessen 
ergiebt  sich  aus  den  Citaten  dritter  Schriftsteller,  dass  der  jetzt 
vorhegende  Text  des  Chordadbeh  nur  als  eine  Abkürzung  aus  dem 
viel  reichhaltigeren  Post-  und  Reisebuch  des  Arabers  zu  be- 
trachten ist. 

Das  Buch  beschreibt  nämlich  die  verschiedenen  Poststrassen 
mit  Angabe  der  Orte,  ihrer  gegenseitigen  Entfernung  mit  gelegent- 
Hchen  Bemerkungen  über  ihre  Bedeutung  und  die  Producte  der 
Umgegend,  ausserdem  enthält  es  aber  eine  äusserst  specialisirte 
Statistik  über  den  Ertrag  der  Abgaben  in  den  östlichen  Provinzen 
zur  Zeit  des  Verfassers. 

Der  eigentlichen  Strassenbeschreibung  geht  eine  allgemeine 
kosmographische  Einleitung  voraus ,  wo  die  Kugelgestalt  der  Erde 
und  die  Inselnatur  der  alten  Welt  behauptet  wird,  von  welcher 
nur  der  nördHche  Quadrant  (die  oly.ovf.i8vr]  der  Griechen ,  das 
bewohnte  Kugelviertel),  als  bewohnbar  angenommen,  die  austra- 
lische Hälfte  der  östlichen  Hemisphäre  aber  als  Wüste,  als  „ver- 
sengtes" Land  angesehen  wurde.  Den  Aequatorialumfang  der 
Erde  giebt  der  Postmeister  auf  gooo  Parasangen  oder  persische 
Meilen  an,  von  denen  er  25  auf  einen  Grad  der  grössten  Kreise 
rechnet.  Jede  Parasange  schätzt  er  zu  12,000  Ellen,  die  Elle  zu 
24  Zoll.  Die  Meile  der  arabischen  Astronomen  galt  4000  schwarze 
Ellen  zu  27  Zoll.  Das  Verhältniss  der  astronomischen  Meilen 
(ä  108,000  Zoll)  zu  den  persischen  Parasangen  (ä  288,000  Zoll) 
wäre  also  nach  Chordadbehs  Angabe  3  :  8  gewesen  und  der  Werth 
eines  Erdgrades  würde  nach  seiner  Rechnung   auf  6 6  2/3  arabische 


«6  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

astronomische  Meilen  sich  belaufen,  während  die  arabischen  Aslrc- 
nomen  unter  Mamun  nur  56^/3  fanden,  und  selbst  dann  sich  von 
der  wahren  Grösse,  die  51V3  Meilen  beträgt,  noch  ziemlich  weit 
entfernten.  In  allen  diesen  Angaben  der  Araber  herrscht  die 
grösste  metrologische  Nachlässigkeit,  und  es  ist  höchst  wahr- 
scheinlich, dass  sie  zufrieden  waren,  wenn  sie  sich  der  Wahrheit 
nur  einigermassen  näherten.  Auf  10,  ja  20  Procent  ab  und  zu 
ist   es   ihnen  nicht  angekommen. 

Ein  Reihe  ausgezeichneter  Gelehrten  haben  sich  der  Illusion 
hingegeben,  dass  sowohl  die  Griechen  wie  die  Araber  die  Grösse 
der  Erde  genauer  gekannt  haben  müssten;  allein  man  übersieht, 
dass  es  beiden  völlig  an  den  Instrumenten  fehlte,  um  genau  einen 
Erdbogen  zu  messen.  Der  einfachste  Fall,  und  auf  ihn  lassen 
sich  alle  verwickeiteren  zurückführen,  wie  man  die  Erde  messen 
kann,  besteht  darin,  dass  man  sich  von  Nord  nach  Süden  bewegt 
und  der  Erde  entlang  die  zurückgelegte  Entfernung  mit  Stäben 
oder  Ketten  misst.  So  thaten  es  Norwood  (1635),  Mason  und 
Dixon  in  Penn^ylvanien  (1764).  Oder  man  begnügt-  sich  die 
Schritte  von  Thieren  oder  Menschen  zu  zählen,  wie  es  vermuthlich 
von  den  Arabern  geschah,  oder  man  addirt  die  Entfernungen  von 
einem  Ort  zum  andern,  nach  den  populären  Stundengaben,  wie 
es  von  Eratosthenes  (starb  194  v.  Chr.)  und  von  Orontius  Fin- 
näus  (1550)  versucht  wurde.  Auf  diesen  Wegen  gelangt  man  zu 
mehr  oder  minder  genauen  Entfernungen  der  beiden  Endpunkte 
des  Erdbogens.  Die  Irrthümer,  welche  beim  Schrittzählen  unter- 
laufen, sind  viel  kleiner  als  man  sich  denkt.  Der  Schritt  eines 
Kamels  z.  B.  lässt  sich  viel  genauer  bestimmen  als  die  Geschwin- 
digkeit eines  Schiffes  mit  dem  Log,  und  gute  Logrechnungen 
(Gissungen)  weichen  in  der  Regel  nicht  um  2—3  Proc.  von  der 
Wahrheit  ab.  Also  hätten  immerhin  die  Araber,  auch  wenn  sie 
nicht  nivellirten  und  triangulirten,  bei  gehöriger  Vorsicht  den  nord- 
südHchen  Abstand  zweier  Orte,  also  die  Länge  eines  Erdbogen- 
stückes,  bestimmen  können.  Allein  die  Schwierigkeit  lag  weit 
mehr  darin,  dass  man  die  geographischen  Breiten  oder  die  Pol- 
höhen der  Endpunkte  des  gemessenen  Erdbogens  nicht  mit  gehöriger 
Genauigkeit  zu  bestimmen  vermochte.  Wenn  ihr  gemessener  Erd- 
bogen einen  Meridiangrad  lang  war  oder  60  Bogenminuten,  und 
sie  irrten  sich  nur  um  5  Minuten,  so  gab  das  einen  Fehler  von 
Vi 2  in  der  Erdbogengrösse.     Die  Breite   eines  Ortes   zu  finden  ist 


Der  arabische  Geograph  Ibn-Chordadbeh.  aj 

eine  mühsame  Arbeit.  Der  genaueste  Beobachter  des  i6.  Jahr- 
hunderts ,  Tycho  de  Brahe ,  täuschte  sich  noch  um  einen  halben 
Grad  in  der  Bestimmung  seiner  Sternwarte  bei  Uranienburg, 
obgleich  er  vielleicht  zehn  Jahre  und  länger  daran  arbeitete ; 
Snellius,  der  grosse  niederländische  Mathematiker,  welcher  zuerst 
einen  Erdbogen  trigonometrisch  gemessen  hat,  irrte  sich  noch 
1617  um  2  Bogenminuten  bei  der  Bestimmung  seiner  Polhöhen. 
Als  Bouguer  und  Lacondamine  den  peruanischen  Erdbogen  massen 
mit  den  besten  optischen  Instrumenten  ihrer  Zeit,  also  mit  ver- 
grössemden  Fernrohren,  welche  die  Messungen  ausserordentlich 
verschärft  hatten,  wurde  nach  zweijähriger  Arbeit  ein  Fehler 
entdeckt,  der  noch  eine  halbe  ]\Iinute  betrug  1  Bouguers  und 
Lacondamine's  Instrumente  standen  aber,  was  die  Genauigkeit 
betrifft,  zu  den  Instrumenten,  deren  sich  die  Araber  bedienten,  im 
Verhältniss  wie  etwa  ein  jetziges  gezogenes  Geschütz  zu  den 
Kanonen,  die  Muhammed  II.  bei  der  Belagerung  Konstantinopels 
verwendete.  Auch  übersieht  man  ferner,  wenn  man  den  Arabern 
eine  unmögliche  Genauigkeit  zutraut,  dass  sie  noch  gar  nicht  die 
Fehlerquelle  der  gnomonischen  Breitenbestimmung  entdeckt  hatten. 
Ein  Gnomon,  der  aufrechtstehende  Zeiger  einer  Sonnenuhr,  hefert 
am  Mittag  zur  Zeit  der  Tag-  und  Nachtgleichen  einen  Winkel, 
gemessen  von  der  Spitze  des  Schattens  nach  der  Spitze  des  Gno- 
mons,  welcher  die  Höhe  der  Sonne  annähernd  ausdrückt.  Die 
Höhe  der  Sonne,  abgezogen  von  90  Grad,  ist  in  diesem  Falle  die 
Polhöhe  oder  geographische  Breite  des  Ortes.  Alle  astronomischen 
Breitenbestimmungen  des  Alterthums  sind  auf  diese  Art  gefunden 
worden,  und  sie  würden  genau  sein,  wenn  die  gerade  Linie,  vom 
Endpunkte  des  Schattens  nach  der  Spitze  des  Gnomons  gezogen, 
in  ihrer  Verlängerung  den  Mittelpunkt  der  Sonnenscheibe  treffen 
würde.  Sie  führt  aber  nicht  nach  dem  Mittelpunkte,  sondern  nach 
dem  obern  Rande  der  Sonne,  so  dass  also  der  gefundene  Winkel 
nicht  die  gesuchte  Höhe  des  Sonnencentrums ,  sondern  die  Höhe 
des  obern  Sonnenrandes  über  dem  Horizont  angab.  Er  war  also 
stets  um  einen  halben  Sonnendurchmesser  —  beiläufig  um  sechzehn 
Bogenminuten  —  zu  steil  und  die  daraus  abgeleiteten  Polhöhen 
um  sechzehn  Bogenminuten  oder  etwas  mehr  als  ein  Viertelbogen- 
grad zu  niedrig.  Die  Astronomen  des  Alterthums  sind  diesen 
Fehler  nie  inne  geworden ,  und  daher  sind  alle  ihre  Breiten- 
bestimmungen um  etwa    einen  Viertelgrad    zu    niedrig  ausgefallen. 


48         Zur  Geschichte  der  Geographie.      Der  arab.  Geograph  Ibn-Chordadbeh, 

Man  findet  aber  die  Polhöhe  eines  Ortes  viel  rascher  und  in  jeder 
klaren  Nacht,  wenn  man  die  Höhen  eines  und  desselben  Gestirns 
bei  seinem  obern  und  bei  seinem  untern  Durchgang  durch  die 
Mittagslinie  misst.  Die  halbe  Summe  beider  Höhen  ist  die  ge- 
suchte Polhöhe.  Sowie  man  die  Ergebnisse  der  Breitenbestim- 
mungen aus  Sternenhöhen  mit  den  Breitenbestimmungen  aus  den 
gnomonischen  Sonnenhöhen  verglich,  musste,  sobald  die  Winkel- 
messung die  Schärfe  von  7*  Grad  überschritt,  sogleich  entdeckt 
werden,  dass  der  obere  Rand  der  Sonne  die  Schattenlänge  des 
Gnomon  bestimmte.  Als  die  Araber  unter  dem  Chalifen  el  Mamun 
ihre  beiden  Erdbogen  massen,  war  jene  Fehlerquelle  nicht  entdeckt. 
Erst  200  Jahre  später  fand  sie  Ibn  Junis  (f  1008  n.  Chr.);  diess 
lässt  vermuthen,  dass  die  Messinstrumente  zur  Zeit  der  arabischen 
Erdbogenmessung  noch  keine  unbedingte  Sicherheit  bei  den  höhern 
Bruchtheilen  eines  Bogengrades  gewährten.  War  diess  aber  der 
Fall,  dann  war  überhaupt  der  Versuch,  die  Erdbogengrösse  zu 
bestimmen,  ein  verfrühter,  oder  er  konnte  nur  zu  ganz  rohen 
Gränzzahlen  führen.  Hätte  er  sich  aber  der  Wahrheit  wider  Er- 
warten sehr  angenähert,  so  gebührt  das  Verdienst  nur  dem  Zufall, 
der  die  eingetretenen  Fehler  glücklich  compensirte. 


4.    Christian  Lassen  über  die  Geschichte 
des  indischen  Handels  im  Mittelalter. 

(Ausland   1862.     Nr.  8.     19.  Februar.) 

Der  vierte  Band  von  Chr.  Lassens  grossem  Geschichtswerke  ^), 
welcher  bis  zum  Auftreten  der  Portugiesen  reicht,  enthält  im 
culturgeschichtlichen  Theil  auch  eine  Darstellung  des  älteren  Handels 
mit  Indien  und  eine  Erklärung  der  wichtigsten  geographischen 
Quellen,  der  „arabischen  Berichte"  aus  dem  neunten  Jahrhundert, 
sowie  der  spätem  arabischen  Geographen,  der  Reisen  des  Vene- 
tianers  Marco  Polo  und  des  grössten  geographischen  Wanderers 
aller  Zeiten,  des  Ibn  Batuta.  Lassen  bringt  auch  in  diesem  Bande 
noch  einmal  einen  vielgeschmähten  und  vernachlässigten  Geo- 
graphen des  spätesten,  Alterthums ,  den  Markianos  aus  Heraklea, 
zu  Ehren,  ,,der  eine  genauere  Bekanntschaft  mit  den  indischen 
Archipeln  beweise,  als  der  grösste  Geograph  des  Alterthums" 
(Ptolemäus).  Dann  weist  er  nach,  dass  die  Inder  selbst  sich  damals 
noch  am  SeehandeF  betheiligten,  obgleich  nach  indischer  Vor- 
stellung der  Kastenverlust  als  Strafe  auf  die  Entfernung  ausserhalb 
Indiens  steht.  Die  Reise  des  Jambulos  (in  dem  ersten  Jahrhundert 
V.  Chr.),  deren  Ziel  nach  Lassen  nicht  Java,  sondern  Bali  gewesen 
ist,  belehrt  uns  vom  Gegentheil.  Ferner  hatten  sich  indische 
Priester  in  der  Stadt  Bramma  südHch  vom  ptolemäischen  Kattigara 
(nach  Lassen  Canton)  am  Flusse  Ngannan-kiang  angesiedelt,  den 
sie  Ambastos  nannten,  oder  vielmehr  sie  nannten  den  Fluss  nach 
den  Chinesen  in  der  Nähe  des  Flusses ,  die  sie  mit  der  unreinen 
Kaste  der  indischen  Ambastha  vergHchen.     Der  chinesische  Pilger 


i)  Indische  Alterthumskunde.     Leipzig  1861. 
Pcschfl,  Abhandlungen.  II. 


CQ  Zur  Geschichte  der  Geograplüe. 

Fahien,  der  bekanntlich  nach  Ceylon  zog  um  dort  buddhistische 
Bücher  einzukaufen,  ging  zu  Schiff  im  Jahre  411  von  Tamralipta 
nach  Java. 

Im  Jahr  420  var  in  China  die  Songdynastie  erstanden,  und 
mit  dieser  erschloss  sich  ein  unmittelbarer  Verkehr  zwischen  China 
und  Indien,  der  seitdem  bis  in  das  späte  14.  Jahrhundert  fort- 
dauerte, denn  selbst  zwischen  900  und  1147  will  Lassen  keine 
Unterbrechung  annehmen.  Die  mongolische  Dynastie  der  Nach- 
folger Dschingiskhans  war  diejenige,  welche  den  Verkehr  mit  'Uem 
Abendlande  am  meisten  förderte,  nicht  nur  beweist  diess  die  Ge- 
schichte der  beiden  venetianischen  Poli,  sondern  noch  weit  mehi 
der  Franziscaner- Missionen,  insofern  damals  das  Christenthum  eine 
grössere  Verbreitung  in  China  besass  als  heutigen  Tages.  Leider  hat 
Lassen  auf  diese  Missionen  und  auf  die  geographischen  Berichte  der 
Missionäre  nirgends  Rücksicht  genommen.  Zur  Erklärung  Marco 
Polo's  benutzt  Lassen  den  vorzügUchen  Commentar  des  Engländers 
Marsden,  und  seltsamerweise  auch  den  sehr  mittelmässigen  deutschen 
von  Bürk ,  während  er  den  neuen  italienischen  nicht  zu  kennen 
scheint.  Auch  Lassen  nimmt  an ,  dass  Maabar  in  der  Sprache 
des  Marco  Polo  den  südHchsten  Theil  Indiens  bezeichne,  über  das 
vielgesuchte  Koil  oder  KoeV  des  Venetianers  beschränkt  er  sich 
aber  auf  die  schon  bekannte  Thatsache,  dass  im  Tamilischen 
dieses  Wort  Tempel  bedeute.  Zur  Erklärung  des  Ibn  Batuta, 
der  1346  nach  Bengalen  kam,  bemerkt  er,  dass  bei  ihm  die  Insel 
Sumatra  den  befremdlichen  Namen  Dschaona  führt,  und  dass  unter 
dem  Lande  Tuäligeh  nur  Tonkin,  unter  dem  ersten  chinesischen 
Hafenplatz  Sin-ossin  oder  Sin-kilän,  den  der  Araber  erreicht,  aber 
Canton  zu  verstehen  sei ;  in  Sin-kilän  sieht  er  eine  arabische  Ver- 
stümmelung des  Namens  Tsching-kuang,  an  welchem  Flusse  Canton 
liegt.  Die  Malaju  oder  Malayen  treten  erst  spät  in  den  indisch- 
chinesischen Handel  ein,  denn  erst  seit  1283  gründen  sie  Singapur, 
und,  was  man  nie  ausser  Acht  lassen  darf,  erst  um  1415  die 
Stadt  Malaka. 

Für  den  abendländischen  Handel  war  es  sehr  wichtig,  dass 
die  Könige  von  Aethiopien,  d.  h.  die  abessinischen  Herrscher 
(den  mittelalterlichen  Geschichtschreibern  unter  dem  seltsamen 
Titel  Erzpriester  Johannes  bekannt,  deren  Reich  die  Portugiesen 
von  der  Zeit  Heinrichs  des  Schiffers  bis  auf  Vasco  de  Gama  auf- 
zusuchen getrachtet  haben)   71   oder  72  Jahre  lang,    bis  601   nach 


Lassen  über  die  Geschichte  des  indischen  Handels  im  Mittelalter 


51 


Chr.  G.  das  arabische  Jemen  besassen  und  mit  den  byzantinischen 
Kaisern  in  Allianz  standen.  Welchen  Einfluss  diess  auf  den 
alexandrinisch-indischen  Handel  haben  musste,  braucht  nur  ange- 
deutet zu  werden.  Um  601  eroberten  aber  die  persischen  Sasa- 
niden  Jemen,  und  Hessen  es  von  ihrep  Vicekönigen  verwalten, 
von  denen  man  acht  kennt.  Immer  und  zu  allen  Zeiten  bis  fast 
auf  unsere  Tage  haben  einzelne  Völker  das  Monopol  des  Zwischen- 
handels zwischen  Indien  und  dem  Abendlande  festzuhalten  gesucht. 
So  trachteten  auch  die  Perser  den  Strom  der  kostbarsten  Handels- 
güter: der  Seide  aus  China,  der  Gewürze  Südasiens,  und  der 
Edelsteine  aus  Ceylon  in  den  persischen  Meerbusen  hineinzulenken. 
Zu  den  Zeiten  der  Sasaniden  waren  die  Ausschiffungspunkte  der 
Indienfahrer  Charax  an  der  Tigrismündung,  nach  Markianos  von 
Heraklea,  und  Teredon  am  westlichen  Ufer  des  Passitigris  (Amm. 
Marcelhnus),  in  deren  Nähe  die  Hauptstädte  der  Sasaniden  Ktesiphon 
und  Dastagerd  lagen.  Auch  Apologoi  (Obollah)  und  Omana  an 
der  karamanischen  Küste  wurden  von  den  Indienfahrern  besucht. 
Endlich  blühte  das  arabische  Hira  auf,  ein  wichtiger  Vermittlungs- 
platz im  Südwesten  der  Euphratmündung  und  durch  einen  Kanal 
mit  dem  jSIeer  verbunden. 

Aus  der  ersten  Hälfte  des  sechsten  Jahrhunderts  stammen 
bekanntlich  die  Berichte  des  Indienfahrers  Kosmas,  eines  alexan- 
drinischen  Kaufmanns ,  dessen  „christliche  Geographie"  diese 
letztere  Wissenschaft  von  der  ptolemäischen  Höhe  hinabstürzt  auf 
die  ersten  Anfänge  des  Anaximander.  Die  indischen  Häfen,  die 
er  kennt,  sind  Sindu,  d.  h.  eine  Stadt  an  der  Indusmündung  wie 
das  heutige  plötzlich  aus  dem  Nichts  zum  ersten  mercantilen  Rang 
aufgestiegene  Karradschi.  Und  an  der  Stelle  dieses  Platzes  sucht 
Lassen  das  Sindu  des  Kosmas,  welches  er  wieder  identisch  hält 
mit  dem  Nausthatmos  bei  Ptolemäus  und  Markianos.  Der  zweite 
Seehafen  an  der  indischen  Westküste  wird  von  Kosmas  Oriatha 
genannt,  ist  aber  leicht  zu  erkennen  als  Soratha  (Surate).  Kaliana 
ist  das  geschichtUch  so  berühmte  Kaljani,  Sibor  oder  richtiger 
Suppara,  das  Sürpäraka  der  Inder.  Das  Male  in  der  Sprache 
des  Kosmas  erklärt  auch  Lassen  alsMalabar;  von  den  fünf  Häfen, 
die  der  Alexandriner  an  dieser  Küste  kennt,  vermag  aber  der 
gelehrte  Indianist  nur  die  muthmassliche  Lage  anzugeben,  denn 
entweder  sind  diese  Hafenplätze  aufgegeben  oder  ihre  Xamen  ver- 
ändert worden.     Der  äusserste  Punkt    (und   die  äussersten  Pimkte 

4* 


e2  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

sind  ja  das  wichtigste  in  der  Handeisgeschichte)  den  die  Perser 
auf  der  Koromandelseite  erreichten,  hiess  Kahir,  und  lag  an  der 
Mündung  des  Kaveri  (Kaberis  bei  Ptolemäus). 

Der  mächtigste  der  Sasaniden,  der  Khosru  (Cäsar,  Kaiser) 
Anushirvan  (531 — 578)  rückte  durch  die  Eroberung  Beludschistans 
die  Grenzen  seines  Reiches  bis  nach  Indien  vor.  Unter  ihm 
brachte  Barzujeh  eine  berühmte  Fabelsammlung,  das  Pantscha- 
tantra,  aus  Indien  nach  Persien,  wo  es  in  die  Huzvareschsprache 
übersetzt  wurde.  Ebenso  streitet  Lassen  für  den  indischen  Ursprung 
der  ,, Geschichte  der  sieben  Wesire"  von  Sindbad  oder  vielmehr 
Siddhipati.  So  entstand  durch  persische  und  arabische  Zusätze 
bereichert  die  Märchensammlung  von  Tausend  und  Einer  Nacht, 
deren  werthvollsten  Bestandtheilen  aber  Indien  als  Heimath  an- 
gewiesen werden  muss.  Unter  Nushirwans  wurden  vermuthlich  die 
Perser  auch  mit  dem  Schachspiel  bekannt,  welches  im  Anfang 
des  dritten  chrisdichen  Jahrhunderts  in  Indien  erfunden  worden 
war.  Das  giebt  der  Geschichte  des  Handels  aber  gerade  ihren 
hohen  Werth ,  dass  sie  uns  zugleich  belehrt  über  den  Austausch 
der  edelsten  Erzeugnisse  eines  Volkes,  seiner  Religion,  seiner 
Poesie,  seiner  Erfindungen. 

Nach  dem  Sturz  der  Sasaniden  wurden  die  Chalifen  Beherrscher 
des  persischen  Meerbusens,  der  noch  sehr  lange  Zeit  (bis  auf  die 
spätem  Mamluken)  den  indisch  -  europäischen  Handel  fast  aus- 
schliesslich vermitteln  sollte.  Dieser  neue  politische  Wechsel  war 
ihm  eher  förderlich  als  nachtheilig,  nur  ist  es  jetzt  Bassora  oder 
Basra,  jvelches  die  Waaren  aus  Indien  aufnimmt,  und  sie  auf  der 
Täbris- Trapezunter -Route  dem  griechischen  Handel  überliefert. 
Die  alte  Landstrasse  nach  China,  die  man  kurzweg  als  die  bactrisch- 
serische ,  oder  als  die  über  Balch  nach  der  Dsungarei  führende 
bezeichnen  darf,  wurde  natürlich  beständig  besucht.  Bei  Balch 
verzweigte  sie  sich  um  dem  Lauf  des  Oxus  zu  folgen,  und 
entweder  nördlich  oder  südlich  vom  Kaukasus  das  schwarze  Meer 
zu  erreichen.  Es  ist  natürlich ,  dass  in  den  Zeiten  der  Völker- 
wanderungen öfters  diese  Verbindung  unterbrochen ,  dann  aber 
immer  wieder  erneuert  wurde.  Den  grössten  Flor  besass  die 
europäisch-chinesische  Karawanenstrasse  während  der  mongolischen 
Herrschaft,  zur  Zeit  wo  der  florentinische  Commis  Balducci  Pe- 
golotti  schrieb. 

Aus  der  Zeit    der    grossen  Abassiden-Chalifon    und  zur  Blüte- 


Lassen  über  die  Geschichte  des  indischen  Handels  im  Mittelalter. 


53 


zeit  Basra's ,  wo  die  Chinesen  mit  ihren  Dschunken  bis  in  den 
persischen  Meerbusen  hineinliefen,  stammen  die  sogenannten  ara- 
bischen Reiseberichte,  die  zuerst  von  Renaudot  unter  den  Pariser 
Handschriften  entdeckt  und  übersetzt  (171 8),  dann  lange  Zeit 
wieder  vermisst,  und  endlich  1845  ^on  Reinaud  in  doppeltem 
Text  herausgegeben  worden  sind.  Sie  bestehen  aus  zwei  Theilen, 
aus  einem  841  n.  Chr.  verfassten  Bericht  des  Indienfahrers  Su- 
leiman,  und  aus  einer  gleichzeitigen  Zusammenstellung  Abu  Zaids 
aus  Siraf,  der  nicht  selbst  in  Indien  und  China  gewesen  war, 
sondern  nur  die  Berichte  anderer  Kaufleute,  namentlich  des  China- 
fahres  Ibn  Vahab,  benutzt  hat.  Aus  ähnlichen  Quellen,  wie  er, 
hat  der  gelehrte  Geograph  Massudi  und  später  Edrisi  geschöpft. 
Die  Araber  nun  theilen  den  Seeweg  von  Basra  bis  nach  China 
in  sieben  sogenannte  Meere.  Das  erste,  das  Meer  von  Fars, 
ist  der  persische  Meerbusen ;  und  das  zweite,  von  ihnen  Lariwe 
genannt,  endigt  bei  den  malabarischen  Grosshäfen.  Das  dritte 
ist  das  Meer  von  Harkand ,  Avelches  bei  Serendib  (Ceylon)  die 
(angeblich)  1900  Inseln  der  Malediven  und  Lakediven  und  Su- 
matra umspült.  Lassen  möchte  den  Namen  Harkand  durch 
Harikhanda  erklären ,  das  Land  des  Hari  oder  Wischnu.  Der 
malabarische  Haupthafen  heisst  bei  den  Arabern  Kulam-Mali,  und 
kann  nur  Kollam  (Quillon)  in  Malaja  oder  Malabar  sein.  Die 
Araber  lernten  dort  die  Vairägjin  d.  h.  frei  von  Leiden- 
schaften, wie  die  indischen  Büsser  heissen,  kennen.  Sie  führten 
ein  Einsiedlerleben,  verschmähten  alle  Kleidung,  liessen  Haar  und 
Nägel  wachsen ,  und  assen  aus  einem  Todtenschädel.  Die  eigen- 
thümliche  Form  des  indischen  Criminalprocesses ,  nämlich  die 
Feuer-  und  Wasserproben,  werden  ebenfalls  von  den  Arabern  gut 
beschrieben.  Die  Araber  kennen  endlich  in  Südindien  das  Land 
Kamar  oder  Kumar,  dessen  Hauptstadt  an  einem  Strom  in  einiger 
Entfernung  vom  Meer  lag  und  die  Lassen  für  Madhura  erklärt. 
Kamar  ist  die  von  den  Tamilen  bewohnte  Südspitze  Indiens ,  da 
uns  schon  der  Name  auf  Cap  Comorin  verweist.  Die  Insel 
Serendib  mit  dem  Adamspik  und  ihren  Perlenfischereien  beschreiben 
alle  Araber  so  deutlich,  dass  immer  Ceylon  in  ihr  erkannt  worden 
ist.  Den  Namen  Serendib,  eine  Verstümmelung  aus  dem  Sanskrit- 
namen der  Insel,  kennt  übrigens  schon  Ammianus  Marcellinus  und 
der  Indienfahrer  Kosmas. 

Bis  dahin    sind    die    arabischen  Erzählungen   ganz    klar ,    und 


c  i  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

man  kann  nie  sehr  weit  fehl  gehen,  welche  Länder  sie  beschreiben. 
Von  da  ab  scheinen  aber  ihre  Berichte  in  die  grösste  Verwirrung 
zu  gerathen.  Lassen  folgt  in  seinen  Erklärungen  meist  Herrn 
Reinaud,  einem  der  grössten  jetzt  lebenden  Orientalisten  und  treff- 
lichen Kenner  Indiens.  Allein  auch  Reinaud  hat  hin  und  her  ge- 
rathen, und  manches  was  er  1845  gesagt  hatte,  in  seiner  berühmt 
gewordenen  Discours  preliminaire  zur  Geographie  des  Abulfeda 
wieder  geändert.  Leider  hat  Lassen  nicht  die  unschätzbare  Ab- 
handlung des  Herrn  Ed.  Dulaurier^  benutzt,  eines  vortrefifUchen 
morgenländischen  Sprachkenners  und  eines  guten  Geographen, 
der  sich  leider  jetzt  von  seinen  südasiatischen  Studien  ab  und  der 
armenischen  und  dem  Wirrsal  der  kaukasischen  Völkergeschichte 
zugewendet  hat.  Dulaurier  entdeckte,  dass  die  arabischen  Berichte 
Bruchstücke  seien,  die  eine  unwissende  Hand  aneinander  gereiht, 
und  dass  an  manchen  Stellen  die  Araber  nicht  den  Weg  von 
Indien  nach  China,  sondern  den  Weg  von  China  nach 
Indien  beschreiben.  In  der  That  löste  Dulaurier  eine  Anzahl 
der  geographischen  Schwierigkeiten  sehr  glücklich ,  während 
Lassen  genöthigt  ist  das  Beitumah  der  Araber,  welches  aus  dem 
Syrischen  zu  erklären ,  Beit  Tumah ,  Haus  des  Sanct  Thomas  be- 
deutet, und  dem  heutigen  Mehapur  entspricht,  in  den  siamesischen 
Golf  zu  verlegen,  statt  an  die  Koromandelküste").  Die  Verwirrung 
der  arabischen  Geographen  wird  noch  grösser  durch  ihre  eigen- 
thümlichen  Vorstellungen  von  der  Gestalt  der  südasiatischen  Ge- 
wässer. Man  muss  nämlich  nie  vergessen,  dass  sie  den  indischen 
Ocean  für  ein  Binnenmeer  hielten,  indem  sie  nämlich  die  Mozam- 
bique-Seite  Afrika's  dem  Rande  Südasiens  sich  gegenüberliegend 
dachten.  Sie  thaten  diess  nur  aus  schülerhafter  Scheu  vor  der 
Autorität  des  Ptolemäus,  dessen  sonst  wunderbares  Werk  durch 
diesen  groben  Irrthum  entstellt  wird.  Uebrigens  war  auch  Ptole- 
mäus nicht  der  Urheber  dieser  unglücklichen  Hypothese,  sondern 
sein  grösserer  Vorgänger  Hipparch,  oder  vielleicht  der  noch  ältere 
Aristoteles.  Die  Araber  dachten  sich  also  den  indischen  Ocean 
als  ein  mittelländisches  Meer,  welches  mit  einer  Meerenge  endigte. 


i)  Etudes  sur  1  ouvrage  intitule:  Relation  des  Voyages  Journ.  Asiat. 
August  und  September  1846. 

2)  Er  glaubt  nämlich  Betumah,  wofür  Edrisi  Tenumah  gelesen  hat,  seien 
die  Natunah-Inseln  zwischen  der  Halbinsel  Malaka  und  Borneo. 


Lassen  über  die  Geschichte  des  indischen  Handels  im  Mittelalter. 


55 


daher  auch  die  mittelalterlichen  christHchen  Geographen,  die  aus 
arabischen  Quellen  schöpften ,  von  einem  Duplex  Gades ,  einem 
doppelten  Cadix,  dem  Gades  HercuHs,  der  Meerenge  von 
Gibraltar  und  dem  Gades  Alexandri,  entweder  des  macedo- 
nischen  oder  des  mythischen  Alexander  (Iskender)  sprechen. 
Man  versteht  dann  erst  recht,  warum  sie  den  indischen  Ocean 
nicht  in  Golfe,  sondern  gleichsam  zellenartig  in  sieben  Meere 
eintheilten. 

Das  vierte  Meer  der  Araber  hiess  Schelahet  oder  Schalahat ; 
es  war  seicht  und  mit  Inseln  bedeckt,  auf  denen  Cocoscultur  ge- 
trieben wird.  Massudi  nennt  dieses  Meer  nach  seinem  Haupthafen 
das  Meer  von  Kalabar.  Nach  zehntägiger')  Fahrt  erreichten  sie  im 
fünften  Meer,  welches  Kirdrandsch,  Kidransch,  und  Kerdendsch 
gelesen  wird,  Beitumah.  Da  nun  Beitumah  ganz  sicher  Meliapur 
ist,  so  muss  das  Meer  Kerdendsch  ein  Theil  des  bengalischen 
Golfes  sein.  Auf  der  Höhe  der  Kistna  scheinen  die  Araber  nach 
den  Andaman-Inseln  übergefahren  zu  sein.  Der  Indienfahrer  Su- 
laiman  nennt  jedoch  in  folgender  Reihenfolge  die  von  den  Arabern 
berührten  Inseln :  Rami  -)  (Sumatra),  Landschebalus  oder  Lankh- 
jalus  (Nikobaren),  Andaman.  Hier  sieht  man  deutlich,  dass  das 
Bruchstück  einer  Reise  auf  der  Rückkehr  aus  China  angehört. 
Rami  als  Sumatra  zu  erkennen  war  anfangs  etwas  schwierig. 
Indessen  lässt  sich  geographisch  feststellen,  dass  die  Araber  nur 
Sumatra  gemeint  haben.  Sulaiman  sagt  nämlich :  von  Rami  käme 
der  fansurische  Kampher,  der  beste  im  damaligen  Handel.  Es 
giebt  aber  nur  zwei  Kampherinseln,  Sumatra  und  Borneo.  Letztere 
Insel ,  an  sich  schon  in  schwer  erreichbarer  Ferne ,  erzeugt  aber 
nicht  den  fansurischen  Kampher;  dieser  wird  auf  Sumatra  gewonnen, 
denn  Marco  Polo  kennt  ein  kampherproducirendes  Königreich 
Fansur  auf  Klein-Java ,  was  in  seiner  Sprache  Sumatra  bedeutet. 
Dass  Theile  der  Insel  Rami  dem  Maharadscha  der  Zabedsch 
(Javanen)  unterworfen  waren,  macht  sie  ebenfalls  zu  einer  Sunda- 
insel.  Die  Schwierigkeiten  aber  bestehen  darin,  dass  Edrisi  der 
Insel  Rami  oder  Ramny  die  ungeheure  Ausdehnung  von  700  Far- 
sang  (25=1^  des  grössten  Kreises)  zutraut,    und  die  andern  ara- 


1)  Die    arabischen   Berichte    sprechen    fast    meistens    nur    von   zehntägigen 
Fahrten. 

2)  Auch  Ramna  und  Ramny  geschrieben. 


c6  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

bischen  Geographen  ihrer  grossen  Achse  die  Richtung  von  Ost 
nach  West  geben,  und  sie  zAvischen  die  Meere  Harkand  und 
Schalahat  verlegen ,  d.  h.  in  der  Sprache  der  modernen  Geo- 
graphie sie  als  eine  angränzende  Verlängerung  ^on  Ceylon  sich 
dachten. 

Gerade  dieser  Irrthum  giebt  uns  Aufschluss  über 
die  Seewege  der  alten  arabischen  Indien  fahr  er.  Dass 
sie  an  den  Küsten  des  bengaHschen  Meerbusens  nicht  bis  zum 
Ganges  hinauffuhren,  nehmen  alle  Erklärer,  Walkenaer,  Reinaud, 
Dulaurier,  Lassen  an.  Sie  kreuzten  also  den  Golf,  und  suchten 
die  Andaman-Inseln  zu  erreichen.  Von  diesen  fuhren  sie  nach 
den  Nikobaren  und  von  dort  nach  der  Kampherküste  Sumatra's, 
die  auf  der  Südweetseite  der  Insel  liegt,  an  der  sie  entlang  fuhren. 
Weil  sie  sich  die  Insel  grösser  vorstellten  als  sie  war,  und  weil  sie 
ihre  Achsenrichtung  ungenau  angaben,  konnten  sie  recht  wohl 
glauben,  dass  ihre  westliche  Spitze  in  der  Nähe  Ceylons  liegen 
müsse.  Sie  fuhren  dann  durch  die  Sundastrasse  und  nicht  durch 
die  Strasse  von  Malaka,  wie  Lassen  meint,  denn  der  W^eg  durch 
die  Strasse  von  Malaka  gehört  einer  viel  spätem  Zeit  an,  die  mit 
dem  Auftreten  der  Malayen  zusammenhängt.  Wenn  die  Schiffe 
durch  die  Strasse  von  Singapur  gegangen  wären,  wie  hätten  sie 
die  Insel  der  Sabedsch  (Java)  berühren  können?  Der  Platz,  wo 
der  beste  und  einzig  ächte  Kampher  Sumatra's  verschifft  wird,  ist 
Barus  oder  BarosO  (i°  59'  35''  nördl.  Breite,  98°  23'  30"  östl. 
Grw.),  ehemals  ein  wichtiger  Hafenplatz,  der  noch  innerhalb  des 
Gebietes  der  tapferen  und  hochsinnigen  Batta's  liegt  (s.  Crawfurd, 
Dictionary  of  the  C.  J.  Archipelago  p.  40).  Dass  die  Batta's 
unter  den  Menschenfressern  zu  verstehen  sind,  welche  die  arabischen 
Berichte  auf  Rami  (Sumatra)  erwähnen,  darüber  herrscht  gottlol) 
Eintracht  unter  allen  Erklärern  dieser  schwierigen  geographischen 
Urkunden.  Wenn  aber  die  arabischen  Kauffahrer  um  den  Fansur- 
kampher  zu  holen  an  der  Westküste  Sumatra's  bis  zu  2  "^ 
nördl.  Br.  vordringen  mussten,  so  werden  sie  gewiss  ihren  ferneren 
Weg   nicht    durch    die    Malaka-,    sondern    durch    die  Sundastrasse 


i)  Der  fansurische  Kampher,  von  dem  die  arabischen  Berichte  und  Marco 
Polo  sprechen,  ist  ganz  entschieden  Baroskampher ,  und  nicht  das  Erzeugnis« 
des  Kampherlorbeerbaumes,  sondern  des  Kampherölbaumes  (Dryobalanops 
Champhora). 


Lassen  über  die  Geschichte  des  indischen  Handels  im  Mittelaller. 


57 


genommen  haben.  Selbst  als  die  Malayen  Singapur  und  später 
Malaka  gegründet  hatten,  wurde  der  Sundaweg  nicht  vernach- 
lässigt. Wir  erfahren  diess  von  dem  gelehrten  Portugiesen  Barros, 
der  die  damalige  Schiff  fahrt  (um  1550)  ganz  vortrefflich  aus  den 
Gesetzen  der  Monsune  erklärt,  die  in  der  Malakastrasse  fehlen,  so 
dass  die  Schiffer  in  den  sogenannten  „Strassen"  auf  die  See-  und 
Landbrisen  angewiesen  waren.  Barros  ezklärt  die  Sundafahrt  für 
sicherer,  wenn  sie  auch  ein  Umweg  sei^. 

Das  letzte  Meer  ist  das  Meer  Sandschi  oder  das  IVIeer 
von  China,  der  östliche  Ocean.  Dieses  erreichten  die  Fahrzeuge, 
nachdem  sie  die  Meerenge  zwischen  der  Insel  Hainan  und  dem 
Festland  überwunden  hatten.  Das  sechste  Meer,  dessen  Namen 
die  Orientahsten  sehr  verschieden  buchstabiren ,  näniHch  Senef, 
Senfy  und  Sanfy,  muss  also  alle  Gewässer  von  der  Sundastrasse 
bis  zur  Insel  Hainan  umfassen. 

Kehren  wir  noch  einmal  zu  unsena  wichtigen  Quellen  zurück, 
so  finden  wir,  dass  unter  den  Auslegern  Uebereinstimmung  in 
folgenden  Punkten  herrscht:  die  Inseln  Andaman  kennen  die  Araber 
bei  ihren  wahren  Namen,  die  Inseln  Landschebalus  sind  die  Niko- 
baren,  die  Insel  Rami  Sumatra,  die  Insel  der  Sabedsch  Java. 
Von  den  sieben  Meeren  ist  das  von  Fars  der  persische  Meerbusen, 
das  ISIeer  Larewy  das  arabische  Meer  vom  Indus  bis  zur  Malabar- 
küste,  das  Meer  Sandschi  das  Meer  der  chinesischen  Küsten  von 
der  Insel  Hainan  angefangen,  und  zu  dem  sechsten  Meere  Senfy 
gehört  jedenfalls  das  Meer  an  den  Küsten  von  Anam.  Streit 
herrscht  dagegen,  wo  das  dritte,  vierte  und  fünfte  Meer,  das  Meer 
Harkand,  Schalahat,  Kidrandsch  (oder  Kerdendsch)  zu  suchen  sei, 
so  wie  der  grosse  Hafenplatz  Kalabahr  oder  Kalah.  Die  arabischen 
Geographen  sind  selbst  nicht  einig,  denn  viele  sprechen  von  drei, 
andere  nur  von  fünf  Meeren.  Die  Meere  Schalahat  und  Kidrandsch 
werden,  soviel  wir  wissen,  nur  in  den  arabischen  ,, Berichten"  und 
von  Massudi   erwähnt ,    welcher    das    vierte    Meer    (Schalahat)    ab. 


i)  Die  Stellen  lauten:    todolos    que    navegam   da   parte    do    Ponente   hiam 
per   föra    da   Ilha    ^amatra    entrando    per   o   canal   que   se    faz    entre   ella   e  a 

Jauha,    ou   entravam   per    entre   ella   e    a  terra   de   Malaca E  po  que 

geralmente  todolös  que  navegaram  per  föra  da  Ilha  (Sumatra)  por  ser  Aiagem 
mais  segura  ainda  que  comprida ,  estavam  seguros  de  Invernar  etc.  Da  Asia 
Dec.  II,  livro  VI.  cap.  I.     Bd.  4.     S.   13. 


eg  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

weichend  wieder  das  Meer  von  Kalabahr  nach  dem  Hafenplatz 
Kalah  oder  Kalabahr  nennt.  Wenn  wir  nun  die  Araber  richtig 
verstehen  und  wohl  beachten,  dass  von  ihrem  dritten  Meere, 
Harkand,  die  Malediven  und  Lakediven,  Ceylon  und  Rami  (Su- 
matra) bespült  werden,  welche  letztere  Insel  sie  nur  wenig  von 
Ceylon  entfernt  hielten,  so  ist  es  offenbar,  dass  sie  damit  den  süd- 
lichen indischen  Ocean  meinten.  Wenn  sie  ferner,  wie  wir  gezeigt 
haben,  nicht  durch  die  Strasse  von  Malaka,  sondern  durch  die 
Sundastrasse  fuhren,  so  muss  das  vierte  und  fünfte  Meer  nördlich 
von  dem  Meere  Harkand  liegen.  Das  fünfte  Meer,  das  Meer  von 
Kidrandsch,  wird  in  Verbindung  mit  Beitumah  (St.  Thomas,  Me- 
liapur)  genannt,  es  fällt  also  in  den  bengalischen  Golf.  Die 
Schwierigkeit  hegt  nur  darin,  Kalah  oder  Kalabahr  zu  suchen. 
Dulaurier  und  früher  Reinaud  erklärten  Kalah  für  Galle  auf  Ceylon, 
allein  Lassen  zeigt  sehr  richtig,  dass  Edrisi  Kalah  19  Tagereisen 
von  Serendib  entfernt  liegen  lässt,  dass  die  Kauf  fahrer  von  Kolläm 
(Quillon)  an  der  Malabarküste  Kalah  erst  in  einem  Monat  erreichen, 
endlich,  dass  die  Insel  Rami  oder  Ramny  (Sumatra)  an  dem 
Meere  Harkand  und  am  Meere  Schalahat  liege,  welches  letztere 
dem  Massudi  wieder  identisch  ist  mit  dem  Meere  von  Kalabahr. 
Nach  arabischen  Vorstellungen  lag  also  ganz  gewiss  Sumatra 
zwischen  dem  grossen  indischen  Ocean  (Harkand-See)  und  einem 
Theile  des  bengalischen  Golfs.  Die  Araber  sagen  ferner,  Kalabahr 
sei  Mitte  Wegs  zwischen  Arabien  und  China  gelegen.  Nun  ist 
Galle  auf  Ceylon  zu  nahe  an  Arabien,  Malaka  zu  nahe  an  China 
für  die  Mitte  des  Weges.  An  die  Stadt  Malaka  selbst  denkt 
niemand  mehr,  weil  sie  eine  ganz  junge  Schöpfung  war.  Lassen 
erklärt  sich  für  Quedah  (Kedda)  an  der  Halbinsel  Malaka.  Schade 
nur,  dass  auch  diese  malayische  Colonie  erst  im  13.  Jahrhundert 
gestiftet  wurde.  Besser  noch  wäre  es  daran  zu  erinnern,  dass 
unzählige  malayische  Ortsnamen  auf  der  Halbinsel  mit  Quala  be- 
ginnen (Quala-Mada,  Quala-Linga).  Quala  bedeutet  nämlich  im 
Malayischen  die  Mündung  eines  Flusses  (Newbold,  British  Settle- 
ments in  Malaka  tom.  I,  p.  188).  Allein  wir  wagen  diese  Ver- 
muthung  niemand  zu  empfehlen,  weil  die  malayischen  Colonien, 
also  auch  die  malayischen  Ortsnamen,  um  ein  halbes  Jahrtausend 
beinahe  jünger  sind  als  die  arabischen  Reisen  nach  China.  Gestehen 
wir  also,  dass  bis  jetzt  noch  jeder  Geograph  oder  Orientahst  dem 
andern    bewiesen    hat,     den    richtigen   Platz    für    Kalabahr    nicht 


Lassen  über  die  Geschichte  des  indischen  Handels  im  Mittelalter. 


59 


gefunden  zu  haben.  Wir  unsrerseits  suchen,  wie  Joachim  I.elewe] 
(Atlas  zur  Geogr.  du  moyen-äge  PI.  XVI.  carte  expHc.)  es  an- 
giebt,  das  Meer  Schalahat  oder  von  Kalabahr  nördhch  von  einer 
Linie,  die  von  der  Koromandelküste  nach  der  Diamantspitze  auf 
Sumatra  gezogen  wird,  und  halten  das  Meer  Kidrandsch  nur  für 
den  innersten  Einschnitt  des  Golfes  von  Bengalen ,  etwa  ^■on  der 
Kistnamiindung  zu  dem  Irawaddidelta. 


6.  Friedrich  Kunstmann  über  die  frühesten 
directen  Handelsverbindungen  der  Deut- 
schen mit  Indien. 

(Ausland   iS6l.     Nr.  34.     18.  August.) 

Augsburger  Häuser,  und  unter  ihnen  zuerst  die  Welser,  waren 
es,  welche  die  frühesten  Handelsbeziehungen  mit  Portugal  an- 
knüpften, und  zwar  fast  unmittelbar  nach  der  Entdeckung  des 
Seeweges  um  das  afrikanische  Hörn.  Es  ist  diess  ein  ausserordent- 
lich rühmliches  Zeugniss  von  dem  mercantilen  Scharfblick  der  da- 
maligen Augsburger  Kaufherren.  Bis  zu  den  grossen  Entdeckungen 
war  der  indische,  d.  h.  der  gesammte  südasiatische  und  ostafri- 
kanische Handel  über  das  ägyptische  Alexandria  und  von  dort 
vorzugsweise  in  den  Schooss  Venedigs  geflossen.  Von  Venedig 
aus  gingen  die  Waaren  radienförmig  nach  den  nördlicher  gelegenen 
Binnenstapelplätzen,  unter  denen  Augsburg  unbestritten  der  wich- 
tigste war.  Die  Tendenz  aller  portugiesischen  Entdeckungen  war 
nichts  weiter  als  den  alexandrinischen  Handel  zu  zerstören  und 
Lissabon  zu  dem  Mittelmarkt  zwischen  Morgenland  und  Indien 
zu  erheben,  wie  denn  auch  in  diesem  Sinn  Emanuel  nach  Da 
Gama's  Entdeckung  den  Titel  annahm :  ,,Herr  des  Handels  mit 
Indien  und  Aethiopien". 

Die  Entdeckung  des  Seewegs ,  die  Anlage  etlicher  Forts, 
wahrer  Piratenhöhlen  an  der  Malabarküste ,  und  die  Aufstellung 
von  Caperschiffen  gegen  alle  arabischen  Alexandriafahrer  A-on 
Seiten  der  Portugiesen  vernichtete  denn  auch  vollständig  schon 
im  ersten  Jahrzehnt  des  16.  Jahrhunderts  den  südasiatischen  Schifits- 
verkehr  zwischen  Indien  und  Alexandria,  und  mit  diesem  Handel 
welkte    auch    die  Blüte    aller  Hafeni)lätze    des  Mittelmeeres.     Statt 


Kunstmann  üb.  die  frühesten  direct.  Handelsverb.  d.  Deutschen  mit  Indien.         6  t 

dessen  wurde  Lissabon  der  erste  Markt  der  Welt,  und  die  flan- 
drischen und  holländischen  Rheder  die  ersten  Küstenfahrer,  oder 
mit  andern  Worten :  der  Grosshandel  zur  See  hatte  seinen  medi- 
terraneischen  Charakter  verloren  und  war  ein  oceanischer  ge- 
worden. Die  deutschen  Binnenplätze  litten  natürlich  durch  das 
Dürrwerden  ihrer  nach  den  venetianischen  Lagunen  ausgestreckten 
Wurzeln.  Fürstliche  Kauf leute  der  damaligen  Zeit ,  wenn  sie  ihre 
Zeit  verstanden  und  beherrschen  wollten,  mussten  also  Wurzel 
treiben  nach  dem  oceanischen  Rand  unseres  Festlandes.  Und 
diess  geschah  denn  auch  wirklich.  Die  Fugger  verlegten  ihre  Häuser 
nach  Antwerpen  und  wir  finden  sie  in  Gemeinschaft  mit  den  Wel- 
sern in  Lissabon  und  in  Sevilla,  tief  eingesogen  in  den  amerika- 
nischen und  portugiesisch-indischen  Handel. 

Darauf  beruht  das  historische  Interesse  einer  eben  erschiene- 
nen kleinen  Schrift  von  Professor  Kunstmann  ^).  Wir  erfahren 
hier,  dass  Simon  Seitz  als  Unterhändler  einer  Augsburger  „Credit- 
gesellschaft"  im  Namen  der  ehrbaren  Anton  Welser,  Conrad  Filen 
(Vöhlin)  und  anderer  edler  und  berühmter  Kaufleute  von  Augs- 
burg, mit  dem  König  Emanuel  von  Portugal  am  13.  Januar  1503  2) 
einen  Vertrag  abschloss ,  worin  den  Deutschen  in  Lissabon  die 
nämhchen  Vergünstigungen,  wie  sie  die  Niederländer  im  Jahre 
1478  erhalten  hatten,  nämlich  Einfuhr  ihrer  Waaren  gegen  einen 
Werthzoll  von  10  Procent,  bewilligt  wurden.  Im  Jahre  1503 
kommt  als  Commis  der  Welser  Lukas  Rem  nach  Lissabon,  dessen 
handschriftliches  Tagebuch  von  Greif  in  Augsburg  herausgegeben 
worden  ist.  Der  Beitritt  zu  der  deutschen  Creditgesellschaft  in 
Lissabon  wurde  allen  deutschen  Kaufleuten  offengehalten,  unter 
der  einzigen  Bedingung,  dass  sie  sich  mit  einem  Capital  von 
10,000  Ducaten,  was  damals  gewiss  so  viel  heissen  wollte  wie  in 
unserer  Zeit  etwa  eine  halbe  Million  Gulden,  betheiligen  würden. 
Wir  erfahren  dann  weiter,  dass  schon  vor  1505  auch  die  Häuser 
Fugger,  Hochstetter,  Hyrssfolgel  (Hirschvogel?)  und  die  Imhofe 
von  jener  Erlaubniss  Gebrauch  gemacht  hatten. 

Die  ersten  drei  Schiffe,  welche  diese  Gesellschaft  nach  Indien 


i)  Die  Fahrt  der  ersten  Deutschen  nach  dem  portugiesischen  Indien. 
München  1861. 

2)  Bedenkt  man ,  dass  1499  die  ersten  Schiffe  aus  Indien  zurückkehrten, 
so  können  die  Augsburger  Kauf  leute  sich  nicht  lange  besonnen  haben  mit  der 
Gründung  dieser  Gesellschaft. 


(52  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

schickte,  waren  di^  grössten  Indienfahrer  der  Flotte,  die  1505  den 
Vicekönig  Francisco  de  Almeida  nach  Indien  trug,  und  hiessen 
Raphael ,  Hieronymus  und  Leonhardt.  Bemannt  waren  und  be- 
fehhgt  wurden  sie  natürlich  von  Portugiesen.  Die  Supercargos 
aber  waren  die  Deutschen  Hans  Mair  und  Balthasar  Sprenger. 
Mairs  Reisebericht  ist  im  Original  noch  nicht  gefunden  worden, 
wohl  aber  entdeckte  Kunstmann  eine  portugiesische  Uebersetzung 
in  dem  handschriftlichen  Valentin  Ferdinand  der  Münchner  Biblio- 
thek. Sprengers  Erzählung  wurde  dagegen  15 11  s.  1.  unter  dem 
Titel :  „Die  Merfart  vnn  erfarung  nüwer  Schiffung  und  Wege  zu 
viln  onerkanten  Inseln  vnd  Kunigreichen  u.  s.  w."  gedruckt.  Das 
Tagebuch  des  Lukas  Rem  und  ein  im  Anhang  zu  letzterem  abge- 
druckter Bericht  über  die  Almeida'sche  Fahrt  aus  dem  Nachlasse 
Peutingers  sind  die  vier  Quellen,  abgesehen  von  den  portugiesischen 
Chroniken,  die  wir  über  diesen  Wickingerzug  nach  Indien  besitzen. 

Das  Geschwader  verliess  Ende  März  1505  Lissabon  und 
segelte  bis  zur  Höhe  der  capverdischen  Inseln  am  Westrande 
Afrika's  gen  Süden.  Dort  trieb  ein  Sturm,  wie  es  scheint,  die 
Flotte  auseinander,  und  die  Schiffe  trachteten  jetzt  versprengt 
nach  dem  Cap  der  guten  Hoffnung.  Mairs  Schiff  traf  dort  bereits 
am  26.  Juni,  also  ziemlich  rasch  ein.  Sprengers  Schiff  dagegen 
erreichte  die  Mozambiqueseite  Afrika's  erst  am  19.  Juli,  nachdem 
es  seit  dem  grünen  Vorgebirge  fünfzehn  Wochen  lang  weder  Sand 
noch  Land  gesehen  hatte.  Diese  Notizen  sind  wichtig,  weil  sie  uns 
feste  Vorstellungen  von  den  damaligen  nautischen  Leistungen  ge- 
währen. 

Vor  Quiloa  verrichtete  die  Flotte  ihre  erste  Wafifenthat.  Die 
grossen  Hafenplätze  der  Ostküste  Afrika's,  die  jetzt  dem  Imam 
von  Mascat  unterworfen  sind,  waren  ursprünglich  arabische  Co- 
lonien  und  gehorchten  damals  kleinen  muhammedanischen  Despoten. 
Da  nun  das  Ziel  der  portugiesischen  Indienfahrten  die  Zerstörung 
aller  arabischen  Handelsplätze  war,  so  begann  man  schon  bei 
Quiloa  die  Arbeit  am  24.  Juli.  Die  Stadt  wurde  mattherzig  ver- 
theidigt  und  fiel  den  Portugiesen  leichten  Kaufes  zu.  Damals 
herrschte  übrigens  weit  grösserer  Luxus  in  diesen  Plätzen  als  heu- 
tigen Tages,  denn  man  fand  Häuser  aus  Stein  und  Kalk  mit 
getäfelten  Fussböden,  mit  Mörtel  beworfen  und  mit  Malereien  be- 
deckt, nach  dem  Siege  sang  man  ein  Tedeum  und  plünderte  — 
oder,  wie  Sprenger  das  Plündern  nennt,  man  ,,fand"  vil  reichtumb 


Kunstniann  üb.  die  frühesten  direct.  Handelsverb,  d.  Deutschen  mit  Indien. 


63 


mit  Golt,  Silber,  Perlin,  Edelgestein  und  andere  kostbarliche  kleidung. 
Eines  der  besten  Häuser  wurde  in  eine  Citadelle  umgeschaffen, 
bewaffnet  und  mit  einer  Garnison  von  80  Mann  versehen.  Die 
Stadt  soll  damals  4000  Köpfe  gezählt  haben ,  Araber  mit  ihren 
Suahelisklaven.  An  einen  Widerstand  gegen  portugiesische  Flotten 
konnten  diese  Leute  nicht  denken ,  denn  ihre  Waffen  bestanden 
nur  aus  Bogen,  Pfeilen  und  Wurfspiessen.  Wohl  fand  man  auch 
vier  Donnerbüchsen  bei  ihnen,  aber  noch  verstanden  die  Quiloaner 
nicht  recht  mit  dem  Feuer gew  ehr  umzugehen. 

Am  1 3 .  August  legte  sich  das  Geschwader  vor  Mombas ,  um 
auch  an  dieser  Stadt  das  Gericht  des  Stärkern  zu  vollstrecken,  nur 
ging  es  diessmal  nicht  so  leicht  wie  bei  Quiloa ;  denn  Mombas  besass 
ein  „onseglich  stark  bolwerk"  mit  vielen  Donnerbüchsen.  Nach 
dem  Auffliegen  ihres  Pulvermagazins  räumten  die  Araber  dieses 
Hafenfort,  und  die  Flotte  konnte  jetzt  ihre  Breitseiten  gegen  die 
Stadt  selbst  spielen  lassen.  Am  14.  beschoss  man  sich  gegen- 
seitig. Am  andern  Morgen,  nachdem  man  gefrühstückt  hatte,  wie 
Mair  mit  historischer  Gewissenhaftigkeit  beifügt,  begann  man  zu 
stürmen.  Voran  gingen  als  Plänkler  die  Büchsenschützen,  dann 
kamen  die  Armbrustschützen  und  hinter  diesen  die  Colonnen.  Es 
entspann  sich  ein  hitziges  Strassengefecht ,  aber  die  Portugiesen 
drangen  unaufhaltsam  bis  zum  Palaste  des  Scheik  vor,"  und  pflanzten 
dort  ihre  Flagge  unter  dem  Rufe:  ,,Portugal!"  auf.  Am  15.  und 
16.  wurde  geplündert  und  die  Beute  dann  nach  den  herkömm- 
lichen Procenten  vertheilt.  Die  deutsche  Rhedergesellschaft  als 
Eigenthümerin  der  Schiffe  beanspruchte  auch  eine  Tantieme  von 
den  Früchten  des  Piratenzuges,  aber  die  Flottenmannschaft  wollte 
nichts  von  einem  Abzug  ihrer  Prisengelder  wissen.  Es  kam  dann 
zu  einem  dreijährigen  Process,  dessen  Ausgang  leider  nicht  be- 
kannt geworden  ist.  Aber  man  sieht  aus  diesem  Beispiel,  wie 
wenig  damals  noch  Seehandel  und  Seeraub  sich  unterschieden. 
Uebrigens  braucht  man  diess  nicht  etwa  den  Portugiesen  oder  dem 
Jahrhundert  anzurechnen,  denn  die  Spanier  und  im  17.  Jabrhundert 
Holländer  und  Briten  haben  in  der  Neuen  Welt  und  in  Südasien 
gerade  so  gehaust,  wie  die  Portugiesen  im  Morgenlande. 

Die  Ueberfahrt  von  Melinde  nach  der  Malabarküste  dauerte 
vom  27.  August  bis  13.  September,  man  benutzte  dazu  also  den 
Südwestmonsum  oder  die  Regenzeit.  Nach  Ablauf  desselben,  und 
ehe  noch  die  trockene  Zeit  zur  Hälfte  verstrichen  war,  hatten  die 


()A  Zur  Geschichte  der  Geographie.     Fr.  Kunstmann  etc. 

Kauffahrer,  denen  der  Vicekönig  mit  seinen  Kriegschiffen  das  Ge- 
leite gegeben  hatte,  ihre  Frachten  geladen,  die  sich  auf  4000  Ctr, 
an  Specereien  für  jedes  Schiff  beHefen.  Am  2.  Januar  1506  gingen 
vier  Segel,  darunter  der  Hieronymus  und  Raphael,  und  am  21.  Ja- 
nuar der  Leonhardt  mit  zwei  andern  nach  Portugal  im  Nordost- 
monsum  zurück.  Almeida  blieb  mit  seinen  Kriegsschiffen  in  Indien. 
Er  hatte  auf  Anchediva  ein  Fort  gebaut ,  von  wo  aus  er  bequem 
auf  alle  aus  Malabar  heimkehrenden  arabischen  Küstenfahrer 
lauern  konnte.  Die  erste  Abtheilung  der  Handelsschiffe  erreichte 
am  22.  Mai  die  Tejomündung,  somit  nach  142  Tagen,  also  ausser- 
ordentlich rasch.  Die  andern  dagegen,  welche  die  Saison  schon 
halb  versäumt  hatten,  gelangten  nach  Lissabon  erst  am  8.  Sep- 
tember. Schlechte  Geschäfte  wurden  übrigens  bei  diesem  ersten 
Versuche  nicht  gemacht,  denn  Lukas  Rem  berechnet  die  Gewinne 
auf  150  Procent. 


6.    Die  früheren  Christenverfolgungen 
in  Japan. 

(Ausland  1861.     Nr.  9.     24.  Februar.) 

Von  Wilhelm  Heine,  dem  Maler,  welcher  schon  das  erste 
Unionsgeschwader  unter  Commodore  Perry  auf  der  berühmten 
Gesandtschaftsreise  nach  Japan  begleitete,  und  der  jetzt  wieder  an 
Bord  der  preussischen  Flottille  nach  Jeddo  gereist  ist,  erhielten 
wir  schon  im  vorigen  Jahre  eine  Geschichte  Japans')  aus  den 
Berichten  der  ersten  Missionäre,  femer  aus  holländischen,  franzö- 
sischen und  russischen  Quellen , ,  sowie  nach  deutschen  Ueber- 
setzungen  und  den  Werken  der  spätem  Reisenden  zusammengestellt. 
Den  meisten  Werth  für  die  Gegenwart  besitzt  darin  unstreitig  der 
Zeitraum  der  ersten  Ausbreitung  und  des  frühzeitigen  Unterganges 
des  Christenthums  auf  Japan,  denn  aus  diesen  historischen  Er- 
fahrungen wird  man  beurtheilen  können  ,  auf  welche  Klippen  der 
fortgesetzte  Verkehr  der  Europäer  mit  den  Japanesen  stossen  muss. 
Beiläufig  bemerkt,  wird  jetzt  gerade  in  Jeddo  für  die  Europäer 
eine  sehr  günstige  Stimmung  herrschen.  Die  Japanesen  verfolgen 
nämlich  nichts  mit  grösserer  Spannung  als  die  Begebenheiten  in 
China.  Schon  der  Opiumkrieg  und  die  Eröffnung  der  fünf  Häfen 
hatte  auf  sie  grossen  Eindruck  gemacht,  und  hoch  tieferen  das 
neuerliche  Bombardement  von  Canton,  sowie  die  erste  Niederlage 
bei  den  Taikuforts  und  der  Friedensschluss  von  Tientsin.  Die 
Schlappe,  welche  ein  Jahr  später  die  Briten  im  Peiho  erlitten,  ist 
gewiss    im   stillen    in  Jeddo    gefeiert    worden    und    hat  wohl  eine 


i)  Japan  und  seine  Bewohner,  geschichtliche  Rückblicke  und  ethnographische 
Schilderungen.     Leipzig  1860. 

Peschel,  Abhandlungen.    II.     .  ^ 


66  ^iir  Geschichte  der  Geographie. 

Zeitlang  der  altconservativen  Partei  unter  den  Kamis  der  Signorie 
wieder  das  Uebergewicht  gegeben.  Jetzt,  nach  dem  Einzug  in 
Peking  und  der  tiefen  Demüthigung  des  Himmelssohnes ,  wird 
man  aber  in  Jeddo  sich  die  Moral  der  Fabel  zu  Herzen  nehmen 
und  einsehen ,  dass  man  sehr  vorsichtig  gegen  die  Fremden  zu 
verfahren  hat,  und  nur  eins  noch  die  Selbstständigkeit  des  Archipels 
retten  kann,  nämlich  die  Eifersucht  der  christlichen  Flaggen  unter 
einander. 

Als  der  heilige  Franciscus  Xavier,  der  Stolz  und  Glanz  des 
Jesuitenordens,  als  erster  Prediger  Japan  betrat  (154g),  befand 
sich  das  Reich  äusserlich  in  der  nämlichen  Verfassung  wie  jetzt. 
Es  gab  einen  göttlichen  Schattenkaiser ,  den  Dairi ,  den  man  in 
Miako  fütterte  und  wie  ein  seltenes  Thier  in  einem  Käfig  ein- 
schloss ,  wo  er  sein  Leben  in  sinnlichen  Haremsgenüssen  ver- 
schwelgte. Ehemals  waren  die  Dairis ,  angeblich  die  directen 
Nachfolger  der  ersten  Begründer  einer  Universalherrschaft,  Regenten 
von  Fleisch  und  Blut.  Als  aber  um  die  Mitte  des  12.  christlichen 
Jahrhunderts  durch  die  Empörungen  der  Vasallenherzoge  die  Ein- 
heit des  Reiches  gefährdet  worden  war,  so  ernannte  der  damalige 
Dairi  einen  Siogun  oder  Generalissimus.  Die  Wahl  fiel  auf  Yori- 
tomo,  einen  Mann,  der  zum  Herrschen  geboren  war.  Die  Grossen 
des  Reiches  lagen  damals  gegen  einander  in  Fehde  und  suchten 
sich  durch  gegenseitige  Bündnisse  zu  schützen.  Der  schlaue  Siogun 
ergriff  nun  Partei ,  besiegte  die  einen  mit  den  anderen ,  befestigte 
aber  selbst  sein  Amt  und  seine  Gewalt ,  so  dass  seitdem  die  Sio- 
guns  die  wahren  Kaiser  von  Japan  wurden.  In  ganz  neuester 
Zeit  i§t  es  ihnen  freilich  gegangen  wie  einst  den  Dairis ;  sie  werden 
in  ihren  Palästen  gefangen  gehalten  und  in  ihrem  Namen  regiert 
eine  aristokratische  Oligarchie.  Zu  Xaviers  Zeiten  indessen  war 
das  erbliche  Amt  der  Siogun  noch  im  Genuss  monarchischer 
Machtfülle. 

Die  ersten  Verkünder  des  EvangeUums  stiessen  in  Japan  auf 
zwei  Religionen,  wovon  die  eine,  der  Sintuglaube,  als  die  herr- 
schende zu  betrachten  ist.  Diess  war  ein  heidnischer  Götzen- 
dienst mit  einem  höchsten  Götterpaar  an  der  Spitze  und  verbunden 
mit  einer  ziemlich  reinen  Sittenlehre ,  woher  es  denn  kam ,  dass 
gerade  unter  den  Sintugläubigen  das  Christenthum  den  meisten 
Anklang  fand.  Daneben  wurde  ein  stark  mit  Götzendienst  ver- 
unreinigter Buddhismus    geduldet ,    welcher ,    trotz  mancher  gottes- 


Die  früheren  Christenverfolgungen   in  Japan.  6? 

dienstlichen  Förmlichkeiten  mit  dem  Christenthum,  diesem  sich 
viel  feindseliger  erwies.  Was  ihm  gegenüber  dem  Sintuglauben 
einen  besonders  hohen  geistigen  Werth  verleiht,  ist  die  merkwür- 
dige Vorschrift ,  dass  man  sich  bei  Opfer  und  Gebet  den  Göttern 
nicht  anders  als  heiteren  Angesichts  nahen  solle,  da  Seufzer  und 
Betrübniss  der  Gottheit  missfällig  seien ,  eine  Vorschrift ,  die  mit 
der  beständigen  freiwilligen  oder  unfreiwilligen  äusserlichen  Heiter- 
keit der  Japanesen  nicht  ohne  Zusammenhang  ist.  Bonzen  heissen 
in  den  Quellen ,  wie  es  scheint ,  ohne  Unterschied  die  Priester 
beider  Religionen.  Den  Majordomus  des  Reiches,  der  bei  den 
Japanesen  die  Titel  Siogun,  Kubo,  Taikun  führt,  welche  sämmtliche 
ihre  besondere  staatsrechtliche  Bedeutung  haben  und  nicht  nach 
Belieben  gebraucht  werden  dürfen,  bezeichneten  die  Portugiesen 
als  Kaiser.  Könige  nannten  sie  die  Grafen  oder  Herzoge  der 
66  Provinzen,  denen  die  Titel  Sugo  und  Jacato  und  das  Prädicat 
Kami  gebührt,  welches  aber  auch  hohe  Staatsbeamte  führen,  und 
von  dem  man  noch  nicht  weiss ,  soll  es  Excellenz  oder  Hoheit 
übersetzt  werden.  Unter  diesen  grossen  Vasallen  standen  wieder 
Barone,  unter  den  Baronen  endlich  eine  letzte  niedere  ritter- 
schafthche  Classe.  Wir  wissen,  dass  noch  jetzt  die  Kamis  oder 
Herzoge  einen  Theil  des  Jahres  ii»  Jeddo  residiren  müssen,  wo  sie 
mit  Tausenden  in  ihrem  Gefolg  jene  grossen  ummauerten  und  mit 
Parken  versehenen  Paläste  bewohnen,  welche  das  aristokratische 
Viertel  der  Hauptstadt  füllen.  Nirgends  in  Asien  war  auch  das 
Christenthum  auf  eine  höhere  gesellschafthche  CiviUsation  gestossen 
als  dort,  denn  die  Japanesen  haben  selbst  vor  den  Bewohnern 
des  himmlischen  Reiches  ihren  bis  an  die  Leidenschaft  gränzenden 
Reinlichkeitssinn  voraus ,  während  sie  ihnen  an  Anstand  und  Eti- 
kette gleichstehen,  ausserdem  aber  an  Tapferkeit,  Grossmuth,  ja 
unter  Asiaten  vielleicht  das  einzige  Beispiel,  durch  das  Vorhanden- 
sein von  Ehrgefühl  ihnen  vorgehen,  wie  denn  endlich  auch  statt 
des  chinesischen  Eigendünkels,  der  alles  Fremde  verachtet,  sie 
gelehrig  die  Vorzüge  der  Europäer  sich  anzueignen  suchen. 

Xavier  landete  in  Congoschima ,  welchen  Hafen  die  Portu- 
giesen jedoch  später  mit  Firando  vertauschten.  Die  Predigten  des 
Apostels  stiessen  gleich  anfangs  auf  politischen  Widerstand,  da  der 
Herzog  von  Satzuma  auf  Anstiften  des  buddhistischen  Clerus 
seinen  Unterthanen  den  Uebertritt  zur  neuen  Lehre  verbot.  Auf 
dem  Thron  sassen  damals  Gonara  als  der  io6.  Dairi,  und  Josi-Far 

5* 


68  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

als  24.  Siogun.  Miako,  die  religiöse  Hauptstadt  des  Landes,  fand 
Xavier  in  Folge  der  Bürgerkriege  in  Trümmern,  und  konnte  dort 
auch  weder  bei  dem  Dairi  noch  beim  Siogun,  welche  letztere  also  noch 
nicht  in  Jeddo  residirten,  Audienz  erlangen.  Erst  als  er  später 
mit  Empfehlungen  und  Geschenken  des  Vicekönigs  von  Indien 
und  des  Gouverneurs  ausgestattet  zurückkehrte,  empfing  ihn  der 
Kaiser  und  erlaubte  ihm  zu  predigen,  so  dass  er  im  Laufe  eines 
Jahres  3000  Personen  bekehrte*.  Leider  verliess  dieser  grösste 
Apostel  der  neuesten  Zeit  Japan  schon  nach  drei  Jahren  und  starb 
1552   auf  der  Ueberfahrt  nach  Macao. 

Cosmo  de  Torres  wurde  jetzt  das  geistliche  Oberhaupt  der 
neuen  Gemeinde,  die  rasche  Fortschritte  machte,  besonders  da  die 
Missionäre  durch  öffentliche  Kasteiungen  und  Geisselungen  dem 
Volk  imponirten,  und  die  verweichlichten  buddhistischen  Pfaffen 
dadurch  in  Missachtung  brachten.  Nach  und  nach  fanden  die 
Missionäre  Eingang  selbst  bei  den  Grossen.  Die  Herzoge  von 
Omura  und  Fakuschima  Hessen  sich  taufen,  und  ihrem  Beispiel 
folgte  auch  der  Fürst  von  Bungo,  der  lange  Zeit  unter  dem  Ein- 
fiuss  seiner  Gemahlin  ihren  Bemühungen  widerstanden  hatte.  Wie 
zur  Reformationszeit  folgten  in  Japan  die  Völker  ihren  Fürsten 
beim  Uebertritt,  ja  der  Fürst  -^fon  Omura,  als  eifriger  Neophyt, 
Hess  sogar  gegen  seine  Unterthanen,  die  ihm  nicht  nachahmen 
wollten ,  Verfolgungen  eintreten ,  wodurch  er  dem  Christenthum 
tief  geschadet  hat.  Der  nämHche  Fürst  war  es ,  der  den  Portu- 
giesen in  Nagasaki  eine  Factorei  einräumte,  welcher  Platz,  damals 
ein  elendes  Fischerdorf,  durch  den  europäischen  Handel  rasch  zu 
einer  Stadt  ersten  Ranges  emporgewachsen  ist.  Im  Jahre  1565 
baute  der  Fürst  dort  auch  eine  christliche  Kirche  und  erhob  sie 
zum  Hauptquartier  der  Mission,  welcher  1577  bereits  59  Jesuiten, 
darunter  26  Eingeborene,  aber  nur  23  geweihte  Priester  dienten, 
welche  letztere  Zahl  für  Spendung  der  Sacramente  unter  den  zahl- 
reichen Gemeinden  längst  nicht  mehr  ausreichte.  Als  zwei  Jahre 
später  Empörungen  ausbrachen,  suchten  die  Priester  bei  ihren 
Beichtkindern  zu  Gunsten  des  legitimen  Monarchen  zu  wirken,  was 
sie  nicht  wenig  in  Gunst  versetzte.  Damals  begab  sich  auch  eine 
Gesandtschaft  im  Auftrage  der  drei  neubekehrten  Herzoge  nach  Rom, 
wo  sie  nach  mancherlei  Reisefährlichkeiten  wirklich  anlangten  und 
vom  Papst  Gregor  XIII.  mit  grossem  Gepränge  empfangen  wurde. 
Das  war  der  Höhepunkt  der  christlichen  Missionen  in  Japan. 


Die  früheren   Christen  Verfolgungen  in  Japan.  69 

Der  damalige  Siogun  Nobunanga  verbrannte  während  eines 
Aufstandes  mit  seinem  ältesten  Sohn  am  15.  Juni  1580  in  seinem 
Palaste  zu  Miako.  Sein  zweiter  Sohn  und  Thronfolger  wurde  vor 
Entsetzen  wahnsinnig  und  verlor  sein  Leben  gleichfalls  beim  Brand 
seines  Palastes,  den  er  aber  selbst  angezündet  hatte.  Jetzt  ergiitt' 
Faschiba,  ein  Emporkömmling  niederer  Herkunft,  an  der  Spitze  der 
kaiserüchen  Truppen  und  als  Vormund  des  dritten  Sohnes  von 
Nobunanga  die  Herrschaft  und  warf  die  Rebellen  nieder.  Im 
Jahre  1587  entledigte  er  sich  seines  Mündels  völlig,  indem  er  den 
Prinzen  in  die  Verbannung  schickte,  und  bestieg  selbst,  nachdem 
er  eine  Tochter  des-  Dairi  geheirathet  und  den  Titel  Taiko-Sama 
angenommen  hatte,  als  Begründer  einer  neuen  Siogun-Dynastie  den 
kaiseriichen  Thron.  Unter  ihm,  der  dem  Christenthum  grund- 
sätzlich abgeneigt  war ,  begannen  die  ersten  Verfolgungen.  Er 
befahl  dem  Vice-Provincial  Pater  Cuelho ,  seine  Missionäre ,  deren 
es  schon  120  gab,  zu  Firando  zu  versammeln  und  mit  ihnen  sich 
einzuschiffen,  Hess  auch,  da  dieser  Befehl  nur  von  wenigen  befolgt 
wurde,  an  drei  Orten  die  christlichen  Kirchen  niederreissen.  Die 
Missionäre  behaupten  nun,  der  Eifer  des  Siogun  sei  aus  Aerger, 
darüber  entstanden,  dass  das  Christenthum  in  der  Provinz  Fizen, 
die  wegen  ihrer  schönen  Frauen  berühmt  ist ,  so  viel  Verbreitung 
gefunden  habe,  dass  man  Schwierigkeiten  hatte,  die  kaiserlichen 
Serails  würdig  zu  versorgen.  Daran  ist  nun  wahrscheinlich  so  viel 
oder  so  wenig  wahr,  wie,  dass  der  Augustinermönch  Luther  die 
Reformation  unternommen  habe,  um  heirathen  zu  können.  Das 
Körnchen  Wahrheit  lag  wohl  darin ,  dass  das  Christenthum ,  wel- 
ches auf  Monogamie  gegründet  ist,  gegen  die  gesellschaftlichen 
Satzungen  auf  Japan  verstiess.  Damals  zählte  man  300  Jesuiten, 
Priester  und  Laien,  und  2 — 300,000  eingeborene  Christen  auf 
Japan.  Bei  den  bekehrten  und  halb  souveränen  Fürsten  fanden 
die  Missionäre  trotz  aller  Verfolgungen  den  nämlichen  Schutz  wie 
im  16.  Jahrhundert  die  deutschen  Protestanten  bei  den  Reichs- 
fürsten gegen  die  kaiserliche  Gewalt.  Ja  die  Missionäre  besassen 
selbst  am  Hofe  des  Siogun  grossen  Anhang,  und  nicht  zu  wundern 
ist  es,  dass  die  Kaiserin  selbst  ihnen  zugethan  war,  denn  die 
Frauen  in  einem  polygamischen  Reich  werden  mit  Begierde  eine 
Religion  ergreifen,  welche  ihre  Stellung  im  Hause  wie  in  der  Ge- 
sellschaft so  bedeutend  erhöht.  Taiko-Sama  indessen  ging  mit 
grossem  Vorbedacht    an    eine  Ausrottung    des   Christenthums.     Er 


70 


Zur  Geschichte  der  Geographie. 


rüstete  eine  Flotte  zur  Unterwerfung  Korea's  und  nöthigte  die 
christlichen  Herzoge,  an  diesem  überseeischen  Feldzuge  theilzu- 
nehmen.  Aus  jener  Zeit  stammt  auch  ein  Schreiben  des  Kaisers 
an  den  portugiesischen  Vicekönig  in  Goa,  welches  alles  enthält, 
was  sich  vom  Standpunkt  der  Japanesen  gegen  die  christliche 
Lehre  sagen  lässt.  Der  Kaiser  erinnert  an  die  unaufhörHchen 
Bürgerkriege  oder  vielmehr  feudalen  Fehden ,  denen  Japan  aus- 
gesetzt gewesen  ist,  und  die  alle  aus  der  Auflehnung  der  Reichs- 
barone gegen  die  königliche  Gewalt  entsprangen,  denn  das  scheint 
der  Inhalt  der  japanesischen  Geschichte  zu  sein,  dass,  ähnlich  wie 
im  deutschen  Reich,  die  Territorialherren  immer  die  Machtbefugnisse 
der  obersten  Gewalt  bestreiten  und  dass  es  nie  recht  gelungen  ist, 
die  Monarchie  dauernd  zu  befestigen.  Die  alte  ReUgion  der  Japa- 
nesen, die  auf  eine  strenge  Gliederung  der  Gesellschaft  begründet 
war,  erschien  dem  Siogun  für  die  Wohlfahrt  der  Monarchie  besser 
zu  sorgen,  als  das  seinem  Wesen  nach  kastenfeindliche  Christen- 
thum ,  welches  über  den  weltlichen  Gewalten  immer  noch  etwas 
höheres  kannte.  ,,Von  den  alten  Religionsgesetzen",  bemerkt  der 
Kaiser,  ,,kann  man  sich  nicht  trennen,  ohne  den  Gehorsam  zu 
schmälern,  welchen  Unterthanen  ihrem  Fürsten,  Frauen  ihren  Ehe- 
gatten, Kinder  ihren  Eltern,  Vasallen  ihrem  Lehensherrn  und 
Diener  ihrem  Herrn  schuldig  sind."  So  erschienen  und  müssen 
noch  heutigen  Tages  die  christlichen  Lehren ,  die  zu  den  christ- 
lichen Gesellschaften  passen,  den  Japanesen  als  revolutionär  und 
antisocial  erscheinen.  Der  Siogun  wollte  den  Portugiesen  freien 
Handel  gewähren ,  wenn  diese  nur  ihre  Bekehrungsversuche  ein- 
stellen wollten.  Dass  jener  Kaiser,  dessen  Macht  und  Ansehen 
durch  die  Eroberung  Korea's  gewaltig  gestiegen  war,  nur  aus  poli- 
tischen Gründen  Abneigung  gegen  das  Christenthum  fühlte,  darf 
man  daraus  schliessen ,  dass  er  auch  dem  buddhistischen  Clerus 
nicht  sehr  hold  war. 

Uebrigens  mussten  sich  in  seinen  Augen  die  Europäer  und 
ihre  Priester  durch  gegenseitigen  Verrath  verächtlich  machen. 
Obgleich  damals  unter  Philipp  IL  die  beiden  Kronen  von  Portugal 
und  Spanien  vereinigt  waren,  so  dauerte  doch  der  alte  peninsulare 
Bruderhass  ungeschwächt  fort.  Der  spanische  Statthalter  in  Manila 
schickte  heimlich  Gesandtschaften  nach  Japa«,  welche  das  Treiben 
der  Jesuitenmissionäre  dem  Kaiser  denuncirten.  Unter  spanischem 
Schutz  zeigten  sich  auch  Dominicaner  und  Franciscaner  im  Archipel, 


Die  früheren  Cliristenverfolgungen  in  Japan.  ►»  I 

welche  aus  Ordensneid  den  Jesuiten  allerhand  Schwierigkeiten  be- 
reiteten. Trotz  aller  Verfolgungen  war  aber  das  Christenthum 
nicht  zu  vertilgen.  Nachdem  auf  Befehl  des  Kaisers  die  schöne 
Kirche  in  Nagasaki  verbrannt  worden  war,  dauerte  es  nicht  lange, 
dass  dort,  ja  selbst  in  Miako  neue  Klöster  und  neue  Kirchen 
aufgebaut  wurden.  Durch  einen  spanischen  Schififscapitän  soll  der 
Kaiser  aufs  neue  über  das  Christenthum  beunruhigt  worden  sein,  denn 
er  erfuhr,  dass  die  Missionäre  immer  die  Vorläufer  der  europäischen 
Eroberer  in  überseeischen  Ländern  gewesen  seien.  Es  brach  also 
eine  harte  Christenverfolgung  aus,  etUche  Hinrichtungen  wurden 
vollzogen  und  die  sämmtlichen  Missionäre  ausser  Landes  gewiesen. 
Während  der  letzte  Befehl  zögernd  vollzogen  wurde ,  starb  der 
grosse  Taiko-Sama  im  September  1598,  und  für  den  minderjährigen 
Nachfolger  wurde  eine  Regentschaft  eingesetzt,  an  deren  Spitze 
der  Fürst  von  Bandova  stand,  welcher  gegen  die  Christenlehren 
wenigstens  nicht  feindselig  gestimmt  war. 

Vieles  änderte  sich  durch  das  Auftreten  eines  neuen  euro- 
päischen Elementes  und  vorzüglich  eines  merkwürdigen  Mannes, 
William  Adams,  der,  seiner  Herkunft  nach  ein  Brite,  als  Oberpilot 
ein  holländisches  Geschwader  von  fünf  Segeln  1598  durch  die 
Magalhaensstrasse  in  das  stille  Meer  führte.  In  einem  Nebel  ge- 
rieth  die  Flotte  auseinander,  und  ein  einziges  Schiff,  der  Erasmus, 
an  dessen  Bord  Adams  sich  befand,  sah  am  11.  April  1600  die 
Küste  von  Japan  in  der  Nähe  Nagasaki's,  wo  das  Fahrzeug  von 
den  Leuten  des  Fürsten  von  Bungo  mit  Beschlag  belegt  wurde. 
Die  Portugiesen  verdächtigten  die  Holländer  bei  den  Japanesen 
als  Seeräuber,  was  sie  auch  nach  dem  damaligen  See-  und  Han- 
delsrecht waren,  weil  jedes  Schiff,  welches  sich  in  einem  Gewässer 
oder  in  der  Nähe  einer  Colonie  zeigte,  wo  andere  Völker  das 
Monopol  besassen  oder  zu  besitzen  glaubten ,  als  Pirat  betrachtet 
und  behandelt  wurde.  Adams  wurde  nach  Jeddo  zum  'Kaiser  ab- 
geführt und  hatte  mehrere  Audienzen  durch  Vermittelung  eines 
portugiesisch  sprechenden  Japanesen,  während  welcher  Zeit  er  wie 
seine  Gefährten  als  Gefangene  behandelt  wurden.  Die  diploma- 
tischen Japanesen  hatten  bald  herausgefunden,  wie  erspriesslich  für 
sie  das  Erscheinen  der  Niederländer  sein  müsste.  Die  Schiffsleute 
wurden  nach  40  Tagen  frei  gelassen ,  die  Instrumente  Adams 
zurückgegeben ,  die  Matrosen  auch  beschenkt ,  aber  sie  mussten 
im  Lande  bleiben  und  unter  Anleitung  von  Adams  ein  Schiff  von 


■j  2  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

80  Tonnen  für  den  Kaiser  bauen.  Der  ehemalige  Lootse  wurde 
der  Lehrer  des  Kaisers  in  den  mathematischen  Wissenschaften, 
gelangte  zu  politischem  Einfluss  und  erbaute  später  noch  ein 
zweites  europäisches  Schiff  von  120  Tonnen,  auf  welchem  der 
Kaiser  den  Statthalter  von  Manila,  der  mit  seiner  Gallione  an 
den  japanesischen  Küsten  gestrandet  war,  heimsenden  konnte. 
Schon  damals  also  zeigten  die  Japanesen  die  grösste  Begierde,  die 
Kenntnisse  und  die  Werkzeuge  der  Fremden  sich  anzueignen. 
Unter  dem  Einflüsse  von  Adams  wurde,  der  Kaiser,  der  Sohn  des 
grossen  Taiko-Sama,  auch  milde  gegen  das  Christenthum  gesinnt. 
Von  ihm  erzählt  eine  bekannte  Anekdote,  dass  er,  als  einst  der 
einheimische  Clerus  auf  Christenverfolgungen  antrug,  die  Bonzen 
fragte ,  wie  viel  Secten  man  im  Reiche  zählte ,  und  auf  die  Ant- 
wort :  fünfunddreissig ,  sie  mit  den  Worten  verabschiedete ,  dann 
könne  man  auch  getrost  die  sechsunddreissigste  dulden. 

In  Holland  hatte  man  kaum  von  Adams'  seltsamen  Schick- 
salen gehört ,  die  so  viel  Aehnlichkeit  haben  mit  Marco  Polo's 
Laufbahn  in  China,  so  schickte  man  zwei  Schiffe  nach  Japan,  die 
1 609  im  Juli  vor  Firando  ankamen  und  vom  Kaiser  die  Erlaubniss 
erhielten,  fortan  Handel  zu  treiben.  Auch  die  britische  ostindische 
Compagnie  schickte  ein  Schiff  ab,  dessen  Capitän  16 13  dem 
Siogun  ein  Schreiben  des  Königs  von  England  überreichen  durfte, 
worauf  auch  der  britischen  Flagge  der  Zutritt  in  japanesische  Häfen 
verstattet  wurde. 

Unter  dem  toleranten  Ogascho-Sama,  dem  Sohne  des  grossen 
Taiko-Sama,  hatte  sich  die  Zahl  der  Jesuiten  in  Japan  wieder  auf 
130  gemehrt,  neben  welchen  noch  etliche  30  Missionäre  aus  an- 
deren Orden  wirkten.  Nach  dem  Tode  dieses  guten  Kaisers  er- 
öffnete aber  sein  Nachfolger  (i6i6)  fortdauernde  Verfolgungen  des 
Christenthums ,  sowie  er  auch  die  Handelsprivilegien  der  euro- 
päischen Sfeefahrer  mehr  und  mehr  einzuschränken  suchte.  Die 
Japanesen  erwarben  sich  mit  grossem  Heldenmuthe  die  Märtyrer- 
krone, denn  Autodafes  von  etlichen  Dutzend  Christen  kamen  bei- 
nahe alljährlich  vor.  Im  Jahre  1626  hatte  es  in  Nagasaki  noch 
40,000  eingeborene  Christen  gegeben,  drei  Jahre  später  wagte  kein 
einziger  sich  zu  der  Lehre  zu  bekennen.  Die  Hinrichtungen  wur- 
den durch  Martern  gewürzt  und  Folterungen  angewendet,  um  die 
Christen  zur  Abschwörung  ihres  Glaubens  zu  bewegen.  Die  Jahre 
1633    und  1634    waren    besonders    durch    solche    Glaubensmorde 


Die  früheren  Christenverfolgungen  in  Japan.  >j ^ 

ausgezeichnet ,  und  in  Folge  dieser  unerhörten  Grausamkeiten 
erhob  sich  1635  der  letzte  Rest  der  eingeborenen  Christen  im 
Kreise  Arima  und  besetzte,  37,000  Mann  stark,  die  Festung 
Schimabara  im  Golfe  gleichen  Namens  östlich  von  Nagasaki.  Der 
Platz  wurde  bis  1637  belagert  (bei  welcher  Gelegenheit  die  Hol- 
länger schnöde  genug  dem  Kaiser  ihre  Geschütze  Heben)  und  nach 
dem  Fall  des  Bollwerks  alle  Christen  niedergehauen.  Ein  Jahr 
später  erschien  dann  das  kaiserliche  Edict,  weiches  allen  Verkehr 
mit  den  Portugiesen  untersagte,  den  Japanesen  verbot,  nach  frem- 
den Küsten  zu  segeln  und  alle  aus  der  Fremde  heimkehrenden 
Japanesen  mit  der  Todesstrafe  bedrohte.  Als  die  Portugiesen 
1639  eine  Gesandtschaft  von  61  Personen  zum  Kaiser  schickten, 
um  eine  Milderung  des  Gesetzes  zu  erbitten ,  wurden  statt  aller 
Antwort  38  von  ihnen  enthauptet  und  die  übrigen  nach  Macao 
heimgeschickt.     So  endigte  das  Christenthum  in  Japan. 

Schon  seit  1624  waren  alle  Häfen  bis  aufFirando  und  Naga- 
saki den  Fremden  geschlossen  worden.  'Jetzt  hatten  die  Holländer 
allein  noch  Handelsfreiheit,  und  zwar  liess  der  Kaiser  im  Hafen 
vor  Nagasaki  die  kleine  Insel  Desima  erbauen,  auf  welche  allein 
die  Holländer  angewiesen  blieben.  Auch  den  Holländern  zeigte 
der  Kaiser  seine  Strafgewalt.  Als  Peter  de  Nuyts,  Statthalter  der 
damaligen  niederländischen  Colonie  auf  Formosa ,  zwei  dort  ein- 
laufende japanesische  Schiffe  zurückhalten  wollte  und  die  Japaner 
sich  güthch  nicht  mit  ihm  abfinden  konnten,  landeten  sie,  über- 
rumpelten das  Fort,  nahmen  Nuyts  gefangen  und  zwangen  ihn, 
Genugthuung  zu  geben.  Der  Kaiser  aber,  als  er  von  dieser  Be- 
leidigung seiner  Flagge  hörte,  liess  neun  holländische  Schiffe ,  die 
damals  in  Firando  lagen ,  confisciren  und  untersagte  dreij  Jahre 
lang  den  Holländern  allen  Handel,  bis  diese  1634  ihm  schimpf- 
licherweise den  Nuyts  auslieferten,  der  übrigens  bald  vom  Kaiser 
seine  Freiheit  erhielt. 

Die  Holländer  sind  berüchtigt  durch  ihre  Niederträchtigkeit 
im  Verkehr  mit  morgenländischen  Fürsten,  wodurch  sie  dem  mo- 
ralischen Ansehen  der  Europäer  unendlich  geschadet  haben.  Wo 
ihre  Habsucht  und  ihr  Ehrgefühl  in  Streit  geriethen,  hat  die  erstere 
stets  die  Oberhand  behalten.  Der  schmutzige  Krämergeist,  der 
die  niederländische  Colonialgeschichte  verpestete,  hat  ihnen  länger 
als  zwei  Jahrhunderte  das  japanische  Handelsmonopol  gesichert. 
Auch  die  Briten  sind  eine  kaufmännische  Nation,  aber  nie  haben 


»JA    Zur  Geschichte  der  Geographie.     Die  früheren   Christenverfolg,  in  Japan. 

sie  z.  B.  die  Missionsinteressen  den  Handelsinteressen  nachgesetzt 
und  sie  geben  jetzt  noch  dem  Missionär  in  Indien  freies  Spiel, 
obgleich  sie  offenbar  damit  die  eigene  politische  Ruhe  sich  ge- 
fährden. Die  Holländer  dagegen  haben  grundsätzlich  keine  christ- 
liche Propaganda  bei  ihren  überseeischen  bigotten  Unterthanen 
geduldet,  um  nicht  zu  Unruhen  zu  reizen  und  dadurch  den  Handel 
zu  gefährden.  In  Japan  sollen  sie  sogar  das  Christen thum  ver- 
leugnet haben,  indem  sie  spitzfindig  sagten :  Wir  sind  keine  Chri- 
sten, wir  sind  Holländer.  Unrichtig  aber  ist  es  ,  sie  als  die  An- 
stifter der  Christenverfolgungen  zu  bezeichnen,  wenn  sie  auch  aus 
Schacherneid  die  Austreibung  der  Portugiesen  gern  gesehen  haben 
mögen.  Die  Christenverfolgungen  begannen  lange  vor  der  An- 
kunft der  Holländer  und  hörten  nach  ihrer  Ankunft,  wie  wir  sahen, 
geraume  Zeit  auf.  Unrichtig  ist  es  aber  auch,  wenn  oft  gesagt 
wird,  die  katholischen  Missionäre  hätten  die  Neubekehrten  zu  po- 
litischen Verschwörungen  aufgereizt.  Daran  ist  eben  nur  so  viel 
wahr,  dass  in  den  Augen  der  Japanesen  die  christlichen  Lehren 
nicht  zu  den  politischen  und  socialen  Dogmen  passten  und  passen, 
auf  denen  dort  der  Staat  und  die  Gesellschaft  ruht. 


7.    Die  57.  Ausgabe  des  Marco  Polo. 

(Ausland   iS66.     Nr.   7.     13.  Februar. _) 

Von  Marco  Polo's  Reisen  waren  23  italienische,  9  englische, 
8  lateinische,  7  deutsche,  4  französische,  3  spanische,  i  portu- 
giesische und  I  holländische  Ausgabe  vorhanden.  Wir  besassen 
Erklärungen  der  Texte  von  Marsden  (1818)  und  seinem  deutschen 
Bearbeiter  Bürk  (1845),  vom  Grafen  Baldelli  Boni  (1827)  und 
Lazari  (1847),  abgesehen  von  einzelnen  Arbeiten  JuHus  Klaproths 
Karl  Ritters,  Neumanns  und  anderer.  Jetzt  ist  eine  abermalige 
zweibändige  Ausgabe,  die  fünfte  französische,  von  M.  G.  Pau- 
thier  erschienen '),  der  vor  den  meisten  seiner  Vorgänger  die 
Kenntniss  des  Chinesischen  voraus  hat,  und  dem  es  gelungen  ist, 
die  Mehrzahl  der  noch  unaufgelösten  Räthsel  der  berühmten  Län- 
derbeschreibung zu   entziffern. 

Kein  Buch  hat  vielleicht  auf  die  Entwickelung  der  mensch- 
lichen Cultur  einen  höheren  Einfluss  ausgeübt  als  die  Schilderung 
des  fernsten  Morgenlandes  durch  Marco  Polo.  Als  Cristobal 
Colon  den  Weg  nach  „Indien"  suchte,  dachte  er  nicht  im  ent- 
ferntesten daran,  die  Halbinsel  zu  erreichen,  welche  die  Briten 
jetzt  beherrschen.  Unter  Indien  verstand  man  im  Mittelalter  gar 
viele  Erdräume,  nicht  bloss  das  Indien  der  heutigen  Tage,  nicht 
bloss  den  malayischen  Theil  Asiens,  sondern,  so  seltsam  das  klin- 
gen mag,  selbst  Abessinien,  die  Herrschaft  des  afrikanischen  Erz- 
priesters Johannes.  Der  Entdecker  Amerika's  verstand  aber  unter 
seinem  Indien,  welches  er  auf  dem  westlichen  Seeweg  zu  erreichen 


i)  Le  livre    de    Marco    Polo,    par    Rusticien    de  Pise,   revue  par  Marf  Pol 
lui-meme  en   1307,  par  M.  G,  Pauthier.  Paris,  2  vols.     1865. 


fjS  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

hoffte,  das  chinesische  Reich  unter  der  Mongolendynastie,  wie  es 
Marco  Polo  in  aller  Pracht  geschildert  hatte,  und  er  rechnete 
sicher  darauf,  unterwegs  nach  Zipangu,  d.  h.  nach  Japan,  zu  ge- 
langen. Marco  Polo  war  es  .daher,  der  die  Sehnsucht  einer  nahen 
Verbindung  des  Abendlandes  mit  dem  Osten  anregte.  Dadurch 
kamen  wir  zur  unbeabsichtigten  Entdeckung  einer  neuen  Welt,  und 
als  sie  entdeckt  war  ,,floh  die  Weltgeschichte  nach  dem  Westen". 

Die  Reisen  der  beiden  altern  Poli,  Nicolas  und  Maffio,  be- 
gannen wahrscheinlich  im  Jahre  1255,  und  erstreckten  sich  bis 
zum  Kaiserzelt  Chubilai  Chans  in  den  mongolischen  Steppen,  von 
wo  sie  mit  Aufträgen  des  Grosschans  1269  das  Mittelmeer  wieder 
erreichten.  Sie  kehrten  sehr  rasch  in  den  Orient  zurück,  diessmal 
in  Begleitung  Marco's,  des  berühmten  Sohnes  von  Nicolas.  In 
Lajasso  (Kleinarmenien)  mussten  sie  die  Wahl  eines  neuen  Papstes, 
Gregors  X. ,  abwarten ,  die  am  i .  September  1 2  7 1  erfolgte ,  und 
erst  als  sie  ihre  Beglaubigungsbriefe  von  ihm  erhalten  hatten, 
brachen  sie  nach  China  auf  und  erreichten  nach  3^2  jähriger 
Wanderung,  also   1275,  den  mongolischen  Hof  in  Peking. 

Aber  welchen  Weg  zogen  sie  dorthin?  Darüber  sind  noch 
alle  Erklärer  Marco  Polo's  die  Antwort  schuldig  geblieben,  denn 
der  Venetianer  giebt  keine  Reiseroute,  sondern  nur  eine  Beschrei- 
bung der  Länder,  die  er  auf  seinen  Kreuz-  und  Querzügen  besucht 
hat,  oder  über  die  er  in  der  Nachbarschaft  Erkundigungen  einzog. 
Doch  ist  es  erlaubt  zu  vermuthen,  dass  die  Poli  durch  Klein-  und 
Grossarmenien  zunächst  nach  Täbris ,  von  dort  nach  der  Oase 
Zasdi  (Yesd),  dann  durch  die  Wüste  von  Kerman  nach  der  Oase 
Khebis  oder  Khabis  zogen,  die  Marco  Polo  Kobinant  nennt,  denn 
•von  dort  erreicht  er  in  8  Tagen  Tonocain ,  d.  h.  Kuhistan ,  mit 
seinen  beiden  Hauptstädten  Tun  und  Kain.  Wir  können  ihm  dann 
leicht  folgen  nach  Sapurgan  (Schiberghan)  und  nach  Balac  (Balch). 
Er  durchzieht  hierauf  die  Kleinstaaten  Tocharistans  und  geräth 
nach  Balacian  (Badakschan) ,  wo  ihn  Krankheit  ein  Jahr  fesselt. 
Von  dort  aus  führt  er  uns  nach  Baciam,  worin  Pauthier  Kafiristan 
zu  erkennen  glaubt  und  nach  Chesimur,  welches  ohne  Zweifel 
Kaschmir  ist,  das  er  aber  wahrscheinUch  nicht  selbst  gesehen  hat. 
Von  Badakschan  aus  schreitet  er  über  die  zwölf  Tagereisen  lange 
Hochebene  Pamier  (Pamir),  ,,wo  das  Feuer  nicht  genug  Wärme 
giebt  um  die  Lebensmittel  gar  zu  kochen",  oder  wie  wir  sagen 
würden ,     wo    bei    vermindertem    Luftdruck    der     Siedepunkt    des 


Die  57.  Ausgabe  des  Marco  Polo.  yy 

Wassers  tief  unter  80°  Reaumur  liegt.  Nach  Marco  Polo  ist  ein 
einziger  Europäer  auf  „diesem  Buckel  der  Welt"  (Bam-i-duniah), 
gestanden,  der  Capitän  Wood,  der  am  19.  Februar  1838  bis  zum 
Zwiebel -See  (Sir-i-köl)  gelangte,  aus  welchem  der  Oxus  gegen 
Westen  abfliesst  und  von  wo  der  Siedepunkt  des  Thermometers 
eine  absolute  Höhe  von  15,600  Fuss  (feet)  anzeigte,  also  höher 
als  der  Montblanc,  während  noch  Höhenrücken  von  3500  Fuss 
relativer  Erhebung  den  See  einschlössen. 

Marco  Polo  scheint  jetzt  den  Bolor  gekreuzt  zu  haben,  wie 
wir  jetzt  eine  Meridiangebirgskette  nennen,  während  der  Venetianer 
darunter  ein  Gebiet  versteht,  welches  an  Casgar  (Kaschghar) 
gränzt.  Er  beschreibt  uns  hierauf  Samarcan  (Samarcand),  Carcan 
(Yarkand)  und  Cotan  (Chotan),  aber  wir  zweifeln,  ob  er  alle  diese 
Städte  wirklich  besucht  habe.  Von  Kaschghar  aus  lässt  sich  sein 
Weg  eine  grosse  Strecke  ohne  Schwierigkeiten  verfolgen,  denn  es 
führten  damals  und  führen  jetzt  noch  aus  China  überhaupt  nur 
zwei  Strassen  nach  Westen,  nämlich  der  Pfad  nördlich  vom 
Thianschan  (Thian  -  schan  -  pe  -  lu)  über  Urumptsi,  Chuldscha  und 
längs  dem  Ili,  und  der  Pfad  südlich  vom  Himmelsgebirge  (Thian- 
schan-man-lu)  durch  das  warme  Kaschgharien,  Dass  Marco  Polo 
diesen  letzteren  Weg  benutzt  hat ,  ist  nie  bezweifelt  worden ;  es 
ist  jedoch  Pauthier  gelungen  das  Land  oder  die  Stadt  Siarciam, 
welche  der  Venetianer  unterwegs  berührte,  als  das  Karaschar  der 
modernen  Erdkunde  aufzufinden.  Karaschar  (spr.  Karascher), 
welches  schwarze  Stadt  bedeutet,  führte  nämlich  nach  den 
chinesischen  Länderbeschreibungen  zur  Zeit  der  mongolischen 
Eroberung  den  Namen  Si- tscheu.  Nach  Osten  fortschreitend, 
erreicht  Marco  Polo  die  Stadt  Lop.  Eine  solche  Stadt  kennen 
wir  zwar  nicht  mehr,  wohl  aber  einen  See  dieses  Namens,  Lop- 
noor,  und  in  der  Nähe  mag  die  Stadt  gelegen  sein,  die  Polo  be- 
zeichnen will,  der  auch  die  grossen  Steppen  ,  von  den  Mongolen 
Gobi  (Wüste),  von  den  Chinesen  Schamo,  fliegender  Sand  geheissen, 
nach  der  Stadt  Lop  benennt').  Bevor  er  sie  aber  gegen  Süden 
kreuzt,  gelangt  er  nach  der  Oase  Kamil  oder  Hamil,  die  er  Camul 
nennt  und  die  man  auf  allen  unsern  Karten  findet.  Von  dort 
wendet  er  sich  südwärts,    durchschreitet   die  Gobi  und  gelangt  in 


i)  Lob  oder   Lop  bedeutet  im    Osttiirkischen  ein  Becken,  wo  sich  Wasser 
ansammelt. 


/y3  Zur   Geschichte  der  Geographie. 

das  Reich  oder  die  chinesische  Provinz  Tangut  (Tankut  unserer 
Karten)  mit  der  Hauptstadt  Saciou  leicht  wieder  zu  erkennen  im 
jetzigen  Scha-tscheu.  Seine  Beschreibung  springt  dann  plötzUch 
vom  Wege  ab  auf  die  Nordseite  des  Himmelsgebirges  nach  Chin- 
gintalas.  Keiner  der  früheren  Ausleger  des  Marco  Polo  hat  dieses 
geographische  Räthselwort  richtig  zu  deuten  vermocht.  Pauthier 
dagegen  findet  in  chinesischen  Länderkunden  ein  Sai-yin-ta-la 
angegeben,  einen  dsungarischen  Ortsnamen,  welcher  treffliches 
(sai-yin)  Land  (tala,  Feld)  bedeutet.  Da  die  Chinesen  kein  r 
besitzen  und  es  stets  in  1  umwandeln,  muss  man  Sain-tara  lesen. 
Saintara,  welches  sich  auf  d'Anville'schen  Karten  findet ,  ist  nach 
Urumtsi  die  wichtigste  Stadt  der  chinesischen  Dsungarei  und  lag 
am  Thian-schan-pe-lu  (Strasse  im  Norden  des  Himmelsgebirges), 
Von  Scha-tscheu  hat  der  Reisende  Suctur  und  Kampicion  be- 
rührt. Die  Synonymen  für  diese  Namen  sind  leicht  zu  finden, 
denn  gegen  Osten  treff'en  wir  auf  unsern  Karten  Su- tscheu  und 
Kan-tscheu.  Suctur  ist  beiläufig  bemerkt  eine  Leseart,  welche  die 
Trefflichkeit  des  neuen  Textes  bewährt,  denn  die  Provinz  hiess 
im  Chinesischen  Su  -  tscheu  -  lu ') ,  woraus  im  Munde  der  Tataren 
Suc-tschu-r  werden  musste,  während  Kampicion  statt  Kan-tscheu 
wahrscheinlich  durch  Einschiebung  des  Wortes  pi,  Gränze,  ent- 
standen ist,  so  dass  Kam-pi-tscheu  die  Gränzprovmzialstadt  Kam 
heissen  würde.  Als  benachbart  wird  die  Stadt  Esanar  erwähnt, 
richtiger  in  andern  Handschriften  Ezina  gesclvieben,  das  ehema- 
lige Ltsi-naii,  welches  von  den  heutigen  Karten  verschwunden  ist, 
während  d'Anville  noch  einen  Etzine-pira,  d.  h.  einen  Fluss  Etzin 
kennt.  Von  dort  springt  Marco  Polo's  Beschreibung  plötzlich 
wieder  in  den  Norden  der  Gobi  nach  der  Stadt  Caracoron,  aber- 
mals einer  schwarzen  Stadt  (Kara  schwarz,  korum  Stadt,  türkisch 
und  mongolisch),  die  man  aber  ja  nicht  bei  der  weit  entfernt 
liegenden  Karakorumkette  zwischen  Himalaya  und  Kun-lün  suchen 
darf 2).  Karakorum,  wo  lange  Zeit  das  gelbe  Kaiserzelt  der 
Mongolen  stand,  war  im  13,  Jahrhundert  ein  Ortsname  von  höch- 
ster topographischer  Wichtigkeit,  und  jemand,  der  von  dort  zurück- 


l)  La  heisst  eigentlich  Strasse  ,  wurde  aber  auch  für  einen  Verwaltungs- 
bezirk angewendet ,  wie  in  Italien  eine  Provinz  Emilia  zu  Ehren  der  Via 
Aeinilia  geschaffen  wurde. 

2}  Aeltere  Erklärer  übersetzen  Karakorum  mit  schwarzer  Sand,  was 
einen  besseren  Sinn  gewährt  für  den  Namen  von  Städten  und  von  Gebirgen. 


Die  57.  Ausgabe  des  Marco  Polo.  yn 

kam,  galt  seinen  Zeitgenossen  als  eine  viel  merkwürdigere  Persön- 
lichkeit als  uns  ein  Reisender,  der  aus  Timbuctu  heimkehrt.  Man 
findet  das  alte  Karakorum  auf  allen  unseren  Karten  angegeben, 
bei  d'Anville ,  bei  Humboldt  und  allen  neueren ,  aber  die  Fixirung 
dieses  Ortsnamens  beruhte  bisher  nur  auf  Willkür,  denn  Pauthier 
belehrt  uns,  dass  niemand  die  Lage  dieses  Ortes  zu  be- 
stimmen vermöge,  und  dass  alles,  was  wir  wissen,  uns  nur 
berechtigt  Karakorum  in  die  Nähe  des  Orchon  zu  verlegen. 
Unsere  Kartenzeichner  mögen  daher  auf  ihren  Platten  ein  Frage- 
zeichen vor  oder  hinter  den  Namen  Karakorum  hnizufügen 
lassen. 

Nach  einer  Abschweifung  über  die  Geschichte  Temudschins 
(Dschingis  Chans)  und  des  asiatischen  Erzpriesters  Johannes  ^) 
beschreibt  uns  Marco  Polo  in  den  mongolischen  Steppen  das 
Reich  und  die  Stadt  Erguiul,  welche  Pauthier  ohne  uns  über  den 
Namensursprung  aufzuklären ,  für  Yung-tschang-lu  hält ,  dann  die 
Stadt  Singuy  (Si-ning-fu),  endlich  das  Reich  Egrigaia,  wofür  Pau- 
thier als  synonj'm  die  Stadt  U-la-hai  der  Chinesen  ausserhalb  der 
Mauer  nachweist  2).  Das  Reich  Tanduc  des  Venetianers  findet 
der  Sinolog  wieder  in  dem  jetzigen  District  Ta  -  thung,  der  gegen- 
wärtig von  zwei  Armen  der   grossen    Mauer    eingeschlossen    wird. 

Von  Tanduc  schreitet  die  Schilderung  fort  nach  Ciandu, 
längst  erkannt  als  Schang-tu,  wörtlich  Monarchensitz,  dem  Som- 
merpalast Cubilai  Chans,  des  damaligen  Mongolenkaisers,  und 
springt  dann  plötzlich  südwärts  aus  den  mongolischen  Steppen 
nach  dem  eigentlichen  China,  und  zwar  nach  der  Hauptstadt 
Chanbalik ,  das  heisst  Kaiserstadt ,  der  mongolischen  Benennung 
für  Peking.  Marco  Polo  muss  auf  seinem  Wege  aus  der  Steppe 
die  grosse  Mauer  überschritten  haben,    die  nach  allen  Zeugnissen 


i)  In  Bezug  auf  letzteren  wiederholt  Pauthier  die  alten  ungenügenden 
Erklärungen.  Die  neuen  Untersuchungen  von  Oppert  über  die  asiatischen 
Erzpriester  (s.  Ausland  1864.  S.  976)  kennt  er  offenbar  nicht,  denn  wenn  er 
die  Ansicht  dieses  Orientalisten  nicht  getheilt  hätte,  müsste  er  sie  wenigsten? 
widerlegen. 

2)  Die  Hauptstadt  von  Egriaia  nennt  Marco  Polo  Calacia.  Pauthier  will 
den  Namen  ableiten  aus  dem  arabischen  (!)  Kala ,  Schloss ,  und  dem  chine- 
sischen Si-Hia,  die  westlichen  Hia,  wie  eine  kleine  Lehusdynastie  in  der 
Steppe  hiess,  Calacia  soll  also  bedeuten:  Schloss  der  westlichen  Hia,  und  der 
Stadt  Ninghia  der  chinesischen  Reichsgeographie  entsprechen. 


So  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

der  Geschichte  vom  Kaiser  Thsin  Schi-hoang-ti  214  —  204  vor 
unserer  Zeitrechnung  erbaut  wurde.  Bekanntlich  erwähnt  aber 
Marco  Polo  der  grossen  Mauer  mit  keiner  Sylbe ,  ein  befremden- 
des Schweigen,  welches  von  jeher  seine  Erklärer  in  die  grösste 
Verlegenheit  gesetzt  und  zu  Vermuthungen  und  Ausflüchten  ge- 
nöthigt  hat.  Nach  unserer  Ansicht  kann  man  die  einzige  Beru- 
higung nur  in  Marco  Polo's  Worten  finden,  die  er  auf  seinem 
Sterbebette  als  Antwort  auf  das  Drängen  seiner  Freunde  gab,  die 
ihn  beschworen  „seine  vielen  Unwahrheiten"  doch  zu  widerrufen. 
Er  habe,  versicherte  er  ihnen,  nur  die  Hälfte  erzählt  von  allen 
Wundern  der  Welt,  die  er  wirklich  gesehen  habe. 

Auf  die  Einzelnheiten  seiner  Beschreibung  Chinas  können  wir 
uns  nicht  einlassen,  sondern  nur  diejenigen  Punkte  hervorheben, 
welche  ein  besseres  Licht  durch  den  neuen  Erklärer  gefunden 
haben.  So  spricht  Marco  Polo  von  einem  Lande  Gaindu,  west- 
lich von  Tübet,  mit  einem  See,  in  dem  Perlenfischerei  betrieben 
werde.  Klaproth  glaubte  darin  die  Stadt  Kiangtheu  im  nördlichen 
Theile  von  Awa,  zehn  Tagereisen  gegen  Südwesten  von  der 
Gränze  Yünnans  zu  erkennen ,  die  er  von  chinesischen  Schrift- 
stellern in  der  Mongolenzeit  erwähnt  fand.  Allein  diess  passt 
nicht  zu  der  Lage,  die  Marco  Polo  dem  Lande  anweist,  welches 
vielmehr  die  Landschaft  Ghendu  mit  einem  grossen  See  in  Tübet 
(lat.  28^  40'  N.,  long.  92^  ig'  Ost)  Paris  ist,  deren  Klaproth 
selbst  (Memoires  III.  p.  411  sq.)  gedacht  hat.  Dass  wir  unter 
dem  Reich  Mien  das  heutige  Birma,  unter  Aniu  Annam  zu  ver- 
stehen haben,  bestätigt  wie  alle  seine  Vorgänger  auch  Pauthier. 
Gegen  Osten  aber  lag  die  Landschaft  Tho-lo-man,  die  an  der 
Gränze  des  heutigen  Kuangsi  gesucht  werden  muss,  wo  nach  den 
chinesischen  Chorographien  die  unabhängigen  Stämme  Pho,  Lo 
und  Man  sassen,  von  denen  Marco  Polo's  Beschreibung  zu  der 
von  Cuguy  (Kuei-tscheu)  sich  wendet,  wie  eine  Grenzlandschaft 
Yünnans  jetzt  noch  heisst.  Das  damalige  China  zerfiel  in  eine 
nördliche  Hälfte  Cathai  oder  Chatai,  und  in  eine  Südhälfte  Mangi 
oder  Manzi.  Der  südliche  Theil  gehört  zu  den  frischen  Erobe- 
rungen der  Mongolen,  und  in  einer  der  annectirten  Städte,  Yang- 
tscheu, war  es,  wo  Marco  Polo  drei  Jahre  als  kaiserlicher  Präfect 
waltete.  Jetzt  ist  Yang-tscheu  nur  die  Hauptstadt  eines  Kreises 
der  Provinz  Kiang-nan,  im  Jahr  1276  war  es  aber  vorübergehend 
zum  Sitz  einer   Generalstatthalterei   erhoben    worden ,    um   jedoch 


Die  57.  Ausgabe  des  Marco  Polo.  gl 

schon  1277  wieder  zur  Departementalstadt  erniedrigt  zu  werden. 
Marco  Polo's  Amtszeit  muss  auf  die  Jahre  1277 — 1280  fallen, 
denn  wäre  er  jemals  Generalstatthalter  gewesen,  so  würde  sein 
Name  in  den  chinesischen  Geographien  der  damaUgen  Zeit  ge- 
nannt worden  sein. 

Marco  Polo  erzählt  ferner,  dass  die  Mongolen  drei  Jahre  lang 
die  Stadt  Saianfu  (Siangyang)  belagert  und  sie  zuletzt  nur  einge- 
nommen hätten  mit  VVurfmaschinen ,  welche  der  Grosschan  nach 
Nicolas'  und  Maffio's  Polo  Unterweisung  erbauen  Hess.  Sie  schleu- 
derten grosse  Steine  auf  so  weite  Entfernungen,  dass  es  gelang, 
die  Mauern  der  Stadt  in  Bresche  zu  legen.  Nach  den  chinesischen 
Annalen  währte  die  berühmte  Belagerung  161 1  Tage,  vom  Jahr 
1268 — 1273,  also  nicht  drei,  sondern  fünf  Jahre.  Der  mongoHsche 
Feldherr  Alihaiya  verwendete  auch  wirklich  mit  Genehmigung  des 
Kaisers  seit  127 1  zwei  fremde  Techniker,  die  ihm  Wurfmaschinen 
bauten.  Den  einen  nennen  die  chinesischen  Geschichtschreiber 
Ala-uting  (Ala-ed-din),  den  anden  Yssemain.  Pauthier  erweist  uns 
die  Ehre  das  Wort  Yssemain  von  Allemand  abzuleiten,  und  einen 
der  Geschützmeister  für  einen  Deutschen  zu  halten.  Schade  nur, 
dass  dann  dieser  Teutone  sich  für  einen  ,, Allemand"  ausgegeben 
und  seinen  Nationalnamen  den  Chinesen  französisch  vorgesetzt 
haben  müsste*).  Wenn  Marco  Polo  die  Einführung  der  Wurf- 
maschinen seinem  Vater  und  Onkel  zuschreibt,  so  lässt  sich  das 
leider  mit  ihrem  Alibi  nicht  vereinigen.  Gerade  zur  Zeit  der 
Belagerung  Siangyangs  befanden  sie  sich  theils  auf  ihrer  ersten 
Rückkehr  nach  Europa,  theils  auf  ihrer  zweiten  Wanderung  nach 
China,  welches  sie  erst  1275  erreichten,  denn  1271  warteten  sie 
noch  auf  die  neue  Papstwahl  in  Lajasso,  Indessen  ist  es  möglich, 
dass  Ala-ed-din  und  Yssemain  ihre  Schüler  gewesen  sind,  und  dass 
sie  auf  ihrer  ersten  Reise  sie  jene  Wurfmaschinen  erbauen  lehrten. 

Im  italienischen  Text  des  Ramusio  wird  der  Ausbruch  einer 
Verschwörung  und  die  Ermordung  eines  kaiserlichen  Finanzmini- 
sters Ahmed,  eines  Eingebornen  von  Samarcand,  erzählt,  der  sich 
grobe  Verbrechen  hatte  zu  Schulden  kommen  lassen.  Der  Bericht 
des  Venetianers  ist  so  genau,  wie  er  nur  aus  einer  Kenntniss  der 
Acten    hervorgehen   konnte.      Auch   erzählen    mehrere   chinesische 


l)  Wenn  Ala-uting  Ala-ed-din  unzweifelhaft  ist,  warum  ist  dann  Yssemain 
nicht  Ismael? 

Feschel,  Abhandlungen.     II.  6 


82  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Historiker,  dass  der  Kaiser  einen  Beamten,  Namens  Polo,  mit  der 
Untersuchung  der  Verschwörung  beauftragte,  so  dass  also  gar  kein 
Zweifel  herrschen  kann,  dass  der  Polo  der  chinesischen  Annalen 
und  einer  der  drei  Venetianer,  wahrscheinlich  aber  Marco,  dieselbe 
Person  sei. 

Ein  anderer  Gewinn  für  die  richtige  Erklärung  des  Textes 
ist  die  wahre  Bezeichnung  der  Lage  von  Nanghin.  Marsden, 
Bürk,  Lazari  haben  sogleich  an  Nangking  gedacht,  nur  Klaproth 
suchte,  wenn  auch  irrthümlich  Kaifung-fu  hinter  dem  Namen. 
Nangking  (die  Südstadt,  im  Gegensatz  zu  Peking,  der  Nordstadt) 
hiess  nämlich  unter  den  Mongolen  Tsi-khing,  so  dass  wir  nicht 
dieses  unter  dem  Nanghin  des  Marco  Polo ,  sondern  vielmehr 
Nyan-khing  am  linken  Ufer  des  Kiang  erkennen  dürfen. 

Dass  das  Quinsay  (King-sse)  des  Venetianers ,  welche  das 
wahre  Ziel  des  Entdeckers  von  Amerika  war,  die  alte  Hauptstadt 
der  Sung,  jetzt  Hang-tscheu-fu,  und  der  Handelshafen  Qayton  das 
jetzige  Tseu-thung  gewesen  sei,  hat  schon  Klaproth  gelehrt.  Im 
Namen  Zipangu  liess  sich  ebenfalls  leicht  Dschi-pen-kue,  das  Reich 
der  aufgehenden  Sonne  erkennen,  wie  die  Japanesen  ihr  Vaterland 
nennen,  und  woraus  unser  Japan  entstanden  ist,  welches  wir  aber 
Dschepen  aussprechen  sollten. 

In  der  indochinesischen  Welt  hat  sich  Marco  Polo's  Ciamba 
als  Tschampa  für  die  Küste  zwischen  Cochinchina  und  Cambodscha 
noch  auf  unsern  Karten  erhalten,  von  seinen  Inseln  Sondur  und 
Condur  ist  die  letztere  das  nautisch  wichtige  Pulo  Condur  im 
südchinesischen  Meer,  Pontain  dagegen  ist  die  Zinn-Insel  Bintang, 
und  Maliur  die  Landschaft  Malaiur  an  der  Westseite  der  Halbinsel 
Malaka.  Aber  sehr  schwierig  war  die  Auffindung  eines  Synonyms 
für  Locach.  So  steht  nämlich  in  allen  gedruckten  Texten  und 
auf  den  Karten  des  sechzehnten  Jahrhunderts ,  ohne  dass  jemand 
bisher  vermochte  den  Namen  an  eine  moderne  Oertlichkeit  zu 
befestigen.  Glücklicherweise  liest  man  aber  in  den  französischen 
Handschriften  Sucat  statt  Locach ,  und  diess  führt  uns  bequem 
nach  der  Stadt  Sucat  auf  Borneo ,  wo  ehemals  das  alte  indische 
Reich  Sukhadana  lag.  Ist  das  Sucat  des  Marco  Polo  Borneo, 
dann  löst  sich  von  selbst  die  alte  Streitfrage,  dass  nämlich  der 
Venetianer  und  nicht  bloss  er,  sondern  seine  Nachfolger,  die 
Franciscanermissionäre  in  China ,     unter  Grossjava  nichts   anderes 


Die  57.  Ausgabe  des  Marco  Polo.  g? 

als  das  heutige  Java  verstanden  haben  können,  denn  sein  Kleinjava 
ist  längst  als  Sumatra  wieder  erkannt  worden. 

Die  chronologischen  Gebrechen  der  Texte  vermag  aber  auch 
Pauthier  nicht  zu  heilen;  sie  fallen  entweder  den  Abschreibern 
zur  Last,  oder  Marco  Polo,  der  sich  auf  seinen  asiatischen  Reisen 
abwechselnd  des  chinesischen  und  des  muhammedanischen  Kalenders 
bedienen  musste,  irrte  sich  bei  der  Uebertragung  seiner  Jahreszahlen 
in  die  christliche  Zeitrechnung.  So  setzt  er  den  mongolischen 
Eroberungszug  gegen  Mien  (Birma),  an  welchem  er  ohne  Zweifel 
persönlich  theilnahm ,  ins  Jahr  1272  statt  1282.  Er  kann  auch 
nicht,  wie  er  behauptet,  1295  noch  in  Tschampa  gewesen  sein, 
sondern  muss  sich  bereits  damals  in  Europa  befunden  haben. 
Die  Poli  wurden  bekanntlich  vom  Chan  beauftragt  eine  kaiserliche 
Prinzessin  auf  dem  südasiatischen  Seewege  nach  Persien  zu 
geleiten.  Ihre  Abreise  muss  in  die  Jahre  1291  oder  1292  fallen, 
denn  sie  bedurften  zweift-  Jahre,  ehe  sie  Täbris  erreichten. 
Damals  herrschte  in  Persien  Kajchatu ,  dessen  Regierung  vom 
22.  Juli  1291  bis  23.  April  1295  dauerte,  und  im  letzteren  Jahre 
1295  muss  Marco  Polo  bereits  Venedig  erreicht  haben,  denn  er 
befand  sich  1296  auf  einer  der  25  Galeeren,  die  von  Venedig 
ausgelaufen  waren  und  im  Golfe  von  Lajasso  von  den  Genuesen 
zerstört  oder  genommen  wurden. 

Es  geschah  1298,  dass  er  im  Kerker  Genua's,  als  Kriegs- 
gefangener, dem  Rusta  Pisan,  oder  dem  Rusticus  aus  Pisa,  seine 
,, Wunder  der  Welt"  dictirte.  Rusticus  aus  Pisa,  obgleich  ein 
Italiener ,  schrieb  doch  französisch ,  und  hatte  sich  bereits  durch 
eine  französische  Bearbeitung  der  Che.valiers  de  la  Table  Ronde 
bekannt  gemacht;  auch  Brunetto  Latini,  der  Lehrer  Dante's,  und 
Martino  Canale,  sein  Zeitgenosse,  bedienten  sich  des  Französischen, 
und  zwar,  wie  sie  beide  gestehen,  weil  die  französische  Sprache 
cort  parmi  le  monde  et  est  plus  delictable  ä  lire  et  ä  oir.que  nulle 
autre.  Dass  der  italienische  wie  der  lateinische  Text  des  Marco 
Polo  aus  dem  Fanzösischen  übersetzt  worden  sei,  lässt  sich  deutlich 
an  einigen  sprachlichen  Missverständnissen  nachweisen,  und  ist 
zuerst  vom  Grafen  Baldelli  Boni  erkannt  worden.  Von  einem 
altfranzösischen  Text,  der  von  Rusticus  aus  Pisa  herrührt,  stammt 
die  Ausgabe  des  Marco  Polo,  welche  die  geographische  Gesellschaft 
in  Paris  veranstaltet  hat.  Diess  ist  der  älteste  aller  Originaltexte. 
Als  aber  Marco  Polo ,     aus    seiner  Kriegsgefangenschaft  entlassen, 

6* 


Sa      Zur  Geschichte  der  Geographie.     Die  57.  Ausgabe  des  Marco  Polo. 

im  Jahr  1307  in  Venedig  mit  Thiebault  de  Cepoy,  dem  Botschafter 
von  Karl  von  Valois,  Grafen  von  Artois  bekannt  wurde,  der  seit 
1305  sich  dort  aufhielt,  übergab  er  ihm  als  Geschenk  für  seinen 
Fürsten  eine  zweite,  gleichfalls  französische  Bearbeitung,  die,  unter 
seinen  Augen  gefertigt,  stylistisch  reiner  war  als  die  unbeholfene 
und  fehlerhafte  des  Pisaner  Rusticus.  Da  sie  weit  vorzügUcher 
ist  als  der  ältere  Text,  so  unterhegt  es  keinem  Zweifel,  dass 
manche  Verbesserungen  und  Zusätze  nur  von  Marco  Polo  selbst 
ausgehen  konnten.  Wir  haben  hier  also  einen  Jüngern  französischen 
Originaltext  gleichsam  „durchgesehen  und  verbessert  vom  Autor," 
und  dieser  Text,  von  dem  sich  drei  handschriftUche  Exemplare  in 
Paris  befinden,  liegt  der  neuen  Ausgabe  zu  Grunde. 

Es  wäre  voreilig  zu  sagen,  dass  mit  Pauthier's  Arbeit  die 
Kritik  eines  der  merkwürdigsten  und  geschichtlich  folgenreichsten 
Bücher  des  Mittelalters  erschöpft  worden  sei.  Noch  immer  bleiben 
eine  Anzahl  Erklärungen  unsicher,  doÄi  betreffen  die  Zweifel  nur 
Dinge  zweiter  Ordnung,  und  man  kann  wohl  sagen,  dass  wir  jetzt 
bis  auf  unbedeutende  Reste  Marco  Polo  völlig  und  mit  Leichtigkeit 
verstehen.  Je  klarer  aber  das  Verständniss  wurde ,  um  so  mehr 
gewann  der  Venetianer  an  unserer  Achtung,  und  ein  Mann,  den 
seine  Zeitgenossen  für  einen  dreisten  Lügner  gehalten  und  einen 
MilUonenschwätzer  (il  Milione)  genannt  haben,  gilt  uns  jetzt  als 
ein  treuer,  wahrhaftiger  und  genauer  Berichterstatter  über  das 
ferne  Morgenland. 


8.     Die    mittelalterlichen    Handelsnieder- 
lassungen der  Italiener  in  der  Levante. 

(■Ausland  1868  Nr,  38.     17.  September.) 

Die  Culturgeschichte  des  Mittelalters  beschäftigt  sich  sehr 
wesentlich  mit  den  Berührungen  zwischen  Abendland  und  Morgen- 
land, oder  zwischen  Europa  und  Kleinasien.  Wie  wichtig  und  er- 
spriesslich  auf  unsere  geistige  Entwickelung  die  Kreuzzüge  gewirkt 
haben,  ist  keinem  Gebildeten  eine  Neuigkeit  mehr.  Mit  den  Kreuz- 
zügen und  dem  Verluste  Acca's  hörte  jedoch  der  Verkehr  nicht  auf. 
Das  Abendland  besass  in  seinen  asiatischen  und  später  ägyptischen 
Factoreien  Organe,  welche  es  in  beständiger  Berührung  mit  der 
Bildung  des  Morgenlandes  hielten.  Die  meisten  und  vornehmsten 
der  überseeischen  Niederlassungen  gehörten  aber  den  Italienern. 
Ueber  die  italienischen  Pflanzstädte  besassen  wir  schon  längst, 
zusammengetragen  aus  ungezählten,  umfangreichen  und  gewöhnlich 
sterilen  Schriften,  vor  deren  Durchwanderung  nur  der  Deutsche 
nicht  zurückschreckt  —  den  man  überhaupt  für  die  trockenen 
Gebiete  der  Literatur  das  Schiff  der  Wüste  nennen  dürfte  —  eine 
von  wenigen  gekannte,  von  diesen  wenigen  aber  hoch  geschätzte 
Arbeit  von  W,  Heyd  in  Stuttgart.  Sie  Avar  aber  leider  nur  in 
einzelnen  Heften  der  Tübinger  Zeitschrift  für  Staatswissenschaft 
erschienen,  für  diejenigen  also,  die  sie  gesondert  benützen  wollten^ 
schwer  käuflich.  Diesem  Missstande  ist  glücklich  abgeholfen 
durch  die  Ausgabe  einer  italienischen  Uebersetzung  ^),  welche  G. 
Müller  in  Turin  besorgt  hat.     Sie  ersetzt,    da  in  Deutschland  alle, 


l)  Le  Colonie  commerciali  degli  Staliani  in  Oriente  nel  medio  evo.    2  vol. 
Venezia  e  Torino  1866  e  1867. 


86  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

die  sich  mit  jenen  Stofifen  beschäftigen,  des  Italienischen  kundig 
sind,  eine  deutsche  Gesammtausgabe ,  vor  der  sie  noch  manches 
voraus  hat,  denn  erstens  konnte  der  Verfasser  selbst  in  die 
Uebersetzung  noch  manches  zur  Ergänzung  hineintragen,  zweitens 
wurde  sie  mit  einem  Sachregister  versehen,  und  drittens  ihr  zwei 
ganz  neue  Abschnitte  über  Cypern  und  Nordwestafrika  hinzu- 
gefügt. 

Man  würde  dieses  Werk  sehr  niedrig  stellen,  wenn  rnan  ihm 
nur  eine  Wichtigkeit  für  die  Handelsgeschichte  beilegen  wollte. 
Die  Berührungen  zwischen  dem  Abendland  und  dem  Morgenland 
bleiben  stets  höchst  denkwürdig.  Zwei  Gesittungen  und  zwei 
Religionen  haben  sich  dort  begegnet,  und  gar  manche  Züge  der 
sogenannten  orientalischen  Frage  erscheinen  dem  Kundigen  nur 
Wiederholungen  sehr  alter  Erscheinungen.  Besonders  rechts- 
geschichtlich zeigt  sich ,  dass  die  noch  jetzt  bestehende  Consular- 
gerichtsbarkeit  in  der  Levante  durch  die  Natur  der  Dinge  begrün- 
det war,  und  dass,  wo  Völker  von  so  verschiedenen  Gesittungen 
neben  und  miteinander  leben,  auch  die  Rechtspflege,  so  weit  es 
angeht,  gesondert  werden  muss.  Eine  der  wichtigsten  Quellen 
des  Verfassers  waren  ferner  die  Beschreibungen  mittelalterlicher 
Reisenden.  Zu  ihrem  besseren  Verständniss  hat  Heyd  das  Seinige 
reichlich  beigetragen,  und  wer  sie  benutzen  will,  sei  er  Geograph, 
Orientahst ,  Geschichtschreiber  der  Kreuzzüge  oder  Kenner  der 
heiligen  Lande,  wird  manchen  werthvollen  Aufschluss  finden. 

Auf  den  gesammten  Inhalt  einzugehen  dürfte  nicht  mehr  an 
der  Zeit  sein ,  wir  wählen  daher  den  neuen  Abschnitt  über  die 
Insel  Cypern,  der  dem  Leser  zugleich  einen  Massstab  zu  geben 
vermag  für  das,  was  die  andern  Abhandlungen  enthalten. 

Erst  als  Richard  Löwenherz  1 1 9 1  der  Herrschaft  der  Grie- 
chen auf  den  Inseln  ein  Ende  gesetzt  und  das  Haus  der  Lusig- 
nani  auf  drei  Jahrhunderte  den  cyprischen  Thron  bestiegen  hatte, 
begann  dort  ein  Handel  aufzublühen,  und  zwar  scheinen  die  Pi- 
saner die  ersten  gewesen  zu  sein ,  welche  den  Werth  Cyperns 
erkannten.  Doch  schon  im  Jahre  12 18  erlangten  auch  die  Genu- 
eser  Quartiere  und  Consulatsgerechtsame  in  Limisso  und  Fama- 
gosta,  die  später  1232  durch  eine  Art  Magna  charta  ihnen  feier- 
lich bestätigt  wurden ,  und  welche  ihnen  unter  andern  auch  ab- 
gabenfreie Ein-  und  Ausfuhr  zusicherten.  Immer  blieb  Cypern  ein 
Handelsgebiet  zweiten  oder  dritten  Ranges,    bis    1291    mit   Acca 


Die   mittelalterlichen  Handelsniederlassungen  der  Italiener   in  der  Levante,   g-j 

der  letzte  Platz  der  Lateiner  in  Kleinasien  den  Saracenen  in  die 
Hände  fiel.  Gleichzeitig  verhängten  die  Päpste  eine  Handels- 
sperre über  Aegypten  und  bedrohten  jeden  Zuwiderhandelnden 
mit  schweren  weltlichen  und  ewigen  Strafen.  Die  Könige  von 
Cypem  fanden  es  sehr  vortheilhaft  im  Sinne  der  päpstHchen  Ver- 
bote dem  Schmuggel  mit  Aegypten  nach  Kräften  zu  steuern,  denn 
ihre  Insel  wurde  seitdem  der  natürliche  Zwischenplatz  für  den 
sogenannten  indischen  Handel,  und  was  die  Gunst  ihrer  Lage 
noch  steigerte,  war  der  Umstand,  dass  ihr  gegenüber  in  Klein- 
asien der  letzte  christliche  Staat,  nämhch  Kleinarmenien  mit  seinem 
Hafen  Lajazzo  (Ajas),  lag,  wohin  aus  dem  wirkhchen  Indien  Ka- 
rawanen auf  den  Euphrat-  und  Tigrispfaden  heranzogen.  Uebri- 
gens  erzeugte  Cypem  selbst  eine  Menge  geschätzter  Güter.  Noch 
lange  sollte  es  währen,  bis  auf  den  Canarien  und  den  Antillen 
Zucker  gebaut  werden  würde.  Er  war  vielmehr  damals  ein  me- 
diterran eisches  Product,  und  nach  Aegypten  Cypern  das  zweite 
Zuckerland  der  mittelalterlichen  Welt.  Die  Insel  besass  ferner  in 
ihren  natürlichen  Salinen  Schätze,  die  man  alljährlich  mit  der 
Schaufel  aufheben  konnte.  Ferner  wuchs  dort  der  weitberühmte 
Cyperwein,  und  in  Nikosia  wurden  unter  dem  Namen  drap  d'or 
de  Chypre  berühmte  Goldbrocate  gefertigt. 

Mit  dem  Falle  Acca's  fanden  sich  zu  den  Pisanem  und  Ge- 
nuesen bald  auch  Catalanen  und  Venetianer  ein,  so  dass  die  vier 
grössten  Handelsvölker  des  Mittelmeeres  um  jene  Zeit  auf  Cypern 
vertreten  waren.  Die  alte  Bundesgenossenschaft  mit  den  Genue- 
sern  hatte  inzwischen  manche  Brüche  erlitten,  und  seit  1306,  wo 
die  Venetianer  grosse  Handelsgerechtsame  erlangten,  wurden  diese 
von  Volk  und  Hof  sichtbar  bevorzugt.  Der  Handel  war  damals 
noch  »ein  ritterliches  Gewerbe ,  zumal  der  Seehandel ,  der  sich 
wegen  der  Piratengefahr  nur  durch  Kriegsschiffe  und  zum  Theil 
nur  durch  Seekarawanen  betreiben  Hess.  Die  Zwistigkeiten  der 
Mutterstädte  pflanzten  sich  aber  fort  nach  der  Levante,  und  blu- 
tige Auftritte  zwischen  den  Kaufleuten  der  verschiedenen  Nationen 
gehörten  nicht  zu  den  Seltenheiten,  So  wäre  es  am  12.  Novem- 
ber 1372  bei  Gelegenheit  der  Krönung  Peter  des  Zweiten  in  Fa- 
magosta  beinahe  zum  Waffengemenge  zwischen  Venetianem  und 
Genuesen  gekommen.  Die  Cyprioten  warfen  sich  auf  die  letztem, 
ergriffen  etliche,  um  sie  aus  den  Fenstern  zu  stürzen  und  erschlu- 
gen andere  im  Palast,    während   der   Pöbel   ihre  Loggia   ausplün- 


gg  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

derte.  Allein  mit  der  grossen  Republik  war  es  gefährlich  Händel 
anzuknüpfen.  In  Genua  bildete  sich  sehr  rasch  eine  Gesellschaft 
Namens  Maona  auf  Actien.  Diese  rüstete  1373  eine  Flotte  von 
7  Galeeren  mit  1400  Mann  Landungstruppen,  welche  völlig 
genügten,  um  der  Insel  Herr  zu  werden  und  den  König  gefangen 
nach  Genua  zu  schleppen,  von  wo  er  erst  1374  und  nicht  eher 
entlassen  wurde,  als  bis  er  der  Republik  einen  Tribut  von  90,000 
Goldgulden  verschrieben,  der  Gesellschaft  Maona  aber  als  Kriegs- 
entschädigung 2,012,400  Goldgulden  zugesagt  hatte.  Als  Pfand 
für  diese  Schuld  übergab  er  den  Hafen  Famagosta,  der  zugleich 
als  ausschliesslicher  Hafen  für  den  auswärtigen  Handel  erklärt 
wurde.  Da  die  cyprischen  Könige  die  Schuld  nicht  abtrugen, 
bheben  die  Genueser  90  Jahre  im  Besitze  des  Pfandes,  über  dessen 
Werth  uns  die  Angabe  belehrt,  dass  damals  jährlich  dort  60  bis 
100  Schiffe  einzulaufen  pflegten,  jedes  mit  Frachten  von  100,000 
Gulden  im  Durchschnittswerth,  für  damaUge  Verhältnisse  ein  Um- 
satz ersten  Ranges.  Man  wird  vielleicht  erwarten,  dass  die  Ge- 
nuesen als  Inhaber  des  Hafens  ihre  venetianischen  Nebenbuhler 
durch  Tarife  bedrückt  haben  würden ;  diess  geschah  jedoch  nicht, 
sondern  die  Venetianer  hatten  wie  die  Genueser  nur  einen  Werth- 
zoll  von  I  Proc,  und  Va  Proc.  für  edle  Metalle  oder  Pretiosen 
zu  entrichten.  Aber  nichtsdestoweniger  wurden  die  Venetianer 
durch  allerhand  Plackereien  beengt  und  bedrückt.  Um  jene  Zeit 
wurde  übrigens  die  Handelssperre  von  den  Päpsten  wieder  auf- 
gehoben und  der  indische  Waarenumsatz  mehr  und  mehr  wieder 
auf  das  Festland  verlegt.  Im  sogenannten  Kriege  von  Chioggia, 
der  1381  mit  völliger  Niederlage  der  Genueser  und  dem  Siege 
der  Venetianer  endete,  standen  die  Cyprioten  natürlich  auf  Seite 
der  letztern,  doch  wurden  sie  ihre  Pfandgläubiger  in  Famagosta 
desswegen  nicht  los.  Aber  die  Macht  des  genuesischen  Staates 
war  so  vollständig  gebrochen,  dass  er  sich  den  wiederholten  An- 
läufen der  cyprischen  Könige  gegen  Famagosta  nicht  gewachsen 
fühlte,  und  dieser  Hafen  in  den  Besitz  einer  Creditgesellschaft, 
der  historisch  berühmten  Bank  von  San  Giorgio,  1447  überging, 
der  aber  schon  1464  nach  langer  Belagerung  vom  Bastard  lacob  IL 
Famagosta  entrissen  wurde.  Die  Handelsblüthe  der  Insel  war  aber 
längst  gewelkt.  Um  die  Tribute  und  Erpressungen  der  Genueser 
zu  befriedigen,,  drückten  unerschwingliche  Steuern  den  Kaufmann 
und  Producenten,  so  dass,  wer  nicht  gebunden  war,  dem  unerquick- 


Die  mittelalterlichen  Handelsniederlassungen    der  Italiener  in  der  Levante,    gg 

liehen  Lande  den  Rücken  kehrte.  Der  Befreier  Cyperns  vermählte 
sich  bekanntlich  mit  Cattarina,  einer  Enkelin  eines  auf  Cypem  an- 
gesessenen Venetianers  Andrea  Cornaro,  der  nach  dem  Tode  ihres 
Gemahls  als  Königin-Wittwe  und  als  „Adoptivtochter  Venedigs" 
die  Zügel  der  Regierung  in  die  Hand  gelegt,  bald  aber  wieder  von 
ihren  Vormündern  entrissen  wurden  ,  damit  die  Flagge  von  San 
jNIarco  die  Insel  decken  solle.  Aber  auch  unter  ihrem  Schatten 
wollte  Cypem  nicht  mehr  gedeihen,  bis  endUch  im  1 7 .  Jahrhundert 
die  Türken   auch   ihre    letzten  Reste   von  Wohlstand  vernichteten. 


9.    Die  italienischen  Colonien  in  der  Krim 
und  am  Don  im  Mittelalter. 

(Ausland   1855,     N^.    i.     5.  Januar.) 

,,Alexandrien ,  sagt  Ibn  Batuta  0,  besitzt  einen  prachtvollen 
Hafen.  Ich  habe  einen  ähnHchen  nicht  wiedergefunden  auf  dieser 
Erde,  wenn  man  etwa  ausnimmt  Kulam  tind  Calicut  in  Indien, 
den  Hafen  der  Ungläubigen  (Genueser)  von  Sudak  (Soda)^a,  Sol- 
daya,  Sedaia)  im  Türkenlande  (Krim)  und  den  Hafen  von  Zeitun 
(Thtsethung)^)."  Diess  sind  die  Worte  eines  Mannes,  der  von 
sich  sagen  konnte,  er  habe  so  ziemlich  die  ganze  seinem  Zeitalter 
bekannte  Welt  gesehen.  Sudak  war  also  im  zweiten  Viertel  des  14. 
Jahrhunderts  ein  Welthafen  von  der  damaligen  Bedeutung  Alexan- 
driens.  Wie  würde  es  lauten ,  wenn  heute  Jemand  sagte :  Sudak 
sei  ein  Hafen  wie  London,  New-York,  Buenos  Aires  oder  Canton? 
denn  so  etwa  drückt  sich  der  arabische  Weltreisende  vor  seinen 
Zeitgenossen  aus. 

Wir  wissen,  dass  der  nordösthche  Golf  des  schwarzen  Meeres 
den  Hellenen  gar  wohl  bekannt  war.  Der  historische  Mythus  der 
Argonautenfahrt  versetzt  uns  an  die  Mündung  des  Phasis  (Rion), 
und  Herodot  weiss  bereits,  was  bis  in  das  sechzehnte  Jahrhundert 
unserer  Zeitrechnung  noch  bestritten  blieb,  dass  der  kaspische  See 
ein  östliches  Ufer  habe  und  dass  er  nicht  gegen  Norden  in  einen 
Polarocean  münde,  wie  man  noch  2000  Jahre  nach  ihm  zu  ver- 
muthen  fortfuhr.  Er  kannte  schon  das  Land  der  Argippäer  und 
der  Issedonen,    an    welches   das   goldreiche  Land    der    Arimaspen 


i)  Nach    Klaproth,     Mem.     r61at.     ä     l'Asie    II.     p,    208.     Das    heutige 
Tsiuantscheufu. 

2)  Voyage  d'Ibn  Bathuta  par  Defremery.     Paris  1853.     Tom.  I,  p.   28. 


Die  italienischen  Colonien  in  der  Krim  und  am  Don  im  Mittelalter. 


91 


gränzte.  Er  beschreibt  die  Handelsstrasse,  welche  die  griechischen 
Kaufleute  der  milesischen  Colonien  einschlugen,  um  bis  zu  den 
Argippäem  (am  Ural)  zu  gelangen,  denn  zu  ihnen,  diess  sind  seine 
eigenen  Worte  (Melp.  24),  kamen  Hellenen  von  dem  Stapelplatze 
am  Borysthenes  (Dniepr)  und  aus  allen  andern  pontischen  Häfen. 
Im  Argippäer-Lande  schöpften  sie  aus  dem  Munde  der  Issedonen 
ihre  Kenntnisse  von  den  winterlichen  Ebenen  Nordasiens  und 
erfuhren  durch  sie  die  Existenz  von  Goldlagern  am  nördlichen 
Abfall  des  Altai.  Zu  Strabo's ,  Plinius'  und  Ptolemäus'  Zeiten  war 
die  Kenntniss  des  asiatischen  Festlandes  schon  weiter  östlich  vor- 
gedrungen. Der  östlichste  astronomisch  bestimmte 0  Punkt,  den 
Ptolemäus  kennt,  scheint  der  sogenannte  steinerne  Thurm  gewesen 
zu  sein,  den  man  jetzt  zwischen  Kokan  und  Kaschgar  sucht 2). 
Vom  steinernen  Thurm  aus,  den  wir  uns  als  einen  Gebirgspass 
zwischen  dem  Mustagh  und  Bolortagh  vorstellen  müssen,  gelangte 
man  auf  die  tatarische  Hochebene,  über  welche  hinweg  die  Handels- 
karawanen der  Serer  aus  dem  Lande,  wo  die  Seide  erzeugt  wurde, 
mit  der  alten  Welt  Verkehr  unterhielten. 

Zu  Karls  des  Grossen  Zeiten  war  Konstantinopel  der  aus- 
schhessliche  Stapelplatz  des  Pelzhandels  ^)  und  wir  dürfen  desshalb 
vermuthen,  dass  die  Byzantiner  in  pontischen  Seehäfen  bereits  die 
kostbaren  Pelzwerke  des  asiatischen  Russlands  ■*)  erhandelten,  welche 
Venetianer  aus  Konstantinopel  holten  und  in  Pavia  auf  den  Markt 
brachten,  wo  sie  von  den  putzsüchtigen  Hof  leuten  des  fränkischen 
Kaisers  um  schweres  Geld  gekauft  wurden.  Damals  herrschte  an 
den  kaspischen  Gestaden,  im  Steppengebiete  des  Don  und  auf  der 
Krim,    die  Herrschaft  der  Khosaren,    der  Nachfolger    der  Avaren 


1)  Ueber  die  Längenbestimmung  des  steinernen  Thurmes  herrschte  nämlich 
kein  Streit,  also  hatte  man  vermuthlich  dort  eine  Sonnenfinsterniss  beobachten 
können.  Nur  über  die  Ausdehnung  Asiens  östlich  von  diesem  Punkt  erhob 
Ptolemäus  Streit  gegen  Marin  von  Tyrus,  denn  für  die  weiteren  Stationen  gab 
es  nur  die  Berechnung  der  Karawanenmärsche. 

2)  A.  V.  Humboldt,  Centralasien  Bd.  i,  S.  103.  Bei  der  Stadt  Osch 
findet  sich  das  Denkmal  der  ,, vierzig  Säulen"  oder  der  ,, Thron  Solimans", 
welches    vermuthlich  Reste   des    ehemaligen  befestigten   Karawanenserais    sind. 

3)  Heeren,  Kreuzzüge  S.  257. 

4)  Wenn  man  nämlich  die  Worte  des  Mönches  von  St.  Gallen  (De  gestis 
Caroli  Imperatoris  II,  cap.  in  Pertz ,  Monum.  tom  II,  760)  ....  quidam 
de  gliribus  circumamicti  procedebant wie  es  Pertz  thut,  in  ,, Her- 
melin gekleidet"  übersetzt. 


Q2  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

und  der  Vorgänger  der  Hungarn.  Ihre  Hauptstadt  Ask  lag  an 
der  Wolga  und  durch  ihre  Hände  ging  wahrscheinlich  der  nord- 
asiatische Pelzhandel. 

lieber  diesen  Handel  besitzen  wir  wichtige  Angaben  bei  dem 
arabischen  Geographen  Ibn  Kordadbeh  (912  n.  Chr.),  der  eine 
Postmeisterstelle  im  Dschebal,  also  im  alten  Medien  bekleidete^)- 
„Die  Russen,  sagte  er,  welche  zu  den  slavischen  Stämmen  gehören, 
reisen  von  den  entferntesten  Gebieten  nach  dem  Meere  von  Rum 
(Pontus)  und  verkaufen  dort  Biber-  und  Fuchsfelle.  Der  Kaiser 
(von  Byzanz)  begnügt  sich  mit  einem  Einfuhrzoll  von  10  Procent 
auf  alle  Waaren.  Die  russischen  Kaufleute  fahren  den  Strom  der 
Slaven  (Wolga,  Iltil)  herab ;  auf  dem  Flussarme,  welcher  durch  die 
Stadt  der  Khosaren  strömt  und  wo  sie  dem  Landesherrn  10  Procent 
Zoll  »entrichten  müssen,  gelangen  sie  in  das  Meer  von  Dschordschan 
(kaspischer  See)  und  laufen  in  irgend  einen  der  dortigen  Häfen. 
Bisweilen  werden  die  russischen  Waaren  auf  Kameelen  von  der 
Stadt  Dschordschan  (das  Zorzan  der  Lateiner,  eine  Stadt  am  Ufer 
des  heutigen  Gilhan)  bis  nach  Bagdad  gebracht." 

Die  mittelalterliche  Geographie,  die  arabische  wie  die  christ- 
liche, hatte  eine  besondere  Leidenschaft,  bei  grossen  Flüssen  die 
seltsamsten  Bifurcationen  anzunehmen.  So  hielt  man  denn  auch 
den  Tanais  (Don)  fortwährend  für  einen  rechten  Abfluss  der  Wolga. 
Beide  Flüsse  kommen  sich  bekanntlich  auch  so  nahe,  dass  nur  ein 
schmaler  Isthmus  sie  trennt.  Dieser  Irrthum  herrschte  noch  bis 
zum  Ende  des  13.  Jahrhunderts.  „Mit  Unrecht,  schreibt  Massudi 
(t  955)»  behauptet  man,  das  Khosarenmeer  (kaspische  See)  be- 
sässe  eine  Wasserverbindung  mit  der  mäotischen  Palus.  Niemand 
von  den  Kaufleuten,  welche  das  mäotische  Meer  und  das  Meer 
Nytasch  (Pontus)  befahren,  um  sich  in  das  Land  der  Russen-  und 
(Wolga-)  Borgaren  (Bulgaren) 2)  zu  begeben,  bestätigt,  dass  der 
Khosarensee  mit  irgend  einem  andern  in  Verbindung  stehe,  und 
dass  man  anders  in  dieses  Meer  gelangen  könne,  als  auf  dem 
Fluss  der  Khosaren   (Wolga).     Ich    für   mein  Theil   habe   mich  in 


i)  Reinaud,   Aboulfeda,  p.  Ivii. 

2)  Man  denke  dabei  ja  nicht  an  die  heutige  Bulgarei,  ebenso  wenig  als  die 
Blachia  major  bei  Roger  Bacon  (Opus.  maj.  Fol.  231)  unsere  ,, grosse  Wa- 
lachei" ist.  Jene  asiatische  Walachei  lag  nämlich  zwischen  der  terra  Pascatyr 
(Baschkirenland,  Kirgisensteppe)  und  Kara-Kathai,  das  heisst  der  heutigen 
Dschungarei. 


Die  italienischen    Colonien  in  der  Krim  und  am  Don  im  Mittelalter. 


93 


Aboskun  am  Meer  der  Khosaren  eingeschifift  und  habe  mich  an 
die  Küste  von  Thabarestan  (Täbristan)  und  in  die  angränzenden 
Länder  begeben.  Jeden  Kaufmann  und  jeden  Schiffscapitän,  dem 
ich  an  jenen  Gestaden  begegnete  und  bei  dem  ich  die  geringsten 
geographischen  Kenntnisse  antraf,  habe  ich  über  die  Thatsache 
befragt,  und  alle  versicherten,  dass  sich  keine  nasse  Verbindung 
mit  dem  schwarzen  Meere  vorfinde,  ausser  durch  die  Mündungen 
des  Iltil  (Wolga).  An  einem  obern  Theile  des  Flusses  stehe  ein 
Arm  mit  einem  Canal  (Don)  in  Verbindung,  der  sich  in  das 
Meer  Nytasch  oder  in  das  Meer  der  Russen  (azowsches  Meer) 
ergiesst')." 

Auch  Edrisi ,  der  zwei  Jahrhunderte  später  schrieb ,  schildert 
die  angeblich  pontisch-kaspische  Bifurcation  der  Wolga  und  beruft 
sich  auf  das  Zeugniss  des  älteren  Ibn  Haukai.  Sein  Periplus  des 
schwarzen  Meeres  vom  Bosporus  bis  Trapezunt  und  der  Nord- 
küsten bis  Mathraka  (das  Matraka  des  Plan  Carpin),  der  Haupt- 
stadt eines  Fürsten  der  streitbaren  Abäsen  (Abchasier),  setzt  uns 
in  Erstaunen  durch  seinen  Reichthum  an  Städten  und  an  Hafen- 
plätzen. Auch  er  kennt  Sudak  in  der  Krim ,  und  eine  Stadt  an 
der  Mündung  des  Don,  die  er  Butra  nennt.  Der  Franciscaner- 
missionär  Plan  Carpin  ^)  spricht  von  einer  ehemaligen  Stadt"  Namens 
Orna  an  der  Stelle  des  heutigen  Azow.  Ehemals  war  dort  ein 
lebhafter  Handel  und  Wandel  zwischen  Christen  und  Muhamme- 
danern,  Russen,  Khosaren,  Alanen.  Dschingis  Chan  belagerte 
und  nahm  die  Stadt.  Ihr  Name  wird  seitdem  nicht  mehr 
genannt.  Rubruquis  (1253)  fand  keine  Handelsstadt  an  der  Mün- 
dung des  Don. 

Diese  historischen  Zeugnisse  schildern  uns  die  Stapelplätze  der 
Krim  und  des  Don  als  die  Scene  eines  Pelzhandels.  Setzen  wir 
hinzu,  dass  Salz,  Wachs  und  Honig,  drei  wichtige  Handelsartikel 
im  Mittelalter,  auch  von  dort  zu  holen  waren.  Allein  das  erklärt 
uns  noch  nicht,  wie  Sudak  von  Ibn  Batuta  mit  den  Welthäfen 
des  Mittelalters  verglichen  werden  konnte.  Dazu  bedurfte  es  erst 
eines  gewaltigen  historischen  Ereignisses. 

Bisher  hatten  die  Einbrüche  der  centralasiatischen  Nomaden 
nach  Europa  keinen  dauernden  Verkehr  zwischen  unserm  Welttheil 


i)  Reinaud,  Aboulfeda  p.  CCXCV. 

2)  Bei  Bergeron  tom.  II,  p.  48.     Er  reiste  bekanntlich   im  Jahre  1246. 


04  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

und  ihrer  Heimath  hinterlassen.  Da  kamen  die  Mongolen.  Ihr 
Reich  erstreckte  sich  von  Peking  bis  an  die  Donaumiindungen, 
und  eine  Zeitlang  bis  an  die  Küsten  des  Mittelmeeres.  Es  bestand 
ein  Verkehr  zwischen  den  westhchsten  Vorposten  dieser  welt- 
beherrschenden Cavalleriemacht  und  den  Ostküsten  des  asiatischen 
Festlandes. 

Nach  Errichtung  des  lateinischen  Kaiserreiches  wurden  die 
Venetianer  Herren  des  Bosporus ,  also  Herren  des  schwarzen 
Meeres,  und  mit  ihnen  erschienen  ihre  treuen  AUürten,  die  Pisaner, 
die  Todfeinde  Genua's ,  wieder  in  Konstantinopel.  Nach  Marin 
(IV.  p.  91  -  92)  sollen  die  Venetianer  das  berühmte  Tana  an  der 
Mündung  des  Don  schon  vor  dem  Sturz  des  lateinischen  Kaiser- 
reichs gegründet  und  in  Sudak  ihre  Factoreien  errichtet  haben»). 
Die  (erste)  Reise  Nicolo  und  Mafifio  Polo's,  welche  in  jene  Zeit 
fällt,  geschah  wahrscheinlich  in  der  Absicht,  Handelsverbindungen 
zwischen  Venedig  und  dem  Mongolenreiche  anzuknüpfen.  Plan 
Carpin  (1426)  spricht  von  seinen  Reisegesellschaftern,  Kaufleuten 
aus  Breslau,  Polen,  Oesterreich,  aber  auch  aus  Konstantinopel, 
nämlich  Genuesern,  Venetianern  und  Pisanern,  die  mit  Handelsgütern 
in  die  Länder  Batu  Khans  gereist  waren.  Es  fand  also  schon 
damals  ein  Verkehr  mit  Innerasien  statt,  wenn  er  sich  auch  nicht 
an  grosse  Colonien  knüpfte. 

Der  Sturz  des  lateinischen  Kaiserreiches  vertrieb  eine  Zeitlang 
die  Venetianer  und  Pisaner.  Die  Genueser  erwarben  jetzt  das 
„Protectorat"  über  Konstantinopel ,  legten  in  Pera  und  Galata 
befestigte  Factoreien  an,  eroberten  im  Jahre  1265  schon  Sudak 
und  gründeten  Cafifa  im  Jahre  1269,  wie  der  Abbd  Oderico  (Lettere 
ligustiche  p.  13)  oder  kurz  nach  1266,  wie  Heeren  will.  Zwei 
Genueser  Kaufleute,  Baldo  Doria  und  Antonio  dell'  Orto,  schlugen 
dem  Fürsten  der  Tataren  von  Kiptschak  vor,  auf  der  Krim  eine 
Factorei    zu  gründen.     ,,Die  Tataren,    erzählt   ein  neuerer  Schrift- 


i)  Die  Gründung  der  Tana  fällt  gewiss  später  als  1253,  denn  Rubruquis 
(Cap.  i)  nennt  Matriga  (das  Matrakha  des  Edrisi)  als  den  grössten  Stapelplatz 
für  das  Dongebiet.  Dieser  Fluss  habe  nur  6  Fuss  Tiefe,  so  dass  die  grossen 
Kauffahrer  nicht  zu  Berg  fahren  könnten.  ,,Les  marchands  venant  de  Constan- 
tinople  ä  Matriga,  envoient  de  lä  leurs  barques  jusqu'au  fleuve  Tanais  (Don), 
pour  acheter  des  poissons  secs  (Wolga-Fische) ,  comme  Eturgeons ,  Thoses^ 
Barbottes  etc."  Schwerlich  hat  also  damals  schon  diese  berühmte  Colonie 
existirt. 


Die  italienischen  Colonien  in  der  Krim  und  am  Don  im  Mittelalter. 


95 


steller'),  nahmen  den  Antrag  günstig  auf,  und  von  Seiten  der 
Genueser  geschah  alles,  das  gute  Einvernehmen  zu  erhalten.  Der 
Khan  schloss  mit  ihnen  einen  Handelsvertrag,  bestätigte  sie  im 
Besitzthum  des  Bodens ,  den  sie  gekauft ,  erlaubte  ihnen  Häuser, 
Buden  und  Magazine  zu  erbauen,  verbot  allen  übrigen  Nationen 
den  Handel  nach  der  Krim,  und  sprach  den  Genuesern  allein  das 
Recht  zu,  Waaren  aus  dem  Abendlande  gegen  den  landesüblichen 
Zoll  einzuführen.  Eine  Zeitlang  ging  alles  friedhch  her,  allein  die 
genuesische  Einwanderung  nahm  rasch  zu  und  man  wünschte  sich 
eine  grössere  Sicherheit  als  das  bisherige  gute  Betragen  des  Khans. 
Unter  dem  Vorwande,  die  Magazine  aufzubauen,  stach  man  einen 
Graben  aus  und  warf  mit  der  ausgestochenen  Erde  einen  Wall 
auf.  Die  Stadt  war  jetzt  gegen  einen  asiatischen  Handstreich  fest, 
der  Khan  beschwerte  sich,  allein  man  wusste  ihn  zu  besänftigen, 
indem  man  vorgab ,  nicht  gegen  die  Tataren  sondern  gegen  die 
Venetianer  solle  Wall  und  Graben  dienen." 

Bei  ihrer  zweiten  Reise ,  welche  die  Poli  im  Jahre  1 2  7 1  an- 
t raten,  fanden  sie  bereits  genuesische  Kauffahrer  im  kaspischen 
See,  welche  Seidenzeuge  aus  Ghellie  (das  heutige  Ghilan)  holten  2). 

Die  Handelsverbindungen  sollten  sich  bald  weiter  erstrecken. 
Die  Mongolenkaiser  wünschten  einen  fortgesetzten  Verkehr  mit 
dem  Abendlande.  Schon  die  Missionäre  Ludwigs  des  Heiligen 
hatten  am  Hofe  im  Kara-Korum  einen  Pariser  Goldschmied,  eine 
Frau  aus  Metz,  einen  Engländer,  der  aus  Ungarn  geraubt  worden 
und  etüche  andere  Europäer  angetroffen.  So  darf  es  uns  wenig 
wundern,  wenn  wir  am  Beginn  des  14,  Jahrhunderts  schon  regel- 
mässige Karawanen  antreffen,  die  von  der  Stadt  Tana  an  der 
Mündung  des  Don  bis  nach  Peking  zogen. 

Von  Tana  ging  die  Strasse  nach  Gintarchan  (Astrachan),  von 
Gintarchan  in  einer  Tagereise  flussabwärts  nach  Sarai  (an  der 
Mündung  der  Wolga,  Hauptstadt  des  westHchen  Mongolenreiches). 
Von  Sarai  gab  es  zwei  Wege  nach  Oltrarre  (das  heutige  Otrar 
45  °  nördl.  Breite,  85  °  östl.  Länge  am  Sir  Daria).  Der  eine  directe 
im  Norden  des  Aralsees  scheint  der  Sommer-,  der  andere  der 
Winter  weg   gewesen   zu    sein  3).     Dieser    führte    am  östlichen  Ufer 


i)  La  Primaudaie,  la  mer  noire  p.   76  ff. 

2)  Marco  Polo,   i.  Buch,   5.   Capitel. 

3)  Balducci    Trattato    cap.    I   giebt    einen    andern    Grund   an:    Chi    vacon 
mercanzia,   gli  conviene,  che  vada  in  Organci. 


q6  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

des  kaspischen  Sees  entlang  über  den  aralo  -  kaspischen  Isthmus 
nach  Organzi  (Urgendtsch)  am  Oxus  (Dschihun)  in  der  Nähe  des 
heutigen  Chiva,  und  von  dort  nach  dem  oben  genannten  Otrar 
am  Jaxartes  (Sir  Daria).  Von  dort  führte  die  Strasse  nach  Arma- 
lecco,  welches  der  armenische  Prinz  Haithun  in  seiner  Geschichte 
des  Morgenlandes  Almalig  nennt  und  als  eine  Residenz  der  Mon- 
golenfürsten bezeichnet').  Ueber  die  Lage  dieses  Ortes  herrscht 
noch  keine  Gewissheit.  Nach  Herrn  v.  Humboldt  ist  AlmaHg  oder 
Ili-Balik  identisch  mit  dem  heutigen  Ili-Kuldscha  am  Ili,  der  sich 
in  den  Balkasch-See  ergiesst  ^).  Auffallend  bleibt  immer,  dass  sich 
schon  auf  der  catalanischen  Karte,  welche  1375  von  Seeleuten  der 
Balearen  verfertigt  wurde,  der  See  Issikul  findet  3).  Auch  beschreibt 
uns  Rubruquis  (1254)  eine  Mongolen-Station  zwischen  zwei  Seen^ 
einem  grössern  und  einem  kleinern ,  vermuthlich  den  Ealkasch 
und  dem  Issikul ,  in  dessen  Nähe  wir  Armalecco  zu  suchen  haben. 
Noch  vor  wenigen  Jahren  glaubte  man,  der  Altai  bilde  eine  un- 
unterbrochene Kette  mit  dem  Quellengebiete  des  Oxus,  dem  Plateau 
von  Pamir.  Allein  durch  sorgfältige  Untersuchungen  des  Herrn 
von  Humboldt  ist  es  ermittelt  worden,  dass  beide  Gebirgssysteme 
eine  starke  Bodensenkung  trenne,  welche  das  natürliche  Defilee 
aus  der  innern  Hochebene  Asiens  nach  den  aralischen  Steppen 
bilde.  Aus  diesem  Thore  sind  die  verheerenden  Völkerstürme 
auf  das  mittelalterliche  Europa  losgebrochen ,  auf  diesem  Wege 
sind  die  Missionäre  nach  China  gelangt  und  diess  war  auch  die 
Karawanenstrasse  von  Azow  nach  Peking. 

Das  itahenische  Itinerarium  führt  uns  in  einem  Sprunge  von 
Armalecco  nach  Camexu,  von  der  Dschungarei  nach  der  chine- 
sischen Mauer,  denn  Camexu  ist  das  durch  die  Lingua  franca 
corrumpirte  Kamtscheufu.  Von  dort  erreichte  man  die  Gränze 
von   China   (Cassai,    Cathai),    wo    alles    edle    Metall,    welches    die 


1)  Haithuni  hist.  Orient,   cap.  XXIV, 

2)  A.  V,  Humboldt;  Central-Asien,   i.  Bd.,  S.  482—485. 

3)  Neben  dem  See  ist  ein  Kloster   abgebildet  mit  der  Legende  Ysicol,    en 

aquest  lochies  (Orte) monastir    de    frores  ermians  es  la  cors  de  sent 

mathia.  Eine  Copie  dieser  Objecte  mit  dem  Kloster  der  armenischen  Brüder 
findet  sich  auf  der  Karte  des  Museum  Borgia ,  welche  der  Vicomte  de  San- 
tarem  (Essai  tome  III,  p.  275)  in  das  15.  Jahrhundert  setzt  und  wo  die  cata- 
lanische  Aufschrift  übersetzt  lautet :  Yssicol ,  lacus  super  quem  corpus  B(eati) 
Malhei  quievit. 


Die  italienischen  Colonien  in  der  Krim  und  am  Don  im  Mittelalter. 


97 


Kaufleute  bei  sich  führten,  in  kaiserliches  Papiergeld  umgesetzt 
werden  musste  ^).  Von  der  Gränze  bis  zur  Hauptstadt  des  Reiches 
Gamalecco  (Kambalu,  Peking)  werden  noch  30  Tagereisen  ge- 
rechnet. „Die  Handelsstrasse  von  der  Tana  nach  Gattajo  (Cathai, 
China),  sagt  Balducci,  ist  ganz  sicher,  in  der  Nacht  so  gut  wie  am 
Tage,  weri^gstens  behaupten  es  die  Kaufleute,  welche  dorthin 
gereist.  Doch  fügt  man  hinzu,  dass  von  der  Tana  bis  nach  Sara 
(Wolgamündung)  vergleichsweise  grössere  Unsicherheit  herrsche, 
als  auf  der  übrigen  Strecke ;  aber  wenn  sechzig  Männer  beisammen 
sind,  selbst  in  der  verdächtigsten  Zeit,  so  reisen  sie  so  sicher  wie 
zu  Hause  von  einem  Zimmer  ins  andere." 

Auf  diese  Art  kam  frühzeitig  die  Kenntniss  von  China  nach 
Europa.  Der  Karawanenweg  wurde  auf  Karten  abgebildet,  wie 
auf  der  catalanischen  2)  (1375)  und  der  von  Fra  Mauro,  welche 
auch  den  See  Issikul  (lag  Insicol)  kennt.  Man  glaube  ja  nicht, 
dass  diese  graphischen  Urkunden  nach  den  Beschreibungen 
des  Marco  Polo  verfertigt  wurden,  denn  erstens  finden  sich  auf 
den  Karten  Elemente,  die  dem  Venetianer  fremd  sind,  und  zweitens 
erlangte  erst  im  15.  Jahrhundert  Polo's  Itinerarium  Werth  und 
Glaubwürdigkeit  für  die  mittelalterliche  Geographie. 

Im  Beginn  des  14.  Jahrhunderts  war  daher  Tana  ein  Welt- 
stapelplatz. Zu  den  ursprünglichen  Handelsartikeln,  als  Wachs 
Honig,  Salz,  getrockneten  Fischen,  Pelzwerk,  Hermelin,  Marder, 
Fuchs,  Zobel,  Rennthierhäuten,  waren  Seide,  Ambra,  Perlen,  Pfeffer, 
Safifran,  Ingwer,  Baumwolle  gekommen.  Aus  dem  Abendlande 
brachte  man  Brocate  und  Tuche,  Battiste,  Eisen,  Kupfer,  Zinn, 
Flachs,  Seife,  Oel  und  griechischen  Wein.  Der  Stapelplatz  am 
Don  war  aber  nur  eine  Filiale  für  Caffa  und  Sudak  auf  der  Krim, 
die  mit  Trapezunt  und  Konstantinopel  in  Verkehr  standen.  Auch 
währte  es  nur  kurze  Zeit  nach  dem  Sturz  des  lateinischen  Kaiser- 
reichs, so  hatten  die  Venetianer  schon  einen  neuen  Handelsvertrag 


i)  Schon  durch  Rubruquis  hatte  man  Kenntniss  von  dem  chinesischen 
Papiergeld  erhalten,  Pegoletti  nennt  es  babisci.  Das  ist  vielleicht  die  Emission 
von  Papiergeld,  welche  Kublai-Khan  (1287)  unter  dem  Namen  Pas-Tschao 
(papier-monnaie  precieux)  eingeführt  hatte.  (Vgl.  Klaproth ,  sur  l'origine 
du  papier-monnaie.     Journ.  asiat.   1822  tom.  I.) 

■"  2)  Siehe  die  Karte  bei  Lelewel ,  Geogr.  du  moyen-äge ,  wo  die  Legende 
lautet:  aquesta  caravana  es  partida  de  limperi  (sie)  de  sarra  (Sarai,  Astrachan); 
p.    (ara)   anar  (andar)  al  Catajo  (China). 

Pesclid.  Abhandlungen.     II.  7 


g8  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

(1286)  mit  den  griechischen  Kaisern  geschlossen,  1278  residirte 
wieder  ein  venetianischer  Consul  in  Sudak,  und  am  7.  August  1333 
unterzeichneten  sie  am  Kuban  mit  Usbeg  dem  Khan  von  Kiptschak 
einen  Handelsvertrag,  welcher  die  Zölle  auf  3  Procent  der  Ein- 
fuhren festsetzte.  Dieser  Vertrag  wurde  mehrmals  bestätigt  und 
erneuert,  und  die  letzte  Urkunde,  die  wir  besitzen,  Stammt  au5> 
dem  Jahre   1347  '). 

Um  diese  Zeit  geriethen  die  Lateiner,  namentlich  die  Genueser 
in  Streit  mit  dem  Khan  von  Kiptschak.  Eine  Zeitlang  alliirt  mit 
den  Venetianern ,  wurde  das  azowsche  Meer  blokirt.  Als  aber 
die  Venetianer  heimlich  einen  Separatvertrag  mit  dem  Khan  ge- 
schlossen, und  die  Blokade  gebrochen  hatten,  nahmen  ihnen  die 
Genueser  fünf  Schiffe  weg  und  diess  führte  zu  dem  blutigsten 
Seekrieg  des  Mittelalters.  Die  Venetianer  im  Bündniss  mit  den 
Byzantinern  und  Catalanen  Ueferten  135 1  den  Genuesern  unter 
Pagnino  Doria  bei  Galata  eine  blutige  aber  unentschiedene  Schlacht, 
vernichteten  aber  mit  einem  catalanischen  Geschwader  vereinigt 
im  nächsten  Jahre  bei  Cagliari  die  genuesische  Flotte.  Dafür 
rächten  sich  im  folgenden  Jahre  die  Genueser  bei  Sapienza  durch 
einen  glänzenden  Sieg  über  die  Venetianer.  Venedig  verlor  eine 
Flotte,  bat  um  Frieden  und  trug  die  Kriegskosten.  Die  Genueser 
waren  jetzt  Herren  des  Mittelmeeres.  Sie  zwangen  den  Khan 
von  Kiptschak  zur  Nachgiebigkeit,  wie  sie  gleich  nach  der  Schlacht 
bei  Galata  den  Griechen  Aon  Konstantinopel  verboten  hatten,  das 
schwarze  Meer  zu  befahren.  Ausser  Caffa  besassen  sie  vor  Aus- 
bruch des  Krieges  bereits  Kertsch  und  Balaklawa,  und  gewannen 
jetzt  auch  Sudak  hinzu.  Sie  gründeten  Colonien  in  Mingrelien, 
ihre  Bergleute  legten  Silbergruben  im  Kaukasus  an,  sie  schlössen 
Verträge  mit  dem  Ban  der  Dobrudscha,  erbauten  bei  Isaktscha  an 
der  Donau  ein  Schloss,  dessen  Ruinen  noch  heute  sichtbar  sind, 
befestigten  Varna  und  Hessen  die  Ohrfeige,  welche  ein  genuesischer 
Nobile  erhalten,  von  dem  Kaiser  von  Trapezunt  mit  einem  Handels- 
vertrage büssen  (1382). 

Am  Ende  des  14.  Jahrhunderts  berührte  ein  neuer  aber  der 
etzte  Völkersturm  aus  Inner- Asien  die  Gränzen  Europa's,  Timur- 
Lenk  vernichtete   1397   die  Factoreien  der  Tana,   wie   er  die  Mon- 


i)  Vgl.     Wappäus ,    geographische    Entdeckungen    der    Portugiesen    unter 
Heinrich  dem  Seefahrer.     Bd.  I,  S.   226 — 230. 


Die  italienischen  Colonien  in  der  Krim  und  am  Don  im  Mittelalter. 


99 


golenresidenz  Sarai  und  das  ältere  Astrachan  (Gittarchan)  und 
Urgendsch  zerstört  hatte.  Tana,  Astrachan  und  Urgendsch  waren 
aber  die  Hauptetappen  der  grossen  Handelsstrasse  vom  Don  nach 
dem  Aralsee  und  der  Dschungarei.  Allein  der  Städteverwüster 
Timur  schuf  doch  wieder  neues  Leben  durch  die  Erhebung 
Samarcands  zu  einem  turanischen  Paris.  Der  asiatische  Luxus 
entfaltete  sich  in  der  neuen  Hauptstadt,  wohin  Timur  die  besten 
Handwerker,  deren  er  habhaft  werden  konnte,  von  allerwärts  her 
verpflanzte^).  Samarcand  wurde  damals  der  Focus  des  Handels 
der  alten  Welt.  Das  Industhal  hinauf  durch  die  Keyber-  und 
Kabulpässe  kamen  die  Karawanen  mit  den  feinsten  Gewürzen, 
während  die  Chinesen  Edelsteine,  Perlen,  Rhabarber  und  andere 
Droguen,  vor  allem  aber  Seide  brachten '), 

Je  weniger  wir  die  Gründung  von  Caffa,  dem  ,,Istambul  der 
Krim",  wie  es  stolz  genannt  wurde,  chronologisch  bestimmen 
konnten,  um  so  sicherer  lässt  sich  das  Todesjahr  dieser  Handels- 
stadt angeben.  Sowie  die  Türken  1453  Herren  von  Konstan- 
tinopel und  des  Bosporus  geworden  waren,  erstickte  der  Handel 
auf'  dem  schwarzen  Meere.  Zwar  schlössen  die  Venetianer  bald 
Frieden  mit  Muhamed  II,  allein  die  Feindseligkeiten  brachen  ebenso 
rasch  wieder  aus.  Nun  konnte  man  mit  den  reichen  Ländern 
am  kaspischen  Meere  nicht  mehr  zur  See  verkehren,  sondern  nur 
auf  dem  beschwerlichen  Landwege  durch  Armenien,  während  man 
nach  Südrussland  nur  über  Breslau  und  Moskau  gelangte.  Am 
schlimmsten  ergin'g  es  den  Genuesern,  denn  sie  konnten  bei  einer 
Bedrohung  ihrer  herrlichen  Colonien  am  Pontus  keine  Flotte  zur 
Unterstützung  durch  die  Dardanellen    schicken.     Sie  wandten  sich 


i)  Unter  anderm  die  berühmte  Schwertfegerzunft  von  Damascus,  die  seitdem 
ihren  Ruf  im  Orient  verlor,  wesshalb  alle  Damascener,  die  nicht  älter  sind  als 
450  Jahr,  durchaus  nicht  so  beispiellos  hoch  bezahlt  werden,  wie  die  ächten 
Waffen.  Ueber  die  Merkmale  des  alten  Damascenerstahls  vgl.  Charles  White, 
Skizzen  aus  der  Türkei,  übers,  von  A.  v.  Reumont  in  dem  Artikel  ,,der 
Bazar." 

2)  In   dem  Bericht    des  spanischen    Gesandten  Clavijo    (bei   Laprimaudaie 

P-  379)  heisst  es del  Catayo  panos    de    seda,    que  son  los  mejores, 

que  en  aquella  partida  se  fazen,  senalademente  los  setunis  (Atlas)  ....  dia- 
mantes  ....  aljofar  e  ruybarbo  e  otras  muchas  especias,  e  las  cosas  que  del 
Catay  a  esta  dicha  ciudad  vienen  son  las  mejores  e  mas  preciadas  de  quantas 
alli  vienen  de  otras  partes  .... 


joo  ^^^  Geschichte  der  Geographie. 

desshalb    an    die  Polen,    und    forderten  sie  zum  Schutz  von  Caffa 
auf,  aber  ohne  sonderlichen  Erfolg! 

Im  Jahre  1462,  als  Muhammed  II,  Amassra,  Sinope  und  Trape- 
zunt  hinweggenommen,  war  Caffa  kaum  dem  gleichen  Schicksal 
entgangen.  Die  Genueser  hatten  bereits  Pera  verloren,  der  Gross- 
herr nahm  ihnen  noch  die  blühende  Colonie  Metelino  und  Fama- 
gosta  auf  Cypern  weg,  während  die  Venetianer  alle  ihre  Besitzungen 
auf  Negroponte  verloren.  Caffa  endlich  fiel  1475  nach  einer  Be- 
lagerung von  2  Monat  und  8  Tagen  den  Türken  in  die  Hände, 
welche  sämmtliche  Einwohner  tödteten  oder  als  Sklaven  verkauften. 
Die  Zahl  der  Unglücklichen  belief  sich  nach  dem  Zeugnisse  Bene- 
detto  Dei's,  eines  florentinischen  Consuls,  der  lange  in  der  Levante 
mit  den  Türken  in  einem  nicht  eben  löblichen  Verhältniss  gelebt, 
auf  70,000  Köpfe:  Genueser,  Griechen,  Armenier,  Walachen, 
Tscherkessen  und  Mingrelier'). 

Mit  diesem  Schlage  erlosch  der  europäisch-asiatische  Continental- 
handel.  Es  erlosch  vor  allem  der  itahenisch-russische  Handel,  denn 
die  Pelzwaaren  suchten  jetzt  die  Messen  von  Moskau  und  Breslau. 
Es  erlosch  der  Handel  mit  China  über  Samarcand ;  es  erlosch  der 
taurisch-trapezuntische  Handel  nach  Persien.  Eine  einzige  Verkehrs- 
strasse zwischen  Asien  und  Europa  blieb  noch  offen,  nämlich  durch 
das  rothe  Meer  über  Alexandrien.  Aber  auch  dieser  Handel  war 
bereits  im  Sinken  wegen  der  hohen  Zölle  und  der  Bedrückungen 
der  tscherkessischen  Sultane  Aegyptens^').  Fiel  endHch  gar  dieses 
einst  so  gefürchtete  Reich  den  Osmanen  in  die  Hände,  wie  es  denn 
wirkUch  am  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  (15 17)  geschehen  musste, 
so  war  Europa  und  Asien  völlig  geschieden,  seit  die  Osmanen  sich 
der  edelsten  geographischen  Organe  für  den  Verkehr  beider  Welten 
bemächtigt  hatten,  um  Leben  und  jede  Entwickelung  zu  erwürgen. 
Der  wunderbare  Mechanismus  des  Weltverkehrs  stand  still  wie 
eine  Uhr,  sowie  eine  rohe  Faust  die  Pendelschwingung  zwischen 
dem  Mittelmeer  und  Indien  unterbrach.  Die  Türkenfaust  unter- 
brach sie  im  Jahre  15 17  und  seitdem  verödeten  Genua.  Venedig, 
Pisa,  Florenz,  Barcelona  und  Alexandrien. 

Aber    17  Jahre    nach    der    Zerstörung    von  Caffa    war   bereits 


i)  Crön.  di  Benedetto  Dei  p.   56  bei  Paghnini,  Decima  II,  p.  270. 

2)  Vergl.  die  Beschwerden  der  venetianischen  Gesandten  mit  der  Inter- 
pretation nach  arabischen  Quellen  von  Reinaud.  Journ.  Asiat,  tom.  IV.  1829, 
11.   2?   ff. 


Die  italienischen  Colonien  in  der  Krim  und  am  Don  im  Mittelalter,     iqi 

ein  Weg  nach  einer  neuen  Welt  und  noch  vor  Ablauf  des  Jahr- 
hunderts der  vielgesuchte  Seeweg  nach  dem  Lande  der  Sehnsucht, 
nach  den  üppigen  Städten  Hindostans,  nach  den  Gewürzinseln  und 
nach  dem  manufacturreichen ,  geheimnissvollen  Cathai  entdeckt 
worden.  Die  neue  Verbindung  war  eine  oceanische,  sie  gehörte 
daher  auch  den  oceanischen  Küstenländern  und  das  Leben  unseres 
Festlandes  wich  nun  von  seiner  inneren  Küste  an  die  nördHche 
Peripherie. 

Das  merkwürdigste  Schauspiel,  welches  wir  seit  Beginn  unseres 
Jahrhunderts  erleben ,  ist  die  Rückkehr  kräftiger  Pulsschläge  auf 
den  mediterraneischen  Gewässern.  Der  Glanz  des  Mittelalters  zeigt 
sich  wieder  unter  der  Einwirkung  neuer  Instrumente  von  un- 
geahnter Energie.  Es  führen  Eisenbahnen,  Postwagen  und  Omni- 
busse durch  die  Wüste  von  Suez  und  Kairo ,  Dampfschiffe  gehen 
das  rothe  Meer  hinauf,  zeigen  sich  in  Konstantinopel,  an  der 
Donau,  in  Trapezunt. 

Vom  Jahre  1453  war  das  schwarze  Meer  für  die  Europäer 
wieder  ein  Pontus  Axenos  geworden.  Die  Türken  hielten  den 
Bosporus  geschlossen  und  Gras  wuchs  auf  den  Ruinen  von  Cafifa. 
Da  wir  den  Russen  so  vieles  vorzuwerfen  haben,  und  so  vieles 
an  ihnen  rächen  müssen,  gestehen  wir  ihnen  auch  das  Verdienst 
zu,  dass  sie  es  waren,  welche  das  schwarze  Meer  wieder  den 
Flaggen  aller  Nationen  öffneten.  Sie  zwangen  durch  den  Vertrag 
von  Kudschuk  Kainardschi  die  Türken,  die  freie  Durchfahrt  durch 
die  Meerengen  allen  Nationen  freizugeben,  mögen  sie  dabei  auch 
nicht  kosmopolitisch  gefühlt,  sondern  nur  an  ihren  eigenen  Vortheil 
gedacht  haben.  Allein  300  Jahre  waren  verflossen,  seit  das 
schwarze  Meer  vom  europäischen  Handel  belebt  worden.  Es 
existirten  keine  Seekarten  und  die  Schififscapitäne  wagten  sich  nur 
während  der  Sommermonate  auf  die  verrufenen  und  gefürchteten 
Gewässer'). 


l)  Le  traite  de  Koutchouk-Kainardjie  ayant  ete  signee  1774,  le  gouverne- 
ment  russe  prit  immediatement  toutes  les  mesures  pour  se  creer  des  Commu- 
nications avec  la  Mediterranee,  et  rapeller  dans  la  mar  Noire  les  navires 
etrangers.  Mais  totalement  depourvus  de  bonnes  caites,  les  premiers  navi- 
gateurs  se  virent  forces  de  recourir  ä  l'assistance  des  pilotes  ignorants  qu'ils 
embarquaient  ä  Constantinople.  De  nombreux  sinistres  furent  la  consequence 
de    leur   inhabilite.       La    mere    Noire    redevint    un    objet   de    terreur    pour    les 


I02  Zur   Geschichte  der  Geographie. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  mit  der  Rückkehr  des  europäischen 
Lebens  nach  dem  schwarzen  Meere  die  pontischen  Plätze  ihre 
ehemalige  Blüthe  wieder  erlangen  könnten.  Diese  Frage  muss 
entschieden  verneint  werden,  denn  wir  halten  den  Fall  nicht  für 
glaubhaft,  dass  unsrer  Civilisation  je  wieder  die  oceanische  Ver- 
bindung mit  Asien  verloren  gehen  könnte.  So  wenig  aber  als 
jemand  Laune  und  Eigensinn  so  weit  treiben  wird,  in  einem  Post- 
wagen von  Berlin  nach  Paris  in  einer  Woche  zu  reisen,  wenn  er 
dahin  mit  Benutzung  der  Eisenbahn  nur  24  Stunden  braucht,  be- 
quemer und  wohlfeiler  fährt,  so  wenig  wird  der  europäische 
Handel  chinesische  Kostbarkeiten  durch  die  gefahrvollen  Pässe 
der  Dschungarei  über  die  turkmanische  Steppe  nach  einem  Stapel- 
platze des  azowschen  Meeres  schleppen,  welches  ohnehin  für  grosse 
Seeschiffe,  wie  sie  der  jetzige  Handel  verlangt,  nicht  zugänglich 
ist.  Fügen  wir  hinzu,  dass  der  Werth  der  Aus-  und  Einfuhren 
Russlands  nach  China,  nach  den  arabischen  Staaten  und  nach 
Persien  nur  23  Millionen  S.  R.  im  Zeiträume  von  fünf  Jahren 
(1842 — 46)  betrug,  also  nur  den  zwanzigsten  Theil  von  dem,  was 
Grossbritannien,  in  einem  einzigen  Jahre,  allein  ausführt.  Oder 
hält  man  es  wohl  gar  für  möglich,  dass  eine  Eisenbahn  durch 
die  baumlosen  Steppen  Centralasiens  gelegt  werden  könne  ?  Solche 
Phantastereien  wollen  wir  mit  der  einzigen  trocknen  Thatsache 
widerlegen ,  dass  noch  in  den  vierziger  Jahren  die  turanischen 
Horden  die  dünne  Kosakenlinie  zwischen  dem  Ural  und  dem 
kaspischen  Meere  durchbrachen  und  Ortschaften  in  der  Umgebung 
von  Astrachan  ausplündern   konnten. 

Die  russische  Regierung  ist  nicht  müssig  gewesen,  die  Städte 
der  Krim  zu  heben,  sie  hat  die  kimrische  Halbinsel  mit  fremden 
Colonisten  befruchtet,  aber  dennoch  hat  keiner  jener  berühmten 
Hafenplätze  nur  einen  Hauch  von  dem  ehemaligen  Glänze  be- 
kommen. Ruinen,  troglodytische  Behausungen  der  Tataren,  Zi- 
geuner und  wilde  Hunde  geben  den  altberühmten  Städten  Caffa, 
Kertsch  und  Sudak  ihre  heutige  Physiognomie !  Nur  in  den 
Gouvernements-  und  Marinestädten  Simpheropol  und  Sebastopol 
wohnt  eine  dichte  russische  Bevölkerung.     Die  Zahl  der  sogenannten 


marins,  le  v^ritable  Pontos-Axenos  des  anciens ,  et  l'on  vit  des  navires  n'oser 
y  entrer  qu'ä  la  mi-mai  pour  en  ressortir  avant  la  fin  d'aoiit.  Hommaire  de 
Hell,  les  steppes  de  la  Russie  III,   p.  74. 


Die  italienischen  Colonien  in  der  Krim  und   am  Don  im  Mittelalter.     103 

„Tataren"  aber,  die  sich  in  der  Krim  finden,  beträgt  noch  nicht 
200,000  Köpfe.  Nur  die  „Tataren  der  Steppe",  die  Nogais,  sind 
mongoHscher  Abkunft  und  Nachkommen  derer,  welche  zur  goldenen 
Horde  Dschingis-Khans  gehörten,  während  die  ,,Gebirgstataren" 
durch  ihre  physische  Bildung  völlig  verschiedene,  nämlich  eine 
turkmanische  Abkunft  verrathen').  In  Caffa  sind  nicht  mehr  die 
mit  Marmor  getäfelten  Bäder  der  Genueser  zu  entdecken,  auf  der 
zerstörten  Citadelle  der  Lateiner  wächst  das  Gras,  und  man  streitet 
sich  über  die  Stelle,  wo  einst  die  prächtige  Kirche  gestanden, 
welche  die  Sophienkirche  zu  Konstantinopel  nachahmte.  Nur  eine 
einzige  Strasse  ist  sauber  gepflastert.  Die  Stockwerke  der  Häuser 
tragen  zierliche  Marmorsäulenhallen  und  die  Mauern  sind  bedeckt 
mit  prächtigen  unerloschenen  Fresken.  Dort  fühlte  man  sich, 
erzählt  Fürst  Anatole  Demidofif^),  plötzlich  nach  Bologna  versetzt. 
Von  jenen  60  oder  70,000  italienischen  Colonisten  aber  sind  als 
Reste  nur  4500  übrig  geblieben. 

Gleichzeitig  mit  den  Mongolen  unter  Dschingis  kamen  die 
karaitischen  Juden  nach  der  Krim,  welche  das  alte  Testament  in 
seinem  wahren  Urtext  zu  besitzen  vorgeben,  und  denen  das  Spruch, 
wort  nachrühmt:  das  Wort  eines  Karaiten  sei  sicherer  als  ein 
Contract.  Jünger  als  man  vermuthen  möchte,  sind  die  griechischen 
Elemente  der  Krim.  Die  alten  Colonisten,  welche  noch  unter  der 
türkischen  Herrschaft  die  Insel  bewohnten,  wurden,  wie  ein  athe- 
niensisches  Journal,  die  „Pandora",  in  einer  Abhandlung  „über 
die  Griechen  Südrusslands"  kürzlich  nachwies,  im  ersten  Kriege 
Katharina's  gegen  die  Türken  nach  den  azowschen  Küsten  über- 
gesiedelt, wo  sie  unweit  Taganrog  die  Stadt  Mariopol  gründeten. 
Erst  als  die  Russen  die  Krim  erworben,  führte  Potemkin  Insel- 
griechen als  Colonisten  nach  Balaklawa,  Kadikoi,  Kamaran  und 
Karanion,  die,  in  acht  Legionen  oder  Compagnien  eingetheilt,  die 
Küstenwacht  versahen.  Paul  I.  bildete  daraus  das  Bataillon  von 
Balaklawa,  welches  sich  1806  und  1813  nicht  unrühmlich  aus- 
zeichnete. Diess  ist  die  Bevölkerung  (2600  Köpfe),  welche  von 
den  Alliirten  wegen  angeblicher  Einverständnisse  mit  dem  Feinde 
aus  der  Stadt  vertrieben  wurde.  Mit  jenen  Griechen  kamen  auch 
deutsche    Colonisten   nach   der   Krim,    und    gaben    ihren   Dörfern 


i)  Amedee  Pichot,  Les  tartares  de  la  Crimee.     Revue  britt.    gbre   1854. 
2)  Travels  in  Southern  Russia,  London  1853,  s.   v.  Caffa. 


104       ^^^  Geschichte  der  Geographie.     Die  italienischen  Colonien  etc. 

die  freundlichen  Namen  Friedenthal,  Neusatz  und  Rosenthal. 
Hr.  V.  Haxthausen,  ein  Kenner  landwirthschaftlicher  Zustände, 
besuchte  die  Ortschaft  Heilbronn  auf  der  Krim ,  versichert  aber, 
dass  unsere  Landsleute  „etwas  verkümmert"  aussahen.  Sie  be- 
schwerten sich,  dass  ihnen  das  Wasser  zur  Berieselung  für  ihre 
Gartenbauwirthschaft,  die  sie  vorzüglich  betrieben,  von  neidischen 
Nachbarn  widerrechtlich  entzogen  würde  ^). 

Das  ist  jetzt  die  Staffage  einer  Halbinsel  und  ihrer  Hafen- 
plätze,  welche  einst  der  Abglanz  der  abendländischen  Civilisation 
herriich  vergoldet  hatte. 


t)  Studien  über  Russland  II,   S.  392, 


10.    Reisen  des  Johannes  Schiltberger. 

(Ausland  1859.   Nr.  S.    19.   Februar.) 

Professor  Neumann  hat  sich  mit  hülfreichen  Zusätzen  Fall- 
merayers  und  des  verstorbenen  Baron  Hammer  -  Purgstall  das 
Verdienst  der  ersten  kritischen  Herausgabe  von  Hans  Schiltberger, 
des  bayrischen  Marco  Polo ,  erworben.  Das  Büchlein  erscheint, 
wie  der  Verfasser  bemerkt,  in  ,, bürgerlichem",  wir  möchten  fast 
sagen  in  härenem  Gewände.  Doch  gereicht  ihm  diese  Tracht 
zur  Zierde,  denn  seltsam  genug  für  unsere  Zeit ,  wo  der  Wissen- 
schaft aus  öffentlichen  Mitteln  oft  so  verschwenderische  Opfer 
gebracht  werden,  war  der  Verfasser  genöthigt,  seine  Arbeit  auf 
eigene  Kosten  drucken  zu  lassen.  Schiltberger,  einst  ein  gelesenes 
deutsches  Volksbuch,  welches  in  der  Incunabeln  -  Zeit  bereits  eine 
bedeutende  Verbreitung  genoss,  verdiente  wohl  eine  genaue  kritische 
Ausgabe  nach  der  gleichzeitigen  Heidelberger  Handschrift,  denn 
nicht  nur  war  der  deutsche  Knappe  ein  Augenzeuge  der  grössten 
historischen  Begebenheiten,  sondern  seine  Reiseaufzeichnungen 
bieten  auch  eine  reiche  Fundgrube  für  die  ältere  Geographie  der 
I.evante. 

Von  den  Türken  hart  bedrängt,  hatte  König  Sigismund  von 
Ungarn  nach  christlicher  Hülfe  gerufen,  und  unter  den  deutschen 
Rittern,  die  ihm  zuzogen,  befanden  sich  ausser  einem  Ahnherrn 
des  jetzigen  preussischen  Königshauses,  damaligem  Burggrafen  von 
Nürnberg,  auch  bayrische  Bannerherren.  Mit  einem  von  diesen, 
als  Knappe  des  Herrn  Leonhard  Reichartinger,  zog  ein  Münchner 
Kind,  unser  Schiltberger.  Am  30.  September  1396  kam  es  zu 
der  unglücklichen  Schlacht  bei  Nikopolis,  aus  der  Sigismund  wenig 
mehr  als  das  Leben  rettete.     Unter  den  Gefangenen  aber,  die  zu 


Io6  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

drei  und  fünf  verkoppelt  dem  Sieger  Bajesit  vorgeführt  wurden, 
befand  sich  Schiltberger.  Der  Sultan  befahl,  ihnen  allen  die  Köpfe 
abzuschlagen.  ,,Da  nam  man ,  erzält  unser  Münchner  Knappe, 
min  •  Gesellen  vnd  schlug  in  och  die  köpff  ab.  Und  do  es  an 
mich  gieng,  da  ersah  mich  den  kungs  sun  vnd  schuff,  das  man 
mich  leben  liess.  Da  fürt  man  mich  zu  den  andern  knaben; 
wann  (weil)  man  nyemant  töttet  vnder  XX.  jaren.  Das  was  ich 
kom  sechtzehen  jar  alt." 

Nun  darf  man  nicht  erwarten,  dass  Schiltberger  unter  die 
Janitscharen  gesteckt  wurde,  denn  dazu  war  er  schon  zu  alt.  Zu 
Janitscharen  wurden  zwar  nur  Christensöhne  genommen,  allein 
diese  in  zartem  Alter,  um  sie  zuerst  in  den  Gärten  des  Sultans 
aufzuziehen.  Schiltberger  wurde  vielmehr  dem  Hofgesinde  einver- 
leibt, und  diente  zuerst  als  Vorläufer,  später  als  Vorreiter  des  Sultans. 
Nachdem  uns  Schiltberger  die  nachfolgenden  Kriegsthaten  des 
Bajesit  in  Kleinasien  beschrieben  ,  erzählt  er  uns  von  seinem 
Fluchtversuche  aus  Brussa  mit  60  andern  Christen.  Die  armen 
Schelme  erreichten  nur  ein  benachbartes  Gebirge,  wo  sie  von  einer 
Schwadron  Türken  bei  einem  Engpasse  eingeholt  wurden.  Beide 
Parteien  sassen  ab  und  beschossen  sich  eine  Zeit  lang.  Endlich 
liess  der  türkische  Anführer  eine  Verständigung  anbieten.  Er  ver- 
sprach den  Flüchtlingen,  wenn  sie  sich  ergeben  würden,  die  Gnade 
des  Sultans.  Die  Christen  trauten  nicht  recht,  als  aber  der  tür- 
kische Anführer  versprach:  ,,vnd  ob  er  kung  als  zornig  war,  das 
er  vns  töten  wölt,  So  wölt  er  sich  am  ersten  tödten  lanssen, 
(lassen)",  gaben  sich  alle  gefangen.  Bajesit  hatte  den  besten 
Willen,  die  Unglücklichen  zu  verurtheilen,  aber  der  türkische  Ritt- 
meister erklärte  ihm,  dass  er  den  Gefangenen  das  Leben  zuge- 
sichert habe  und  so  begnügte  sich  der  Sultan  die  Flüchtigen  eine 
Zeit  lang  einsperren  zu  lassen,  um  sie  dann  völlig  wieder  in  ihren 
frühern  Stand  einzusetzen  —  „vnd  nieret  vns  den  sold"  setzt  Schilt- 
berger hinzu.  Dieser  Zug  Bajesits  und  des  türkischen  Schwadro- 
nenchefs erinnert  an  die  goldenen  Zeiten  der  Osmanen,  wo  diesem 
tapfern  Stamme,  roh  zwar,  aber  noch  unverdorben  und  hochher- 
zig, die  Welt  zu  gehören  schien. 

Schiltberger  begleitete  seinen  Herrn  in  die  Völkerschlacht  bei 
Angora,  wo  der  rasch  aufgewachsenen  Türkenmacht  ein  völliges 
Erlöschen  drohte.  Bajesit  wurde  bekanntlich  geschlagen  und  von 
Timurlenk,  oder  Temerlin,  wie  Schiltberger  ihn  .schreibt,  gefangen 


Reisen  des  Johannes  Schiltberger.  107 

genommen  (20.  Juli  1402).  Die  Angabe,  dass  Tinnir  Bajesit  in 
einem  Käfig  mit  sich  herumgeführt  habe,  wurde  von  Hammer- 
Purgstall  durch  ein  „historisches  Zeugenverhör"  als  eine  spätere 
Sage  nachgewiesen,  Schiltberger  bemerkt  nur :  ,,Vnd  zoch  (Timur) 
in  des  weyasits  (Bajesits)  Hoptstadt  vnd  fürt  in  mit  im  .  .  .  Vnd 
er  wolt  in  mit  im  in  sin  Land  gefürt  haben.  Da  starb  er  (Baje- 
sit am  8.  März  1403)  vff  dem  Weg."  Schiltberger  erwähnt  des 
Käfigs  also  nicht,  was  man  wenigstens  als  einen  negativen  Beweis 
ehren  muss.  Der  Münchner  Knappe  wurde  nun  Timurs  Sklave 
und  begleitete  diesen  Würgengel  in  den  Feldzügen  gegen  Aegypten 
nach  Damascus  und  an  den  Indus.  Im  Februar  1405  starb  auch 
dieser  Gebieter  unsers  Reitersmannes,  der  an  den  Hof  von  Timurs 
gelehrtem  Sohn  Schahroch  nach  Herat  gelangte  und  in  das  Besitz- 
thum  des  Timuriden  Miran  Schah  überging.  Dieser  aber  fiel  bald 
darauf  im,  Feldzug  gegen  Kara  Jussuf,  von  der  turkmännischen 
Dynastie  des  schwarzen  Hammels,  und  der  deutsche  Reitersmann 
vererbte  auf  Abu  Bekr,  Miranschahs  Sohn.  An  dem  Hof  desselben 
hielt  sich  ein  Prinz  aus  der  goldnen  Horde  auf,  den  Abubekr  nach 
seiner  Heimath,  der  „grossen  Tartarei" ,  das  will  sagen  in  das 
Reich  Kiptschak  oder  nach  dem  südlichen  Russland  zwischen 
Wolga  und  Dniestr  entliess.  Ihn  begleitete  Schiltberger.  Die 
Reise  ging  durch  Georgien,  Schirwan,  das  eiserne  Thor'),  nach 
Astrachan  am  Edil  (Wolga).  Die  Mongolen fürsten  des  Kiptschak 
unternahmen  damals  einen  Zug  nach  Ibissibur,  welchem  Schilt- 
berger beiwohnte.  Dass  in  Ibissibur  der  Name  Sibirien  enthalten 
ist,  ergiebt  sich  beim  ersten  Nachdenken,  aber  sicherlich  irrt  unser 
Herausgeber  zu  weit  gegen  Osten,  wenn  er  glaubt,  Schiltberger 
sei  bis  zum  Altai  gekommen.  Die  Tataren  zogen  zwei  Monate 
bis  nach  Ibissibur,  allein  natürlich  mit  ihren  Herden,  also  langsam. 
Nun  heisst  es :  ,,In  dem  land  ist  ein  pirg,  das  ist  zwo  vnd  drissig 
tagweid  lang.  Es  mainen  och  die  lüt  daselbs,  das  an  dem  end 
des  pirgs  ein  Wüst  angee;  die  selbe  wüst  sy  ein  ende  des  ertrichs." 
Dieses  Gebirg  bewohnen  ,,wild  lüt,  die  sind  überall  ruch  an  irem 
lib,  ussgenommen  an  den  henden  noch  vunder  dem  antlüd." 
Unter  dem  Gebirge  versteht  der  Herausgeber  den  Altai,  unter  den 
behaarten    Deuten    die    kurilischen    Ainos !     Wie    die    kurilischen 


i)  Derbend,   der  Pass  zwischen  Kaukasus  und  kaspischem  Meere,  welchen 
die  alten  Geographen  mit  der  Alexandersage  verknüpfen. 


Io8  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Stämme  von  dem  Ostrande  Asiens  mitten  nach  Centralasien 
kommen  sollen,  ist  ein  Räthsel ,  worüber  wir  jeden  Aufschluss 
vermissen.  Das  beste  aber  ist ,  dass  die  behaarte  Menschenrace 
selbst  in  das  geographische  Fabelbuch  geschrieben  ist.  Die  Ame- 
rikaner, welche  sie  zuletzt  besuchten'),  bekennen  offen,  dass  die 
Ainos  zwar  reich  an  Haarwuchs ,  sonst  aber  am  Körper  selbst 
nicht  behaarter  sind  als  andere  Menschenracen ,  ja  dass  mancher 
Matrose  auf  den  amerikanischen  Schiffen  in  diesem  Sinne  kuri- 
hscher  erschien  als  die  Kurilen.  Besonders  stark  bei  den  Ainos 
entwickelt  ist  jedoch  der  Backenbart,  der  grosse  Theile  des  Gesichts 
bedeckt,  während  Schiltbergers  Leute  ,,rauh  waren,  ausgenommen 
an  den  Händen  und  im  Antlitz."  Es  ist  daher  unbegreiflich,  dass 
das  ,, lange"  Gebirge  nicht  als  Ural  erkannt  worden  ist,  besonders 
da  die  Einwohner  vgine  (Ugrier)  genannt  werden ,  und  ausdrück 
lieh  erwähnt  ist,  dass  der  christliche  Glaube  unter  ihnen  ver- 
breitet war. 

Seine  Rückkehr  beschreibt  Schiltberger  in  einem  Capitel  mit 
der  Ueberschrift,  „durch  welche  land  ich  heruss  kommen  bm." 
Im  Gefolge  eines  tatarischen  Häuptlings  unternahm  er  einen  Zug 
nach  Magrill  (Mingrelien),  und  bei  dieser  Gelegenheit  verabredeten 
sich  fünf  der  christlichen  Sklaven  ,,aus  der  Heidenschaft"  zu  ent- 
fliehen. Sie  ,, schieden  sich"  also  von  ihrem  Herrn,  und  erreichten 
Bothan  (Poti  an  der  tscherkessischen  Küste.)  Dort  suchten  sie 
vergebens  nach  einer  Schiffsgelegenheit ,  und  mussten  sich  ent- 
schliessen  am  (schwarzen)  Meer  der  Küste  entlang  zu  reiten. 
Am  vierten  Tage  sahen  sie  von  einem  Vorgebirge  ein  fränkisches 
Schiff  =2)  und  gaben  ihm  Zeichen  durch  Feuer.  Der  Capitän 
schickte  auf  dieses  Signal  ein  Bot  oder  eine  Zille  ab,  und  erkun- 
digte sich  nach  den  Leuten  am  Ufer.  Man  traute  ihnen  nicht 
eher,  dass  sie  Christen  seien,  als  bis  sie  das  Credo  und   das  Ave 


i)  Heine,  Japan,  Ochotsk  etc.     Ausland  1858,  Seite   iioo. 

2)  Einen  ,,kocken",  schreibt  Schiltberger.  Der  Herausgeber  meint,  das 
Wort  bedeute  ein  kleines  Schiff,  und  der  Name  hänge  mit  Kufe,  Chuofifa  zu- 
sammen, wobei  er  sich  auf  Schmeller  beruft.  Wir  müssen  bemerken ,  dass 
Cocca,  ein  Ausdruck,  der  allen  seefahrenden  Nationen  des  Mittelmeeres  bekannt 
war,  zu  den  Zeiten  der  Kreuzzüge  die  grösste  Art  der  Kauffahrer  bedeutete. 
Da  diese  Schiffe  noch  keinen  spitzen  Schnabel  hatten,  so  ist  der  Ausdruck 
doch  viel  eher  von  coque.  Schale  abzuleiten  ,  denn  die  Nussschalenform  war 
gerade  diejenige  der  altan  Handelsbarken. 


Reisen  des  Johannes  Schiltberger. 


[09 


Maria  hergesagt  hatten.  Der  Kaufifahrer  nahm  die  Flüchtigen  auf 
und  setzte  seinen  Weg  nach  Konstantinopel  fort.  Am  dritten 
Tage  zeigten  sich  drei  türkische  Piraten,  welche  auf  das  fränkische 
Segel  Jagd  machten.  Sie  vermochten  es  aber  nicht  zu  ereilen, 
sondern  es  erreichte  glücklich  vor  ihnen  den  Hafen  Masicia 
(Amastris),  wo  es  blieb,  bis  die  Piraten  sich  entfernt  hatten.  Bei 
Fortsetzung  der  Reise  überfiel  ein  pontischer  Sturm  das  Fahrzeug 
und  ,, schlug  es  hinder  sich  wohl  acht  hundert  wälsch  milen,  zu 
einer  statt  ist  genant  synopp  (Sinope)."  Nachdem  es  dort  gerastet 
ging  es  wieder  anderthalb  Monat  zur  See,  so  dass  zuletzt  die 
Lebensmittel  mangelten  und  die  Seefahrer  an  einem  „vels  in 
dem  mer  anlegten",  wo  sie  Schalthiere  und  Meerspinnen"  (Krebse) 
sammelten.  Endlich  wurde  Konstantinopel  erreicht  und  der  grie- 
chische Kaiser  nahm  sich  der  fünf  Geretteten  an.  Er  Hess  sie 
auf  einem  griechischen  Schiff  nach  Gily  (Kilia  an  der  Donaumün- 
dung) bringen,  von  wo  Schiltberger  mit  Kaufleuten  über  die  Weisse 
Stadt  (Akjerman,  Bielogrod  im  Slavischen,  Weissenburg),  Sedschoft" 
(Sudschaw,  ehemalige  Hauptstadt  der  Moldau)  nach  Limburgh 
(Lemberg)  kam ,  und  von  dort  über  Krakau  und  Breslau  seine 
Heimath  erreichte,  wo  ihn  Herzog  Albrecht  III.  von  Bayern  zu 
seinem  Kämmerling  erhob. 

Zweiunddreissig  Jahr  hatte  sich  Schiltberger  in  der  ,, Heiden- 
schaft" in  Kleinasien,  Aegypten,  Persien,  im  indischen  Fünfstrom- 
land, in  den  kaspischen  Gebieten  und  in  Südrussland  umherge- 
trieben. Er  kannte  manche  morgenländische  Sprache  und  brachte 
sogar  zur  Probe  ein  armenisches  Vaterunser  mit  heim.  Unter  den 
Armeniern  selbst  fühlte  er  sich  besonders  heimisch,  und  versichert, 
dass  die  Deutschen  damals  bei  diesem  Volke  in  grosser  Verehrung 
gestanden  seien.  Nun  hat  Schiltberger  uns  eme  kleine  Beschrei- 
bung der  von  ihm  besuchten  Länder  hinterlassen.  Darin  finden 
sich  gewiss  eine  unzählige  Menge  schätzenswerther  Notizen  für 
morgenländische  Geschichtsschreiber,  und  auch  die  Kenntniss  der 
alten  Geographie  wird  sich  um  manche  Aufschlüsse  bereichern 
können ,  wir  wir  denn  erstaunt  sind ,  dass  der  Herausgeber  die 
alten  Karten  des  Morgenlandes  zur  Entzifferung  sehr  vieler  ver- 
wischter Ortsnamen  nirgends  benutzt  hat.  Die  Beschreibung  der 
Länder,  Völker  und  Städte  ist  indessen  bei  Schiltberger  sehr  mager, 
und  wo  er  Zahlen  anwendet,  um  ihre  Grösse  auszudrücken,  geräth 
er  mit  seinen  Nullen  ins  Unerlaubte.     Verglichen   mit    den    Nach- 


110  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

richten,  die  uns  Italiener  und  namentlich  venetianische  Botschafter 
des  15.  Jahrhunderts  über  die  vorderasiatischen  Gebiete  hinter- 
lassen, ist  Schiltberger  als  Reisender  höchst  mangelhaft. 

Auf  Einzelnheiten  können  wir  nicht  eingehen,  doch  wollen 
wir  bemerken,  was  er  von  den  wichtigsten  Pflanzstädten  der  Ita- 
liener im  schwarzen  Meere  erwähnt.  Die  Hauptstadt  der  Tataren 
des  Kiptschak  war  das  völlig  verschwundene  Sarai  in  der  Nähe 
der  Wolgamündung.  Dorthin  richteten  sich  die  Karawanen  der 
Lateiner  von  ihrem  grossen  Stapelplatz  am  Don,  einer  Stadt,  die 
Schiltberger  Asach  (Assak,  Assow)  nennt ,  mit  dem  Zusatz ,  bei 
dem  Christen  heisse  sie  Alathena  (alla  Tafia  am  Don),  gelegen  an 
den  heerdenreichen  Gestade  des  Tena  (Don).  Von  dort  werden 
Schiffsladungen  Fische  ,,gen  Venedig,  gein  genaw"  (Genua)  und 
nach  dem  griechischen  Archipel  gebracht,  also  nicht  mehr  Ge- 
würze und  Chinawaaren,  wie  ehemals ,  denn  bekanntlich  war  es 
Timur,  welcher  mehrere  grosse  Städte  auf  dem  pontisch  -  chinesi- 
schen Karawanenpfade  zertrat.  Als  Hauptstadt  der  Tataren  in  der 
Krim  nennt  er  Vulchat  (Soldaia,  Sudak)  und  dann  Kafifa,  damals 
noch  das  ,,Istambul  der  Krim",  Genua's  mächtige  Tochter.  Die 
Stadt  besass  eine  doppelte,  eine  innere  und  eine  äussere  Mauer- 
umgürtung,  und  zählte  6000  Häuser  in  der  innern  Stadt,  bewohnt 
von  Italienern,  Griechen  und  Armeniern,  und  11,000  Häuser  in 
der  äussern  Stadt ,  wo  auch  Juden  und  Muhammedaner  wohnten, 
Synagogen  und  Moscheen  besassen.  Dort  begegneten  sich  nicht 
weniger  als  vier  christliche  Kirchen,  die  römische,  die  griechische, 
die  armenische  und  die  syrische,  von  welchen  die  drei  ersten  be- 
sondere Bischöfe  in  Caffa  besassen.  So  war  der  Welthandelsplatz 
beschaffen,  den  ein  halbes  Jahrhundert  später  Muhammed  II.,  der 
Eroberer  von  Konstantinopel,  völlig  verheerte,  und  der  jetzt  zu 
einem  namenlosen  und  erloschenen  Ort  von  sehr  niedrigem  mer- 
cantilen  Rang  herabgesunken  ist. 


11.    Pflege  der  Erdkunde  in  Italien. 

(Ausland   1869.     Nr.   14.      3.  April.) 

In  der  Geschichte  der  Erdkunde  standen  die  Italiener  vor 
Zeiten  im  hellsten  Glanz,  aber  wir  müssen  um  mehrere  Jahrhun- 
derte zurückgehen,  wenn  wir  sie  als  Fürsten  der  Wissenschaft 
finden  wollen.  Ihnen  gehört  nämlich  das  13.,  14.,  15.  und  zum 
Theil  das  16.  Jahrhundert  an.  Nicht  leicht  wird  man  am  Beginn 
des  14.  Jahrhunderts  anderwärts  einen  so  unterrichteten  Kosmo- 
graphen  treffen  als  den  Sänger  der  göttlichen  Komödie.  Nicht 
nur  hatte  er  sich  die  besten  Anschauungen  der  Scholastiker  ange- 
eignet, sondern  er  huldigt  bereits  Hypothesen,  die  erst  nach  zwei 
Jahrhunderten  als  Wahrheit  festbegründet  werden  sollten. 

Um  zwei  Jahrzehnte  früher  als  Dante's  Hölle  erschien,  waren 
die  Brüder  Poli  aus  China  zurückgekehrt,  um  mit  ihren  asiatischen 
Wundern  ihre  ungläubigen  Zeitgenossen  in  Staunen  zu  setzen. 
Marco  Polo  blieb  jedoch  nicht  der  einzige  Italiener,  der  den  Orient 
besuchte,  1291  folgte  ihm  Montecorvin,  im  14.  Jahrhundert  Odo- 
rico  von  Pordenone  und  Marignola  nach  China,  im  15.  Jahrhun- 
dert haben  wir  die  wichtige  Schilderung  Nicolo  Conti's  über  Indien 
und  Birma,  am  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  gelangte  der  Bolo- 
gneser Bartema  nach  Südasien,  und  als  erster  Europäer  nach  den 
molukkischen  Gewürzinseln.  Durch  ihre  nautischen  Leistungen 
hatten  die  Italiener  alles  vorbereitet  für  das  Zeitalter  der  grossen 
überseeischen  Entdeckungen.  Gewöhnlich  hält  man  1492  für  das 
Entscheidungsjahr.  Viel  wichtiger  jedoch  erscheint  uns  das  Jahr 
13 18,  als  zuerst  fünf  venetianische  Galeeren  Gewürze  nach  Ant- 
werpen brachten.  Die  Umschiffung  Europa's  auf  langer  Fahrt, 
die  unmittelbare  Verbindung  des  Mittelmeeres  mit  den  atlantischen 


112  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Gestaden  bezeichnet  einen  grossen  Wendepunkt  der  nautischen 
Leistungen.  Freilich  waren  schon  früher  Schiffe  aus  Nordeuropa 
nach  dem  Mittelmeer  und  umgekehrt  mittelländische  nach  Nord- 
europa gelaufen ,  allein  es  geschah  diess  nur  bei  besonderen  Ge- 
legenheiten. Im  Jahre  131 8  dagegen  wurde  ein  jährlicher  und 
regelmässiger  Verkehr  zur  See  von  Genua  und  Venedig  nach 
Flandern  und  England  eingerichtet,  die  Frachten  zur  See, 
einschliesslich  der  Seegefahren  waren  wohlfeiler  geworden 
als  die  Ueberland  fr  achten  in  Europa.  Schon  vorher,  im 
Jahre  1291  waren  Tedisio  Doria  und  die  Brüder  Vivaldi  von 
Genua  ausgelaufen,  um  ausserhalb  der  Säulen  des  Herkules  längs 
der  Gestade  Afrika's  einen  Weg  nach  Indien  zu  suchen.  Um  das 
Jahr  1341  segelten  Italiener  von  Lissabon  aus  nach  den  Canarien 
oder  den  wieder  gefundenen  Inseln,  wie  sie  damals  hiessen, 
und  erneuerten  die  Kunde  von  dieser  der  Wissenschaft  verlorenen 
Inselgruppe.  Die  catalanische  Karte  von  135 1  lässt  keinen  Zweifel 
aufkommen,  dass  Italiener  wahrscheinlich  ein  Jahrhundert  vor  den 
Portugiesen  die  Gruppe  der  Azoreninseln  gesehen  haben,  die 
Azoreninseln  aber  liegen  auf  zwei  Fünftel  der  nächsten  Entfernung 
zwischen  Europa  und  Amerika.  Um  die  P/Ortugiesen  zu  einem 
seefahrenden  Volke  zu  erheben ,  wurden  von  König  Diniz  genue- 
sische Nautiker  berufen. 

Aber  noch  viel  wichtiger  waren  ihre  Leistungen  als  darstel- 
lende Geographen.  Sie  brachten  die  ersten  Compasskarten  auf 
die  Welt,  und  im  14.  Jahrhundert  waren  die  Gestade  des  Mittel- 
meeres auf  den  alten  Karten  so  scharf  und  genau  umrissen,  dass 
mehrere  Einzelnheiten,  wie  Lelewel  gezeigt  hat,  noch  richtiger 
angegeben  waren  als  auf  französischen  Seekarten  spät  im  17.  Jahr- 
hundert. Die  italienischen  Kartenzeichner  blieben  Meister  ihres 
Handwerkes  noch  im  15.  Jahrhundert.  Dom  Pedro  brachte  dem 
Infanten  von  Portugal,  Prinz  Heinrich  (fälschlich  der  Schiffer 
beigenannt)  als  höchstes  Kleinod  für  seine  indischen  Entdecker- 
plane eine  venetianische  Karte  mit  heim.  Welchen  Verfasser  dieses 
merkwürdige  Ländergemälde  hatte,  darüber  giebt  es  nur  Vermu- 
thungen,  jedenfalls  glich  es  den  gleichzeitigen  Erzeugnissen  des 
15,  Jahrhunderts,  der  Weltkarte  des  Fra  Mauro,  die  den  Dogen- 
palast ziert,  oder  dem  Atlas  des  Andrea  Bianco,  einem 
Kleinod  der  Marcusbibliothek  in  Venedig.  Diese  Karten  waren 
ohne    mathematischen    Entwurf    gezeichnet,    für    den    Seemanns- 


Pflege  der  Erdkunde  in  Italien.  II  ^ 

gebrauch  aber  hinreichend,  indem  die  Abstände  der  Küstenpunkte 
durch  Gissung,  ihre  Lage  aber  mit  Hülfe  der  Bussole  bestimmt 
wurden,  so  dass  sie  neben  anderen  Verzerrungen  auch  die  Fehler 
der  magnetischen  Declination  trugen. 

Die  Nordweisung  der  Magnetnadel  war  allen  neueren  For- 
schungen zufolge  den  Chinesen  zwar  schon  in  einem  hohen  Alter- 
thum  bekannt,  aber  wahrscheinlich  zum  zweitenmale  selbstständig 
in  Europa  gefunden  worden.  Schon  im  12.  Jahrhundert  war  sie 
am  Bord  mediterraneischer  Fahrzeuge  im  Gebrauch,  längst  bevor 
Flavio  Gioja  in  Amalfi  als  Erfinder  des  Schififscompasses  genannt 
wird.  In  neuester  Zeit  hat  jedoch  Herr  Breusing  von  der  Bremer 
Seemannsschtile')  es  glaubwürdig  erscheinen  lassen,  dass  dem 
Amalfitaner  Gioja  .das  Verdienst  gebühre ,  die  bereits  auf  einem 
Stift  schwebende  Magnetnadel  mit  einer  Windrose  zuerst  verbun- 
den, mit  andern  Worten  den  ersten  brauchbaren  Schiffscompass 
verfertigt  zu  haben. 

Die  Italiener  waren  also  die  nautischen  Lehrmeister,  als  das 
Zeitalter  der  grossen  Entdeckungen  anbrach.  Die  Fahrten  der 
Portugiesen  an  der  atlantischen  Küste  Afrika's  entgingen  ihrer 
Wachsamkeit  nicht,  denn  nicht  nur  lieferten  zwei  Reisende,  Cada- 
mosto  und  Usodimare,  uns  Beschreibungen  Afrika's,  die  sie  am 
Bord  portugiesischer  Entdecker  sammelten,  sondern  italienische 
Seekarten  beweisen,  dass  sie  die  neuen  Umrisse  Afrika's  auf  die 
alten  Weltkarten  eintrugen.  .  Die  beiden  Genueser  Cristoforo  und 
Bartolomeo  Colombo  betrieben  das  Kartenzeichnen  als  Erwerbs- 
zweig. Der  ältere  der  Brüder  führte  1492  die  ersten  Schiffe  über 
den  atlantischen  Ocean  nach  dem  Ostrande  Asiens  oder  nach 
Indien,  wie  er  meinte,  und  wurde  dadurch  unbewusst  der  Entdecker 
einer  neuen  Welt.  Sein  angeblicher  Gegner  Amerigo  Vespucci, 
ein  Florentiner,  war,  was  man  auch  sonst  über  seine  Leistungen 
denken  oder  streiten  mag,  jedenfalls  ein  ausgezeichneter  Geograph 
und  Kartenzeichner,  denn  die  spanische  Regierung  übertrug  ihm 
das  Amt,  die  einzig  gültigen  Seekarten  für  Westindienfahrer  zu 
entwerfen  und  dabei  neuheimgebrachte  Karten  der  Entdecker  zu 
bilhgen ,  zu  benutzen  oder  zu  unterdrücken.  Ein  anderer  Nach- 
folger in  diesem  ehrenvollen  Amte  war  Sebastian  Gabotto,  ein 
Venetianer ,    anfangs  in  britischen ,    später  in  spanischen ,     zuletzt 


i)  Zeitschrift  für  Erdkunde.      1869.     Bd.  4.     S.  31. 
Peschel,  Abhandlungen.     II. 


114 


Zur  Geschichte  der  Geographie. 


wieder  in  britischen  Diensten.  In  Begleitung  seines  Vaters  Gio- 
vanni von  Bristol  1497  absegelnd  entdeckte  er  (nach  den  Nor- 
mannen) zuerst  das  Festland  Amerika' s  und  auf  seinen  spätem 
Entdeckungsfahrten  entschleierte  er  die  Ostküste  Nordamerika's, 
von  der  Hudsonstrasse  bis  zur  Halbinsel  Florida.  Auch  er  war 
ein  Kartenzeichner  und  zugleich  Erfinder  einer  neuen  mathema- 
tischen Projectionsart.  Am  Abend  seines  Lebens  noch  rief  er  in 
England  eine  Gesellschaft  ins  Leben,  die  zuerst  einen  Seeweg 
nach  Russland,  nämlich  über  das  Nordcap  und  das  weisse  Meer, 
betrat  und  zur  Gründung  von  Archangel  führte.  Als  bei  den 
Franzosen  1523  der  Entdeckertrieb  erwachte,  war  es  wiederum 
ein  Florentiner ,  Giovanni  Verrazano ,  welchem  sie  die  Führung 
ihrer  Geschwader  anvertrauten.  Die  Entdeckungen  im  atlantischen 
Westen  wie  die  eines  neuen  Seeweges  nach  Indien  berührten  aber 
die  Handelsinteressen  der  itahenischen  Seemächte  zu  tief,  als  dass 
nicht  in  Italien  die  Fortschritte  der  Erdkunde  aufs  eifrigste  hätten 
überwacht  werden  sollen.  So  entstand  schon  1507  in  Vicenza 
das  erste  Sammelwerk  der  Entdeckerberichte.  Es  war  der  Vorläufer 
der  spätem  grossen  Sammlung,  die  Ramusio  von  der  Mitte  bis 
zum  Ende  des  16.  Jahrhunderts  in  drei  grossen  Foliobänden  in 
mehreren  Auflagen  fortsetzte.  Sie  diente  als  Muster  wiederum  den 
deutschen  und  holländischen  Sammlungen  der  de  Bry  und  Hulsius, 
sowie  dem  Engländer  Hakluyt,  nach  welchem  sich  eine  ältere 
noch  jetzt  blühende  britische  Gesellschaft  für  Geschichte  der  Erd- 
kunde benannt  hat. 

Seit  Ramusio's  Zeiten  verschwinden  jedoch  die  Italiener  als 
Meister  oder  Helfer  beim  Aufbau  der  Erdkunde  auf  lange  Zeit. 
Es  sind  anfänglich  die  Deutschen,  die  nach  ihnen,  und  dann  die 
Holländer,  welche  die  Wissenschaft  beherrschen,  die  letzteren  ver- 
drängt am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  durch  die  Franzosen,  denen 
die  ersten  drei  Viertel  des  18.  Jahrhunderts  gehören.  Freilich  war 
Italien  nicht  gänzlich  verwaist  an  wissenschaftlichen  Grössen. 
Galilei  könnte  genannt  werden  wenigstens  auf  dem  Felde  der 
astronomischen  Geographie  und  Toricelli,  insofern  seine  Entdeck- 
ungen der  Erdkunde  ein  wichtiges  Instrument  der  Höhenmessung 
lieferten,  dagen  schweigen  wir  lieber  von  Riccioli,  denn  obgleich 
er  im  17.  Jahrhundert  als  Kosmograph  einen  grossen  Ruf  genoss, 
so  war  dieser  doch,  wie  sich  später  ergab ,  ein  unverdienter. 
Eine  glänzende  Leistung  zur    Förderung  der  Erdkunde  verdanken 


Pflege  der  Erdkunde  in  Italien.  II5 

wir  jedoch  der  Academia  del  Cimento,  die  gleich  nach  ihrer  Stif- 
tung das  „Florentiner  Thermometer"  schuf,  das  älteste  wärme- 
messende Instrument,  welches  Anspruch  auf  wissenschaftlichen 
Werth  erheben  kann'). 

Seitdem  begegnen  wir  unter  den  Italienern  nur  vereinzelten 
Gelehrten  wie  Zurla  im  vorigen,  den  Grafen  BaldeUi  Boni  im 
ersten  Viertel  des  jetzigen  Jahrhunderts.  Die  topographischen 
Arbeiten  wurden  von  Oesterreichern  ausgeführt,  von  Oesterreichern 
sind  auch  die  Tiefen  des  adriatischen  Meeres  gemessen  worden. 
Ein  verdienstvoller  Seemann  wie  Alessandro  Malaspina,  der  am 
Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  auf  spanischen  Fahrzeugen  die 
Küsten  Nordamerika's  am  stillen  Meer  befuhr,  lieferte  zwar  vortreff- 
liche Arbeiten,  auf  die  sich  Alexander  v.  Humboldt  wiederholt 
gestützt  hat,  aber  sein  Journal  ist  bis  heute  noch  ungedruckt  ge- 
blieben, und  es  fragt  sich,  ob  es  gegenwärtig  der  Mühe  lohnt,  es  zu 
veröffentlichen,  seitdem  wir  das  grosse  Werk  von  Fitz  Roy  besitzen. 

Seit  etwa  20  Jahren  oder  früher  noch  hatten  sich  Italiener 
ein  eigenes  Entdeckungsfeld  ausersehen,  nämlich  den  weissen  Nil 
und  seine  linken  Nebengewässer,  Von  Chartum  aus  schwärm- 
ten italienische  Elfenbeinjäger  nach  Süden  und  Südwesten 
aus.  Ihnen  verdanken  wir  eine  Anzahl  unschätzbarer  Auf- 
schlüsse über  das  Wirrsal  in  der  Stromkunde  des  obern  Nil. 
Ohne  die  itaUenischen  Elfenbeinjäger  wäre  es  Speke  und  Grant 
sehr  schwierig,  ja  vielleicht  unmöglich  gewesen  aus  Unyoro  ihren 
Rückweg  nach  Europa  über  Gondokoro  zu  vollenden.  Jene  ita- 
lienischen Pfadfinder  aber  trafen  daheim  in  ihrem  Vaterlande  weder 
ein  Publicum  noch  eine  Presse,  die  sich  ihre  Berichte  angeeignet 
hätten.  Der  Piemontese  Brun  Rollet,  der  Malteser  de  Bono  be- 
nutzten französische  Zeitschriften,  der  Nilentdecker  Marchese  An- 
tinori  die  Petermann' sehen  Mittheilungen  zur  Veröffentlichung  ihrer 
Erlebnisse  und  Beobachtungen.  Wo  Miani's  Reise  im  Original 
erschienen  sei ,  wissen  wir  selbst  nicht  anzugeben ,  nur  „Miani's 
Palme  am  weissen  Nil"  begegnete  uns  auf  den  Nilkarten  der 
engUschen  Reisenden  und  auf  den  Tafeln  in  Petermann's  Mit- 
theilungen. 


i)  Der  Erfinder  selbst  ist  unbekannt,  ebenso    wie    das  Jahr,    welches   zwi- 
schen  1657  und   1667  gesucht  werden  muss. 

8* 


Il6  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Es  konnte  auch  nicht  wohl  anders  kommen,  als  dass  itaUeni- 
sche  Geographen  als  Schriftsteller  gleichsam  im  Exil  lebten.  Von 
1848  bis  1866  hatten  die  Italiener  viel  wichtigere  Sorgen  als  die 
Beförderung  der  Erdkunde  ,  sie  sollten  in  dieser  Zeit  eine  Nation 
werden.  Einem  Volke,  welches  eine  geschichtliche  Aufgabe  zu 
lösen  hat,  darf  man  nicht  zumuthen  mit  Eifer  der  Wissenschaft 
zu  dienen.  Was  von  geistigen  Kräften  vorhanden  ist,  wird  sich 
in  solchen  Zeiten  fest  und  unverrückt  den  patriotischen  Zielen 
zukehren.  Wo  überhaupt  grosse  geschichtliche  Entwickelungen 
vor  sich  gfehen,  muss  die  Zeit  arm  bleiben  an  Leistungen  auf 
geistigem  Gebiet.  Künstler  wie  Gelehrte  werden  aus  ihrer  Ruhe 
aufgestört,  sie  hängen  mit  einem  Auge  an  der  Tagesgeschichte, 
und  Grosses  werden  sie  nie  hervorbringen,  wenn  nicht  ihr  ganzes 
Ich  mit  dem  Werke  unter  ihren  Händen  beschäftigt  ist. 

Jetzt  aber,  wo  Italien  aufgehört  hat  „ein  geographischer  Be- 
griff", ein  leerer  Name  in  der  Erdkunde  zu  sein,  wo  es  eine  ita- 
lienische Nation  giebt ,  die  das  Schwerste  ihres  Werdeprocesses 
überstanden  hat,  w^ären  günstigere  Zeiten  eingetreten,  dass  die 
Italiener  auch  unserer  Wissenschaft,  die  sie  einst  so  lange  und  so 
glänzend  beherrscht  hatten,  wiederum  ihre  Dienste  widmen  könnten. 
Am  II.  April  1867  vereinigten  sich  denn  auch  etliche  70  Freunde 
der  Erdkunde  in  Florenz  und  beschlossen,  eine  geographische  Ge- 
sellschaft zu  stiften.  Am  12.  Mai  wurde  sie  mit  163  Mitgliedern 
eröffnet,  am  i.  Januar  1868  zählte  sie  bereits  413  und  am  22.  Juni 
482  Theilnehmer,  darunter  eine  Plejade  der  grössten  italienischen 
Celebritäten').  Die  Mittel,  über  welche  die  Gesellschaft  verfügte, 
waren  zwar  sehr  bescheiden,  dennoch  schickten  sie  sogleich  davon 
einen  Beitrag  für  den  deutschen  Reisenden  Manch.  Die  Zeiten 
sind  also  längst  verklungen ,  wo  jenseits  der  Alpen  uns  nur  die 
drei  Worte  entgegenschallten :  morte  ai  Tedeschi !  Das  erste  Jahr- 
buch der  Florentiner  Gesellschaft  2)    enthält  ausserordentlich  reiche 


i)  Als  Präsident  fungirte  Cristoforo  Negri,  als  Vicepräsidenten :  Cesare 
Correnti,  Graf  Francesco  Miniscalchi  Erizzo ,  Lodov.  Pasini,  Adolfo  Targioni 
Tozerti.  Im  Ausschuss  finden  wir  noch  folgende  Namen,  die  in  Deutschland 
längst  bekannt  sind:  den  Historiker  Amari,  den  Entdecker  Marchese  Antinori, 
den  Gen.-Lieut.  Nino  Bixio,  die  Professoren  Gius.  de  Luca,  de  Gubernatis,  Gio 
Batt.    Donati  und  Carlo  Matteucci.    (f). 

2)  Polletino  della  Societa  geografica  italiana.  Anno  I.  Agosto  1868. 
Firenze  1868. 


Pflege  der  Erdkunde  in  Italien.  ny 

Beiträge,  besonders  einen  Bericht  des  Marchese  Antinori  über 
seine  und  Carlo  Piaggia's  Entdeckungen  im  Niamniamlande  mit 
Karten,  sowie  die  wichtige  Mittheilung  des  Nilreisenden  Dr.  Ori- 
über  die  Wanderungen  der  Gebrüder  Poncet  und  ihrer  Wekile, 
westwärts  vom  weissen  Nil^),  eine  längere  Arbeit  über  Reisen  in 
Borneo  von  Odoardo  Beccari,  sowie  über  die  Karten  des  tunesi- 
schen Sahel  von  de  Gubernatis,  sammt  einer  Reihe  werthvoller 
Correspondenzen.  Es  ist  auch  zu  erwarten,  dass  es  an  Stoff  nicht 
so  leicht  mangeln  werde.  Italiener  sind  viel  wanderlustiger  als  die 
Franzosen,  die  La  Plata-Gebiete,  Peru  und  zum  Theil  Califomien 
gehören  zu  ihren  LiebHngszielen,  und  italienische  Auswanderer 
bilden  an  manchen  Orten  in  Südamerika  namhafte  Bruchtheile 
der  Bevölkerung. 

Die  Florentiner  Gesellschaft  sollte  aber  nicht  lange  vereinzelt 
stehen.  In  Turin  hatte  sich  fast  gleichzeitig  ein  Alpenclub  gebil- 
det, der  ähnliches  zu  leisten  verspricht  wie  der  Wiener  Alpen- 
verein. Neben  ihm  ist  in  Turin  eine  geographische  Gesellschaft 
unter  dem  Namen  Circolo  geografico  italiano  gebildet  worden,  die 
so  eben  in  einem  Hefte  ihre  ersten  Arbeiten  veröffentlicht  hat^). 
Wir  finden  darin  nicht  bloss  eine  Stiftungsgeschichte,  sondern  auch 
einen  Bericht  über  eine  kleine  Uebungsreise  nach  den  cottischen 
Alpen.  In  Turin  ist  nämlich  die  Erdkunde  Unterrichtsgegenstand 
an  der  Hochschule,  und  jene  Reise  sollte  dazu  dienen,  den  Schü- 
lern Gelegenheit  zum  Gebrauch  der  wissenschaftlichen  Instrumente 
zu  geben.  Es  wurden  also  die  Höhen  gemessen  theils  mit  dem 
Quecksilberbarometer,  theils  mit  dem  Aneroiden,  theils  mit  dem 
Kochthermometer.  Leider  wurde  die  Berechnung  nach  den  For- 
meln im  Annuaire  du  bureau  des  longitudes  ausgeführt,  die  den 
Feuchtigkeitszustand  der  Luft  noch  vernachlässigen.  Es  wurden 
auch  kleine  Triangulationen  vorgenommen,  die  Karten  verglichen, 
und  jede  Gelegenheit  ergriffen,  um  die  Schüler  wissenschaftlich 
auszubilden.  Solche  Versuche  verdienen  die  wärmste  Aufmunte- 
rung, denn  es  ist  ein  Irrthum  zu  glauben,  dass  nur  derjenige  mit 
solchen  Beobachtungen  sich  zu  beschäftigen  habe,  der  für  wissen- 
schaftliche Reisen  sich  vorbereiten  wolle.  Ein  jeder,  der  sich 
kritisch   über    die   Vorarbeiten    zur   Begründung    der  Länderkunde 


i)  S.  Ausland  l868,   S.    1057. 

2)  Publicazioni    del   circolo  geografico    italiano.     Dicembre   1868.     Torino. 


jig  Zur  Geschichte  der  Geographie, 

erheben  will,  muss  ein  genügendes  Sachverständniss  durch  Selbst- 
übung sich  erwerben. 

So  begrüssen  wir  denn  ein  altberühmtes  Volk  der  Erdkunde 
nach  einem  dreihundertjährigen  Erstarrungsschlaf  von  neuem  wie- 
der auf  wissenschaftlichem  Gebiete,  und  wir  können  uns  nur  Glück 
wünschen ,  wenn  es  uns  mit  ähnlichen  Leistungen  überraschen 
sollte,  wie  zu  den  Zeiten  des  Messer  Milione  oder  der  grossen 
atlantischen  Seefahrer. 


12.    Lebensbeschreibung  und  Würdigung 
Gerhard  MercatorsO. 

(Ausland  1869.     Nr.    35.     28.  August.) 

Dass  der  Name  des  grossen,  spät  von  den  Seinigen  gefeierten 
Mannes  nur  die  Latinisirung  eines  deutschen  Namens  sei,  wie  es 
die  Sitte  oder  Unsitte  seines  Zeitalters  wollte ,  wusste  man  schon 
längst.  Vielfach  aber  wurde  angenommen,  der  Name  müsse 
Kaufmann  gelautet  haben.  Die  Eltern  des  grossen  Geographen 
hiessen  jedoch  Hubert  und  Emerentia  Kremer.  Wo  sie  ansässig 
waren,  ist  bis  jetzt  nicht  ermittelt  worden.  Ein  Winand  Mercator, 
Licentiat  der  Rechte,  tritt  1587'  als  Rechtsvertreter  der  Stadt 
Jülich  auf.  In  welchen  Beziehungen  er  zu  Gerhard  stand,  ist  noch 
nicht  aufgeklärt.  Dagegen  wissen  wir  aus  dem  Lebensbilde  von 
Walter  Ghymm ,  dem  Freunde  unseres  Geographen ,  dass  der 
Bruder  Huberts,  Gisbert  Kremer,  als  Pastor  in  Rupelmonde  lebte, 
welches  letztere  in  dem  beim  deutschen  Reich  zu  Lehn  gehenden 
Theile  Flanderns  lag.  In  seinem  Hause,  während  eines  Besuches 
der  Eltern,  wurde  am  5.  März  15 12  unser  Gerhard  geboren. 
Mercator  selbst  sagt  in  seiner  Widmung  der  Tabulae  Galliae  et 
Germaniae,  die  1585  zu  Duisburg  erschien:  „Obwohl  in  Flandern 
geboren,  sind  doch  die  Herzoge  von  Jülich  meine  angestammten 
Herren,  denn  unter  ihrem  Schutze  bin  ich  im  Jülicher  Lande  und 
von  Jülichschen  Eltern  erzeugt  und  erzogen  worden".  Diess  heisst 
klar  und  deutlich,  dass  Mercator  sich  für  einen  Deutschen  hielt 
und  für  deutsch  gehalten  werden  wollte. 


l)  Gerhard    Kremer,    genannt  Mercator,  der  deutsche  Geograph,   von  Dr. 
Breusing.     Duisburg  1869. 


I20  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Der  Oheim  Gisbert  Hess  später  den  jungen  Mercator  in 
Herzogenbusch  auf  seine  Kosten  in  das  Haus  der  „Brüder  vom 
gemeinsamen  Leben"  aufnehmen.  Im  Herbste  1536  bezog  er  die 
Universität  Löwen  zu  humanistischen  Studien  und  erwarb  sich 
dort  das  philosophische  Baccalaureat.  Eine  frühe  Heirath  mit 
Barbara  Schelleken  aus  Löwen  nöthigte  ihn  zum  Broderwerb  durch 
Verfertigung  mathematischer  Instrumente,  wie  Astrolabien,.  Armillar- 
sphären,  astronomischer  Ringe  u.  s.  w.  Doch  entwarf  und  stach 
er  schon  im  25.  Lebensjahre  eine  Karte  vom  heiligen  Lande 
(1537),  die  so  viel  Beifall  fand,  dass  ihn  flandrische  Kaufleute  zur 
Ausarbeitung  einer  Karte  ihrer  Heimath  veranlassten.  Beide  sind 
bisher  nicht  aufgetrieben  worden,  vielleicht  geschieht  diess  jetzt 
wenn  die  Raritätenjäger  auf  den  Werth  solcher  Urkunden  auf- 
merksam werden.  Mercator  stach  seine  Zeichnungen  selbst  in 
Kupfer  (wie  später  unser  berühmter  Tobias  Mayer),  und  in  einer 
kleinen  Flugschrift  vom  Jahr  1541  erklärte  er  sich  für  den  Ge- 
brauch der  Antiquaschrift  bei  Landkarten,  die  auch  in  Deutschland 
seitdem  die  herrschende  geworden  ist.  Für  den  Reichssiegel- 
bewahrer Granvella  vollendete  Mercator  1541  eine  Erdkugel,  und 
durch  Granvella  wiederum,  der  in  jenem  Jahre  nach  dem  Regens- 
burger Reichstag  ging,  wurde  er  dem  Kaiser  Karl  V.  empfohlen, 
der  ihm  einige  Aufträge  ertheilte. 

Im  Jahre  1544  hatte  sich  Mercator  von  Löwen  nach  Rupelmonde 
entfernt,  um  den  Nachlass  seines  verstorbenen  Oheims  zu  ordnen. 
Seine  Abwesenheit  wurde  von  Verleumdern  gedeutet,  als  habe 
ketzerisches  Schuldbewusstsein  ihn  ins  weite  getrieben.  Er  wurde 
auf  Befehl  verhaftet  und  in  dem  Rupelmonder  Schlosse  festgesetzt. 
Zunächst  verbürgte  sich  der  Beichtvater  der  Frau  Mercators  für 
die  Rechtgläubigkeit,  dann  begehrte  der  Abt  von  St.  Gertrud,  dem 
es  oblag ,  die  Privilegien  der  Universität  Löwen  zu  schützen,  dass 
man  Mercator,  als  einen  Angehörigen  dieser  Hochschule,  frei  lassen 
sollte,  zuletzt  protestirten  Rector  und  Professoren  unmittelbar  bei 
der  Statthalterin.  Schliesslich  wurde  er  wieder  freigelassen,  wahr- 
scheinlich weil  nichts  gegen  ihn  vorlag.  Wie  lange  er  schmachten 
musste ,  liess  sich  bisher  genauer  noch  nicht  ermitteln ,  jedenfalls 
dauerte  die  Haft  von  Mitte  Februar  bis  über  den  20.  Mai.  Dass 
von  diesem  Zwischenfall  sein  Freund  Walter  Ghymm,  Schultheiss 
zu  Duisburg,  in  der  Lebensbeschreibung  nichts  erwähnt,  geschah 
wohl    aus    Vorsicht,    denn    es    war    damals    besser,    über    solche 


Lebensbeschreibung  und  Würdigung  Gerhard  Mercators.  121 

Verdächtigungen  zu  schweigen  als  eine  schwierige  Rechtfertigung 
zu  versuchen. 

Haben  die  Brüsseler  Archive  über  diesen  Umstand  dem  Bio- 
graphen den  ersten  Aufschluss  ertheilt,  so  hat  er  auch  einen  völlig 
neuen  Schatz  in  einem  Brief  gehoben,  den  Mercator  1546  an 
Anton.  Perrenot,  Bischof  von  Arras,  richtete.  Darin  erläutert 
Mercator  ganz  deutlich  die  Erscheinung  der  Missweisung  der 
ISIagnetnadel :  ,,Sie  ändere  ihre  Richtung,  heisst  es,  mit  der  Ver- 
änderung der  geographischen  Breite  und  Länge,  woher  es  komme, 
dass  jeder  Curs  (nach  dem  Compass),  beispielsweise  der  nach 
Ost  und  West,  von  dem  wahren  (mathematischen)  Curse  bald  all- 
mählich mehr  und  mehr  nach  Süden  abweiche  und  so  den  Verlauf 
der  Küsten  nördlicher  erscheinen  lasse  als  er  sein  solle,  wie  man 
diess  an  der  afrikanischen  Küste  von  der  Strasse  von  Gibraltar 
bis  nach  Carthago  sehen  könne,  bald  wiederum  nach  Norden  ab- 
weiche und  so  die  Küsten  nach  Süden  verschiebe,  wie  diess  den 
im  entgegengesetzten  Sinne  von  Carthago  nach  Cadiz  fahrenden 
Schiffen  begegne".  Daraus  erhellt  nun  deutlich,  dass  Mercator 
die  Mängel  der  alten  Compasskarten,  welche  die  Missweisung  ganz 
unberücksichtigt  Hessen,  vollständig  durchschaute.  Aus  Abstands- 
berechnungen ermittelte  Mercator,  dass  Danzig  dadurch  ,,um 
5  Grad  zu  nördlich  liege"  im  Vergleiche  zu  Walcheren,  dass  am 
letzteren  Orte  eine  östliche  Missweisung  um  neun ,  in  Danzig  um 
vierzehn  Grad  herrsche.  Diese  Urkunde  ist  unschätzbar.  Sie 
beweist  uns,  dass  Mercator  die  noch  immer  bezweifelte  Missweisung 
streng  anerkannte,  und  dass  er  die  ersten  Schritte  that,  die  aus 
ihr  entspringenden  Irrthümer  zu  verbessern.  Er  suchte  auch  aus 
der  ermittelten  Missweisung  in  Walcheren  und  Danzig  die  Lage 
des  nördlichen  Magnetpoles  zu  bestimmen,  und  zwar  nach  Längen 
und  Breiten,  er  suchte  ihn  also  auf  der  Erde,  und  bezeugte  damit, 
dass  jene  Zugkräfte  Erdkräfte  sind.  Aus  dem  Jahre  15 51 
ist  jetzt  in  der  ambrosianischen  Bibliothek  (Mailand)  ferner  eine 
kleine  Anweisung  Mercators  über  den  Gebrauch  der  Globen  auf- 
gefunden worden,  welche  besonders  dadurch  wichtig  ist,  dass  sich 
der  grosse  Geograph ,  ungeblendet  vom  Autoritätenglanz,  der  Irr- 
thümer des  Ptolemäus  bewusst  war. 

Im  nächsten  Jahr  kehrte  er  mit  seiner  Familie ,  drei  Söhnen 
und  drei  Töchtern ,  nach  Duisburg  zurück.  Dort  arbeitete  er  an 
seiner  Karte    von  Europa  aus    dem  Jahre   1554,    die    bis  jetzt   in 


122  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

einem  einzigen  Exemplar  sich  hat  auffinden  lassen.  Er  betheiligte 
sich  1557  sehr  lebhaft  an  der  Stiftung  des  dortigen  Gymnasiums, 
an  welchem  später  sein  Schwiegersohn  das  Rectorat  verwaltete, 
jedoch  nicht  mit  dem  erhofften  Erfolge,  1564  stach  er  eine 
Karte  von  England  in  Kupfer,  die  bis  jetzt  nicht  hat  aufgefunden 
werden  können,  und  unmittelbar  nachher  vermass  er  Lothringen 
auf  Wunsch  des  Herzogs  trigonometrisch,  um  seine  spätere  Karten- 
zeichnung auf  diese  Vorarbeit  zu  stützen.  Im  Jahr  1569  erschien 
die  erste  Erdkarte  in  ,,Mercatorsprojection",  und  1578  gab  er 
den  Ptolemäus  frisch  heraus.  Als  edles  Muster  steht  Mercator 
vor  uns  durch  seine  Verhältnisse  zu  Abraham  Oertel  (Ortelius). 
Ortelius  war  ein  Kartenfabrikant,  der  die  vorhandenen  besten 
geographischen  Gemälde  sammelte  und  sie  nicht  ohne  Geschick 
zusammenschmolz,  allein  wie  er  selbst  bekannt  hat,  war  ihm  dabei 
vom  höchsten  Belang  die  kritische  Hülfe  Mercators,  der  ohne  einen 
Schatten  von  Egoismus  den  geographischen  Gewerbsmann  förderte. 
Mercator  fertigte  inzwischen  mehr  und  mehr  Originalkarten  von 
Deutschland,  den  Niederlanden,  Frankreich  und  Italien,  weit  bessere 
als  alle  andern  damaligen,  und  die  besten  auch  noch  für  die 
nächsten  Zeiten.  Am  2.  December  1594  starb  er  als  ein  frommer 
Mann,  denn  seine  letzten  vernehmhchen  Worte  waren  eine  Bitte 
an  den  Prediger,  seiner  im  Gebete  nach  dem  Gottesdienste  zu 
gedenken.  Die  Sammlung  der  vorhandenen  Karten  gab  sein 
jüngster  Sohn  Rumold  1595  zu  Duisburg  unter  dem  Titel  Atlas 
heraus,  der  seitdem  in  allen  Sprachen  sich  das  Bürgerrecht 
erworben  hat.  Warum  Mercator  diese  Bezeichnung  wählte,  ist 
noch  etwas  dunkel,  er  dachte  dabei  an  Atlas,  den  König  von 
Mauritanien,  der  die  Tiefen  des  Meeres  und  die  Höhen  des 
Himmels  kannte. 

Mercators  hohe  wissenschaftliche  Leistungen  bestehen  zunächst 
in  der  Erfindung  und  Einführung  neuer  Netzentwürfe  zur  Ueber- 
tragung  von  Kugelflächen  in  die  Ebene,  also  von  neuen  Projections- 
arten.  Bis  zu  den  grossen  nautischen  Entdeckungen  seit  dem 
Schlüsse  des  15.  Jahrhunderts  hatten  die  ersten  rohen  Netzentwürfe, 
da  sie  nur  localen  Bildern  zu  dienen  brauchten,  genügt,  jetzt  auf 
einmal  meldete  sich  das  Bedürfniss  nach  Erdkarten.  Auch  müssen 
wir  noch  hinzusetzen,  dass  bis  zur  vollendeten  ersten  Erdum- 
segelung immer  noch  die  Kugelgestalt  der  Erde  nur  eine  theore- 
tische Forderung  geblieben,  und  erst  durch  jene  That  vor  weiteren 


Lebensbeschreibung  und  Würdigung  Gerhard  Mercators,  123 

Zweifeln  gesichert  worden  war.  Es  ist  Breusings  Verdienst,  den 
Werth  eines  damals  neuen  Netzentwurfes  der  ,, herzförmigen"  Pro- 
jection  Johann  Stabens,  Prof  an  der  Wiener  Hochschule,  am 
Beginn  des  16.  Jahrhunderts  in  helles  Licht  gesetzt  zu  haben. 
Er  zog  nämlich  aus  dem  Pole  als  Mittelpunkt  concentrische  gleich- 
abständige Kreise,  theilte  jeden  nach  den  Verhältnissen,  wie  sie 
ihm  auf  der 'Kugel  zukamen,  und  verband  die  Theilungsstriche 
sodann  durch  Linien,  welche  die  Meridiane  vertraten:  der  erste 
Versuch,  einem  Entwürfe  die  Vorzüge  der  äquiva- 
lenten Räume  zu  geben.  Diese  Projection  verfeinerte  nun 
Mercator,  indem  er  die  Breitenparallelen  nicht  aus  dem  Pole  als 
Mittelpunkt  zog,  sondern  dazu  die  Fläche  desjenigen  Kegels 
wählte,  der  die  Kugel  im  mittleren  Parallel  des  darzustellenden 
Landes  berührt.  Danach  wurde  die  Weltkarte  in  seiner  Ausgabe 
des  Ptolemäus  entworfen.  Diese  nämliche  Projection  wurde  am 
Anfang  dieses  Jahrhunderts  für  die  Ausführung  der  grossen  Karte 
von  Frankreich  erwählt  unter  dem  Titel  Projection  du  depot  de 
la  guerre,  gewöhnUch  aber  schreibt  man  sie  dem  Kartenzeichner 
Bonne  zu.  Mercator  ist  also ,  um  anachronistisch  zu  reden ,  der 
Erfinder  der  Bonne'schen  Projection.  Sehr  scharfsinnig  zeigt  nun 
Breusing  ferner,  dass,  wenn  man  den  Aequator  zu  demjenigen 
Parallel  wählt,  welcher  von  dem  idealen  Kegel  berührt  werden 
soll,  der  Halbmesser  dann  unendlich  gross,  und  folglich  die  Par- 
allelen zu  geraden  Linien  werden.  Bisher  wurde  Sanson  (1695) 
als  Erfinder  angesehen,  oder  auch  der  Astronom  Flamsteed,  weil 
er  sie  für  die  Darstellung  himmlischer  Räume  anwendete,  als 
solcher  genannt,  allein  dieser  Entwurf  kommt  bereits  in  der  ersten 
holländischen  Ausgabe  des  Mercator  -  Atlas  auf  dem  Blatte  von 
Südamerika  vor,  welches  den  Namen  Honds  trägt. 

Eine  höchst  verfeinerte  conische  Projection  erhält  man,  wenn 
die  Kegelfläche  nicht  den  mittleren  Parallel  der  darzustellenden 
Kugelfläche  berührt,  sondern  wenn  sie  die  Kugel  an  zwei  Zonen 
durchstösst.  Donis  hatte  zuerst  diese  Durchstossung  durchgeführt, 
die  durchstossenen  Parallelen  aber  an  dem  oberen  und  unteren 
Rand  der  Karte  sich  gedacht.  Mercator  verlegte  sie  in  gleiche 
Abstände  vom  mittleren  Parallel  und  dem  Rande  der  Karte. 
Diesen  Gedanken,  bei  der  Ausgabe  des  Ptolemäus  noch  roh,  in 
den  Karten  von  Deutschland  und  Frankreich  1585  aber  scharf 
durchgeführt    zu    haben ,    ist    ein    Verdienst    unseres    Geographen, 


124  ^""^  Geschichte  der  Geographie. 

welches  bereits  von  d'Avezac  anerkannt  worden  ist,  während  man 
früher  Deh'sle  als  den  Urheber  verehrte.  Auch  hier  können  wir 
wieder  sagen :  Mercator  ist  der  Erfinder  der  Delisle'schen  Projection. 

Auf  seinem  Weltgemälde  vom  Jahre  1569  wurde  zur  Dar- 
stellung der  Polarräume  von  Mercator  eine  Nebenkarte  beigefügt. 
Sie  ist  in  derselben  Projection  gezeichnet  wie  die  Circumpolar- 
Karte  in  Stielers  Atlas  (Bl.  43  b).  Der  Pol  ist  der  Mittelpunkt 
für  alle  als  concentrische  gleichabstehende  Kreise  aufgetragenen 
Breitegrade.  Die  Mittagskreise  dagegen  laufen  gleichabständig 
als  Radien  im  Pol  zusammen.  Bisher  galt  der  Geograph  Postel 
wegen  seiner  Karte  vom  Jahr  158 1  als  Erfinder  dieser  Projection. 
Breusings  Verdienst  ist  es ,  Mercator  als  den  Erfinder  auch  der 
Postel'schen  Projection  erkannt  zu   haben. 

Von  Herzen  schliessen  wir  uns  bei  dieser  Gelegenheit  einer 
Mahnung  Breusings  an  die  darstellenden  Geographen  an,  dass  sie 
nämlich  auf  den  Landkartentiteln  in  Zukunft  jedesmal  den  Namen 
der  Projectionsart  beisetzen  sollten.  Wollen  sie  obendrein  den 
deutschen  Namen  zu  Ehren  bringen ,  so  sollten  sie  bei  allen  auf- 
gezählten Beispielen  die  Worte  hinzufügen :  „erfunden  von  Gerhard 
Mercator."  Wie  unendlich  viele  Karten  in  Stielers  Handatlas  in 
Mercators  Netzentwürfen  gezeichnet  sind,  das  hat  Breusing  allent- 
halben fleissig  aufgezählt. 

Bisher  haben  wir  immer  nur  von  mercatorischen,  noch  nicht 
aber  von  der  Mercatorsprojection  gesprochen.  Sie  allein  erhebt 
den  Erfinder  unter  die  genialsten  Männer  seiner  Zeit,  und  vielleicht, 
wie  wir  beifügen  möchten,  zeigt  nichts  besser  die  Grösse  dieser 
Erfindung  als  dass  sie  zuerst  platt  zu  Boden  fiel,  weil  das  Ver- 
ständniss  der  Zeit  noch  nicht  hinlänglich  reif  dafür  war.  Man 
wusste  mit  ihr  nichts  anzufangen ,  und  doch  war  sie  so  wichtig, 
dass  Breusing  die  Geschichte  der  Nautik  in  drei  Zeiträume  theilt, 
bezeichnet  durch  die  Erfindung  des  Schiffscompasses,  der  See- 
kar tenprojection  und  der  Spiegelsextanten. 

Die  Mercatorprojection  ist  ein  walzenförmiger  Entwurf.  Die 
Erde  wird  nicht  mehr  als  Kugel,  sondern  als  Cylinder  gedacht. 
Denkt  man  sich  die  Achse  der  Walze  so  lang  wie  den  Drehungs- 
pol, und  ihren  Durchmesser  wie  den  Durchmesser  der  Erde,  so 
erhalten  wir  durch  Abrollen  ein  zu  verjüngendes  Rechteck,  noch 
einmal  so  breit  als  hoch ,  auf  dem  die  Mittagskreise  gleichabstän- 
dige senkrechte,  die  Breitengrade  gleichabständige  wagrechte  Linien 


Lebensbeschreibung  und  Würdigung  Gerhard  ^lercators.  12; 

bilden,  durch  deren  Kreuzungen  lauter  Quadrate  abgeschnitten 
werden.  Auf  der  Kugel  sehen  wir  dagegen,  dass  die  Abstände 
der  Mittagskreise,  die  in  der  Nähe  des  Aequators  fast  genau  den 
gleichwerthigen  Abständen  der  Breitenkreise  entsprechen,  je  mehr 
wir  uns  den  Polen  nähern,  immer  schmäler ,  und  am  Pole  selbst 
Null  werden.  Um  nun  beim  Entwürfe  in  der  Ebene  den  Gang 
dieses  Gesetzes  auszudrücken ,  behielt  Mercator  die  gleichen  Ab- 
stände für  die  Mittagskreise  bei ,  verlängerte  aber  dafür  die  Ab- 
stände der  Breitenkreise  in  entsprechender  Weise,  und  gab  dadurch 
dem  Bilde  eine  streng  symmetrische  Auflockerung  von  dem 
Aequator  nach  den  Polen.  Der  einzige  unvermeidliche  Uebelstand 
dieses  Entwurfes  ist  nur,  dass  er  nicht  gut  über  den  80.  Breite- 
grad ausgedehnt  werden  kann ,  weil  in  grösseren  Polhöhen  die 
Breitenabstände  zu  rasch,  jenseits  von  lat.  89°  aber  ins  un- 
endliche wachsen  müssen.  Die  Vortheile  dieses  Entwurfes  sind 
sonst  gar  nicht  zu  überschätzen,  denn  in  allen  zwischen  zwei 
Breitenkreisen  eingeschlossenen  Vierecken  bleiben  die  Verhältnisse 
richtig,  nur  dass  der  Massstab  sich  mit  jedem  Breitenkreise  ändert. 
Einzig  auf  einer  Karte  nach  Mercatorprojection  lassen  sich  die 
Himmelsrichtungen,  in  welcher  irgend  ein  irdischer  Punkt  zu  allen 
andern  irdischen  Punkten  hegt,  streng  einsehen,  weil  alle  Himmels- 
richtungen als  gerade  Linien  durch  das  Bild  laufen.  Ohne  Mer- 
catorprojection war  den  Seeleuten  eine  strenge  Ermittelung  ihres 
Curses  ebensowenig  wie  eine  schärfere  Berechnung  des  zurück- 
gelegten Weges,  ausser  durch  astronomische  Ortsbestimmung, 
möglich.  Für  alle  thermischen,  für  erdmagnetische,  für  pflanzen- 
oder  thiergeographische ,  für  Fluthbewegungs-,  überhaupt  für  alle 
physilcalischen  Karten  ist  die  Mercatorprojection  unerlässlich, 
sie  ist  mit  einem  Worte  der  Stein  der  geographischen  Weisheit 
geworden. 

Mercator  war  aber  nicht  bloss  mathematischer  Geograph, 
sondern  ein  vortrefflicher  kritischer  Darsteller.  Namentlich  sehr 
hoch  müssen  wir  die  Verbesserung  der  Längenbestimmungen  in 
Europa  stellen.  Das  Mittelmeer,  welches  sich  von  Gibraltar  bis 
Iskenderun  über  42  Grade  verbreitet,  war  von  Ptolemäus  bis  zu 
62  Graden  ausgedehnt  worden,  und  Europa  hatte  dadurch  eine 
krankhafte  Verzerrung  erlitten.  Mit  einem  Zuge  heilte  Mercator 
diesen  Fehler  bis  auf  52  Grad,  also  um  die  Hälfte.  Mehr  als 
hundert  Jahre   aber   mussten  vei  streichen  ,    ehe    die  Kartenzeichner 


120  Zur  Geschichte  der  Geographie.     Lebensbeschreibung  etc. 

sich  dem  genauen  Werth  annäherten.  Die  spätem  Geographen 
hatten  aber  leichte  Arbeit,  denn  die  Ermittelung  astronomischer 
Ortsbestimmungen  war  ihnen  vorausgegangen ,  während  Mercator, 
wie  Breusing  richtig  sagt,   sein  eigener  Geodät  sein  musste. 

Wie  unsere  Leser  aus  den  Zeitungen  erfahren  haben  werden, 
soll  in  Duisburg  dem  grossen  Manne  ein  Denkmal  errichtet  werden 
vom  deutschen  Volke  zur  eigenen  Erbauung  an  der  Grösse  seiner 
geistigen  Zierden.  Möge  dieser  kurze  Abriss  dazu  dienen ,  dem 
nationalen  Unternehmen  manchen  Beistand  zu  gewinnen. 


13.    Zur  Geschichte  der  holländischen  Co- 
lonien  und  überseeischen  Entdeckungen. 

(Ausland  1869.     Nr.  6.     6.  Febr.) 

Zwei  neue  bibliographische  Arbeiten '),  die  eine  in  französi- 
scher, die  andere  in  englischer  Sprache  verfasst,  enthalten  wichtige 
Beiträge  für  die  Geschichte  der  Erdkunde  und  ganz  besonders  die 
zweite,  die  sich  auf  die  „Neuen  Niederlande"  bezieht,  hat  nicht 
bloss  als  ein  unentbehrlicher  Leitfaden  für  den  Raritätenjäger  auf 
dem  Büchermarkte,  oder  für  den  Historiker  von  Fach  als  ein 
höchst  erwünschter  Rathgeber  zu  gelten,  sondern  enthält  auch  in 
ihrer  Einleitung  sowie  in  einzelnen  Abhandlungen  des  Textes 
wichtige  und  neue  Aufschlüsse  zur  Geschichte  der  holländischen 
Niederlassungen  in  Nordamerika.  Der  Name  des  Verfassers,  G. 
M.  Asher,  von  dem  die  Hakluyt-Gesellschaft  in  London  bereits 
eine  Monographie  über  Henry  Hudson  gedruckt  hat,  war  an  sich 
schon  Bürgschaft  für  eine  vollendete  Leistung. 

Wenn  am  Ende  des  16.  oder  am  Beginn  des  17.  Jahrhun- 
derts Holland  aus  geschichtlicher  Dunkelheit  plötzlich  als  Macht, 
ja  als  Grossmacht  zur  See  aufleuchtet,  so  bedarf  dieses  Wunder 
einer  nähern  Ergründung,  denn  Staatengrösse  pflegt  sonst  nicht 
über  Nacht  zu  entstehen.  Das  Wunder  erklärt  sich  aber  sehr 
einfach  dadurch,  dass  die  Spanier  aus  Belgien  nicht  weniger  als 
100,000  protestantische  Familien  nach  den  freien  Generalstaaten 
vertrieben  hatten.     Mit   einem    Schlage    wurde    auf   diese    Art  der 


i)  P.  A.  Tiele,  Memoire  bibliographique  sur  les  journaux  des  navigateurs 
neerlaiidais.  G.  M.  Asher,  Dutch  Books  and  Pamphlets  relating  to  New- 
Netherland.     Amsterdam,     1567.   1868.     Frederik  Muller. 


128  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Reichthum,  die  Kenntniss,  der  Gewerbfleiss,  der  Unternehmungs- 
geist und  die  Handelsverbindungen  Flanderns,  Gelderns  und  Bra- 
bants  den  häringsfischenden  Holländern  in  die  Arme  geworfen. 
Belgische  Auswanderer  haben  die  Holländer  nach  Indien  und 
Amerika  geführt.  Denn  die  ehemahgen  Kaufherren  von  Ant- 
werpen kannten  genau  die  schwachen  Stellen  des  spanisch  -  portu- 
giesischen Reichs,  in  welchem  die  Sonne  nicht  unterging,  und 
Wilhelm  Usselincx,  einer  der  Vertriebenen  war  es,  der  1592  den 
Plan  zu  überseeischen  Eroberungen  entwarf,  obgleich,  so  weit  die 
gedruckten  Urkunden  reichen,  Usselincx  erst  1606  ans  Licht  tritt. 
Die  belgischen  Emigranten  hatten  indessen  als  einziges  und  letztes 
Ziel  vor  Augen,  als  Sieger  zurückzukehren  nach  ihrer  Heimath. 
Sie  wollten  der  spanischen  Macht  ihre  Sehnen  abschneiden,  um 
der  geschwächten  das  geliebte  Vaterland  zu  entreissen.  Natürlich 
war  den  Holländern  an  einem  solchen  Ausgang  wenig  gelegen, 
denn  war  Belgien  einmal  frei,  so  hätten  sie  die  reichen  Prote- 
stanten wieder  verloren.  So  kam  es,  dass  Oldenbarnevelt  und 
seine  Partei  die  Anschläge  der  Belgier  für  Schwärmereien  der 
Emigrantenphantasie  ausgaben  und  jener  Staatsmann  musste  zuvor 
das  Blutgerüst  besteigen,  sein  grosser  Anhänger  Hugo  Grotius  erst 
eingekerkert  werden,  bevor  alle  Pläne  eines  Usselincx  zur  Aus- 
führung gelangten.  Oldenbarnevelts  Partei  waren  die  Patricier  der 
Städte,  Arminianer ^)  ihrem  religiösen  Bekenntnisse  nach,  dann 
aber  auch  Föderalisten  oder  Particularisten,  welche  gegen  jede 
strengere  Emheit  sich  wehrten.  Die  Belgier  dagegen  bekannten 
sich  zu  einem  strengen  Calvinismus  und  begeisterten  sich  für  eine 
demokratische  Monarchie ,  sie  stützten  sich  selbst  auf  die  Volks- 
massen in  den  Städten  und  unterstützten  wiederum  das  Haus 
Oranien,  begünstigten  überhaupt  alles,  was  die  Kräfte  des  Volkes 
centralisiren  konnte.  Mit  Oldenbarnevelts  Hinrichtung  16 19  siegte 
die  demokratische  Partei,  aber  noch  war  für  Usselincx  Pläne  nicht 
die  rechte  Zeit  gekommen,  denn  im  Jahr  1609  hatte  Oldenbarne- 
velt eine  zwölfjährige  Waffenruhe  mit  Spanien  geschlossen ,  das 
Meisterstück  staatsmännischer  Weisheit  eines  Parteimannes ,    denn 


i)  Es  war  weniger  die  Lehre  von  der  Prädestination,  die  Arminias  ver- 
trat, die  ihn  bei  der  Patricierpartei  in  Gunst  setzte,  als  seine  Behauptung, 
dass  die  Geistlichen  der  weltlichen  Obrigkeit,  also  der  herrschenden  Partei  Ge- 
horsam zu  leisten  hätten. 


Zur  Geschichte  der  holländischen  Colonien  und  überseeischen  Entdeckungen.    129 

an  eine  Rückeroberung  Belgiens  oder  an  eine  neue  Plünderung 
überseeischer  Colonien  war  in  der  Zwischenzeit  nicht  zu  denken, 
zugleich  wurde  das  Haus  Oranien  verhindert  durch  neue  Waffen- 
erfolge sich  im  Herzen  des  holländischen  Volkes  zu  befestigen. 
Erst  mit  dem  Ablauf  des  Waffenstillstandes  im  Jahr  162 1  durfte 
daher    die    „Westindische   Handelsgesellschaft"    begründet  werden. 

Wie  der  bereits  bestehenden  Ostindischen  Conipagnie  das 
ausschliesshche  Recht  gewährt  worden  war,  Handelsfahrten  nach 
Asien  zu  unternehmen  und  dort  Niederlassungen  zu  erobern  oder 
zu  stiften,  so  fiel  jetzt  Amerika  und  Afrika  (Guinea)  der  westin- 
dischen Compagnie  zu.  Das  ursprüngliche  Gesellschaftscapital  be- 
stand aus  6  Mill.  Gulden,  wovon  ^/g  allein  auf  Amsterdam  fielen. 
Während  die  ostindische  Compagnie  von  Patriciern  gegründet,  der 
Oldenbamevelt'schen  Partei  zugethan  war  und  von  Directoren 
heimlich  und  fast  unbeschränkt  verwaltet  wurde  ohne  genügende 
Aufsicht  der  Actionäre,  vertrat  die  westindische  Compagnie  die 
Interessen  der  Belgier  und  verstattete  ihren  Actionären  grosse 
Theilnahme  an  der  Einsicht  in  die  Verwaltung.  Die  ostindi- 
sche Compagnie  bereicherte  sich  fast  nur  durch  Handel,  die  west- 
indische betrieb  einen  geringfügigen  Waarenumsatz,  denn  ihr  erster 
und  letzter  Gedanke  war  eine  Beschädigung  und  Schwächung  der 
spanischen  Macht.  Anfangs  gingen  ihre  „Geschäfte"  glänzend, 
denn  sie  zahlte  zwischen  25  und  75  Procent  Dividende,  und  wenn 
sie  Mühe  gehabt  hatte  ihr  Stammkapital  von  6  Z^Iill.  Gulden  auf- 
zubringen, so  gelang  es  ihr  später  leicht,  es  um  12  Millionen  zu 
vermehren. 

Wenn  sie  aber  keinen  Handel  trieb,  fragt  wohl  mancher  Un- 
geduldige, wovon  zahlte  sie  dann  ihre  Gewinne?  Die  richtige  Ant- 
wort erräth  jeder  rasch,  der  die  damaligen  Zeiten  kennt,  denn  das 
Handwerk,  welches  sie  betrieb ,  würde  man  heutigen  Tages  See- 
raub nennen,  nur  passen  Begriffe  des  19.  nicht  auf  die  des  17. 
Jahrhunderts.  Die  glänzenden  Geschäfte  der  westindischen  Com- 
pagnie bestanden  beispielsweise  1624  in  der  Eroberung  und  Plün- 
derung von  Bahia,  im  Abfangen  der  spanischen  Silberflotte  1628, 
vor  allem  aber  1630  in  der  Eroberung  von  Pernambuco.  Die 
Silberflotte,  die  1628  vom  Admiral  Pieter  Heyn  theils  in  den 
Grund  gebohrt,  theils  weggenommen  wurde,  gewährte  eine  Beute 
von  14  Mill.  Gulden  oder  von  75  Procent  des  damaligen  Actien- 
capitals. 

Peschel,  Abhandlungen.    11.  9 


l'tQ  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Zu  allen  Zeiten  haben  auf  der  See  \iel  rohere  Zustände  ge- 
herrscht als  zu  Lande,  denn  aller  Seehandel  beginnt  mit  Seeraub 
und  behält  auch  längere  Zeit  einen  Piratengeschmack  bei.  Wie 
lange  ist  es  überhaupt  her,  dass  die  Rechte  der  sogenannten  Neu- 
tralen während  eines  Seekrieges  anerkannt  werden?  Der  Papst 
vertheilte  1494  allen  aussereuropäischen  Handel  zwischen  Spanien 
und  Portugal ;  Spanien  erhielt  die  westliche,  Portugal  die  östliche 
Erdhälfte  und  die  Theilung  wäre  streng  vollzogen  worden,  wenn 
man  nur  mathematische  Hülfsmittel  besessen  hätte ,  die  Grenzen 
wirklich  festzustellen.  Wagte  sich  unter  einer  andern  Flagge  irgend 
ein  Kauffahrer  auf  spanische  oder  portugiesische  Gewässer,  so 
wurde  er  wie  ein  Pirat  behandelt.  In  Kriegszeiten  war  ohnehin 
jedes  feindliche  Handelsschiff  gute  Beute,  wie  sich  diess  noch  jetzt 
wiederholen  kann  bei  einem  Seekriege  mit  den  Vereinigten  Staaten. 

Von  1636  bis  1642  fällt  der  höchste  militärische  Glanz  auf  die 
Compagnie,  doch  hatte  sich  bereits  etwas  früher  schon  eine  Ver- 
mögenszerrüttung kund  gegeben.  Ihren  Untergang  beschleunigte 
es,  dass  1641  Portugal  das  spanische  Joch,  unterstützt  von  den 
Holländern,  wieder  abwarf,  denn  einen  Bundesgenossen  durfte  man 
nicht  länger  plündern.  Die  Portugiesen  hatten  obendrein  im  Haag 
einen  sehr  befähigten  Botschafter,  der  tief  eingeweiht  in  die  Par- 
teibewegungen, der  westindischen  Compagnie  daheim  die  schlimm- 
sten Feinde  auf  den  Hals  hetzte.  Rasch  ging  es  nun  abwärts  mit 
ihr,  zumal  seit  der  Prinz  oder  Graf  Moritz  von  Nassau,  der  von 
1636 — 1644  in  der  neuen  Welt  der  Compagnie  glänzend  gedient 
hatte,  voll  Ueberdruss  und  Kummer  Brasilien  verliess,  welches 
Land  die  Compagnietruppen  zehn  Jahre  später  räumen  mussten. 
Wiederum  zehn  Jahre  später,  1664,  wurde  der  Gesellschaft  das. 
,,Neue  Niederland"  von  den  Briten  entrissen.  Viel  früher  schon 
hatte  Usselincx  der  Compagnie  den  Rücken  gekehrt.  Er  ging 
nach  Schweden  zu  Gustav  Adolph  und  betrieb  dort  die  Errich- 
tung der  sogenannten  Süd -Compagnie,  welche  auch  unter  dem 
Kanzler  Oxenstjerna  später  zu  Stande  kam  und  als  Mitbewerber 
am  Pelzhandel  in  Nordamerika  der  westlichen  Handelsgesellschaft 
einige  Unbequemlichkeiten  zufügte,  übrigens  aber  nach  kurzem 
Dasein  unrühmHch  erlosch. 

Ueber  Usselincx'  Laufbahn  herrscht  noch  jetzt  die  grösste 
Ungewissheit.  Wir  wissen  weiter  nichts,  als  dass  er  ein  brabanter 
Kaufmann    war,    der    nach    Zeeland    auswanderte.     Für    die    Ge- 


Zur  Geschichte  der  holländischen  Colonien  und  überseeischen  Entdeckungen,   i  ^  i 

Schichtschreibung  ist  er  weder  geboren  noch  gestorben,  und  wenn 
er  heute  plötzlich  wieder  auftauchte ,  bemerkt  Asher  launig ,  so 
hätten  wir  kein  Recht  uns  über  etwas  anderes  dabei  zu  verwun- 
dern, als  dass  er  ein  paar  Jahrhunderte  alt  geworden  sein  müsste. 
Im  Jahre  1636  kehrt  er  als  schwedischer  Gesandter  nach  Holland 
zurück  und  nocii  im  Jahre  1647  übergiebt  er  den  Generalstaaten 
eine  Denkschrift  zu  den  unzähligen  Denkschriften,  die  er  bereits 
verfasst  hatte.  Diess  ist  das  letzte  Lebenszeichen  von  dem  grossen 
Mann.  Herr  Asher  lässt  uns  merken,  dass  er  noch  einige  bisher 
unbekannte  Beiträge  zur  Lebensgeschichte  dieses  Staatsmanns  lie- 
fern könne,  aber  er  wolle  kein  Stückwerk  bringen  und  daher  be- 
schränkt er  sich  vorläufig  auf  eine  Darstellung  der  Schriften  des 
thätigen  und  feurigen  Belgiers,  die  classisch  in  ihrer  Art,  nicht 
bloss  geschichtlich  bedeutsam  dastehen,  sondern  auch  durch  die 
weit  ihrer  Zeit  vorauseilenden  staatswirthschaftlichen  Grundsätze 
uns  üben-aschen. 

Was  nun  Neu-Niederland  insbesondere  betrifft,  so  verstanden 
die  Holländer  darunter  die  Ostküste  der  heutigen  nordamerika- 
nischen Union  von  lat.  38°  bis  lat.  42°,  oder  mit  andern  Worten 
etwa  die  Staaten  New-York,  New-Jersey,  sowie  Stücke  von  Penn- 
sylvanien,  Maryland  und  Rhode-Island.  Der  Ruhm,  die  Küste  von 
Nordamerika  entschleiert  zu  haben,  gebührt  vier  Seefahrern ,  die 
sämmtlich  fremden  Mächten  dienten ,  nämUch  dem  Venetianer 
Giovanni  Gabotto,  der  unter  britischer  Flagge  fast  den  ganzen 
atlantischen  Ostrand  Nordamerika's  1498  befuhr,  sodann  dem  Flo- 
rentiner Verrazzano,  der  1524  im  französischen  Dienst  einen  Theil 
dieser  Küsten  wieder  sah,  und  eine  sehr  ungenaue  Karte  davon 
heimbrachte,  ferner  1525  Estevan  Gomez,  einem  Portugiesen  in 
spanischem  Dienst,  der  eine  recht  genaue  Karte  entwarf,  auf  der 
auch  der  Hudsonfluss  als  Rio  de  Gamas  oder  Damhirschfluss 
deutlich  wahrnehmbar  ist,  endlich  Henry  Hudson  1609,  einem 
Engländer  im  Dienste  der  Niederlande.  •  Wie  alle  seine  genannten 
Vorgänger  suchte  Hudson  eine  nordwestliche  Durchfahrt  nach 
China.  Jetzt  wo  wir  von  Jugend  auf  Erdkugeln  und  Weltkarten 
vor  uns  haben,  kostet  es  uns  einige  Mühe,  den  Eifer  der  Nord- 
westfahrer zu  begreifen.  Damals  aber  war  die  Hoffnung ,  einen 
kurzen  Seeweg  nach  Ostasien  auf  der  nördlichen  Erdhälfte  zu  fin- 
den völlig  berechtigt,  ja  wenn  man  die  Schriften  aus  jener  Zeit 
liest ,    stösst  man    sogar  auf  Aeusserungen  wie  etwa  die ,    dass  es 

9* 


1^2  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

wenig  Vertrauen  in  die  Weisheit  der  Vorsehung  beweise ,  wenn 
man  an  einer  Nordweststrasse  zweifle,  denn  so  gut  wie  es  im 
Süden  eine  Magalhäesstrasse  gebe,  müsse  im  Norden  auch  eine 
Meerenge  sich  finden,  die  neue  Welt  müsste  ja  gar  zu  ungeschickt 
geghedert  sein,  wenn  sie  sich  zur  Verhinderung  des  Seehandels 
zwischen  Europa  und  Asien  ausbreiten  sollte.  Hudson  befuhr  den 
Strom,  der  seinen  Namen  trägt,  bis  zur  Höhe,  wo  seine  Schiff- 
barkeit aufhört.  Ihm  folgten  dorthin  1611  holländische  Schiffe, 
die  mit  Indianern  Tauschgeschäfte  trieben,  16  14  wurde  der  Name 
Neu-Niederland  geschaffen  und  16 15  entstand  ein  befestigtes 
Magazin,  der  erste  Keim  von  Neu-Amsterdam,  der  grössten  Stadt 
der  neuen  Welt,  die  wir  jetzt  kennen. 

Die  innere  Geschichte  der  Colonie  ist  höchst  unerquicklich, 
denn  sie  besteht  aus  Misshandlungen  der  Rothhäute,  auf  welche 
die  Vergeltung  nicht  ausblieb,  Reibungen  mit  den  britischen  An- 
siedlern in  ,,Neu-England",  Anklagen  der  Verwaltung  von  Seiten 
der  Colonisten  bei  der  Nordwest-Compagnie  sowie  der  Nordwest- 
Compagnie  bei  den  Generalstaaten.  Die  Regierung  der  Colonie 
stand  unter  einem  ,,Director",  einem  Vicedirector ,  einem  rechts- 
kundigen Secretär  (fiscael)  und  aus  kleineren  Canzleibeamten.  Nur 
wenn  der  Director  die  Verantwortung  eines  Beschlusses  von  sich 
abwälzen  wollte,  berief  er  einen  Rath  aus  den  Colonisten. 

Von  vornherein  war  kein  rechtes  Bleiben  für  die  Holländer 
in  den  Vereinigten  Staaten,  denn  sie  wurden  nur  von  den  Briten 
geduldet,  die  nach  damaligem  Völkerrecht  als  Entdecker  auch  die 
Eigenthümer  des  Landes  waren.  Die  niederländischen  General- 
staaten unterstützten  die  Ansprüche  der  Compagnie  nicht  kräftig, 
sondern  erkärten  sogar  am  25.  October  1634,  dass  sie  sich  in 
den  Rechtsstreit  zwischen  der  Nordwest-Compagnie  und  der  eng- 
lischen Krone  nicht  einmischen  würden.  Ueberhaupt  waren  die 
überseeischen  Unternehmungen  der  Holländer  keine  nationalen 
Thaten,  sondern  nur  Privatspeculationen ,  wie  ja  auch  die  ostin- 
dische Compagnie  der  Engländer  lange  Zeit  nur  eine  Actiengesell- 
schaft  geblieben  ist. 

Was  die  Reibungen  mit  den  Rothhäuten  betrifft,  so  bestätigt 
Asher  abermals,  dass  die  ursprüngliche  Verschuldung  auf  Seite  der 
Europäer  lag.  Erstens  verheerte  das  Hornvieh  der  Holländer  die 
unbeschützten  Maisfelder  der  Indianer,  dann  wurden  die  letzteren 
ohne  weiteres  besteuert  und  der  nächste  Nachbarstamm,    der  sich 


Zur  Geschichte  der  holländischen  Colonien  und  überseeischen  Entdeckungen. 


13: 


um  Schutz  flehend  vor  einem  feindUchen  Stamme  auf  holländisches 
Gebiet  geflüchtet  hatte,  schonungslos  mit  Weib  und  Kind  von  den 
Colonisten  ermordet,  weil  etliche  Zeit  zuvor  einer  der  Indianer 
«inen  weissen  Ansiedler,  jedoch  nicht  olme  gerechte  Ursache  er- 
schossen hatte. 

Die  Insel  Manhattan  war  den  Rothhäuten  um  60  Fl.  abge- 
kauft worden,  jetzt  wird  bisweilen  für  einen  Quadratschuh  das 
Zehnfache  gezahlt.  Von  der  ursprünglichen  Stadt  Neu-Amsterdam 
giebt  es  vier  bildliche  Ansichten,  die  älteste  stammt  aus  dem 
Jahr  1649  und  ist  von  Asher  wieder  reproducirt  worden').  Sie 
zeigt  ein  Fort  mit  zerstreuten  Häusern,  im  Vordergrund  den 
Galgen.  Nach  dem  zweiten  Bilde  aus  dem  Jahr  1656  war  Neu- 
Amsterdam  schon  zu  einem  sittsamen  Städtchen  erwachsen,  und 
1667,  auf  der  dritten  Ansicht,  konnte  es  sich  als  Stadt  mit  andern 
Städten  in  Holland  vergleichen.  Seitdem  jst  es  fortwährend 
langsam  gewachsen,  im  Geschwindschritt  dagegen  in  den  letzten 
30  Jahren.  So  hat  Gerstäcker  kürzlich  in  seinen  neuern  Reisen 
das  ältere  New-York,  wie  er  es  1837  sah,  verglichen  mit  dem 
neuen,  wie  er  es  1867  wieder  fand.  Statt  der  kleinen  Backstein- 
häuser am  Broadway  fand  er  Marmorpaläste  wieder  und  welchen 
Verkehr  in  den  Strassen?  Früher  sass  fast  jeder  zu  Pferde  und 
vor  den  Schenken  befanden  sich  hölzerne  Gestelle  mit  eisernen 
Haken,  um  die  Zügel  "der  Pferde  darüber  werfen  zu  können. 
Jetzt  sieht  man  fast  keinen  Reiter  mehr  in  den  Strassen ,  dafür 
unzählige  Omnibusse  und  überall  obendrein  Schienengeleise.  Aber 
auch  der  Schmutz  ist  gewachsen  und  die  Marmorpaläste  spiegeln 
sich  bei  nassem  Wetter  in  dem   grundlosen  Strassenbrei. 

Den  Namen  New-York  erhielt  die  Stadt  erst  1664,  als  sie 
am  5.  September  ohne  vorheriges  Blutvergiessen  sich  den  Neu- 
Engländern  übergab.  Geschichtlich  neu  ist  Ashers  Bemerkung, 
dass  der  Hauptanstifter  des  Krieges  von  1664 — 1667  zwischen 
Holland  und  Grossbritannien  der  englische  Gesandte  im  Haag 
Sir  George  Downing  gewesen  sei,  ein  geborner  Neu  -  Engländer 
und  einer  der  frühesten  Zöglinge  von  Howard  College.  Die  neuen 
Niederlande  wurden  im  Frieden  zu  Breda  1667  förmlich  an 
England  abgetreten,  und  wenn  sie  auch   1673   durch    eine    nieder- 


« 


i)  Es  ist  die  nämliche,    von    der    sich    ein  Holzschnitt   im  Ausland    1866, 
1221;  befindet. 


I'S^  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

ländische  Flotte  abermals  erobert  wurden,  so  fielen  sie  doch  schon 
im  nächsten  Jahre  wieder  durch  den  Friedensschluss  von  West- 
minster  an  die  Engländer  zurück. 

Interessant  ist  die  Bemerkung  Ashers:  dass  die  ältesten  Kar- 
ten der  neuen  Niederlande  von  1614  und  1616,  jetzt  noch  in 
Handschrift  vorhanden ,  den  später  gestochenen  sämmtlich  als 
Muster  gedient  haben ,  durch  höhere  Genauigkeit  sich  aber  vor 
diesen  merklich  auszeichnen.  Wir  pflegen  in  der  Regel  zu  sagen 
und  zu  denken,  dass  kein  menschhches  Werk,  also  auch  kein 
kritischer  Katalog  als  vollendet  betrachtet  werden  könne.  Es  ist 
daher  ein  grosses  Wort,  mit  dem  Asher  seine  Einleitung  be- 
schliesst:  „Da  wir  alles  durchsucht  haben,  wo  Suchen  verstattet 
war,  dürfen  wir  mit  grösster  Sicherheit  behaupten,  dass,  ausser 
den  von  uns  angeführten,  keine  gedruckte  Urkunde  in  Bezug  auf 
die  Geschichte  Neu-Niederlands  ferner  mehr  entdeckt  zu  werden 
vermag." 

Das  andeire  Buch  von  Tiele  gleicht  weit  mehr  einem  Katalog, 
der  den  Samrnlern  die  genauen  Titel  und  Kennzeichen  der  ge- 
suchten Schätze  angeben  will ,  denn  von  allen  Büchern ,  deren 
Inhalt  bereits  Camus  zergliedert  hat,  beschränkt  sich  der  Verfasser 
nur  auf  bibliographische  Bemerkungen,  dennoch  finden  wir  bei 
einzelnen  Raritäten  werthvoUe  historische  Erörterungen  eingeschal- 
tet. Auch  besitzt  der  Band  eine  chronologische  Tafel  der  wich- 
tigsten Reisen  und  -  überseeischen  Unternehmungen  der  Holländer, 
die  etwa  bis  Abel  Tasmanns  Zeit  hinaufreicht.  Hauptsächlich 
aber  werden  uns  Aufschlüsse  über  die  De  Bry'schen  und  Hulsius-' 
sehen  Sammelwerke  geboten. 

Nicht  zu  übersehen  ist  eine  Notiz  über  die  22  Ausgaben  der 
Reisen  von  Le  Maire  und  Schouten.  Ihre  Fahrt  um  die  Welt 
gehört  in  die  Jahre  16 15 — 16 17  und  wurde  unternommen  in  den 
Schiffen  Eendracht  und  Hoorne.  Vor  dieser  Reise  dachte  man 
sich  ,  dass  das  heutige  Feuerland  als  Theil  zu  einem  geräumigen 
Continent  rings  um  den  Südpol  gehöre,  mit  dem  auch  das  heu- 
tige Australien  zusammenhängen  sollte.  Daher  kannte  man  ausser 
der  Magalhaesstrasse  keinen  Zugang  zum  stillen  Meer.  Jene 
Fahrt  wurde  auf  Kosten  unternehmender  Kaufleute  der  Stadt 
Hoorn  ausgeführt,  und  als  die  Holländer  an  die  Ostspitze  von 
Feuerland  gelangten ,     fanden    sie    zwischen    dieser   und    der  Insel 


Zur  Geschichte  der  holländischen  Colonien  und  überseeischen  Entdeckungen,    j  -j  r 

Staatenland ,  die  von  ihnen  ihren  Namen  erhielt,  eine  ganz  neue 
Strasse  in  die  Südsee.  Sie  waren  die  ersten  Seeifahrer,  welche 
<lie  Südspitze  der  neuen  Welt  umsegelt,  und  ihr  den  Namen  ihrer 
Vaterstadt  gegeben  haben,  daher  wir  streng  genommen  Cap  Hoorn 
statt  Cap  Hörn  schreiben  müssen.  Das  Gespenst  eines  Südpolar- 
landes verschwindet  desswegen  noch  nicht,  denn  wie  früher  Feuer- 
land, so  wurde  die  kleine  Insel  Staatenland  jetzt  als  die  Nord- 
westecke des  antarktischen  Continents  betrachtet.  Die  Strasse 
selbst  bekam  und  führt  noch  heute  den  Namen  von  Jaques  le 
Maire.  Ueber  die  Fahrt  selbst  giebt  es  zwei  Berichte,  einen  von 
le  Maire  und  einen  unter  Schoutens  Namen,  letzterer  von  diesem 
jedoch  verleugnet  und  missbilligt.  Schon  damals  war  der  Neid 
über  Namensverzweigung  so  giftig  wie  heutigen  Tages,  und  so 
wird  denn  im  zweiten  Berichte  behauptet,  die  Strasse  hätte  Schou- 
tenstrasse  genannt  zu  werden  verdient,  denn  nur  dem  nautischen 
Talent  seines  Steuermannes  verdanke  le  Maire  seine  Erfolge. 
Umgekehrt  wird  in  dem  Berichte,  der  le  Maire's  Namen  trägt, 
Schoutens  Benehmen  missbilligt  und  seine  Person  ins  Lächerliche 
gezogen.  Man  gewahrt  daraus,  dass  auf  dem  Schiffe  Eendracht 
die  Eintracht  nicht  stark  gewesen  sem  kann.  Unser  Verfasser 
führt  übrigens  näher  aus,  dass  jedenfalls  die  Anregung  und  der 
Gedanke  jener  Erdfahrt  von  le  Maire  und  nicht  von  Schouten 
ausgegangen  war. 

Dankenswerth  sind  auch  einige  Notizen  über  Hessel  Gerrit 
oder  Gerritsz  nach  holländischer  Schreibweise  (so  viel  wie  Gerrits, 
Gerard' s  Sohn).  Er  war  ein  Kartenstecher  und  Herausgeber 
geographischer  Mittheilungen,  so  dass  wir  ihm  und  Linschooten, 
sowie  de  Veer  die  besten  Aufschlüsse  über  die  Unternehmungen 
der  Holländer  zur  Aufsuchung  einer  nordöstlichen  Durchfahrt, 
also  der  Fahrten  nach  Nowaja  Semlja  und  durch  die  Weigats- 
strasse  verdanken.  In  jene  Zeit  (1596)  fällt  auch  die  Entdeckung 
von  Spitzbergen  durch  Jacob  van  Heemskerk  und  Willem  Barent. 
Barent  segelte  von  Spitzbergen  bekannthch  um  die  Nordspitze 
Nowaja  Semlja's,  der  erste  und  einzige  Seemann,  dem  diess  bis 
jetzt  gelungen  ist,  überwinterte  dort,  musste  jedoch  sein  Schiff 
zurücklassen  und  in  einem  Boote  heimkehren;  unterwegs  ereilte 
ihn  der  Tod.  Ueber  diese  Reise  besassen  wir  eine  wichtige 
Urkunde,    nämlich   in   Pontanus   Geschichte  von    Amsterdam  eine 


120  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Karte,  gestochen  von  Hondius,  einem  Zeitgenossen  des  Barent,  die 
den  Curs  seines  Schiffes  im  Jahre  1596  angab.  Wir  erfahren  jetzt 
von  Tiele,  dass  eine  Originalkarte  von  Barent  selbst,  gestochen 
1598  nach  seinem  Tode,  vorhanden  ist,  die  Hondius  nur  wieder- 
holt hat  mit  Hinzufügung  ethcher  Punkte,  die  Hudson  1609  be- 
suchte, sowie  der  apokryphen  Objecte  Matsin  und  Sir  Hugh 
Willoughby's  Land. 


14.    Die  grossen  Entdeckungen  in  den 
Jahren  1849—1856. 

(Deutsche  Vieiteljahrsschrift.      1858.     Heft  I.      Xr,  LXXXI.) 

Die  Räume  auf  der  Oberfläche  unseres  Planeten,  welche  noch 
unbetreten  von  Europäern  oder  völlig  unbekannt  geblieben  sind, 
haben  im  Laufe  von  acht  Jahren  ausserordentlich  an  Flächeninhalt 
verloren,  und  es  scheint  beinahe,  als  sollten  wir  bald  das  stolze 
Wort  auszusprechen  vermögen,  dass  überhaupt  kein  Punkt  der 
Erde  ihren  Bewohnern  unerreichbar  sei.  Räume  in  der  Nähe  des 
Nordpols ,  auf  Avelchen  das  Siegel  des  arktischen  Winters  ruhte, 
und  angeblich  leblose ,  von  den  Sonnenstrahlen  leer  gebrannte 
Flächen  grosser  Continente  sind  beschritten  worden.  Namentlich 
Afrika,  welches  noch  vor  kurzem  das  räthselhafte  Festland 
genannt  wurde,  kann  trotz  seiner  Massenhaftigkeit  bald  als  be- 
wältigt betrachtet  werden.  In  früheren  Zeitaltern  und  noch  jetzt 
waren  und  sind  es  zwei  grosse  Triebfedern ,  welche  zur  Bereiche- 
rung der  Erdkunde  führten,  die  Handels-  und  die  Bekehrungslust. 
Auf  den  Fus"Stapfen  des  Missionairs  folgte  der  Kaufmann  und 
mit  den  Handelsgütern  wanderten  die  Religionen.  Weit  seltener 
geschahen  Entdeckungen  durch  Heer-  oder  Raubzüge.  Von  der 
ersten  Art  ist  die  grösste  der  Zug  des  Macedoniers  nach  Indien, 
den  man,  wenn  man  zu  idealisiren  liebt ,  als  eine  bewaffnete  geo- 
graphische Expedition  betrachten  kann,  von  der  zweiten  Art  ist 
die  Niederlassung  normannischer  Seeräuber  auf  Island  berühmt  ge- 
worden, weil  ihr  die  Ansiedlungen  auf  Grönland,  die  Fahrten  nach 
dem  Weinland  (Vereinigte  Staatenküste)  und  nach  den  grossen 
arktischen  Sunden  folgten.  GewöhnHch  ist  jede  solche  That  von 
unberechenbaren  sittlichen  Folgen  begleitet,  sowohl  für  das  vor- 
dringende, wie  für  das  aufgesuchte  Volk.     Für  das  erstere  erweitert 


1-7  8  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

sich  der  Kreis  der  Erkenntnisse,  die  Anzahl  der  Thatsachen,  und 
mit  dieser  Anzahl  die  Wahrnehmung  neuer  Wahrheiten,  für  das 
andere  beginnt  bei  der  ersten  Berührung  mit  einer  andern  Civili- 
sation  eine  neue  Zeitrechnung,  oft  genug  sogar  eine  Abrechnung 
mit  der  Zeit.  Wo  der  weisse  Mensch  seinen  Fuss  in  ein  Land 
setzt,  welches  nicht  durch  ein  feindseliges  Klima  vor  dem  An- 
kömmling gesichert  ist,  da  verschwindet  gewöhnlich  die  Urbe- 
völkerung oder  das ,  was  wir  so  nennen.  So  ist  der  Europäer 
manchen  Nationen  schon  zum  Todesengel  geworden.  Siebzig 
Jahre  nach  Ankunft  der  Europäer  waren  alle  Bewohner  Cuba's, 
Haiti's,  der  Bahamainseln,  Puerto  Rico's  und  Jamaica's  ausgestorben. 
Die  alten  Stämme  der  Rothhäute  im  Osten  der  Vereinigten  Staaten 
sind  längst,  man  möchte  sagen  von  der  europäischen  Civilisation 
in  den  Boden  gepflügt  worden,  oder  irren  zersprengt  und  schatten- 
haft in  der  Nähe  des  grossen  westlichen  Gebirgsdammes  umher. 
Dort  erreicht  sie  die  halbverwilderte  Vorhut  der  westlichen  Staaten, 
der  Pelzjäger  und  Pelzhändler,  der  sie  mit  Branntwein  vergiftet 
und  zur  Büffeljagd  antreibt.  Allein  alle  guten  Dinge  der  Erde 
erreichen  ihr  Ende  und  die  fruchtbaren  Büffelheerden  fangen  an, 
sich  zu  verdünnen,  seit  ihnen  rastlos  nachgestellt  wird.  Der  Büffel 
ist  im  Aussterben  begriffen,  und  durch  die  Indianerstämme  dringt 
die  prophezeihende  Wehklage,  dass  der  rothe  Jäger  mit  diesem 
Jagdthiere  von  der  Erde  scheiden  werde.  Gleiche  Erscheinungen 
zeigen  sich  in  der  Südsee.  Seit  wir  statistische  Ermittelungen  über 
einige  Inselgruppen  besitzen,  wird  die  rasche  Entvölkerung  der 
Sandwich-  und  Gesellschaftsinseln  erschreckt  wahrgenommen  und 
wir  werden  bald  die  Stämme  dieser  heitern  Völkerschaften  im 
„Wochenblättchen  lesen"  können.  Es  liegt  etwas  tödtliches  im 
Dunstkreis  europäischer  Civilisation  für  unreif  gebliebene  Menschen- 
stämme. Wo  sich  Europäer  niederlassen,  bringen  sie  die  Krank- 
heiten der  alten  Welt  und  die  Laster  der  Civilisation  mit  sich. 
Die  durchschnittliche  Dauer  des  Lebens  scheint  sich  nach  der 
europäischen  Berührung  zu  verkürzen ,  während  die  Frauen  auf- 
hören, durch  Fruchtbarkeit  die  Verluste  zu  ersetzen.  Solche  trübe 
Gedanken  verkümmern  die  Freude  an  dem  grossen  Werke  der  Ent- 
deckungen. Selbst  der  grosse  afrikanische  Entdecker  Livingstone, 
der  mit  wahrer  evangeUscher  Liebe  an  den  von  ihm  zuerst  besuchten 
Völkerschaften  Südafrika's  hängt,  äussert  an  einer  Stelle  seine 
Wehmuth  darüber,  dass  seine  Entdeckungen  den  Untergang  manches 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren   1849 — 1856.  jßg 

begabten  Menschenschlags  nach  sich  ziehen  werden.  Das  Er- 
scheinen des  weissen  Mannes  und  seiner  Civilisation  ist  für  alle 
unentwickelten  Völker  unheilvoll  gewesen,  und  ein  merkwürdiges, 
unergründliches  Verhängniss  will  es,  dass  das  Evangelium,  sonst 
4ie  Botschaft  des  Lebens,  hier  zur  Todesverkündigung  wird,  nicht 
der  Lehre  wegen,  sondern  weil  mit  der  Lehre  der  tödtliche  euro- 
päische Hauch  die  schwächeren  Menschenracen  hinwegrafft. 

Diese  zerstörenden  Kräfte  unserer  Civilisation  richten  sich 
nicht  bloss  gegen  die  Geschöpfe  der  eigenen  Art,  sondern  sie  sind 
der  ganzen  belebten  Natur  bedrohlich.  Wohin  der  Europäer  den 
Fuss  gesetzt  hat,  da  kündigt  er  der  Herrschaft  des  Pflanzenreiches 
den  Krieg  an.  Unser  eigener  Welttheil  ist  schon  völlig  kahl  ge- 
worden, und  das  Klima  hat  sich  dadurch  beträchtlich  geändert. 
Völlig  ihres  Waldschmuckes  beraubt  wurden  Madeira,  die  Canarien, 
die  Antillen,  und  in  grösstem  Massstab  schreitet  die  Zerstörung 
in  Nordamerika  vor.  Freilich  lassen  sich  ungeheure  Ländermassen 
nicht  im  Lauf  weniger  Geschlechter  lichten,  allein  bei  dem  hastig 
anschwellenden  Wachsthum  des  amerikanischen  Volkes  multipli- 
ciren  sich  täglich  die  zerstörenden  Kräfte.  Ist  hier  nur  eine  Ver- 
armung an  Individuen  zu  fürchten,  so  ist  die  Natur  auch  einer 
Beraubung  ihrer  Arten  durch  das  streitbarste  ihrer  Geschöpfe  aus- 
gesetzt. In  Europa  sind  mit  geringen  Ausnahmen  beinahe  alle 
reissenden  Thiere  aus  der  Natur  in  die  Kästen  der  Menagerien 
gedrängt  worden.  Das  fruchtbarste  Geschlecht  und  das  frucht- 
barste Element,  Fische  und  See,  sind  den  Nachstellungen  des 
weissen  Menschen  nicht  gewachsen.  Der  Lachs,  einst  an  allen 
Seeküsten  Europa's  so  häufig,  dass  alte  Dienstbotenordnungen 
deutscher  Hansestädte  den  Herrschaften  verboten ,  öfter  als  zwei- 
mal die  Woche  ihren  Leuten  diese  Nahrung  aufzudringen,  hat  die 
Seltenheit  eines  Leckerbissens  erreicht  und  der  schwindenden  An- 
zahl wird ,  weil  die  Marktpreise  steigen ,  gerade  desshalb  mit  um 
so  grösserer  Aufmerksamkeit  nachgestellt ,  so  dass  ein  Aussterben 
dieser  Art  aus  der  Statistik  der  schottischen  und  britischen  Fischereien 
noch  in  diesem  Jahrhundert  für  europäische  Gewässer  eintreten 
möchte.  Selbst  der  Häring,  der  sich  mit  einer  incommensurablen 
Kraft  vermehrt,  beginnt  seltener,  die  Häringszüge  dünner  zu  werden. 
Die  Entwickelung  der  Fische  vom  Ei  bis  zur  Mannbarkeit  ist  so  un- 
endlichen Gefahren  ausgesetzt,  dass  die  Natur  aus  Berechnung  sie 
mit  tausendfältiger  Fruchtbarkeit    begabt   hat.     So  vermochte  sich, 


I^O  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

den  unzähligen  Verheerungen  zum  Trotz ,  dennoch  die  Art  zu 
erhalten.  Nur  eins  schien  die  Natur  bei  ihrem  Calcul  nicht  völlig 
erwogen  zu  haben,  die  grenzenlose  Mordlust  des  Menschen,  dessen 
tückische  Garne  der  fruchtbaren  See  mehr  Bewohner  entziehen, 
als  alle  gefrässigen  Raubthiere  dieses  Elementes.  Wenn  selbst 
Fischarten  dieser  Katastrophe  entgegeneilen ,  wie  hülflos  sind  da- 
gegen andere  Bewohner  der  See ,  Wallfische ,  Wallrosse  und  See- 
hunde! Grosse  Küstenstrecken  sind  bereits  ihrer  Strandbewohner 
gänzlich  durch  den  Robbenschlag  beraubt  worden  und  die  Seehund- 
jäger müssen  immer  neue  noch  unberührte  Küsten  aufsuchen,  um 
ihr  Zerstörungswerk  fortzusetzen.  Der  wunderliche  Archipel  des 
Feuerlandes,  von  dem  wir  noch  keine  vollständige  Karte  besitzen, 
wird  alljährlich  von  Schiffen  durchspäht,  welche  neue  Sunde  und 
Buchten  entdecken ,  um  dort  Ernte  zu  halten  und  sie  entvölkert 
zurück  zu  lassen.  Der  atlantische  und  pacifische  Ocean  ist  all- 
mählich arm  geworden  an  Wallfischen.  Die  Wallfischjäger  sind 
gezwungen ,  bis  zu  den  höchsten  arktischen  und  antarktischen 
Breiten  vorzudringen,  um  neue  noch  nicht  entvölkerte  Jagdgründe 
aufzusuchen.  Auf  den  Spuren  der  edlen  Franklinsucher  sind  die 
kühnen  Jäger  in  früher  völlig  unbekannte  Sunde  vorgedrungen, 
aber  auch  diese  werden,  wenn  die  Jagd  ergiebig  gewesen,  all- 
mählich ihre  Bevölkerung  verlieren.  Eine  ähnUche  Verödung 
erreicht  mit  beinahe  rascheren  Schritten  die  grossen  Jagdgebiete 
der  Pelzthiere.  Der  ,, Vetter"  des  rothen  Mannes,  der  kluge  Biber, 
ist  vor  der  ,, westwärts  fliehenden  Weltgeschichte"  zurückgewichen. 
Er  liebt  ohnediess  nicht  das  Geräusch  der  Civilisation  und  das 
Klingen  der  Axt  im  Hochwald.  Je  seltener  er  wird,  desto  theurer 
bezahlt  man  seine  Haut,  desto  eifriger  wird  ihm  nachgestellt,  desto 
näher  rückt  seine  Todesstunde.  Der  Ertrag  der  Pelzausbeute 
nimmt  jährlich  ab,  sowohl  in  den  Hudsonsbaigebieten,  wie  im 
russischen  Ostasien.  Die  letzten  russischen  Entdeckungen  haben 
ein  neues  Jagdgebiet  im  Norden  des  Amur  aufgeschlossen,  wo  der 
Verbreitungsbezirk  des  Tigers  zusammentrifft  mit  dem  der  Pelz- 
thiere und  wo  sich  noch  Zobel  und  anderes  seltenes  Wild  in 
uranfänglicher  Fülle  finden.  Einmal  entdeckt,  wird  auch  diese 
noch  unangetastete  Provinz  rasch  ausgeräumt  sein. 

Am  tödtlichsten  aber  wirkt  das  Erscheinen  des  weissen  Mannes 
auf  die  Dickhäuter,  namentlich  auf  die  Elephanten.  Die  afri- 
kanischen Reisenden  Andersson  und  Livingstone  stiessen  noch  auf 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren   1849 — 1856.  j^j 

zahlreiche  Elephantenheerden.  Nach  der  Beschreibung  des  letzteren 
glichen  die  grossen  Grassteppen  in  der  Nähe  des  Zambesi  voll- 
ständig einem  Bilde  des  Paradieses  in  den  ersten  Schöpfungstagen. 
Heerden  gehörnter  Thiere  und  Elephanten  grasten  in  grösstem 
Frieden  durch  einander  und  flohen  noch  nicht  scheu  vor  der  An- 
näherung des  Menschen.  Dem  Elephanten  wurde  bisher  fast  nur 
wegen  seines  Fleisches  nachgestellt,  denn  die  Zähne  verwendete 
man  höchstens  zu  Grabornamenten ,  ohne  Ahnung,  dass  sie  einen 
gesuchten  und  theuer  bezahlten  Artikel  an  der  Küste  darstellten. 
Sowie  aber  ,Livingstone  am  Ngamisee  erschienen  war,  wurde 
Elfenbein  Geld  und  Gut,  und  die  schlauen,  handelslustigen  Stämme 
von  dem  Werth  ihres  Landesproductes  unterrichtet ,  hielten  ihre 
Habe  fest,  da  sie  allein  nur  mit  Elfenbein  die  vielbegehrten  euro- 
päischen Waaren  zu  bezahlen  vermögen.  So  lange  indessen  der 
Elephant  nur  den  schwachen  Waffen  der  halbnackten  Eingebornen 
ausgesetzt  blieb,  war  seine  Ezistenz  nur  wenig  bedroht,  aber  mit  dem 
ersten  Büchsenknall  ist  der  paradiesische  Frieden  unterbrochen.  Ein 
einziger  Jäger,  Herr  Oswell,  Livingstone's  mehrfacher  Begleiter,  hat 
in  einem  Jahr  mehr  Elephanten  erlegt,  als  ein  ganzes  Geschlecht  der 
Stämme  am  Ngamisee.  Die  Vernichtung  jener  grossen  Heerden 
würde  in  früheren  Zeiten  einen  langsameren  Gang  genommen  haben, 
allein  bei  der  grossen  Uebervölkerung  der  Länder  unserer  Gesittung 
und  bei  den  ausserordentlichen  Leistungen  unserer  Civilisation 
gränzen  die  Entdeckungen  und  ihre  Folgen  so  nahe  zusammen, 
wie  Körper  und  Schatten.  Kaum  war  das  Gold  in  Cahfornien 
gefunden,  so  gab  es  auch  einen  Staat  an  der  Südsee,  einen  Stern 
mehr  im  Banner  der  Union.  Die  Versetzung  ganzer  Bevölkerungen, 
der  Aufbau  von  Städten ,  die  Cultivirung  von  Einöden ,  die  Grün- 
dung neuer  Gesellschaften  sind  jetzt  das  Werk  weniger  Jahre.  Wo 
der  Entdecker  seinen  Fuss  hinsetzt,  da  rückt  auch  die  europäische 
Civilisation  nach  und  behauptet  ihre  Gegenwart  ununterbrochen, 
und  wäre  es  auch  nur  durch  die  Repräsentation  ihrer  Gewerbs- 
producte.  Die  Einführung  des  Feuergewehres  folgte  unmittelbar 
der  Entdeckung  des  Ngamisees ,  der  zwei  Jahre  nach  Livingstone 
bereits  von  europäischen  Hausirem  besucht  wurde.  Seitdem  sind 
die  Stämme  am  See  mit  Schiessgewehren  bewaffnet  worden ,  und 
dieser  Umstand  hat  bereits  grosse  politische  Folgen  gehabt.  Wir 
erwähnen  ihn  aber  nur  hier,  um  auf  die  Folgen  für  das  Thierreich 
aufmerksam  zu  machen,    denn   natürlich  muss,    sobald  sich  Nach- 


142 


Zur  Geschichte  der  Geographie. 


frage  und  Absatz  nach  Elfenbein  einstellt,  nothwendig  die  ver- 
heerende Jagd  auf  die  Dickhäuter  beginnen  und  der  Elephant 
dort  so  selten  werden,  wie  in  allen  vom  europäischen  Verkehr 
erreichten  Räumen  Afrika's. 

Wir  haben  diese  Bemerkungen  vorausgeschickt ,  um  auch  die 
Nachtheile  der  Entdeckungen  zu  zeigen  und  damit  man  nicht  ver- 
gesse, welches  Verhängniss  jeder  Europäer  dorthin  trägt,  wohin  er 
seinen  Schritt    setzt,    dass    sein  Erscheinen    sogar   den    physischen 

Besitz  ganzer  Welttheile  bedroht. 

*  * 

* 

Die  beiden  grossen  arktischen  Entdeckungen  ,  der  nordwest- 
lichen Durchfahrt  und  des  offenen  Polarmeeres  an  der  Westküste 
Grönlands,  verdanken  wir  dem  traurigen  Geheimniss  von  Sir  John 
Franklins  und  seiner  Gefährten  Ende.  Am  Anfange  unseres  Jahr- 
hunderts bis  zum  Jahre  1818  kannte  man  von  den  zwischen  dem 
Nordrande  Amerika' s  und  der  Westküste  Grönlands  liegenden  Inseln 
und  Sunden  nur  die  Baffinsstrasse  und  die  Wasserverbindungen, 
welche  nach  der  Hudsonsbai  führten.  Selbst  im  Jahre  1818  noch 
kehrte  John  Ross  der  ältere  von  einer  arktischen  Entdeckungsreise 
mit  dem  trügerischen  Ergebniss  zurück  ,  dass  die  Baffinsbai  rings 
von  Land  eingeschlossen  sei  und  nur  eine  einzige  Mündung,  die 
Davisstrase,  besitze.  Obgleich  wir  jetzt  drei  andere  Ausgänge, 
nach  Norden  den  Smithsund ,  nach  Nordwesten  den  Jonessund, 
nach  Westen  die  Barrowstrasse  kennen,  so  haben  doch  die  reichUch 
vorhandenen  Erfahrungen  arktischer  Seefahrer  uns  belehrt,  dass 
wir  die  Irrthümer  des  Kapitän  Ross  sehr  verzeihlich  finden,  denn 
manche  dieser  Sunde  sind  nur  bisweilen  offen ,  bisweilen  ver- 
schlossen, und  es  hält  dann  ausserordentlich  schwer,  zu  bestimmen, 
ob  man  am  Ausgang  einer  zugefrorenen  Strasse  oder  eines  zu- 
gefrorenen Golfes  sich  befinde.  Besonders  begünstigt  war  daher 
Barry,  der  18 19  aus  der  Baffinsbai  durch  den  Lancastersund  und 
die  Barrowstrasse  in  das  grössere  Becken  des  Melvillesundes  ein- 
drang und  im  Norden  dieses  Gewässers  an  der  von  ihm  entdeckten 
Melvilleinsel  im  Winterhafen  seine  Schiffe  einfrieren  Hess.  Dreissig 
Jahre  verstrichen,  ehe  dieser  Punkt  je  wieder  erreicht  wurde. 
Eine  neue  Reihe  arktischer  Fahrten  eröffnete  Sir  John  Franklin 
mit  dem  Erebus  und  Terror  am  Beginn  des  Jahres  1845.  Ge- 
sehen wurden  diese  Schiffe  in  der  Baffinsbai  zum  letzten  Male  im 
Juli    1845.      Die    späteren    Franklinsucher   stiessen    dann    auf    das 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren   1849 — '856.  i^-^ 

Winterlager  der  Schiffe  bei  der  Beecheyinsel  in  der  Barrowstrasse, 
wo  man  den  Leichenstein  eines  Matrosen  fand,  der  am  i.  Januar 
1846  am  Bord  des  Terror  gestorben  war.  Das  Geschwader  muss 
dann  im  Sommer  1846  die  Winterstation  in  der  Barrowstrasse  ver- 
lassen haben  und  nach  Westen  vorgedrungen  sein.  Da  von  den 
Franklinsuchern  der  arktische  Archipel  beinahe  völlig  erforscht  und 
nirgend  Spuren  der  Schiffe  entdeckt  worden  sind,  so  bleiben  jetzt 
nur  zwei  Möglichkeiten  für  den  späteren  Curs  der  Schiffe  nach 
den  noch  unbekannten  Räumen  dieser  Inselwelt  übrig.  Entweder 
das  Geschwader  erreichte  den  Melvillesund  und  wurde  an  die 
Nordküste  des  Landes  oder  der  Inseln  getrieben ,  die  wir  jetzt 
an  ihren  verschiedenen  Punkten  Prinz  Albert,  Prince  of  Wales, 
Victoria-  oder  Wollastonland  nennen,  wo  sie  dann  einfroren,  oder 
FrankUn  ging  am  Thore  des  Melvillesundes  durch  die  Peelstrasse 
gegen  Süden  nach  dem  noch  unerforschten  Victoriacanal.  Dort 
lagen  seine  Schiffe  eingefroren  oder  liegen  sie  noch  heutigen  Tages, 
denn  an  einen  völligen  Untergang  durch  Quetschung  (nip)  von 
Eisbänken  ist  desswegen  nicht  zu  denken,  weil  sich  etliche  Personen 
der  Mannschaft  später  noch  retten  konnten.  Es  ist  leicht  möglich, 
dass  die  Schiffe  noch  heutigen  Tages  eingefroren  liegen,  allein  es 
kann  diess  nur  in  der  Nähe  jener  Küsten  und  Strassen  geschehen 
sein,  denn  alle  übrigen  Punkte  haben  eine  strenge  Visitation  er- 
litten. Es  ist  aber  auch  möglich,  dass  die  eingefrorenen  Schiffe 
in  einem  spätem  Sommer  wüeder  erlöst  wurden  und  mit  der  Eis- 
bank, die  sie  einbettete,  von  den  Strömungen  durch  den  Lancaster- 
sund  in  die  Baffinsbai  und  in  das  atlantische  Meer  getragen,  bei 
Neufundland  gesehen  werden  konnten.  Wie  lange  Franklin  und 
seine  Gefährten  bei  den  eingefrorenen  Schiffen  ausharrten,  bleibt 
den  Vermuthungen  überlassen;  jedenfalls  wurden  die  Fahrzeuge 
vor  dem  Winter  1850  verlassen,  \vo  ein  Jahr  früher  bereits  die 
ersten  Franklinsucher  unter  James  Ross  ganz  in  der  vermuthHchen 
Nähe  der  Katastrophe  den  nördlichen  Theil  der  Peelstrasse  durch- 
sucht hatten.  t)r.  Rae  war  der  erste,  der  1854  auf  seiner  Reise 
an  den  Nordküsten  des  Festlandes  in  der  Nähe  von  Boothia  Felix 
bei  Eskimos  HabseHgkeiten  einer  Franklin'schen  Schaar  entdeckte. 
Die  Eskimos  erzählten,  dass  im  Winter  1850  vierzig  weisse  Männer 
von  King  Williams  Land  auf  Schlitten  nach  dem  Festlande  über- 
zusetzen versuchten.  Sie  haben  auch  wirklich  den  Continent 
erreicht    und    der    Ort    ihres    Untergangs   ist   die    Landspitze  t)gle 


■j^AA  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

und  die  kleine  Insel  Montreal  im  Golfe,  welcher  Backs  Grossen 
Fischfluss  aufnimmt.  An  diesen  Oertlichkeiten  fand  eine  Land- 
expedition unter  James  Anderson,  welche  den  grossen  Fischfluss 
mit  indianischen  Booten  abwärts  gegangen  war,  in  den  Eskimo- 
hütten Gegenstände  der  Franklin'schen  Fahrzeuge,  wie  auch  Com- 
modor  Collinson  in  der  Victoriastrasse  auf  Schiffstrümmer  gestossen 
war,  welche  höchst  wahrscheinlich  vom  Erebus  oder  Terror  her- 
rührten. Diess  ist  das  magere  Ergebniss  der  FrankUnforschungen, 
welche  im  Jahre  1853  schon  mehr  als  eine  Million  Pfund  Sterling 
gekostet  hatten,  und  die  noch  heute  fortgesetzt  werden  würden, 
wenn  nicht  schon  allzuviel  Menschenleben  bei  den  edlen  Anstren- 
gungen verloren  gegangen  wären. 

Die  Nachsuchungen,  welche  seit  1848  begannen,  wurden  jedes 
Jahr  in  grossartigem  Massstab  erneuert,  besonders  aber  beschäf- 
tigten sich  seit  1850  mehrere  Geschwader  damit.  Zu  diesen 
gehörte  auch  die  Entreprise  und  der  Investigator  unter  Capitän 
CoUinson  und  Commander  Mac  Clure,  welche  von  der  Südsee 
aus  durch  die  Behringsstrasse ,  also  von  West  nach  Osten,  der 
grossen  Franklinflotte  im  arktischen  Archipel  sich  nähern ,  und 
wenn  es  eine  nordwestliche  Durchfahrt  gebe,  sich  mit  ihr  vereinigen 
sollten.  Die  Erlebnisse  dieser  beiden  Schiffe  sind  bekannt  genug, 
dass  wir  sie  nur  kurz  anzudeuten  brauchen.  Mac  Clure's  Schiff 
segelte  so  schlecht,  dass  CoUinson  in  der  Südsee  vorauseilte  und 
die  Sandwichinseln  zum  Vereinigungspunkt  bestimmte.  Mac  Clure's 
Investigator  erreichte  aber  Honolulu  erst  am  i.  Juli,  als  Collinson 
bereits  abgesegelt  war.  Vier  Tage  später  waren  alle  Einkäufe 
am  Bord  und  Mac  Clure  unterwegs  nach  der  Behringsstrasse,  auf 
die  er,  aller  Gefahren  dieses  Pfades  ungeachtet,  direct  nach  Norden 
zusteuerte.  Am  16.  Juli  erreichte  er  die  Aleuten,  am  29.  war  er 
schon  durch  die  Behringsstrasse  in  den  Polarkreis  eingetreten, 
und  am  31.  August  kam  man  in  Sicht  von  Cap  Bathurst  im 
Norden  des  grossen  Bärensees.  Der  Investigator  befand  sich  jetzt 
an  der  Küste  von  Nordamerika  zwischen  70  und  71  Grad  nörd- 
licher Breite.  Was  gegen  Norden  lag ,  waren  völlig  unbekannte 
Räume,  denn  der  nächste  bekannte  Punkt,  die  von  Parry  erreichte 
Melvilleinsel ,  lag  5  Grad  höher  gegen  Nordost.  Die  ,, Saison" 
neigte  zu  Ende ,  denn  gewöhnlich  erst  gegen  Ende  Juli  beginnt 
das  Eis  wieder  flott  zu  werden,  und  schliesst  sich  dann  wieder  vor 
Mitte  September,   wenn    es  überhaupt  aufgeht,    denn   in  manchen 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren  1849 — 1856.  j^c 

Jahren  tritt  gar   keine  Saison  ein.     Das  Vordringen   der  Seefahrer 
erleichtert  aber  das  sogenannte  L  a  n  d  w  a  s  s  e  r ,  ein  offener  Meeres- 
saum,   der  sich  frühzeitig  zwischen  der  Küste  und  der  zusammen- 
hängenden Eisdecke   der   See   bildet,    oft  etliche  Meilen  breit,  oft 
aber  auch  bis  auf  hundert  Ellen,    ja  bisweilen  so  stark  verringert, 
dass    das    Schiff   mit    seinen    Segelstangen    nur    knapp    hindurch- 
schlüpfen kann.     Die  Eisdecke    steht    auch  nicht  immer  fest,    die 
Winde  und    die  Fluthen  bewegen    und    treiben    sie   bisweilen    und 
die  Massen  drücken  dann  gegen  das  Ufer,    wo  die  nächsten  Eis- 
ränder  sich   hoch   emporschieben.     Wo    aber  die  Küste  seicht  ist, 
kann  sich    das   grosse  Eis    wegen    seines  Tiefganges  nicht  nähern, 
sondern    folgt  in  grösseren   oder   geringeren  Abständen  den)  Ufer. 
Die    arktischen    Seefahrer    unterscheiden    ohne    Schwierigkeit    ver- 
schiedene   Eisbildungen,    namentlich    das    junge    vom    alten    Eis, 
welches  immer  mehr  oder  weniger  abgelebt,  von  Wind  und  Wellen 
und    von    dem    Kampfe    mit    anderem    Eis    verunstaltet    aussieht. 
Diese   Unterscheidung   ist   desshalb    wichtig,    weil   man   nach    der 
Gegenwart  von  altem  oder  jungem  Eis    beurtheilen  kann,    ob  ein 
Sund  oder  eine  Bucht  alljährlich,  oder  nur  bisweilen,  oder  selten 
aufgeht.     Dem  westlichen  Theil  der  arktischen  Gewässer  fehlt  eine 
Erscheinung  gänzlich,  welche  der  Baffinsbai  und  ihrer  Verlängerung 
nach   Norden    eigenthümlich  ist,    nämlich   die  Eisberge,    die    ganz 
andere  Geschöpfe  sind,  als  die  Eisschollen  oder  Eisbänke,  die  nur 
rauhe  Hügelkämme  (hummocks)  bilden,    wo    sich    die  Eistafeln  in 
die  Höhe  schieben  und  dann    erstarren.     Die  neuesten    arktischen 
Erfahrungen  haben  ferner  bewiesen,    dass  hohe  und  niedere  Tem- 
peraturen wenig  abhängig   sind  von  den  Breiten,    es   ist   vielmehr 
häufig  wahrgenommen  worden,    dass  man  gegen  Norden  sich  be- 
wegend mildere  Räume  erreichte.     Als    allgemeine  Erfahrung  darf 
es  ausgesprochen  werden,    dass,    unabhängig    von  der  Breite,    die 
Südküsten  der  arktischen  Inseln   milder    sind,  als   die  Nordküsten, 
die  Ostküsten  milder,   als  die  Westküsten.     Die  verhältnissmässige 
Erwärmung    dieser    Räume    scheint    erklärlicher    Weise    von    der 
Gestaltung   der  Länder   abzuhängen.     Je  enger   nämlich   ein  Sund 
oder  eine  Wasserstrasse  ist,    desto   früher   wird  sie  durch  Treibeis 
verstopft.     Findet  das  Eis  dann   keinen  Ausweg,    so  erstarrt  auch 
vor   diesem    Canal    die    bis  dahin    bewegliche   Masse.     Nun  ist  es 
begreiflich,    dass    die    verlängerte    (Gegenwart    von  Eismassen    die 
Temperatur  der  belagerten  Küste  erniedrigen  muss.     Daraus  ergiebt 

Peschel,  Abhandlungen.     II.  lO 


lAß  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

sich,  wie  wichtig  für  die  atlantische  Welt  die  Functionen  der  ark- 
tischen Inselwelt  sind.  Sie  bildet  gleichsam  ein  Netz  zum  Auf- 
fangen und  Festhalten  der  Eisbänke.  Wären  diese  Inseln  nicht 
vorhanden,  so  würde  nach  dem  Aufbrechen  das  arktische  Eis 
durch  die  Davisstrasse  den  atlantischen  Ocean  erreichen  und  dort 
auf  Kosten  unserer  Temperatur  eingeschmolzen 
werden.  Der  grösste  Feind  des  arktischen  Eises  sind  aber  die 
gewaltigen  mechanischen  Kräfte,  welche  das  Meer  bewegen;  die 
Strömungen  sowohl  wie  die  Flutherscheinungen.  Die  Fluth  bricht 
immer  wieder  die  Eisdecke  entzwei  und  die  Strömungen  entführen 
beständig  wieder  Eis  an  mildere  Ufer.  Dieser  Kampf  dauert  oft 
länger  als  einen  Monat,  bis  endlich  das  Eis  zum  Stehen  kommt 
und  der  wahre  arktische  Winter  anbricht. 

Von  Cap  Bathurst  verfolgte  Mac  Clure  den  Nordrand  Ame- 
rika's  immer  gegen  Osten  bis  zu  Cap  Parry,  welches  am  6.  Sep- 
tember erreicht  wurde.  An  diesem  Tage  hellte  sich  das  Wetter 
auf  und  gegen  Nordosten  kam  eine  gebirgige  Küste  zum  Vorschein, 
die  sich  noch  nicht  auf  den  Karten  fand.  Nach  diesem  neuen 
Lande  fuhr  man  über  und  behielt  seine  mit  Vegetation  geschmückte 
Küste  zur  Linken.  Man  ahnte  noch  nicht,  dass  es  das  Banksland 
sei,  dessen  Nordküste  Parry  schon  1819  gesehen  hatte.  Die  Ost- 
küste dieser  Insel,  an  der  man  jetzt  sich  bewegte,  hatte  eine 
ausserordentlich  günstige  Richtung,  nämlich  gegen  Nordost.  Im 
Nordosten  aber  lag,  wie  man  wusste,  der  Melvillesund  (Barrow- 
strasse)  und  die  Melvilleinsel.  Zur  grossen  Bestürzung  der  See- 
fahrer kam  aber  am  9.  September  auch  zur  Rechten  Land  zum 
Vorschein  und  man  befürchtete  jetzt,  dass  die  beiden  Küsten 
endlich  zu  einem  Golf  sich  zusammenschliessen  würden.  Sie 
näherten  sich  aber  nur  zu  einem  Spalt,  dessen  Achse  gegen  Nordost, 
also  in  verl^eissungsvoller  Richtung,  lief.  Allein  die  Jahreszeit  war 
zu  weit  vorgerückt.  Am  11.  September  änderte  sich  das  Wetter. 
Es  fiel  Schnee  und  Nordwinde  verwehrten  das  Vordringen.  Am 
15.  September  hatte  man  wieder  Südwind,  das  Eis  in  der  von 
Mac  Clure  getauften  Prince  of  Walesstrasse  trieb  wieder  dem 
Melvillesunde  zu  und  am  17.  wurde  der  höchste  nördliche  Punkt 
(73°  10')  erreicht.  Das  Schiff  fror  jetzt  mitten  zwischen  den  Eis- 
bänken der  „nordwestlichen  Durchfahrt"  ein  und  es  verstrichen 
ein  paar  ängstliche  Wochen,  wo  das  Schiff  hülflos  auf  dem  Eis- 
felde von  Ebbe    und  Fluth    hin-   und  hergetragen   wurde,    bis  die 


Die  gros^^en  Entdeckungen  in  den  Jahren   1S49— 1856.  ja-j 

Strasse  völlig  erstarrte.  Gegen  Ende  October  brach  Mac  Clure 
zu  einer  arktischen  Schlittenfahrt  auf.  Diese  Art  der  Verkehrs- 
mittel ist  in  der  Zeit  der  Franklinsucher  zu  einer  staunenswerthen 
Vollkommenheit  ausgebildet  worden.  Ausserordentliche  Leistungen 
hat  man  namentlich  durch  Schlitten  mit  Hundegespann  erzielt, 
allein  die  meisten  der  arktischen  Reisenden  besassen  solche  Thiere 
nicht,  sondern  der  Schlitten  diente  nur  als  Transportmittel  für  die 
Mundvorräthe  und  andere  Reisebedürfnisse,  Die  eigentliche  Jahres- 
zeit für  Schhttenexpeditionen  ist  der  spätere  März  oder  Anfang 
April,  weil  sie  gewöhnlich  im  Mai  oder  Anfang  Juni  ihr  Ende 
nehmen  müssen,  denn  wenn  auch  um  diese  Zeit  die  Eisdecke  noch 
fest  steht,  so  drückt  doch  an  vielen  Stellen  der  Schnee  die  Schollen 
unter  Wasser  und  es  zeigen  sich  dann  grosse  Lachen  und  Seen 
über  dem  Eise.  Im  Herbst  werden  gewöhnhch  nur  Excursionen 
gemacht,  um  für  die  künftige  Frühlingsreise  Magazine  zu  bauen 
und  diese  mit  Lebensmitteln  zu  füllen,  damit  die  arktischen  Aben- 
teurer auf  diese  Punkte  sich  zurückzuziehen  vermögen,  und  auf 
ihrem  Rückweg  überall  Vorräthe  finden.  Eine  Schlittenexpedition 
besteht  gewöhnlich  aus  mehreren  Fahrzeugen,  von  denen  immer 
eines  nach  dem  andern  umkehrt,  so  bald  seine  Lebensmittel- 
vorräthe  zu  Ende  gehen.  Der  letzte  Schlitten,  der  bisher  von  den 
Vorräthen  der  früher  umgekehrten  gezehrt  und  seine  Lebensmittel 
unangetastet  bewahrt  hat,  ist  dann  derjentge,  welcher  am  weitesten 
vordringt. 

Mac  Clure's  Schlittenfahrt  währte  nur  sehr  kurze  Zeit.  Als 
der  Morgen  des  26.  Octobers  anbrach,  hatte  der  Entdecker  einen 
Berg  von  500  Fuss  am  Nordrande  des  von  ihm  entdeckten  Prince 
Albertlandes  erreicht,  und  unter  ihm  lag  die  erstarrte  Fläche  des 
Melvillesundes  oder  der  erweiterten  Barrowstrasse.  Die  nord- 
westUche  Durchfahrt  war  gefunden,  wenn  auch  der  eigentliche 
verbindende  Meeresarm  vom  Eise  verstopft  worden  war. 

Der  erste  arktische  Winter  verstrich  ziemlich  günstig.  Der 
Scorbut  tritt  gewöhnlich  erst  dann  ein,  wenn  das  Schififsvolk  den 
Humor  verliert.  Jeder  morahsche  Druck  beschleunigt  und  steigert 
das  Uebel.  Diessmal  aber  hielt  die  Freude  über  die  glänzende 
Entdeckung  und  die  Spannung  auf  die  Thaten  des  nächsten 
Sommers  die  Gemüther  frisch.  Erst  zwischen  dem  10.  und  14. 
Juli  wurde  das  Schiff  von  der  Eisbank  erlöst ,  allein  vergeblich 
hoffte  man  auf  ein  Freiwerden  der  Durchfahrt  nach  dem  Melville- 


j,^  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

sunde.  Man  näherte  sich  der  Mündung  bis  auf  sechs  deutsche 
Meilen,  allein  weiter  vermochte  man  nicht  vorzudringen,  sondern 
musste  am  i6.  August  185 1  umkehren.  Mac  Clure  ging  die 
Prince  of  Walesstrasse  wieder  gegen  Süden,  um  zu  versuchen,  ob 
er  nicht  auf  der  Westseite  von  Banksland  in  den  Melvillesund 
eindringen  könnte.  Die  Fahrt  dauerte  vom  16.  August  bis 
23.  September.  Der  Investigator  hielt  sich  dabei  immer  ganz 
dicht  an  der  Küste  im  Land w asser,  welches,  je  weiter  er  vor- 
drang, immer  schmäler  wurde.  Unterwegs  fürchtete  er  schon 
zwischen  Land  und  altem  Eise  einzufrieren,  aber  ein  starker  Wind 
störte  wieder  die  Eisbildung  und  der  Investigator  befreite  sich 
durch  Sprengungen  mit  Pulver  von  einigen  Eismassen,  so  dass  er 
endlich  im  Melvillesunde  oder  in  der  Barrowstrasse  sich  befand, 
und  sich  jetzt  von  Nordwesten  her  der  Mündung  der  Prince  of 
Walesstrasse  näherte,  so  dass  nur  noch  eine  kleine  Strecke  an 
der  gänzlichen  Umseglung  von  Banksland  fehlte.  Das  Fahrwasser 
glich  an  manchen  Stellen  einem  wahren  Hohlweg.  Zur  Linken 
emporgeschobene  Eiswände,  zur  Rechten  eine  steile  Küste,  und 
zwischen  beiden  oft  nur  eine  so  schmale  Kehle,  dass  die  Segel- 
stangen aufgerichtet  werden  mussten ,  damit  sie  nicht  seitwärts 
anstiessen.  Am  23.  September  185 1  wurde  endlich  die  Gnaden- 
bucht auf  der  Nordküste  von  Banksland  erreicht,  und  dort  liegt 
wahrscheinlich  noch  heutigen  Tages  der  Investigator  eingefroren. 
Der  zweite  arktische  Winter  wurde  schon  mit  grösseren  Be- 
schwerden überstanden,  doch  war  die  Schiffsküche  immer  ergiebig 
mit  Wildpret  versorgt,  besonders  nachdem  die  Uebung  gute 
Schützen  bildete.  Als  aber  die  Jahreszeit  1852  verstrich  und  man 
nicht  aus  dem  Eise  der  Gnadenbucht  erlöst  wurde,  gestaltete  sich 
die  Lage  des  Schiffsvolkes  bedenkhch  und  der  Scorbut  trat  ge- 
fährlich auf.  Man  rüstete  bereits  zu  einer  Expedition  im  Frühling 
1853,  um  auf  Schlitten  in  zwei  Abtheilungen  die  Mannschaft 
theils  nach  dem  Festlande,  theils  nach  den  Quartieren  der  atlan- 
tischen Franklinsucher  im  Osten  der  arktischen  Inseln  zu  schicken. 
Sie  wären  sicherlich  auf  dieser  Fahrt  umgekommen,  wie  Sir  John 
Franklins  Gefährten,  da,  selbst  wenn  sie  das  Festland  erreicht 
hätten,  sie  dort  in  die  Hände  diebischer  Eskimo's  gefallen  wären, 
die  sie  mindestens  ausgeplündert  haben  würden ,  wenn  sie  nicht 
stark  genug  gewesen  wären,  um  Gewalt  zu  brauchen.  Glücklicher- 
weise  sollte    die  Rettung    von   einer   andern  Seite   kommen.     Mac 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren   1849 — 1856.  14g 

Clure  hatte  bei  den  Schlittenfahrten  im  FrühUng  1852  die  Mel- 
villeinsel  besucht  und  dort  an  einem  kenntlichen  Sandsteinblock 
des  Winterhafens,  den  Parry  mit  einer  Inschrift  ausgezeichnet  hat, 
eine  Depesche  über  seine  Entdeckung  und  die  Lage  von  Schiff"  und 
Schiffsvolk  hinterlassen.  Er  selbst  fand  dort  nur  eine  schrifthche 
Anzeige  einer  Schlittenpartie,  Avelche  von  den  atlantischen  Franklin- 
suchern bis  zu  jenem  Punkte  vorgedrungen  war.  Mac  Clure  hatte 
gehofft,  auf  der  Melvilleinsel  überwinternde  Franklinsucher  anzu- 
treffen. Jetzt  schien  es,  als  sei  er  allein  von  Eis  umringt  in  dieser 
starren  Oede,  und  als  habe  die  Heldenschaar  der  arktischen  See- 
fahrer den  Kampf  gegen  die  winterliche  See  aufgegeben.  Allein 
in  der  grössten  Nähe  des  Sandsteinblockes  der  Melvilleinsel  hatten 
im  Herbst  1852  zwei  Schiffe  des  Geschwaders  unter  Sir  Edward 
Belcher  Anker  geworfen,  und  ihre  Schlittenexpeditionen  fanden 
Mac  Clure's  Depesche  bei  dem  Parrydenkmal.  Sobald  daher  der 
Frühhng  kam',  wurde  von  dem  Geschwader  bei  der  Melvilleinsel 
ein  Schlitten  quer  über  den  Melvillesund  geschickt,  um  dem 
„Investigator",  d.  h.  der  Mannschaft  des  so  benannten  Schiffes 
Nachricht  von  der  Nähe  des  Geschwaders  zu  geben.  Der  Ueber- 
bringer  der  rettenden  Kunde,  Lieutenant  Pim,  vormals  auf  dem 
Herald,  war  dem  Schlitten  vorausgeeilt,  als  er  des  Takelwerks  des 
Investigators  ansichtig  wurde,  und  stiess  auf  Mac  Clure,  der  sich 
ausserhalb  des  Schiffes  befand.  Pim  hatte  sich  das  Gesicht  mit 
schwarzer  Farbe  bestrichen,  ein  Schutzmittel  gegen  Kälte ,  dessen 
Gebrauch  man  von  den  Eskimo's  gelernt  hatte,  und  er  glich,  völlig 
in  Pelze  eingehüllt,  eher  einem  Wilden  als  einem  Europäer.  Der 
Retter  kam  in  einem  kritischen  Augenblicke,  denn  am  Tage  vorher 
hatte  man  den  ersten  Kameraden  beerdigen  müssen ,  und  die 
Stimmung  war  äusserst  gedrückt.  Bei  der  Grabrede  des  Matrosen 
hatte  Mac  Clure  zur  Ermuthigung  seiner  Mannschaft  auf  eine 
Wolke  mit  einem  Silbersaume  gedeutet,  welche  den  arktischen 
Himmel  verhüllte.  Prophetisch  setzte  er  hinzu,  dass  jede  Wolke 
mit  solchem  Glanz  endige,  und  auch  der  Wolke  des  Unglücks, 
die  über  dem  Investigator  schwebe,  der  Silbersaum  nicht  fehlen 
werde.  Als  daher  am  andern  Tage  der  Rettungsschlitten  des  Re- 
solute erschien,  sagte  er  seiner  Mannschaft:  „Habe  ich  es  nicht 
gesagt,  dass  jede  Wolke  mit  glänzendem  Saume  endige?"  Die 
Entdecker  der  beiden  nordwestlichen  Durchfahrten,  nämlich  der 
Prince   of   Walesstrasse    und    des  Weges    nach    der    Banksstrasse 


ICQ  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

(zwischen  Banksland  und  Melvilleinsel) ,  gingen  nun  über  den 
erstarrten  Melvillesund  zu  den  Ueberwinterungsplätzen  der  atlan- 
tischen Franklinsucher,  und  kehrten  mit  diesen  nach  Europa  zurück. 

Es  giebt  wahrscheinlich  noch  eine  dritte  Durchfahrt  östlich 
von  der  Prince  of  Walesstrasse  zwischen  Prince  Albert  oder  Vic- 
torialand und  Boothia  FeHx.  Man  kann  nämlich  von  der  Barrow- 
strasse  durch  den  Peelsund  die  Halbinsel  Boothia  erreichen,  während 
ein  pacifischer  Franklinsucher  von  Osten  her  die  Victoriastrasse 
entdeckte,  welche  Victorialand  von  Boothia  trennt  und  sich  wahr- 
scheinlich bis  zum  Peelsund  verlängert.  Es  geschah  diess  auf  der 
Fahrt  des  verdienstvollen,  leider  aber  sehr  unglücklichen  Capitän 
Colhnson,  unter  dessen  Befehl  Mac  Clure  bei  der  Abfahrt  gestan- 
den war.  Collinson  hatte  mit  der  Entreprise  nur  wenige  Tage 
später  als  Mac  Clure  die  Behringsstrasse  passirt,  aber  dieser  Zeit- 
verlust vereitelte  seine  Fahrt.  Er  befand  sich  am  1 1 .  August  erst 
bei  der  Barrowspitze  und  das  Packeis  verwehrte  ihm  jedes  Vor- 
dringen gegen  Westen,  so  dass  er  umkehren  und  die  Saison  als 
verloren  aufgeben  musste.  Erst  im  nächsten  Sommer  1851  gelang 
es  der  Entreprise  zeitig  auf  dem  Theater  ihrer  nautischen  Aufgabe 
zu  erscheinen  und  Cap  Bathurst  am  26.  August  zu  erreichen. 
Mac  Clure  hatte  um  diese  Zeit  bereits  die  Prince  of  Walesstrasse 
verlassen  und  befand  sich  auf  seiner  Küstenfahrt  um  Banksland. 
Beide  Schiffe  also  kamen  in  grosser  Nähe  an  einander  vorüber, 
ohne  sich  zu  sehen.  Collinson  entdeckte  jetzt,  wie  Mac  Clure, 
Banksland,  die  berühmte  Prince  of  Walesstrasse  und  fand  überall 
Zeichen,  dass  sein  kühner  Vorgänger  schon  dort  gewesen  war. 
Die  Entreprise  ging  jetzt  die  Prince  of  Walesstrasse  hinauf,  wo  sie 
bis  73°  30',  also  bis  dicht  an  die  Mündimg  am  30.  August  vor- 
drang. Ein  Jahr  vorher  an  demselben  Tage  war  Mac  Clure  noch 
bei  Cap  Bathurst  gewesen  und  es  schien  damals,  dass,  wenn  er 
nur  zwei  Tage  früher  eingetroffen  wäre,  er  vielleicht  die  Durch- 
fahrt offen  gefunden  hätte.  Allein  Collinson,  der  eine  volle  Woche 
diessmal  voraus  hatte,  musste  ebenfalls  umkehren,  denn  er  fand  die 
Strasse  wie  Mac  Clure  durch  Eisbänke  geschlossen. 

Dieser  einfache  Thatbestand  entscheidet  über  den  praktischen 
Werth  der  Entdeckung.  Die  Mündung  des  engen  Sundes  ist  den 
Nord-  und  Nordostwinden  ausgesetzt,  welche  Eisbänke  vom  Nor- 
den her  vor  die  Strasse  treiben,  so  dass  sie  wahrscheinlich  höchst 
selten,  bei  anhaltenden  Südwinden  und  dann  nur   auf  kurze    Zeit 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren  1849 — ^856.  j  ej 

frei  wird.  Eben  so  unbrauchbar  ist  der  zweite  Weg  durch  die 
Banksstrasse.  Der  Investigator  gelangte  dort  wohl  bis  an  die 
Schwelle  des  Melvillesundes,  aber  dort  bHeb  er  zwischen  der  Eis- 
decke und  dem  Lande  eingeklemmt  drei  Jahre  lang  und  liegt 
wahrscheinhch  noch  dort.  Dass  bisweilen  offenes  Wasser  sich  im 
Melvillesunde  findet,  kann  sicher  behauptet  werden,  denn  auf  den 
Inseln  im  Norden  des  Melvillesundes  fanden  Franklinsucher  Treib- 
holz, welches  vom  Mackenziestrome  aus  dem  Innern  Nordameri- 
ka's  entführt  worden  war.  Auch  hat  man  Wallfische  in  der  Nähe 
der  Behringsstrasse  erlegt ,  in  deren  Leib  man  Geschosse  fand, 
die  ihren  Marken  nach  Schiffen  angehörten,  welcke  kurz  zuvor  in 
den  atlantischen  Theilen  des  arktischen  Meeres  gekreuzt  hatten. 
Die  angeschossenen  Thiere  mussten  daher  längst  eine  nordwest. 
liehe  Durchfahrt  gekannt  haben,  da  der  Wallfisch  nie  den  Aequa- 
tor  kreuzt  und  die  borealischen  mit  den  australischen  Wallfischen, 
obgleich  von  derselben  Art,  keinen  Verkehr  besitzen.  Es  bleibt 
demnach  denkbar,  dass  ein  Schiff  jene  Wasserverbindung  der 
beiden  Oceane  vielleicht  einmal  benutzen  könne.  Eine  Reihen- 
folge heisser  arktischer  Sommer,  verbunden  mit  günstigen  Winden, 
welche  die  Entfernung  grosser  Eismassen  begünstigen,  könnte  die 
grossen  Wasserstrassen  der  arktische^i  Welt  eine  Zeitlang  völlig 
öfifnen.  Da  bereits  die  Wallfischfänger  jenseits  der  Behringsstrasse 
zu  jagen  pflegen,  so  könnte  man  sich  denken,  dass  ein  solches 
Fahrzeug,  welches  an  der  Nordküste  Amerika's  überwintert  hatte, 
frühzeitig  in  den  Gewässern  erschiene,  um  die  günstige  Conjunctur 
zu  einer  Fahrt  nach  dem  atlantischen  Meere  zu  benutzen.  Eine 
solche  Gelegenheit  wird  sich,  nach  allen  Erfahrungen,  höchstens 
zwei  oder  dreimal  in  einem  Jahrhundert  ereignen.  Ausserdem 
aber  wird,  selbst  in  sehr  günstigen  Fällen,  der  arktische  Seefahrer, 
welcher  die  Durchfahrt  benutzen  wollte,  ein  oder  zweimal  einwin- 
tern müssen,  ehe  er  von  der  Behringsstrasse  das  atlantische  Meer, 
oder  umgekehrt  die  Behringsstrasse  erreichen  könnte.  Eine  solche 
Fahrt  ist  aber  für  ein  einzelnes  Schiff  mit  solchen  Gefahren 
verbunden ,  dass  von  zehn  Versuchen  wahrscheinlich  neun  einen 
düstern  Verlauf  nehmen  würden.  Die  Franklinsucher  haben  frei- 
lich weit  kühnere  Thaten  ausgeführt,  als  Mac  Clure's  Fahrt  ge- 
wesen ist,  allein  man  vergesse  nie,  dass  diese  grossen  Entdeckun- 
gen durch  ganze  Flotten  ausgeführt  wurden,  deren  einzelne  Schiffe, 
staffelartig  aufgestellt,    sich  die  Hände  reichten,     vom  atlantischen 


IC 2  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Meer  aus  beim  Eintritt  der  Saison  aus  dem  Mutterland  wieder 
Succurs  erhielten,  und  dass  für  diese  Expeditionen,  wenn  man 
einrechnet,  was  die  Amerikaner  beitrugen,  mehr  als  20  Millionen 
Gulden  ausgegeben  wurden.  Die  arktische  Welt  wird  also  wahr- 
scheinlich völlig  in  ihre  Einsamkeit  zurückkehren,  sobald  der 
Cyklus  der  Franklinfahrten  geschlossen  sein  wird.  Es  war  ein 
kurzer  vergänglicher  Zeitraum ,  wo  die  stille  Grossartigkeit  der 
arktischen  Natur  durch  die  Anwesenheit  unserer  Civilisation  unter- 
brochen wurde,  wo  sich  in  grauenhafter  Oede  Menschen  und 
Menschen  begegneten,  wo  —  ein  einziges  mal  —  bei  der  Rettung 
des  Investigators  von  Ost  und  West  her  europäische  Seefahrer 
sich  die  Hände  reichten.  So  hegt  es  nahe,  das  Wort  auszu- 
sprechen, dass  die  Entdeckung  der  nordwestlichen  Durchfahrt 
niemals  einen  nautischen  und  mercantilen,  also  auch  keinen  civi- 
lisatorischen  Werth  erlangen  kann. 

Allein  der  Mensch  ist  ein  kurzsichtiges  AVesen : 
Wo  so  ein  Köpfchen  keinen  Ausweg  sieht, 
Stellt  es  sich  gleich  das  Ende  vor. 

Man  sollte  daher  sich  gewarnt  sein  lassen,  das  Wörtchen  Nie- 
mals niemals  auszusprechen,  denn  es  hat  nur  Kraft  und  Sinn 
auf  übermenschlichen  Eippen.  Wir  wissen  nicht ,  welche  Mittel 
der  Ortsbewegung  ein  künftiges  Jahrhundert  besitzen  wird.  Ein 
Schiff  wie  der  Great  -  Eastern  würde  sich  allein  in  die  arktische 
See  wagen  können,  und  seine  Kraft  ist  so  ungeheuer,  dass  der 
eiserne  Koloss  leicht  grosse  Eisbänke  spalten  oder  vor  sich  her- 
treiben könnte.  Zwar  ist  der  Unhold  an  dem  Tage,  wo  wir 
schreiben,  noch  nicht  flott,  allein  gewiss  ist  sein  Register  von 
28,000  Tonnen  nicht  das  letzte  Wort  des  modernen  Schififsbaues. 
Die  Wallfischjäger  haben  bisher  von  allen  arktischen  Entdeckun- 
gen Nutzen  gezogen,  sie  erscheinen  jetzt  schon  im  Lancastersund 
und  in  der  Nähe  der  Barrowstrasse ,  und  man  weiss  nicht,  wie 
weit  sie  ihr  Handwerk  noch  treiben  wird. 

Nach  allen  Beschreibungen  ist  die  Polarwelt  arm  an  irdischen 
Gütern.  In  den  zahlreichen  artkischen  Beschreibungen  wird  nicht 
Eines  Productes  erwähnt,  welches  denkbarer  Weise  die  Nachstel- 
lungen der  Menschen  belohnen  und  sie  für  das  Wagniss  und  den 
Aufwand  von  Polarreisen  entschädigen  könnte.  Allein  auch  hier 
dürfen  wir  von  einem  Niemals  nicht  reden.  Die  Erfindungen 
unseres  Jahrhunders  folgen   sich  so  rasch,    dass   Steine   sich   über 


Die  grossen  Entdeckungen  in   den  Jahren  1849- -1856.  le? 

Nacht  in  Gold  verwandeln.  Wir  erinnern  hier  nur  daran,  wie  vor 
ganz  kurzer  Zeit  noch  die  Guanoinseln  völHg  werthlos  waren  und 
jetzt  zu  baarem  Gelde  geworden  si«d.  So  kann  es  leicht  ge- 
schehen, dass  man  in  etlichen  Jahren  schon  mineralischen  Dün- 
gungsniitteln  nachspürt,  und  dass  diese  vielleicht  sich  gerade  in 
besonders  günstigem  Zustande  in  irgend  einem  vernachlässigten 
Erdenwinkel  finden.  Die  Entdeckung  vervollkommneter  Darstel- 
lungsarten eines  edlen  Metalles,  de^  Aluminium,  hat  dem  Kriolith. 
von  dem  sich  grosse  Quantitäten  nur  in  Grönland  finden ,  plötz- 
lich einen  Handelswerth  gegeben.  So  ist  die  neuere  Wissenschaft 
und  der  Forschungstrieb  des  Menschen  immer  darauf  gerichtet, 
dem  Vernachlässigten  und  Unscheinbaren  zu  Rang  und  hohen 
Functionen  in  der  menschlichen  Gesellschaft  zu  verhelfen,  und 
welche  Schätze  vermag  nicht  die  arktische  Welt  einzuschliessen, 
an  denen  man  bisher  mit  blöder  Verachtung  vorüberging?  Wenn 
also  die  arktischen  Entdeckungen  niemals  von  mercantilem  Nutzen 
erklärt  wurden,  so  soll  man  diese  Aeusserung  nur  bedingungs- 
weise gelten  lassen,  als  ob  damit  gesagt  wäre,  dass  vorläufig 
keine  praktische  Bedeutung  der  Lösung  des  grossen  Geheimnisses 
beigemessen  werden  kann. 

Unmittelbar  an  Mac  Clure's  interessante  Fahrt  schhessen  sich 
die  wenig  bekannten  und  mit  Unrecht  verdunkelten  Entdeckungen 
von  Sir  Edward  Belchers  Geschwader,  welches  die  Schiftsmann- 
schaft  des  Investigators  rettete.  Fünf  Schiffe :  Assistance,  Pioneer 
l^Dampfer),  Resolute,  Intrepid  (Dampfer)  und  North  Star  bildeten 
diese  Flotte  und  liefen  im  Jahre  1852  nach  den  arktischen  Ge- 
wässern aus.  Ein  einziges  davon  kehrte  wieder  zurück,  denn  vier 
Schifte  Hess  man  eingefroren  im  Polarmeere,  wesshalb  Sir  Edward 
und  seine  Officiere  bei  ihrer  Rückkehr  vor  ein  Kriegsgericht  ge- 
stellt wurden,  Diess  ist  die  Ursache,  wesshalb  man  über  die  Thaten 
dieser  Seefahrer  so  wenig  erfahren  hat,  denn  das  Preisgeben  von 
Schiften  wird,  wenn  auch  meist  mit  Unrecht,  dem  nautischen 
Ruhme  als  nachtheilig  angesehen.  Sir  Edward  Belcher  erreichte 
am  21.  August  1851  die  Beecheyinsel,  wo  Franklin  1845  — 1846 
überwintert  hatte  und  wo  der  North  Star  zurückblieb.  Die  andern 
Schiffe  theilten  sich.  Zwei  davon,  Resolute  und  Intrepid,  drangen 
durch  die  Barrowstrasse  zur  Melvilleinsel,  damals  noch  das  West- 
ende der  arktischen  Welt,  vor  und  wählten  dort  die  Dealyinsel 
zum    Ueberwintern,    ein    wenig    östlich     von    Parry's     berühmtem 


154 


Zur  Geschichte  der  Geographie. 


Winterhafen.  Die  beiden  andern  Fahrzeuge  unter  Sir  Edward 
Belcher  und  Osborn  gingen  von  der  Beecheyinsel  gegen  Norden 
den  Wellington  canal  hinauf.  Die  Franklinsucher  des  vorigen 
Jahres  hatten  nämlich  die  Küsten  im  Norden  der  grossen  arktischen 
Querstrasse ,  welche  wir  von  West  nach  Ost  Banksstrasse ,  Mel- 
villesund,  Barrowstrasse,  Lancastersimd  nennen,  durchsucht  und 
waren  dort  überall  auf  neue  nach  Norden  führende  Ausgänge 
gestossen,  oder  mit  andern  Worten,  die  Nordküsten  der  grossen 
Querstrassen  hatten  sich  zu  Inseln  aufgelöst.  Zu  gleicher  Zeit 
hatte  man  auch  von  der  Baffinsbai  eine  neue  Strasse  gegen  Nord- 
westen, den  Jonessund,  entdeckt.  Hinter  den  von  Parry  gesehenen 
Küsten  gegen  Norden  lag  ein  zweites  Meer,  zu  dem  es  eben 
so  viele  Zugänge  gab,  als  Inseln  zwischen  ihm  und  der  Barrow- 
strasse lagen.  Bis  zu  diesem  Meere  selbst  war  noch  kein  See- 
fahrer vorgedrungen,  allein  die  arktischen  Entdecker  brachten  die 
Nachricht  mit,  dass  dieses  Meer  vergleichsweise  offen  scheine. 
Verschiedene  andere  Umstände  führten  auf  die  Vermuthung,  dass 
im  höchsten  Norden  sich  nicht  mehr  Land ,  sondern  ein  Ocean 
befinde,  und  dass  dieses  Wasser,  wenn  es  Wasser  war,  nie  vöUig 
zufriere  oder  längere  Zeit  einen  offenen  Spiegel  biete.  Um  nicht 
aufmerksame  Leser  im  voraus  zu  täuschen,  müssen  wir  bemerken, 
dass  die  Gegenwart  eines  solchen  offenen,  also  auch  warmen  Po- 
larmeeres noch  nicht  mit  Sicherheit  ermittelt  worden  ist,  und  dass 
nur  sehr  viele  Vermuthungen  für  die  Gegenwart  eines  solchen 
Meeres  sprechen. 

Einer  der  engen  Sunde ,  welche  aus  der  Barrowstrasse  nach 
Norden  führen,  heisst  in  seinen  verschiedenen  Theilen:  Welling- 
ton-, Königincanal,  Pennystrasse.  Dort  gingen  Belcher  und  Osborn 
hinauf  und  suchten  sich  im  Northumberlandsund  einen  Winter- 
hafen. Dieser  Sund  ist  eine  durch  Inseln  geschützte  Bucht  (76° 
45'  nördUcher  Breite,  99°  westlicher  Länge,  Paris)  des  Grinnell- 
landes,  und  Grinnellland  eine  grosse  arktische  Insel,  welche  durch 
eine  schmale  Spalte  vom  Norddevonlande  getrennt  ist.  Jener 
Hafen  wurde  am  17.  August  1852  erreicht,  leider  aber  die  Fahrt 
gegen  Norden  mit  den  Schiffen  nicht  fortgesetzt,  obgleich  die 
Jahreszeit  noch  sehr  günstig  war.  Gegen  Nord  und  Nordwest  lag 
Meer,  und  zwar  das  Polarmeer,  was  man  aus  den  freien  Bewe- 
gungen von  Ebbe  und  Fluth  schliessen  durfte.  Aus  imverantwort- 
licher  Aengstlichkeit  Hess  man  die  kostbaren  Tage  ungenützt  ver- 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren   1849 — 1856.  jce 

Streichen,  obgleich  die  See  gegen  Norden  frei  war,  und  nur  24 
Mann  mit  Schlittenbooten  versuchten  eine  Excursion  gegen  Norden. 
Sie  befuhren  mit  diesen  Fahrzeugen  das  Polarmeer  im  Norden 
von  Grinnellland ,  entdeckten  dort  ein  paar  kleine  Inselchen  und 
eine  grössere  Insel,  North  Cornawall ,  die  sich  bis  zum  78.  Grad 
nördlicher  Breite  zu  erstrecken  schien.  Ausser  dieser  vereinzelten 
Insel  war  gegen  West  und  Ost,  gegen  Nordwest  und  Nordost 
nur  Meer  zu  erblicken.  Die  Fluth  bewegte  sich  in  diesem 
Theile  der  See  von  Ost  nach  West,  ein  Beweis,  dass  diese  Ge- 
wässer mit  dem  Jonessunde  und  der  Baffinsbai  in  Verbindung 
standen.  An  der  Nordküste  von  Grinnellland  stiess  man  unter 
77°  nördlicher  Breite  auf  Ruinen  von  Gebäuden,  die 
so  regelmässig  gemauert  waren ,  dass  man  zweifelte ,  ob  sie  von 
den  heutigen  Eskimo's  herrührten.  Die  Vegetation  war  vergleichs- 
weise üppig  und  bestand  aus  Gras,  Moos  und  Sauerampfer,  wäh- 
rend die  arktische  Thierwelt  sich  zahlreich  überall  zeigte. 

Im  Frühling  1853  begannen  von  den  beiden  Winterstationen 
aus  die  grossen  Schlittenexpeditionen.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort, 
einen  historischen  Bericht  über  diese  Unternehmungen  zu  liefern, 
ihre  Ergebnisse  aber  sind  deutlich  auf  der  Karte  zu  sehen ,  welche 
die  britische  Admiralität  nach  diesen  Reisen  veröffentlichen  konnte. 
Es  bestehen  demnach  die  Länder  im  Norden  der  Barrowstrasse 
und  des  Melvillesundes ,  der  sogenannten  nordwestlichen  Durch- 
fahrt, aus  vier  grösseren  Inseln,  nämlich  (von  Ost  nach  West)  aus 
dem  Doppelpaar  Northdevon  und  Grinnellland,  Cornwallissinsel, 
Melvilleinsel,  Prinz  Patrickinsel,  heutigen  Tages  die  Ultima  Thule 
der  Polarwelt.  Die  Nordspitzen  dieser  Inseln  nähern  sich  alle 
beträchtlich  dem  77.  Grade  nördlicher  Breite,  aber  nur  die  Pa- 
trickinsel überschreitet  diesen  Breitenkreis  bedeutend  bis  über  37'. 
Was  die  Küstenlinien  auf  der  Karte  betrifft,  so  gewähren  sie  nur 
dort  überall  ein  sicheres  Bild,  wo  sich  das  Ufer  hart  am  Meere 
steil  erhebt,  während  überall  da,  wo  die  Küste  seicht  verläuft, 
die  Grenze  zwischen  Land  und  Meer  sich  schwer  oder  gar  nicht 
unterscheiden  lässt,  weil  über  beide  Schnee  und  Eis  ein  täuschen- 
des Niveau  augebreitet  hatten.  Eine  dieser  Expeditionen  ging  von 
dem  Ankerplatze  im  Northumberlandsunde  an  der  Nordküste  der 
Cornwallisinsel  und  an  der  Sabinehalbinsel  (Melvilleinsel)  vorbei 
nach  der  Station  der  andern  beiden  Schiffe  und  wieder  zurück. 
Von  dieser  letztern  Station  aus   wurden   zwei   verschiedene   Expe- 


11-6  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

ditionen  nach  der  Patrickinsel  gesendet,  eine  um  die  Nordspitze, 
die  andere  um  die  Südspitze  dieser  Insel ,  so  dass  beide  Expedi- 
tionen die  Westküste  von  Prinz  Patrickinsel  erreichten ,  und  sich  bis 
auf  einen  sehr  geringen  Zwischenraum  näherten.  Eine  dieser 
Schlittenreisen  unter  Commander  Richards  dauerte  94  Tage  und 
die  von  ihm  zurückgelegte  Strecke  betrug  808  nautische  Meilen, 
während  Osborn  seine  Schlittenreise  auf  1208  Meilen  berechnet, 
so  dass  alle  früheren  Leistungen  dieser  Art  durch  diese  beiden 
verdunkelt  wurden.  Wir  beschränken  uns  hier  auf  die  merkwür- 
digsten Beobachtungen  dieser  Reisen,  welche  völlig  ohne 
den  geringsten  Unfall  abliefen.  So  fand  Sir  Edward 
Belcher,  welcher  ostwärts  vorgedrungen  war,  dass  GrinnelUand 
durch  eine  enge  Strasse  (Arthursund)  von  dem  geschwisterlichen 
Northdevon  getrennt  werde  Als  er  an  der  Nordküste  (76°  27' 
nördhcher  Breite)  den  92.  Grad  westlicher  Länge  (Paris)  erreichte, 
sah  er  am  20.  Mai  1853  ein  offenes  Meer  gegen  Osten, 
welches  mit  dem  Jonessund  im  Zusammenhang  gedacht  werden 
musste.  Diese  Entdeckung  erhält  ihre  Bedeutung  erst,  wenn  man 
sich  erinnert,  dass  alle  Seefahrer,  die  von  der  Behringsstrasse,  also 
von  der  asiatischen  Seite  her,  in  den  arktischen  Archipel  vor- 
dringen wollten,  selbst  im  August,  dem  Culminationspunkte  des 
Polarsommers,  noch  unbewegliche  Eismassen  unter  dem  72.  oder 
doch  unter  dem  73.  Grad  nördlicher  Breite  antrafen.  In  der 
Pennystrasse  und  im  Norden  des  Byam  Martincanals  wurden  Spal- 
tungen des  Eises  und  aufsteigendes  Wasser  bereits  im  Mai  wahr- 
genommen. Die  Buchten  der  Nordküsten  waren  aber  mit  Eis 
erfüllt,  welches  deuthch  ein  hohes  Alter  verrieth,  so  dass  man 
annehmen  kann,  dass  alle  solche  geschützte  Golfe  nie  frei  werden. 
Ebenso  bemerkte  Lieutenant  Mecham,  welcher  den  grössten  Theil 
der  Westküste  von  Patrickinsel  untersuchte,  dass  das  Packeis  oder 
die  vergleichsweise  dauernde  Bedeckung  des  Oceans  bis  dicht  an 
die  Küste  heranreichte.  Dort  scheint  daher  alles  in  ewiger  Er- 
starrung zu  liegen,  wenn  auch  die  Wirkung  des  Sommers  und 
mechanische  Gewalten  bisweilen  Spalten  und  Wasserzungen  für 
kurze  Zeit  in  der  Eisdecke  öffnen  mögen.  Sehr  glücklich  hat  sich 
unlängst  H.  W.  Dove  geäussert:  ,,Wenn  die  nähere  Untersuchung 
der  Gletscher  gezeigt  hat,  dass  die  auf  festem  Grunde  liegenden 
Eismassen,  welche  für  den  ersten  AnbUck  das  Bild  einer  impo- 
santen Ruhe  darstellen,   doch  in  stetiger  Bewegung  begriffen  sind, 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren   1849 — 1856.  iry 

SO  wird  die  Annahme  gerechtfertigt  erscheinen,  dass  feste  Eisbar- 
rieren auf  dem  Meere  noch  weniger  die  Bedingung  einer  absoluten 
Ruhe  in  sich  tragen."  Nur  ein  einziges  Zeichen  von  der  Nähe 
einer  Polarsee  wurde  an  der  Westseite  von  Prinz  Patrickinsel 
beobachtet;  der  Himmel  war  nämlich  gegen  Norden  und  Westen 
mit  Gewölk  beschwert ,  während  im  Osten  der  sogenannte  Eis- 
schimmer (Ice-blink)  ihn  erhellte.  Die  arktischen  Seefahrer  be- 
haupten nämlich  übereinstimmend,  am  Himmel  selbst  erkennen  zu 
können,  ob  die  Luftschicht  in  gewissen  Himmelsrichtungen  auf 
flüssigen  oder  erstarrten  Oberflächen  ruhe,  und  sie  unterscheiden 
daher  einen  E i s h i m m e  1  von  einem  Wasserhimmel.  Die 
Thierwelt  schien  in  einzelnen  Räumen  völlig  zu  fehlen,  sie  war 
wenigstens  an  den  Nordküsten  sehr  spärlich  vertreten.  Dagegen 
wurde  an  dem  Westrande  der  Melvilleinsel  eine  Raupe-  ge- 
funden und  später  auch  eine  schwarze  Spinne.  31  verschiedene 
Arten  von  Vögeln  wurden  auf  diesen  Entdeckungsreisen  angetroffen, 
allein  das  nördliche  Vordringen  dieser  Thiere  erklärt  sich  leicht, 
da  sie,  an  keine  Heimath  gebunden,  mit  dem  Winter  wieder  heim- 
ziehen. Von  vierfüssigen  Arten  gab  es  acht,  den  Eisbär,  den 
Wallfisch,  den  Seehund,  den  Eisfuchs,  den  Polarhasen,  das  Renn- 
thier,  den  arktischen  Maulwurf  oder  Lemming  (Georychus  lemmus) 
und  den  Bisamstier.  Das  Vorkommen  dieses  Thieres  ist  ganz 
besonders  merkwürdig,  denn  Bos  moschatus  verlässt  im  Winter 
den  Archipel  nicht.  Auch  wurde  er  in  zahlreichen  Heerden  an 
der  Südwestspitze  der  Melvilleinsel  angetroffen ,  wo  diese  Thiere 
vor  den  erstaunten  arktischen  Wanderern  sich  zu  Geschwadern 
ordneten  und  mit  den  Hörnern  gegen  den  Feind  gekehrt,  förm- 
Hche  Bewegungen  wie  Schwadronen  ausführten.  Eines  dieser 
Stücke  lieferte  150  Pfund  Fleisch  und  in  einer  Entfernung  von 
zwei  deutschen  Meilen  wurden  »nicht  weniger  als  150  Stück  ge- 
sehen und  gezählt.  Aus  diesem  Reichthum  von  Thieren  darf 
man  auf  eine  vergleichsweise  üppige  Vegetation  unter  höheren 
Breiten  als  75°  schliessen.  Dort  würden  sich  natürlich  auch 
Menschen  zu  ernähren  vermögen,  und  wenn  Sir  John  Franklin  in 
ein  solches  arktisches  Paradies  gerathen  wäre,  so  hätte  er  Jahre 
lang  sein  Leben  zu  fristen  vermocht.  Auf  manchen  Schiffen  der 
arktischen  Seefahrer  gab  es  fünf  Tage  in  der  Woche  frisches  Wild- 
pret,  so  ergiebig  war  die  Jagd,  obgleich  die  Seeleute  meist  zum 
erstenmale  sich  in  dem  edlen  Waidwerke  versuchten  und  gewöhn- 


ic8  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

lieh  nur  sehr  wenige  bis  zu  einer  gewissen  GeschickHchkeit  ge- 
langten. So  steht  denn  der  Ausdruck  Kane's  fest,  dass,  soweit 
unsere  Kenntnisse  reichen,  wir  in  der  arktischen  Welt  keinen 
Punkt  zu  bezeichnen  vermögen,  von  dem  aus  auf  lo  deutsche 
Meilen  im  Radius  es  nicht  ausreichende  menschliche  Nahrung 
gäbe.  Erinnern  wir  noch  einmal  daran,  dass  unter  77°  nördlicher 
Breite  am  Grinnellland  Bauten  steinerner  Häuser  angetroffen  wur- 
den. Die  menschliche  Natur  besitzt  eine  solche  Fähigkeit,  fremd- 
artigen Klimaten  sich  anzubequemen,  dass  zuletzt  auch  die  Frank- 
linsucher sich  an  die  niedrigen  Temperaturen  gewöhnten.  Die  Leute 
unter  Sir  Edward  Belcher  versichern  uns ,  dass  sie  bei  2  °  R. 
Wärme  sich  ermattet  fühlten,  wie  in  der  Heimath  bei  schweren 
Gewittern,  und  als  Kane  mit  seinen  Begleitern  die  ersten  europäi- 
schen Wohnungen  nach  einer  Fahrt  von  etlichen  Wochen  in  offe- 
nem Boote  erreichte,  vermochten  sie  nicht  mehr  die  Stubenluft 
auszuhalten,  sondern  übernachteten  im  Freien. 

Die  letzte  Fahrt  dieses  vortrefflichen  Mannes,  welcher  im 
Jahre  1857  in  Habana  starb,  bildet  den  glanzvollen  Abschluss  der 
grossen  Epoche  der  Franklinsucher.  Der  Schauplatz  seiner  Thaten 
lag  sehr  fern  von  dem  Ort  der  Katastrophe  des  Erebus  und  Ter- 
ror ,  wie  es  überhaupt  das  Verhängniss  dieser  grossartigen  Unter- 
nehmungen sein  sollte,  die  arktische  Welt  durch  und  durch  zu 
erforschen  und  nur  die  schmalen  Räume  nicht,  wo  die  nautischen 
Seehelden  umkamen,  obgleich  das  ahnungsvolle  Herz  der  Lady 
I  ranklin  immer  und  immer  richtig  die  Stelle  bezeichnet  hatte,  wo 
die  wackern  Seeleute  ihren  Untergang  fanden.  Dr.  Elisha  Kent 
Kane  verliess  mit  der  Brigg  Advance  und  17  ,  später  19  Mann, 
Newyork  am  30.  Mai  1853.  Er  ging  die  Baffinsbay  hinauf  und 
hielt  sich  beständig  an  der  Westküste  Grönlands.  Dass  die  Baf- 
finsbay nach  Norden  nicht  verschlossen,  nicht  streng  genommen 
eine  Bay,  sondern  ein  See  sei ,  wusste  man  seit  Capitän  Ingl^fields 
Fahrt  im  Jahre  1852,  welcher  am  27.  August  78°  30'  nördl.  Br. 
erreichte  und  sich  damals  zwischen  dem  arktischen  Gibraltar  Cap 
Alexander  (Grönland)  und  Cap  Isabella  (Grinnellland)  befand. 
Er  entdeckte  also,  dass  die  Baffinssee  durch  den  Smithsund  nach 
Norden  mit  noch  unbekannten  Meeren  in  Verbindung  stehe,  und 
fand  damals  ein  völlig  eisfreies  Wasser,  welches  dem  Vordringen 
nach  dem  Pol  keine  Gränze  zu  setzen  schien.  Minder  begünstigt 
war  Kane  im  folgenden  Jahre.     Auch    er   drang   zwar    durch   die 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren  1S49  — 1856.  jeg 

„Herkulessäulen  des  Polarmeeres",  allein  im  Norden  der  Smith- 
strasse begann  sogleich  der  Kampf  mit  Eisflächen  und  Eisbergen 
—  ein  Kampf  auf  Leben  und  Tod. 

Die  Eisberge  sind  meistens  die  Kinder  Grönlands  oder  wenig- 
stens der  grönländischen  Seestrassen.  Die  Eisberge  bestehen  nicht 
aus  gefrornem  Meerwasser,  sondern  sind  süsse  meteorologische 
Producte.  Ihre  blaue  Farbe  unterscheidet  sie  von  andern  Eisbil- 
dungen, jedenfalls  sind  sie  die  SprössHnge  des  festen  Landes.  Die 
Westküste  Grönlands  unter  jenen  Breiten  fällt  in  einer  steilen  Stufe 
oft  senkrecht  in  die  See,  und  die  Höhe  dieser  Wände  wird  durch- 
schnittlich auf  7 — 900  Fuss  angegeben.  Von  dem  Innern  Grön- 
lands kennt  man  nur  sehr  wenig,  aus  dem  wenigen  aber  hat 
Kane  geschlossen ,  dass  die  Insel  oder  der  kleine  Continent  von 
Grönland  bedeckt  sei  mit  Gletschern ,  ein  einziges ,  zusammen- 
hängendes Mer  de  glace,  welches  überall  da,  wo  Spalten  am 
Rande  der  Küste  es  erlauben,  seine  erstarrten  Katarakten  zum 
Meere  herabsendet.  Die  Gletscher  gehören  daher  zu  den  gewöhn- 
lichen Erscheinungen  an  der  Westküste  dieses  Landes.  Weiter 
gegen  Norden  ist  sogar  ein  einziger  mächtiger  Gletscher,  der  jetzt 
weltbekannte  Humboldtgletscher,  über  einen  seichten  Sund  von 
Insel  zu  Insel ,  von  Grönland  nach  Washingtonland  gewachsen. 
So  wenigstens  schildert  Kane  selbst  die  Erscheinung,  doch  bedarf 
es  der  Vorsicht  vor  der  Verführung  seiner  dichterischen  Prosa. 
Die  Küste  von  Grönland  beginnt  nämlich  von  78*^  30'  bis  79^ 
5'  nach  Ostnordost  zurückzuweichen  und  verschwindet  endlich 
völlig  vor  den  aus  dem  Innern  herausquellenden  Eismassen  des 
Humboldtgletschers,  dessen  senkrechte  Wände  sich  15  Meilen  nach 
Norden  ziehen ,  wo  der  Fuss  des  Gletschers  auf  dem  niedrigen 
Saume  einer  gegen  Westnordwest  strebenden  Küste  ruht,  welche 
Kane  das  Washingtonland  nennt.  Ob  dieses  Land  eine  Insel  sei 
oder  mit  Grönland  zusammenhänge ,  ist  nicht  ermittelt  worden, 
ob  der  Humboldtgletscher  also  wie  eine  Krystallbrücke  das 
Washingtonland  an  Grönland  befestige,  oder  ob  er  nur  den  Golf 
einer  und  derselben  Küste  ausfülle,  soll  erst  noch  untersucht 
werden. 

Der  Gletscher  selbst  gewährt  das  Bild  einer  nur  scheinbaren 
Erstarrung.  Das  ganze  Jahr  über  brechen  aus  seinen  Spalten 
Quellen  hervor  und  er  selbst  ist  in  geheimnissvoller  Thätigkeit 
begriffen.     Er  stösst  beständig  grosse  Stücke  Eises    von   sich   hin- 


j^O  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

weg,  die,  man  erfährt  nicht  genau,  wie?  in  das  Meer  zu  seinem 
Fusse  rücken  und  dort  auf  der  Eisfläche  zu  Hunderten  zerstreut 
liegen.  Diese  Eisberge  sind  150  und  bisweilen  sogar  300  Fuss 
hoch  und  bieten  je  nach  ihrem  Alter  und  ihrer  Lage  wunderliche 
Formen:  bald  Würfel,  bald  Pyramiden,  bald  Kegel,  bald  aber 
auch,  wenn  sie  vom  Thau  an  ihrem  Fusse  beleckt  worden  sind, 
schirm-  oder  pilzartige  Gestalten,  bis  endlich  der  Eispfeiler  sein 
Dach  oder  seine  Tafel  nicht  mehr  zu  tragen  vermag  und  diese 
zusammenbricht.  Solche  Eisberge  gelangen  von  den  Gletschern 
auf  ihrer  Wanderschaft  allmählich  in  die  offene  See  und  werden 
von  den  Strömungen  bis  ins  atlantische  Meer  getragen,  wo  sie 
sogar  die  Linie  der  britisch-amerikanischen  Postschiffe  kreuzen. 

Als  die  Brigg  Advance  die  arktischen  Herkulessäulen  hinter 
sich  hatte,  riethen  die  Officiere  zur  Umkehr,  allein  Kane  setzte 
seine  Fahrt  im  Treibeis  gegen  Norden  fort,  während  hinter  ihm 
die  Strasse  zufror,  so  dass  jetzt  das  Schiff  an  der  Küste  Grönlands 
wie  in  einem  Käfig  sass,  den  nur  ein  milder  Sommer  wieder 
öffnen  konnte.  Allein  im  Jahre  1854  blieb  die  Smithstrasse  ge- 
schlossen und  ebenso  im  Jahre  1855.  Nach  zwei  furchtbaren 
arktischen  Wintern,  welche  die  Seefahrer  zuletzt  nöthigten,  Theile 
ihrer  Brigg  zu  verbrennen ,  um  sich  ein  warmes  Obdach  zu  ver- 
schaffen, bheb  Kane  und  seinen  Begleitern  nichts  übrig,  als  die 
Advance  dort  zu  verlassen,  wo  sie  im  August  1853  eingefroren 
und  seitdem  nicht  wieder  erlöst  worden  war,  nämlich  in  der  Rens- 
selaer  Bay  78°  38'  nördl.  Br.  an  der  Westküste  Grönlands.  Es 
wurden  drei  Boote  auf  Schlitten  gesetzt  und  im  Frühjahr  1855 
über  die  Eisfelder  der  Smithstrasse  geschoben,  bis  man  das  offene 
Wasser  der  Baffinssee  und  die  nördlichste  dänische  Niederlassung 
in  Grönland  erreichte,  wo  ein  von  den  Vereinigten  Staaten  aus- 
gerüsteter Rettungsdampfer  bald  nachher  die  Heimkehrenden  auf- 
nahm. Die  Erlebnisse  dieser  abenteuerlichen  Fahrt  bilden  zwei 
stattliche  Bände  einer  spannenden  Erzählung  voll  von  ,,haarbrei- 
ten"  Rettungen,  wie  die  Engländer  sich  ausdrücken.  Der  gefähr- 
lichste Feind  aber  bUeb  immer  der  Scorbut,  der  am  hartnäckig- 
sten in  den  Monaten  Januar,  Februar  und  März  auftrat,  bis  die 
Jagd  wieder  eröffnet  werden  und  mit  den  frischen  Nahrungsmitteln 
den  Patienten  geholfen  werden  konnte. 

Die  merkwürdigste  Entdeckung  der  Reise  bleibt  jedoch  immer 
die  Gegenwart   von    Menschen    mitten   in  dieser  arktischen    Oede. 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren   1849 — 1S56.  jöj 

Frühzeitig  im  ersten  Winter  wurde  die  Brigg  von  Eskimos  besucht, 
deren    Ortschaften    ein    wenig    landeinwärts    von    der    Rensselaer 
Bucht  lagen.     Hier  zeigt  sich  die  volle  Elasticität  der  menschlichen 
Natur,  welche  selbst  dem  härtesten  Klima  zu  widerstehen  vermag. 
Die  durchschnittliche  jährliche  Temperatur  jener    Küstenstelle    ist 
—    15.    65°   R.,  des    kältesten   Monats   (März)    —    30.    23°,    des 
wärmsten  (Juli)  2,  84°;    allein  Kane   versichert    uns,    dass  an  ge- 
schützten   Stellen    der    Process    des    Frierens    das    ganze 
Jahr  über  währt.     Es  ist  also  natürlich,  dass  es  dort  nur  eine 
kümmerliche  und  zarte    Vegetation    geben   kann.     Was   Holz   und 
was  Bäume  sind,  wissen  die  Eskimos  nicht,  sie  sahen  diese  Dinge 
zum  erstenmal,  als  die  Advance  erschien.     Ihre  Hütten  richten  sie 
aus    S'teinen    auf,    deren    Ritzen    mit    Moos  verschlossen    werden. 
Den    Eingang    zu    diesem    Bienenkorb    bildet    ein  langer  Tunnel, 
durch  den  man  kriechen  muss,  und  welcher  den  Zutritt  der  Kälte 
gut  verhindert.     In  den  Hütten  entsteht  durch  Fettlampen  und  die 
eigene  Wärmeentleerung    der  Bewohner  bald  eine  solche    Tempe- 
ratur, dass  sich  die  Eskimos  ihrer  Bärenpelze  entledigen  und  völHg 
nackt,    wie  die   Würmer   und   wie   diese   zusammengepackt,    ihre 
häuslichen    Stunden    zubringen.      Nahrung    gewinnt    dieses    merk- 
würdige Volk  nur  durch  die  Jagd.     Hauptsächlich  ist  es  das  Wall- 
ross,    auf    dessen    Gegenwart    die    Existenz    menschlicher    Gesell- 
schaften unter  jenen  Breiten  beruht.     Das  Wallross  ist  das    ganze 
Jahr    über    jagdbar    mit    Ausnahme    der    drei    Wintermonate  vom 
Januar  bis  ]\Iärz.     Es  wird  k>  den  übrigen  Monaten  mit  Harpunen 
gejagt,  wobei  die  Jäger  gewöhnlich  ihr  Leben  auf  das  Spiel  setzen, 
weil    das    verwundete    Thier    die  Eisdecke    zu  zertrümmern    sucht, 
auf  welcher  sich  seine  Verfolger  ihm  genähert   haben.     Die    Eski- 
mos wären  die  glücklichsten  Menschen,  wenn  sie  ein  wenig  Oeko- 
nomie    besässen.      Mit    arktischem    Hunger  aber  wird   gewöhnlich 
die   Jagdbeute    rasch    aufgezehrt,    die   Vorräthe    gehen   zur   Neige, 
ehe  die  Jagdzeit  wieder  beginnt,  und  das  Ende  des  Winters  endigt 
beinahe  regelmässig  mit  einer  Hungersnoth,  wenn  nicht  die  Bären- 
jagd  einige   Aushülfe    gewährt.     Der   Eskimo    greift   dieses    Thier 
beherzt  an,  wenn  er  sich  auch  ganz   allein  befindet.     Seine  Waffe 
ist    ein    Speer,    sein    Gehülfe    aber    der    Hund.     Sobald   sich   die 
Bestie  zum  Angriff  aufrichtet,  bohrt  ihm  der  Jäger  seine  Waffe  in 
die  Brust,    doch    sind    natürlich    Katastrophen   dabei    sehr  häufig. 
Im  Sommer  giebt  es  Nahrung  in  Menge,  besonders  wenn  die  Vögel 

Peschel,  Abhandlungen.    II.  1 1 


l52  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

erscheinen.  Buben,  mit  Schmetterlingsnetzen  bewaffnet,  klettern 
an  steile  Felsenwände,  wo  Wolken  kleiner  Meerschwalben  umher 
schwärmen  und  wo  ein  Kind  in  kurzer  Zeit  Hunderte  solcher 
Thiere  mit  seinem  Netze  zu  fangen  vermag.  Alle  Geräthe,  selbst 
die  Schlitten  dieser  Leute,  sind  aus  Thierknochen  verfertigt,  die 
ineinander  gefügt  und  zusammengebunden  alle  begehrten  Dienste 
leisten.  Das  Eisen  freilich  gelangt  nur  durch  den  Handel  mit 
südlichen  Völkern  in  den  Besitz  dieser  Stämme,  deren  grösster 
Reichthum  in  der  Anzahl  ihrer  Hunde  besteht,  die,  zum  Ziehen 
und  Jagen  abgerichtet,  ihnen  unersetzliche  Dienste  leisten,  bei 
eintretender  Hungersnoth  aber  gewöhnlich  geschlachtet  werden 
müssen. 

Dieses  nämliche  merkwürdige  Menschengeschlecht  ist  niclat 
bloss  in  der  Rensselaerbucht,  sondern  noch  höher  unter  8i°  nördl. 
Br.  neun  Grad  vom  Nordpol  angetroffen  worden,  wenigstens  fand 
man  dort  das  Bruchstück  eines  ihrer  Schlitten.  Diess  geschah  auf 
der  äusserst  merkwürdigen  Expedition  im  Juni  1854,  welche  den 
Entdeckungen  des  Dr.  Kane  so  ungewöhnlichen  Werth  verliehen 
hat.  Zwar  konnte  das  Oberhaupt  selbst  diese  Schlittenreise  nicht 
ausführen,  da  seine  Gesundheit  noch  zu  geschwächt  war,  sondern 
musste  die  Aufgabe  William  Morton,  einem  Matrosen,  übertragen, 
allein  die  Zuverlässigkeit  dieses  Mannes  hatte  Kane  auf  seiner 
ersten  Franklinfahrt  erprobt,  und  Morton  besass  nicht  nur  einige 
nautische  Fertigkeiten,  so  dass  er  mit  Hülfe  des  Compass  und  des 
Sextanten  eine  Karte  des  zurückgelegten  Weges  anfertigen  konnte, 
sondern  er  hat  auch  über  seine  Erlebnisse  einen  so  klaren  Bericht 
abgefasst,  dass  wir  Alles,  w-as  er  beobachtet  hat,  so  sicher  glauben 
dürfen,  als  hätte  Kane  es  selbst  gesehen.  Morton  hatte  einen 
einzigen  Begleiter ,  den  christlichen  Eskimo  Hans .  den  man  in 
Dänischgrönland  für  die  Entdeckungsfahrt  angeworben  hatte,  der 
aber  nicht  mit  Kane  zurückkehrte,  sondern  kurz  vor  dem  Rückzug 
der  Schiffsmannschaft  verschwand,  eine  Desertion,  die  Kane  durch 
eine  Liebschaft  unter  79°  nördl.  Br.  zu  entschuldigen  sucht.  Diese 
beiden  Männer  gingen  mit  einem  Hundeschlitten  nach  Norden 
hinauf.  Sie  hatten  zu  beiden  Seiten  Küste,  rechts  Grönland  in 
einer  Entfernung  von  12,  links  eine  arktische  Insel  GrinnelUand ') 
in   einer   Entfernung    von    40   englischen    Meilen.      Am    sauersten 


[)  Nicht  zu  verwechseln  mit  der  gleichnamigen   Insel  im  Wellingtonkanal. 


Die  grosssen  Entdeckungen  in  den  Jahien  1849 — 1856.  163 

war  die  Reise  vor  dem  Humboldtglelscher,  wo  eine  grosse  Stadt 
von  Eisbergen  stand,  durch  deren  schmale  Gassen  sie  ihren  Weg 
suchen  mussten,  so  dicht  drängten  sich  die  krystallenen  Monu- 
mente zusammen.  Als  sie  wieder  ins  „Freie",  das  heisst  aus  dem 
Labyrinth  dieser  Früchte  des  grossen  Gletschers  gelangten,  fanden 
sie  zur  Rechten  eine  neue  Küste,  das  Washingtonland,  welches 
sich  anfangs  gegen  Norden,  dann  gegen  Nordost  hinzog,  aber 
anfangs  viel  niedriger  und  offener  war,  als  die  Westküste  des  süd- 
licheren Grönlands.  Hier  begannen  aber  sogleich  meteorologische 
Veränderungen  unerwarteter  Art  sich  einzustellen.  Die  Eisdecke 
wurde  trügerisch  und  offene  Wasserstellen,  welche  von  Federvieh 
belebt  wurden,  kamen  bald  zum  Vorschein.  Man  sah  sich  dess- 
halb  genöthigt,  an  der  Küste  die  Reise  fortzusetzen.  Bald  hatte 
man  eine  blanke  See  zur  Linken  mit  Fahrwasser  für  Schiffe  jeder 
Grösse,  auf  welcher  sich  dünne  Eisschollen  mit  Ebbe  und  Fluth 
gegen  Nord  und  Süd  bewegten.  Die  SchHttenreise  erleichterte 
ausserordentlich  der  sogenannte  Eisfuss ,  das  heisst  ein  mehrere 
Fuss  starker  Eisrand  dicht  am  Ufer  im  gleichen  Niveau  mit  der 
höchsten  Fluth,  welcher  auch  im  Sommer  Stand  zu  halten  und 
eine  ^natürliche  Chaussee  zu  bilden  pflegt ;  bald  aber  wurde  auch 
dieser  mürbe,  der  Schlitten  musste  daher  zurückbleiben  und  die 
Wanderer  am  Ufer  zu  Fuss  vorwärts  dringen,  bis  endlich  ein  xov- 
springendes  Gap  (Constitution)  81°  22'  nördl.  Br.  ihren  Schritten 
ein  Ziel  setzte.  Etwa  500  Fuss  hoch  gelang  es  Morton  an  der 
Felswand  hinaufzuklimmen,  aber  dreimal  höher  stiegen  die  Klip- 
pen noch  über  ihm  empor.  Zwischen  Nord  und  Nordnordost, 
Avo  die  Aussicht  endigte,  war  eine  völlig  freie  See  am  24. 
Juni  1854,  Den  ganzen  westlichen  Horizont  füllte  die  Küsten- 
linie des  mit  blauen  Bergketten  geschmückten  Grinnelllandes, 
dessen  fernster  Kegel,  Mount  Edward  Parry,  zwischen  82  und 
83°  nördl.  Breite  liegen  muss.  Gegen  Nordwesten  lagerten 
Regenwolken,  eine  Himmelserscheinung,  die  nicht  beobachtet 
worden,  seit  die  Advance  durch  die  arktischen  Herkulessäulen 
gesegelt  war.  Da  das  Thauwetter  sich  längst  schon  eingestellt 
hatte,  fehlte  es  nicht  an  einigem  wenn  auch  spärlichem  Pflanzen- 
wuchs, um  so  schaarenreicher  zeigte  sich  dafür  die  Thierwelt: 
Eidergänse,  MoUemocken,  Elfenbeinmöven  und  Meerschwalben, 
welche  letztere  sich  von  Seepflanzen  nähren.  Am  Lande  selbst 
hatte    man    einen    Eisbären   erlegt   und   das   Stück   eines  Eskimo- 

II* 


164  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Schlittens  gefunden,  so  dass  also  die  Gegend  früher  bewohnt,  oder 
wenigstens  besucht  gewesen  sein  muss. 

Diese  ausserordentlichen  Thatsachen  lassen  zwei  Erklärungen 
zu.  Die  eine  verführerische  ist  die  Annahme  einer  eisfreien  Po- 
larsee, welche  nie  oder  nur  kurze  Zeit  erstarrt.  Dazu  ist  es  nöthig, 
sich  vorzustellen,  dass  im  Norden  von  Washingtonland  und  den 
vom  Geschwader  Sir  Edward  Belchers  erforschten  Inseln  keine 
beträchthchen  Landbildungen  mehr  sich  finden  und  dass  der 
warme  Golfstrom  zwischen  Spitzbergen  und  Nowaja  Semlija,  den 
Pol  umkreisend,  in  rückläufiger  Bewegung  nach  jener  offenen  See 
münde  und  ihr  eine  höhere  Temperatur  mittheile.  Leider  fehlen 
aber  für  diese  Hypothese  untrüghche  Belege,  wie  z.  B.  Wahrneh- 
mung von  Treibproducten ,  welche  dem  Golfstrom  eigenthümUch 
sind.  So  lange  man  auf  diese  nicht  stösst,  wird  die  erste  Erklä- 
rung höchst  bestritten  bleiben.  Die  andere  Auslegung  ist  minder 
verführerisch  und  daher  für  den  kritischen  Sinn  behaglicher.  Man 
kann  nämlich  die  von  Morton  gesehene  See  als  eine  locale  Er- 
scheinung betrachten,  die  ganz  besonders  günstigen  meteorologi- 
schen Conjuncturen  verdankt  wurde.  Wie  oft  hatte  man  nicht 
schon  verkündigt,  das  freie  Polarmeer  gesehen  zu  haben!  Und 
eben  so  oft  mussten  andere  Seefahrer  an  der  nämlichen  Stelle, 
wo  ihre  berauschten  Vorgänger  ein  befreites  Fahrwasser  gegen 
Norden  sahen ,  im  folgenden  Jahre  eine  erstarrte  See  antreffen ! 
Inglefield  hatte  1852  eine  völlig  freie  Durchfahrt  durch  das  grön- 
ländische Gibraltar  erblickt  ,  Kane  fand  1853  schon  grössere 
Schwierigkeiten,  1854  und  1855  blieb  die  Smithstrasse  geschlossen, 
und  wir  wissen  nicht,  ob  sie  seitdem  offen  geworden  ist!  War 
die  See  bei  Washingtonland  schon  1852  und  1853,  war  sie  1855 
noch  offen?  Das  Zufrieren  und  Oeffnen  von  Meerestheilen,  nament- 
lich von  Sunden  —  und  nach  Kane's  Karte  zu  urtheilen,  sah  man 
vorläufig  nur  einen  Sund  des  Polarmeeres  —  ist  von  grossen  Zu- 
fälligkeiten abhängig,  namentlich  von  der  Herrschaft  günstiger  ab- 
wehrender Winde  in  der  Zeit ,  wo  die  grossen  Eisbänke  sich  wie- 
der schliessen  wollen.  Immerhin  aber  bleibt  die  Erscheinung  im 
Jahre  1854  noch  ein  grosses  Räthsel.  Der  kälteste  Monat  in  der 
Rensselaer  Bucht  war  der  März,  während  in  der  dritten  Juniwoche 
Mortons  See  schon  völlig  eisfrei  gefunden  wurde,  so  dass  also  der 
Process  des  Thauens  schon  im  Mai  dort  begonnen  haben  musste. 
Zweitens  ist    der  Kennedycanal   zwischen    Washington-    und    Grin- 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren  1849 — 1856.  165 

nellland  nur  7  deutsche  Meilen  breit,  dem  Zufrieren  daher  leicht 
ausgesetzt,  und  er  gränzt  unmittelbar  an  die  mit  Eisbergen  be- 
völkerte, wohl  nie  oder  selten  geöffnete  Strasse  vor  dem  Hum- 
boldtgletscher, dessen  erkältende  Nähe  gewiss  sehr  beträchtlich 
die  locale  Temperatur  beherrscht.  Endlich  weiss  man  nicht  zu 
erklären,  welchen  Weg  die  von  Morton  gesehenen  Vögel  genom- 
men haben  konnten,  da  sie  an  der  Advance  vorüber,  überhaupt 
in  der  Smithstrasse  heraufziehend,  nicht  gesehen  worden  waren. 
So  bleiben  uns  denn  durch  diese  Entdeckungen  neue  Zweifel 
übrig  und  Mortons  See  wird  jetzt  gar  Vielen  ein  werthvoUerer 
Gegenstand  des  Nachforschens  dünken,  als  die  nun  wirklich  ge- 
fundene, aber  ihrer  Opfer  kaum  würdige  nordwestliche  Durchfahrt. 
Unsre  neuen  arktischen  Entdeckungen  haben  uns  dem  Nordpole 
nicht  mehr  genähert.  Am  nächsten  kam  ihm  auf  einer  Schlitten- 
fahrt im  Norden  von  Spitzbergen  Sir  Edward  Parry  1827  ,  im 
Juli,  bis  82°  45',  also  näher  noch  als  der  von  Morton  gesehene 
äusserste  Berg  Mount  Parry,  und  seitdem  sind  Grönlandsfahrer  in 
der  See  von  Spitzbergen  zu  wiederholtenmalen  bis  82°  und  selbst 
82  °  30'  vorgedrungen.  Mortons  Leistung  ist  daher  nur  desshalb 
so  ungewöhnlich,  weil  westlich  von  Grönland  dort  eine  höhere 
arktische  Breite  als  die  Nordspitze  Spitzbergens  betreten  wurde. 
Kane's  Ueberwinderungsplatz  ist  zwar  bis  jetzt  die  kälteste  Stelle 
im  Polarkreise  gewesen,  wo  bis  jetzt  Beobachtungen  angestellt 
worden  sind,  wenn  man  auf  das  Jahresmittel  Rücksicht  nimmt, 
allein  noch  kältere  Winter  wurden  in  Jakutzk  und  Ustjansk  be- 
obachtet, nämlich  nach  Dove's  Reductionen : 


Ustjansk. 

Jakutzk. 

Rensselaer  Bucht 

Rea 

u  m  u  r. 

Winter 

—   30    20 

—  30  53 

—    27    36 

Frühling 

—    14    50 

-     7   63 

—    19    32 

Sommer 

6   57 

II    73 

0   44 

Herbst 

—  13  77 

-     8   77 

—    16    37 

Jahr 

—  12  98 

—     8  80 

-    15    65. 

Nach  diesen  neuern  Erfahrungen  lautet  das  letzte  oder  viel- 
mehr neueste  Wort  der  Meteorologie,  dass,  da  die  mittlere  Jahres- 
temperatur in  Madras  22.  36  R.  beträgt,  jeder  Tag  im  Jahr  in 
dieser  indischen  Stadt  um  38°  im  Durchschnitt  wärmer  ist 
als  in  der  Rensselaer  Bucht. 


l66  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Das  wärmste  Monats  mittel  ist  bis  jetzt  in  Massauwa  für 
den  Mai  (29°  78')  gefunden  worden.  Verglichen  mit  dem  nie- 
drigsten Durchschnitt  des  wärmsten  Monats  in  den  Polargegenden 
ergiebt  sich  ein  Unterschied  von  28°  29'.  Setzt  man  aber  das 
wärmste  Monatsmittel  dem  kältesten  Monat  in  Jakutzk  gegenüber, 
so  beträgt  der  Unterschied  63°  18',  und  er  würde  natürlich  noch 
grösser  sein ,  wenn  man  die  Extreme  innerhalb  der  Monate  ver- 
gleichen wollte.  Staunend  aber  gewahren  wir  schon ,  welchen 
Ungeheuern  Wärmeunterschieden  die  menschliche  Natur  sich  anzu- 
bequemen vermag.  So  vollständig  ist  es  gelungen,  die  alte  Irr- 
lehre der  alexandrinischen  Weltweisen  zu  widerlegen ,  welche  die 
Erde  nur  innerhalb  der  gemässigten  Zone  belebt  glaubten.  Im 
Norden  wenigstens  reichen  die  Spuren  unseres  Geschlechtes  bis 
zum  81.  Grad,  und  wer  darf  noch  sagen,  dass  der  Pol  selbst  für 
uns  völlig  unbetretbar  sei? 

Selbst  in  seiner  völligen  Erstarrung  ist  der  höchste  Norden 
nicht  arm  an  grossartigen  Schönheiten.  Der  Lichtglanz  des  ge- 
stirnten Polarhimmels  wird  von  Kane  voller  Begeisterung  geschil- 
dert. Die  zerklüftete  Küste  Grönlands  mit  ihren  burgartigen  Fel- 
senwerken und  ihren  natürlichen  Vendomesäulen,  der  majestätische 
Humboldtgletscher  und  der  Garten  mit  Eispyramiden  auf  der  ge- 
frornen  Kanesee,  verherrlicht  durch  die  unverlöschliche  Gluth  der 
ewig  auf-  oder  ewig  untergehenden  arktischen  Frühlingssonne,  sind 
unbegreiflich  hohe  Werke 
Und  herrlich  wie  am   ersten  Tag ! 

Reicher  an  praktischen  Ergebnissen  und  ebenso  gefahrvoll 
für  die  Unternehmer  war  die  grosse  mittelafrikanische  Mission, 
deren  letztes  Mitglied  —  gegenwärtig  für  todt  gesagt  —  noch 
nicht  zurückgekehrt  ist.  Durch  den  Tod  des  Chefs  der  Expedition, 
Mr.  Richardson,  der  im  Anblick  seines  grossen  Reisezieles  am 
4.  März  1851,  42  Jahr  alt,  starb,  ging  auf  den  damals  gerade 
dreissigjährigen  Barth  die  Leitung  der  Botschaft  über.  Wenig 
mehr  als  ein  Jahr  verfloss,  als  sich  Barth  völlig  allein  sah,  nach- 
dem er  den  trefflichen  Overweg,  den  ersten  Beschiffer  des  Tsad- 
sumpfes,  am  Rande  dieses  afrikanischen  Wassers  bestatten  musste. 
Damals  aber  hatte  bereits  Barth  seine  beiden  brillanten  Entdeck- 
ungsreisen nach  Adamaua  und  Baghirmi  ausgeführt,  deren  histo- 
rischer Verlauf  in  den  bis  jetzt  veröffentlichten  drei  Bänden  des 
Reisewerkes  vollständig  enthalten  ist.     Zwar  war  der  Tsadsee  und 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren   1849 — 1856.  167 

das  Reich  Bornu  bereits  1823  von  Denham  und  Clapperton  be- 
sucht worden,  doch  ist  jede  Reise  eines  bedeutenden  Gelehrten 
eine  Entdeckungsreise.  Namentlich  hat  uns  Barth  die  Quellen  zu 
einer  Geschichte  der  innerafrikanischen  Staaten  geliefert,  die  uns 
einen  dauerhaften  historischen  Faden  gewähren,  wo  früher  nur 
einzelne  Bruchstücke  von  Arabern  und  arabischen  Reisenden  für 
uns  vorhanden  waren.  Seit  wir  diesen  Schatz  besitzen,  werden 
manche  Irrthümer  über  die  Umbildungsfähigkeit  der  sogenannten 
schwarzen  Race  und  über  das  scheinbar  klanglos  Erstarrtliegen 
des  gewaltigen  Festlandes  zerrinnen.  Der  Sudan  Afrika's  ist  kein 
geschichtsloses  Land  und  die  Neger  keine  Zwischengeschöpfe 
zwischen  dem  weissen  Menschen  und  der  übrigen  Thierwelt. 

Adamaua,  die  von  Barth  zuerst  besuchte  Provinz  des  grossen, 
aber  lockeren  Reiches  der  Fulbe  (Fellatah) ,  liegt  bekanntlich  im 
Süden  des  Tsadsees.  Wir  können  den  Reisenden  nicht  durch  die 
üppigen  Kornfluren  Bornu's,  durch  die  frischen  Weidelandschaften 
und  durch  die  unheimlichen  Wälder  Marghi's,  durch  gastliche  und 
ungastliche  Ortschaften  begleiten.  Der  Tag  des  Sieges  war  der 
18.  Mai  1851,  wo  Barth  endlich  die  Ufer  des  Benue  erreichte, 
und  zwar  gerade  bei  seinem  Zusammenfluss  mit  dem  Faro ,  wo 
luftige  Berge,  unter  andern  der  angeblich  9000  Fuss  hohe  Alan- 
tika,  den  Reiz  des  sonnigen  afrikanischen  Bildes  erhöhen.  Der 
Anblick  eines  Flusses  in  einem  so  dürstenden  Lande,  wie  Afrika, 
wird  von  allen  Reisenden  als  ein  Genuss  gepriesen.  Unwillkürlich 
schweifen  die  Gedanken  am  Ufer  auf  und  nieder,  nach  der  Mün- 
dung und  nach  den  Quellen.  Der  Fluss  war  an  der  Stelle,  wo 
ihn  Barth  kreuzte,  wenigstens  1200  Schritt  breit  und  im  Strome 
durchschnittlich  11  Fuss  tief,  doch  Hessen  andere  Anzeichen  auf 
eine  zeitweise  Wasserfülle  von  30  bis  50  Fuss  schliessen.  Der 
Faro  dagegen  war  nur  900  Schritt  breit ,  damals  zwei  Fuss  tief, 
aber  sehr  reissend.  Dieses  herrhche  Strompaar,  mitten  im  Innern 
des  schwer  zugänglichen  Continentes ,  erhielt  einen  unschätzbaren 
Werth  in  dem  Auge  eines  Reisenden,  welcher  im  Jahre  zuvor  alle 
Beschwerden  und  Fährlichkeiten  einer  Reise  durch  die  Sahara 
bestanden  und  sich  dabei  überzeugt  hatte,  dass  über  diesen  glühen- 
den Boden  kein  Pfad  führe,  auf  welchem  sich  die  europäische 
Cultur  nach  Innerafrika  übertragen  Hesse.  Barth  war  von  Kukaua 
am  29.  Mai  abgereist  und  erreichte-  mit  seiner  Karawane  am 
17.  Juni  die  Gabel  des  Faro    und  Benue.     Auf    diesen    für  leichte 


jgg  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Schiffe  zugänglichen  Strömen  könnten  statt  einer  Wüstenreise  von 
mehreren  Monaten  jetzt  europäische  Frachten  sich  bequem  den 
Reichen  Südafrika's  und  dem  Tsadsumpfe  bis  auf  eine  massige  An- 
zahl von  Tagereisen  nähern.  Zu  Denhams  und  Clappertons  Zeit 
wäre  der  praktische  Werth  der  Entdeckung  wahrscheinlich  ver- 
dunkelt geblieben,  denn  der  Niger  und  seine  neue  von  Barth  ent- 
deckte östliche  Seitenader,  der  Benue,  sind  den  Segelschiffen  nicht 
zugänglich ,  weil  die  Reise  rasch  beendigt  sein  will ,  wenn  nicht 
das  Schiffs volk  vom  Fieber  hinweggerafft  werden  soll.  Mit  der 
verunglückten  grossen  Nigerexpedition  hatte  man  überhaupt  das 
Stromgebiet  des  vielnamigen  Flusses  für  ein  ungeeignetes  Verkehrs- 
mittel halten  müssen.  Seitdem  hat  sich  aber  die  Dampfschififfahrt 
über  den  Ocean  und  um  Afrika  heruragewagt.  Mit  dem  neuen 
Werkzeug  änderte  sich  nothwendig  auch  der  Werth  der  älteren 
Verkehrsmittel,  besonders  seitdem  es  gelang,  durch  den  Bau 
seichter  Dampfer  Flüsse  von  unbeträchtUcher  Tiefe  zu  befahren. 
Kaum  war  daher  Dr.  Barths  Bericht  über  seine  Entdeckung  des 
Benue  nach  Europa  gelangt,  so  überzeugte  sich  jedermann,  dass 
dieser  Fluss  derselbe  sei,  dessen  Mündung  in  den  Niger  unter 
dem  Namen  Tschadda')  man  bisher  gekannt  hatte.  So  kam  1854 
die  sogenannte  Tschadda  -  Expedition  zu  Stande,  die  aus  dem 
leichten  Dampfer  Plejade  bestand  und  vom  Golf  von  Guinea  aus 
den  Niger  und  Benue  hinaufgehen  sollte,  um  zu  untersuchen,  ob 
der  Fluss  bis  zu  der  von  Dr.  Barth  berührten  Stelle  schiftbar  sei. 
Die  Plejade  gelangte  unter  Dr.  Baikie's  Führung  bekanntlich  in 
die  nächste  Nähe  von  Yola,  der  Hauptstadt  Adamaua's  und  der 
Stelle,  wo  der  Faro  sich  mit  dem  Benue  vereinigt.  Das  wichtigste 
Ergebniss  dieser  Fahrt  aber  war  es,  dass  sie  ohne  Menschen- 
verluste zurückgelegt  wurde.  Nur  sehr  wenige  Seeleute  an  Bord 
erkrankten,  und  alle  kamen  mit  leichteren  Fieberanfällen  davon. 
In  Folge  von  Fahrlässigkeit  fehlte  es  dem  Dampfer  frühzeitig  an 
Kohlen,  man  musste  daher  Holz  am  Ufer  erst  schlagen  lassen, 
und  verlor  darüber  nicht  nur  so  viel  Zeit,  dass  die  Wasser  im 
Flusse  zu  sinken  begannen  und  zur  Rückkehr  nöthigten,  sondern 
es  wurde   auch    die  Gesundheit    der  Mannschaft   mehr   als    nöthig 


i)  Dr.  Barth  behauptet,  der  Fluss  führe  diesen  Namen  nirgends,  wesshalb 
er  jetzt  von  den  Karten  verschwinden  muss,  wie  mau  auch  bisher  irrthümlich 
Binue  statt  Benue  geschrieben  hat. 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren   1849 — 1856.  160 

aufs  Spiel  gesetzt.  Nachdem  die  Plejade  den  Benue  verlassen 
hatte,  erreichte  kurz  nachher  Dr,  Vogel  einen  ihrer  Ankerplätze, 
wo  er  die  Anwesenheit  eines  englischen  Schiffes  aus  den  Trümmern 
von  Sodawasserflaschen  und  überhaupt  den  Zusammenhang  der 
Expedition  sogleich  errieth.  Man  erzählt  sich,  dass  man  bei  dem 
Bau  der  Niagarabrücke  zuerst  einen  dünnen  Faden  an  einem 
Drachen  befestigt  über  den  Fluss  tragen  liess.  An  dem  dünnen 
Faden  wurden  dann  allmählich  Schnüre,  Seile  und  Ketten  herüber- 
geschafift.  Einen  solchen  Faden  hat  auch  Dr.  Barth  durch  seine 
Entdeckung  des  Benue  aus  dem  Herzen  Innerafrika's  uns  zuge- 
tragen, und  wir  alle  hoffen  jetzt,  dass  daraus  eine  Brücke  für 
unsere  Civilisation  werden  möge. 

Vom  Benue  zog  der  Reisende  ein  wenig  landeinwärts  nach 
der  Hauptstadt  Adamaua's,  Yola,  wenig  gefasst  auf  den  Empfang, 
der  ihm  bevorstand.  Adamaua  ist  die  jüngste  Eroberung  der 
äusserst  merkwürdigen  Fulbe  oder  Fellatah,  und  wurde  von  einem 
Statthalter  unter  dem  Sultan  regiert ,  der  abhängig  war  von  dem 
Emir  el  Mumenin  oder  dem  Chahfen  der  Fulbe,  der  in  Sokoto 
(jetzt  in  Wumo)  residirt.  Dr.  Barth  bat  den  ersteren  um  Erlaiib- 
niss ,  durch  Adamaua  hindurch  nach  dem  indischen  Ocean  reisen 
zu  dürfen.  Der  afrikanische  Continent,  der  bei  uns  noch  immer 
die  Vorstellung  von  leblosen  unwegsamen  Ländermassen  erweckt, 
wird  gleichwohl  jährlich  von  grossen  Schaaren  im  Sinne  der  Breiten- 
kreise durchschnitten.  In  Südafrika  sind,  wenn  auch  spärlicher, 
Reisen  von  der  Mozambique-  nach  der  Angolaseite  nichts  uner- 
hörtes. Dr.  Barth  traf  in  Yola  einen  Araber  aus  Mocha,  welcher 
die  Namen  Bombay  und  Madras  vortreffHch  kannte,  die  Mozam- 
biqueküste  bis  Sofala  bereist  hatte  und  dann  quer  durch  das  Fest- 
land am  Nyassasee  vorüber  nach  Adamaua  gelangt  war.  Eine 
Reise  durch  das.  äquatoriale  Afrika  nach  dem  indischen  Ocean, 
wenn  auch  von  Fährlichkeiten  umlagert,  schien  dennoch  für  einen, 
dem  KUma  trotzenden  Mann  nichts  Abenteuerliches ,  und  welche 
Ausbeute  hätte  die  Wissenschaft  vielleicht  erhalten,  wenn  es  Dr. 
Barth  gelungen  wäre ,  den  grossen  Vorsatz  auszuführen !  Allein 
wenn  man  überlegt,  an  welchen  Zufälligkeiten  das  Gelingen  des 
Unternehmens  hing,  so  wird  man  Barths  Reise  nach  Timbuktu, 
und  die  Freude,  den  Entdecker  wohlbehalten  heimgekehrt  zu  sehen, 
als  vollwichtigen  Ersatz  betrachten.  Der  Statthalter  Yola's  zeigte 
bei    der   ersten  Audienz    gegen  Barth   keinen   üblen  Willen,    allein 


j  ij  Q  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

dieser  war  in  Begleitung  eines  Bornuesen  gereist,  der,  wie  es  sich 
ergab ,  höchst  anstössige  Aufträge  seines  Hofes  bezügUch  der 
Herausgabe  streitiger  Gränzlandschaften  überbrachte.  So  erhielt 
denn  Barth  den  Befehl,  sammt  seinem  bornuesischen  Geschäfts- 
träger schleunig  umzukehren,  und  es  beharrte  selbst  später,  als 
sich  die  Stimmung  gegen  unsern  Landsmann  besserte ,  der  Statt- 
halter auf  seinem  ersten  Wort,  dass  er  ohne  Ermächtigung  des 
kaiserlichen  Hofes  in  Sokoto  eine  so  grosse  Person,  wie  Barth, 
nicht  durch  seine  Provinz  ziehen  lassen  dürfe.  Von  dort  möge 
er  also  sich  die  Erlaubniss  holen.  Das  Benehmen  des  Statthalters 
erscheint  uns  durchaus  nicht  unbillig  und  zeugt  von  einem  gewissen 
politischen  Schliff  im  Verkehr  dieser  Negerländer,  deren  materielle 
Civihsation  zwar  kein  europäisches  Mass  verträgt,  die  aber  un- 
endlich höher  ist,  als  das  falsche  Bild,  welches  wir  vor  gar  nicht 
langer  Zeit  noch  von  dem  Sudan  besassen. 

Adamaua  ist  die  östlichste  Provinz  der  schwarzen  Eroberer 
vom  Stamme  der  Fulbe  oder  der  Fellatah  und  zugleich  die  ein- 
zige, welche  ihnen  ein  Gebiet  auf  dem  linken  Benueufer  gewährt, 
denn  dieser  Strom  ist  in  seinem  unteren  Laufe  bisher  die  Schranke 
ihrer  Eroberungen  geblieben,  die  nach  und  nach  aufgeschwollen 
sind ,  wie  eine  Seifenblase.  Die  sogenannte  Tschaddaexpedition, 
welche  nur  die  Verheerungen  der  Fulbe  sah,  nur  die  Klagen  der 
ausgeplünderten  und  vertriebenen  Heiden  am  Benue  hörte,  gewann 
von  dem  Volke  nur  einen  düstern  Begriff.  Der  vierte  Band  von 
Barth  wird  uns  die  besten  und  die  neuesten  Belehrungen  über 
die  grosse  Nation  bringen.  Jedenfalls  ist  der  deutsche  Reisende 
sehr  günstig  für  sie  gestimmt.  In  Adamaua  stehen  unter  den  Mark- 
grafen und  Herrn  der  Fulbe  nicht  über  3 — 4000  ärmlich  berittene 
Reiter  und  etwa  das  zehnfache  als  Fussvolk.  ,,Es  ist  von  eigen- 
thümlichem  Interesse",  bemerkte  der  Entdecker,  „diese  Eroberer 
und  Colonisten  fortschreiten  zu  sehen ;  sie  zerstören  und  bauen 
wieder  auf,  verwüsten  ganze  Strecken  Landes,  um  sie  auf  ihre 
eigene  Weise  nachher  wieder  zu  bebauen.  Was  dabei  an  Be- 
völkerung und  menschlichem  Lebensglück  zu  Grunde  geht,  wird 
an  politischer  Einheit  gewonnen ;  denn  das  ist  der  entschiedene 
Fortschritt  bei  den  muhamn:edanischen  Eroberungen,  den  Niemand 
leugnen  kann,  dass  sie  die  einzelnen  Landschaften  mehr  mit  ein- 
ander vereinigen  und  grösseren  Verkehr  erschliessen,  während  den 
heidnischen  Stämmen  scheinbar  das  Princip   inne  liegt,    sich  stets 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren   1849 — 1856.  j-ji 

mehr  und  mehr  abzusondern  und  zu  zerspHttern".  Einheimische 
afrikanische  Geschichte  wird  bisher  den  meisten  Gebildeten ,  die 
nicht  Liebhaber  von  SpeciaHtäten  waren,  nur  als  eine  unverdau- 
liche geistige  Beschäftigung  erschienen  sein.  Allein  durch  die 
neuern  Forschungen  unseres  Landsmannes  gewinnen  wir  an  den 
Fulbe  das  grösste  Interesse,  da  sie  jedenfalls  eine  edle  historische 
Rolle  spielen.  Ein  hübsches  Gemälde  von  ihrem  Wesen  entwirft 
der  Verfasser  bei  seinem  Besuche  Ssarau's  in  Adamaua  noch  diess- 
seits  des  Benue:  „Dort  im  Fulbedorfe  leichte  luftige  Hütten,  die 
Gehöfte  von  reicher  Vegetationsfülle  belebt,  alles  sprossend  und 
freundlich ,  Menschen  und  Vieh  in  traulichster  Gemeinschaft ,  die 
Männer  von  geradem  schlanken  Wüchse  und  heller  Hautfarbe,  mit 
offenen,  lebensvollen  Zügen,  weissen  sauber  gewaschenen  Hemden; 
Frauen  und  Mädchen  in  den  leichtesten  anmuthigen  Formen,  das 
Haar  leicht  in  Locken  auf  den  schlanken  Nacken  herabfallend, 
den  Hals  mit  Reihen  bunter  Perlenschnüre  geschmückt,  um  den 
Leib  ein  helles  Gewand".  Es  sind  sehr  oft  jugendlich  frisch  ge- 
bliebene Nomadenvölker,  die  plötzhch  zu  Eroberungen  entflammt, 
grosse  Ländermassen  mit  alternden  poHtischen  Bildungen  wieder 
verjüngen,  bis  die  Söhne  der  Natur  durch  ihre  Eroberungen  und 
Berührung  mit  verfeinerter  Civilisation  wieder  entarten.  So  auch 
die  Fellatah.  „Obgleich  schon  im  Besitze  einer  grossen  Herrschaft, 
sind  die  Fulbe  Adamaua's  doch  vorzugsweise  noch  geblieben,  was 
sie  waren,  Viehzüchter.  Rindviehheerden  sind  nebst  Sklaven  noch 
immer  ihr  Hauptreichthum ,  die  Schafzucht  ist,  wie  es  scheint, 
sehr  gering.  Von  Industrie  wissen  sie  noch  gar  nichts ,  und  so 
kann  Handelsverkehr  nur  noch  im  Keime  liegen ;  dafür  aber  findet 
man  bei  ihnen  jene  patriarchalische  Reinheit  und  Einfachheit  der 
Sitten ,  die  man  in  den  grossen ,  von  ihnen  eroberten  Verkehrs- 
stätten Haussa's  vergeblich  sucht.  Sie  sind  ein  rüstiges,  an  Stra- 
pazen und  Entbehrungen  gewöhntes  Volk,  wenn  sie  auch  an  Muth 
dem  Europäer  weit  nachstehen ;  in  ihrem  religiösen  Bewusstsein 
folgen  sie  instinctmässig  dem  Triebe  der  Eroberung  über  jene 
Heidenvölker.  In  der  That  bin  ich  überzeugt,  dass  bei  der  Mehr- 
zahl dieser  Leute  das  religiöse  Bewusstsein  noch  immer  stärker 
ist,  als  die  Gewinnlust,  und  dass  sie  sich  nicht  allein  für  berechtigt, 
sondern  selbst  für  verpflichtet  halten ,  ihre  Herrschaft  stets  mehr 
und  mehr  auszubreiten." 

Vorläufig  hat  die  Eroberung  dieser  muhammedanischen  Neger 


172 


Zur  Geschichte  der  Geographie. 


die  sittliche  Erziehung  der  Unterworfenen  nur  in  einem  Punkte 
gefördert;  sie  zwingen  ihre  nackten  Sklaven,  durch  einen  Schurz 
ihre  Blosse  zu  bedecken  und  die  Frauen  wenigstens  hin  und  wieder 
sich  zu  verschleiern.  Zu  den  völlig  nackten  Centralafrikanern 
zählen  z.  B.  die  Marghi,  ein  mit  den  Musgu  verschwisterter  Volks- 
stamm, über  welche  Barth  bemerkt:  „Die  Männer  sind  im  All- 
gemeinen hochgewachsen  und ,  so  lange  sie  noch  jung  sind ,  von 
schlankem  Wuchs ;  auch  einige  Frauen  erreichen  eine  hohe  Gestalt 
und  bilden  dann  mit  ihren  hängenden  Brüsten  und  ihrer  gänzlichen 
Nacktheit  einen  wahren  Gegenstand  des  Schreckens,  besonders 
wenn  sie  von  röthHcher  Farbe  sind".  Als  Barth  zum  ersten  Male 
eine  völhg  entblösste  Frau  aus  einem  Brunnen  aufsteigen  sah, 
scheute  selbst  sein  Pferd  vor  dem  ungewöhnlichen  Anblick.  Das 
Interessanteste  an  den  Eroberungen  der  Fellatah  ist  gewiss  die 
gleichzeitige  Erweiterung  der  Herrschaft  des  Islam.  Während  wir 
diese  Religion  gewöhnlich  für  alternd  ansehen  und  sie  bereits  in 
sichere  Gränzen  gebannt  hielten,  tritt  sie  in  Afrika  beständig  als 
Raum  gewinnend  auf,  sie  ist  dort  nicht  bloss  glücklicher  als  das 
Christenthum ,  sondern  hat  dieses  sogar  im  Norden  siegreich  ver- 
drängt. Afrika  war  eine  christHche  Provinz  vor  dem  Siegeszuge 
des  Islam  nach  dem  Westen  und  das  Evangelium  herrschte  sogar 
im  Sudan ,  ehe  dorthin  die  Lehre  des  Propheten  kam.  Eine  der 
merkwürdigsten  Entdeckungen  Dr.  Barths  ist  es,  dass  die  Imoscharh 
ihren  europäischen  Namen  Tuarek  den  Arabern  verdanken,  welche 
sie  die  Ueber getretenen  nennen ,  und  zwar  traten  sie  vom 
Christenthum  zum  Islam  über,  von  welchem  ersteren  sie  jedoch 
noch  einige  deutliche  Reste  festgehalten  haben.  In  welche  späte 
Zeit  aber  dieser  Uebertritt  fällt,  mag  man  daraus  entnehmen, 
dass  erst  am  Beginn  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  die  Araber  in 
Fesan  eingedrungen  sind. 

Weit  früher  kam  das  Volk  und  die  Lehre  des  Propheten  in 
die  reichen  Länder  südlich  der  Sahara.  Aus  Barths  chrono- 
logischer Geschichte  Bornu's  ergiebt  sich,  dass  der  erste  muham- 
medanische  Fürst  über  dieses  Reich  zwischen  1086  — 1097  nach 
Christus  regierte.  Es  ist  wohl  erlaubt,  diesem  frühen  Eindringen 
arabischer  Cultur  und  Religion  die  Gesittung  im  Sudan  zuzu- 
schreiben. Der  Islam  besass  nämlich ,  ganz  abgesehen  von  den 
hohen  sittlichen  Wirkungen  einer  monotheistischen  Lehre,  ein  un- 
schätzbares    Bildungsmittel    in    den     alljährlich     wiederkehrenden 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren  1849 — 1856.  j-jj 

Pilgerfahrten  nach  Mekka.  Der  Sudan  wird  in  seiner  ganzen 
Breite  vom  fernsten  Westen  durchzogen,  und  natürUch  bringen  die 
heimkehrenden  Hadschi  aus  einer  verfeinerten  Grossstadt  wie 
Mekka ,  wo  sich  das  gebildete  Morgenland  zusammenfindet ,  eine 
Welt  von  neuen  Begriffen  und  Anschauungen,  aber  auch  Bediirf- 
nisse  nach  höheren  Lebensreizen  mit.  Sie  bringen  auch  die  Pro- 
ducte  fremder  Industrie,  die  Geräthe  fremder  Cultur,  die  Werk- 
zeuge anderer  Gewerbe  mit  heim,  ja  —  selbst  Bibliotheken.  So 
traf  Barth  mit  Pilgern  aus  Massena  am  Djoliba,  also  des  äussersten 
Westens  zusammen,  unter  denen  ein  Speculant  eine  beträchtliche 
Anzahl  Bücher  mit  heimbrachte.  Ein  anderer  Pilger  in  Baghirmi, 
mit  welchem  Barth  sich  gut  auf  arabisch  unterhalten  konnte,  hatte 
dreimal  die  heihge  Stadt  besucht  und  die  Schiffe  der  Christen  auf 
dem  rothen  Meere  angestaunt.  Mit  einem  blinden  Fellatah  in 
Massena  0,  der  logarithmische  Mathematik  studirt,  und  den  Ge- 
brauch des  Astrolabiums  in  seinen  lichten  Tagen  verstanden  hatte, 
durfte  Barth  über  Plato  und  Aristoteles  sprechen ,  welche  er  aus 
den  arabischen  Uebersetzungen  kannte.  So  werden  die  Völker 
des  Sudans  nicht  bloss  auf  die  Ankunft  einer  höheren  Civilisation 
vorbereitet,  sondern  mit  den  Wallfahrern  werden  auch  fremde  ge- 
bildete Einwanderer  ins  Land  gezogen.  Ein  nicht  unbeträchtlicher 
Theil  der  Bevölkerung  Bomu's  sind  die  Schua  arabischer  Abkunft, 
die  vor  2^2  Jahrhunderten  von  Osten  her  in  das  Land  einzogen 
und  nicht  weniger  als  20,000  Mann  Reiter  jetzt  ins  Feld  stellen 
können.  Auch  einzelne  Abenteurer  dieser  auf  den  Festlanden  all- 
gegenwärtigen und  reiselustigen  Nation  werden  überall  angetroffen. 
So  stiess  in  Yola  Barth  auf  einen  arabischen  Architekten,  der  für 
den  Statthalter  ein  warmes  Bad  erbauen  sollte,  wie  er  kurz  zuvor 
dem  Sultan  von  Wadai  ein  gleiches  Gebäude  errichtet  hatte.  Der 
Araber  ist  daher  für  Afrika  vollständig  das  gewesen,  was  der 
Europäer  für  Amerika  war,  nur  dass  eine  einzelne  Nation  nicht 
leicht  einen  so  massiven  Welttheil  völlig  bewältigt.  Es  ist  dess- 
halb  natürlich,  dass  die  Araber  überall  antieuropäisch  gesinnt  sind, 
und  den  abendländischen  Reisenden  gern  Schlingen  legen,  gerade 
so  wie  in  Asien  die  Araber  es  waren,  welche  nach  Auffindung 
des  indischen  Seeweges  gern  die  Europäer  wieder  aus  den  Ländern 
vertrieben  hätten,  wo  der  Pfeffer  wuchs.     Christenthum  und  Euro- 


i)  Hier  ist  die  Hauptstadt  Baghirmi' s  gemeint. 


174 


Zur  Geschichte  der  Geographie. 


päer  haben  einen  schweren  und  sehr  ungleichen  Kampf  in  Afrika 
zu  bestehen ,  dessen  KHma  der  östlichen  Civilisation  weit  besser 
zusagt,  als  dem  nördlichen.  Auch  sind  die  Uebertritte  vom  Islam 
zum  Christenthum  weit  schwieriger,  als  die  Uebertritte  von  diesem 
zu  jenem,  schon  wegen  der  Vielweiberei  und  der  Sklaverei,  welche 
der  Islam  vorfindet,  und  denen  er  seine  Weihe  giebt,  während 
das  Christenthum  polemisch  gegen  beide  auftritt. 

Dass  der  Islam  grosse  sittliche  Veränderungen  bewirke,  ergab 
sich  aus  dem  Vergleich  mit  den  Zuständen  in  dem  heidnischen 
Musgulande,  dem  „afrikanischen  Holland"  im  Süden  des  Tsadsee, 
wohin  Barth  im  Gefolge  eines  bornuanischen  Heeres  vordrang, 
welches  durch  einen  grossartigen  Menschenraub  den  Finanzen  des 
Reiches  ein  wenig  aufhelfen  sollte.  Dieses  Marschland  ist  der 
fruchtbarste  Strich  in  Innerafrika ,  wegen  seiner  mannigfaltigen 
Bewässerung.  Die  Flüsse  selbst  sind  so  fischreich ,  dass  sich  die 
Bewohner  nach  feindlichen  Verwüstungen  ihrer  Ernte  vollständig 
mit  dem  Fischfang  zu  ernähren  vermöchten.  Die  Einwohner, 
welche  noch  nicht  im  Gebrauch  von  Bogen  und  Pfeilen  geübt 
sind,  vermögen  den  Heimsuchungen  ihrer  Nachbarn  nicht  zu  wider- 
stehen, die  sie  wegen  ihres  Fetischdienstes  und  ihrer  Sittenroheit 
tief  verachten,  denn  die  Musgu,  Männer  wie  Weiber,  gehen  völlig 
nackt,  indem  sie  nur  ein  Bastseil  um  die  Hüften  binden  und 
zwischen  den  Beinen  durchziehen.  Von  dem  Musgufürsten  Adischen 
behaupteten  die  Bornuaner  sogar,  er  lege  sich  des  Abends  zur 
Erbauung  seines  Gesindes  in  völligem  Deshabilld  zu  seinen  Skla- 
vinnen, von  denen  er  200  in  seinem  Vermögen  zähle.  Die  Art, 
wie  sie  reiten,  charakterisirt  sie  als  vollständige  Wilde.  Um  sich 
einen  festeren  Sitz  auf  dem  ungesattelten  Pferde  zu  verschaffen, 
bringen  sie  den  Thieren  Fleischwunden  bei  und  ritzen  sich  selber 
die  Schenkel  auf,  damit  sie  von  dem  Blute  angeleimt  werden. 
Und  dennoch  sind  auch  diese  Stämme  nicht  ohne  eine  gewisse 
Industrie,  die  sich  namentlich  in  den  künstlichen  Bauten  ihrer 
Thonhäuser  offenbart.  Zwar  treiben  sie  den  Luxus  nicht  so  weit, 
wie  in  Adamaua ,  wo  Barth  das  Innere  der  Hütten  sauber  mit 
Farben  bemalt  fand,  so  dass  der  Reisende  sich  äusserst  bequem 
und  wohnlich  unter  einem  solchen  Obdach  fühlte;  dagegen  waren 
bei  den  Musgu  die  rundummauerten  Hofräume  mit  glockenförmigen 
Behausungen  und  diese  wieder  durch  regelmässige  architektonische 
Ornamente  geziert.     Dieser  künstlerische  Trieb    verrieth  sich    auch 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren  1849 — 1856.  jje 

in  den  eigenthümlichen  Grufthallen ,  denen  selbst  die  irdene 
Todtenurne  nicht  fehlte. 

An  das  Musguland  gegen  Osten  gränzt  das  muhammedanische 
Baghirmi,  mit  seinen  im  Sudan  berühmten  und  begehrten  Frauen- 
schönheiten ,  über  deren  Ruf  nicht  die  beste  Nachrede  umlief 
Barth  erreichte  dieses  Land,  als  er  den  Gränzfluss  Scliari  über- 
schritt. Allein  kaum  hatte  er  den  Fuss  ins  Land  gesetzt,  so  wurde 
er  wie  ein  Gefangener  behandelt,  weil  sich  das  Gerücht  verbreitet 
hatte ,  der  grosse  Hexenmeister  werde  eine  politische  Revolution 
in  Baghirmi  bewirken.  Der  Sultan  war  abwesend  auf  einem 
Kriegszuge,  sein  Reichsverweser  aber  consignirte  Barth  in  einer 
kleinen  Ortschaft  auf  der  Strasse  nach  der  Hauptstadt  Massena 
und  Hess  ihn  sogar  in  Fesseln  legen,  als  er  eines  Tages  wagte,  den 
Rückweg  anzutreten.  In  Massena,  der  Tamarindenstadt  ^),  wurde 
er  halb  wie  ein  Staatsgefangener  behandelt  und  musste  es  sich, 
selbst  nach  des  Sultans  Rückkehr,  für  eine  Gnade  schätzen,  wieder 
aus  Baghirmi  entlassen  zu  werden,  welches  er  von  allen  Europäern 
zuerst  betreten  und  wohin  Denham  vergeblich  vorzudringen 
gesucht  hatte. 

Fassen  wir  die  Ergebnisse  dieser  Entdeckungen  und  For- 
schungen zusammen,  so  bestehen  sie  in  Folgendem.  Es  giebt  im 
Süden  des  Tsadsees,  zwischen  diesem  und  dem  Benue  äusserst 
fruchtbare  Länder,  wo  ein  sorgfältiger  Ackerbau  betrieben  wird 
und  die  menschliche  Industrie  es  bis  zu  einem  gewissen  Comfort 
gebracht  hat^).  Es  sind  dort  Bedürfnisse  nach  Handel  und  Verkehr 
vorhanden,  und  die  Völker,  denen  eine  höhere  Begabung  nicht 
abgeleugnet  werden  darf,  haben  seit  dem  Eindringen  des  Islam 
eine  Geschichte,  einen  geistigen  Inhalt  ihres  Daseins  bekommen. 
In  allen  diesen  Ländern  wächst  die  Baumwolle  gepflegt  und  un- 
gepflegt, und  sie  vermöchten,  wenn  sie  durch  Verkehrsmittel  zu- 
gänglich würden,  einen  grossartigen  Bedarf  dieses  vornehmsten 
Welthandelsartikels  zu  decken.  Für  die  Ausfuhr  eignen  sich  ferner 
Erdeicheln  (Arachis  hypogaea) ,  Pflanzenfibern ,  Wachs ,  Häute, 
Elfenbein,    Rhinoceroshörner ,    vegetabilische  Butter   etc.     Die  Er- 


i)  Diess  ist  die  Bedeutung  des  Namens,  wie  Kukaua  nach  der  Kuka  oder 
Adansonia  digitata  die  Affenbrodfruchlstadt  heisst. 

2)  In  Bornu  und  Baghirmi  besteht  die  umlaufende  Marktmünze  in  Baum- 
wollenstreifen und  für  grössere  Zahlungen  in  Hemden.  Ein  bedeutungsvolles 
Zeichen  1 


J--6  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

oberungen  der  Fellatah  gewähren  die  Aussicht,  dass  man  mit 
diesem  intelHgenten  Volke  Verträge  schUessen  und  auf  Billigkeit 
in  Handel  und  Wandel  sich  Hoffnung  machen  darf.  Die  vielen 
und  tiefen  Wasseradern  bieten  Verkehrsmittel  vom  Tsadsee  bis  in 
die  Nähe  des  Benue,  und  wo  sie  fehlen,  ist  das  Schiff  der  Wüste, 
das  Kameel,  als  Werkzeug  des  Verkehrs  vorhanden.  So  mangelt 
es  nicht  an  Gliedern,  um  europäische  CiviHsation  mit  dem  Sudan 
dauernd  zu  verketten ! 

Eine  andere  fremde  Welt  hat  uns  ein  armer  Missionär,  David 
Livingstone,  eröffnet,  der  nach  vieljährigen  Missionsdiensten  und 
verheirathet  mit  der  Tochter  Moffats,  der  neben  seinen  Missionen 
unter  den  Bitschuana  durch  schöne  Entdeckungsreisen  in  Südafrika 
sich  ausgezeichnet  hat,  von  Kolobeng  aus,  der  äussersten  Station 
in  der  transvaalschen  Republik,  den  Pfad  der  Entdeckung  in  Süd- 
afrika betrat.  Das  weitere  Vordringen  in  das  Innere  des  Con- 
tinentes  von  Süd  nach  Norden  hatte  bisher  die  Wüste  Kalahari 
verhindert,  die,  zwischen  29  und  21°  südl.  Br.  gelegen,  nur  von 
Buschmännern  durchstreift  und  von  vertriebenen  Bitschuanastämmen 
bewohnt  wird.  Allein  diese  Wüste  ist  nicht  so  unwirthlich  und 
unbelebt  wie  die  Sahara  ,  und  würde  von  Kameelen,  wenn  dieses 
Thier  einmal  eingeführt  worden  sein  wird,  leicht  durchschritten 
werden,  da  Livingstone  selbst  mit  Ochsenkarren  und  einmal  sogar 
in  Begleitung  seiner  zarten  Kinder  durch  diese  Wildniss  gezogen 
ist,  die  mit  einer  Wüste  nur  die  Aehnlichkeit  besitzt,  dass  sich  in 
dem  sandigen  Boden  kein  fliessendes  Wasser  findet.  Wohl  aber 
bleiben  kleine  Teiche  von  einer  Regenzeit  zur  andern  unerschöpft 
und  an  diesen  vereinzelten  Trinkschalen  begegnen  sich  des  Nachts 
die  durstigen  Bewohner  der  Kalahari,  die  Zebra,  die  Giraffen,  das 
weisse  und  schwarze  Rhinoceros,  bis  aus  der  Ferne  sich  die  Säule 
einer  zahlreichen  Elephantenheerde  ankündigt,  welcher  scheu  alle 
übrigen  Thiere  den  Platz  räumen.  Wo  solche  Sümpfe  fehlen, 
giebt  es  hin  und  wieder  Stellen ,  wo  sich  wenige  Fuss  unter  der 
Oberfläche  auf  undurchdringlichen  Schichten  Wasser  in  solcher 
Fülle  sammelt,  um  Ross  und  Reiter  kleiner  Karawanen  zu  tränken. 
Livingstone  wusste  längst,  dass  sich  am  Nordrande  dieser  mit 
Graswuchs  und  Buschwerk  locker  bekleideten  Sandebene  der 
Ngamisee  befinde,  und  nach  diesem  Gegenstande  war  er  in  Be- 
gleitung des  afrikanischen  Nimrod  Oswell  am  i.  Juni  1849  auf- 
gebrochen.    Die  Entdecker  stiessen  zunächst  auf  einen  Fluss,  den 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren  1849 — '856.  jyy 

Zouga,  dessen  Lauf  nach  Westen  folgend,  sie  den  Ngamisee  am 
5.  August  erreichten.  Dieses  Ziel  befriedigte  den  Reisenden  schon 
nicht  mehr,  seit  er  am  Zouga  Kunde  von  einem  reich  bewässerten 
Lande  im  Norden  gehört  hatte.  Jenseits  des  20.  Breitengrades 
Wasser  und  grosse  Stromsysteme  im  Innern  Afrika's  anzutreffen, 
war  damals  noch  so  überraschend ,  dass  Livingstone  am  liebsten 
sogleich  nach  dem  Wunderlande  aufgebrochen  wäre.  Allein  nach- 
dem der  erste  Versuch  an  dem  Widerstand  des  Häupdings  am 
Ngamisee  und  ein  zweiter  durch  Erkrankung  von  Livingstone^s 
Kindern  gescheitert  war,  glückte  es  erst  1851,  den  Tschobe,  ein 
Seitengewässer  des  grossen  südafrikanischen  Zambesigebietes,  zu 
erreichen,  wo  Livingstone  und  Oswell  sehnsüchtig  von  einem 
afrikanischen  Monarchen  und  Eroberer,  Sebituane,  erwartet  wurden, 
der  vielfach  von  den  Europäern  gehört,  und  bei  dem  sich  die 
Vorstellung  befestigt  hatte,  dass  alle  seine  politischen  Wünsche 
sich  durch  den  Besitz  von  Feuergewehren,  die  er  nur  aus  der 
Beschreibung  kannte ,  erfüllen  liessen.  Der  plötzliche  Tod  dieses 
Häuptlings  unterbrach  das  weitere  Vordringen  und  die  Entdecker 
kehrten  nach  dem  Cap  zurück,  Livingstone  mit  dem  Vorsatze, 
seine  grossen  Entdeckungen  jetzt  weiter  zu  verfolgen. 

Im  Mai  1853  befand  sich  Livingstone  wieder  am  grossen 
Strom,  welcher  Liambye  in  seinem  mittlem,  Zambesi  in  seinem 
untern  Laufe  heisst.  Zwischen  ihm  und  dem  Ngamisee  befindet 
sich  eine  reich  von  Wasser  durchschnittene  Ebene  von  so  völlig 
horizontalem  Charakter,  dass  zur  Zeit  der  Hochwasser  die  ein- 
zelnen Ströme  untereinander  durch  Seitenzweige  in  doppelte  Ver- 
bindung gerathen  und  das  Land  von  ihnen  in  Inseln  getheilt  wird. 
Dieses  fruchtbare  Becken  gehörte  ursprünglich  gutartigen  und  fried- 
fertigen Negerstämmen,  den  Barotse,  Banyeti  und  Balonda,  welche, 
hauptsächlich  mit  Ackerbau  beschäftigt,  auch  etwas  Industrie  trieben, 
namentlich  Eisen  schmelzen  und  nicht  ohne  Kunst  ihre  Geräthe 
schnitzen.  Allein  Südafrika  ist  in  neuester  Zeit,  vielleicht  durch 
das  Vordringen  der  Europäer  in  die  Capländer,  einer  Völker- 
bewegung ausgesetzt  worden.  Die  südlichen  Stämme  drängen 
überall  nach  Norden.  So  haben  an  der  Westküste  die  streit- 
lustigen Namaquahottentotten  die  Damara  völlig  aus  ihren  Ursitzen 
vertrieben  und  diese  Stämme  halb  vernichtet  nach  Norden  geworfen. 
Im  Westen  ist  ein  Bitschuanastamm ,  die  Matebele,  bis  zum  süd- 
lichen Ufer   des  Zambesi   erobernd    vorgedrungen.     Die  Makololo, 

Pische}.  Abhandlungen.  II.  12 


iy8  ^"1'  Geschichte  der  Geographie. 

ein  anderer  Bitschuanastamm ,  bewohnten  ehemals  die  Ufer  des 
Kuruman ,  eines  Seitengewässers  des  Orange  Rivers ,  von  wo  sie 
1824  durch  die  Griquas ,  d.  h,  die  Mischlinge  von  Holländern 
und  Hottentotten ,  vertrieben  wurden.  Sie  stellten  sich  damals 
unter  Sebituane's  Führung,  zogen  nach  dem  Ngamisee  und  ver- 
breiteten sich  mife  ihren  Heerden  in  den  nahrungsreichen  Prairien 
des  Zambesi  unterhalb  des  berühmten  Victoriafalles ,  wo  sie  aber 
von  den  Heeren  des  kriegerischen  Matebeiekönigs  Mosilikatse 
wieder  vertrieben  wurden ,  und  nun  dem  Flusse  aufwärts  folgend, 
in  das  Thal  der  Barotseneger  einfielen,  die  den  speerwerfenden 
Bitschuana's  sich  sogleich  unterwarfen.  Sebituane  gründete  hier 
sein  Reich,  welches  von  18  bis  14°  südl.  Br.  über  beide  Strom- 
ufer sich  erstreckte.  Die  Zahl  der  Makololo  war  so  gering,  dass 
sich  nur  eine  oder  zwei  Familien  der  Eroberer  in  je  einem  Dorfe 
der  frohnd-  und  tributpflichtigen  Barotseneger  ansiedeln  konnten. 
Die  jährlichen  Ueberschwemmungen  des  südafrikanischen  Nils,  wie 
der  ernährende  und  fruchtbare  Liambye  genannt  werden  darf, 
erzeugen  böse  Fieber,  welche  jährlich  die  Zahl  der  gelben  Eroberer 
zusammenschmelzen ,  so  dass  früher  oder  später  die  schwarze 
Race  wieder  ihrer  Herren  ledig  werden  wird.  Livingstone  fand  bei 
seiner  Rückkehr  den  jungen  Staat  am  Rande  eines  Erbfolgestreites, 
da  ein  Prätendent  fürstlichen  Geblütes  dem  Sohne  des  hingeschie- 
denen Sebituane  die  Succession  streitig  machte.  Dieser,  Namens 
Sekeletu ,  sah  sein  verdunkeltes  Ansehen  durch  die  Freundschaft 
des  weissen  Mannes  völlig  gerettet  und  es  gelang  ihm ,  seines 
Nebenbuhlers  habhaft  zu  werden,  der  ohne  Zeitverlust  hingerichtet 
wurde.  Das  Trachten  des  Makololofürsten  ging  nach  Schiess- 
gewehren, überhaupt  nach  Eröffnung  von  Handelsverbindungen 
mit  den  Europäern.  Diese  waren  auf  drei  Wegen  möglich,  ent- 
weder vom  Cap  her  oder  nach  Nordwesten  mit  den  Portugiesen 
in  Angola  oder  gegen  Osten  mit  den  Portugiesen  am  untern 
Zambesi.  Der  erste  Weg  erprobte  sich  bald  als  unerspriesslich. 
Die  Handelsleute,  welche  mit  Livingstone  gekommen  waren,  hatten 
so  beträchtlichen  Aufwand  für  die  Bewegung  ihrer  Güter,  über 
300  deutsche  Meilen,  zu  bestreiten  gehabt,  dass  sie  nur  wenig  für 
die  Landesproducte  geben  konnten,  die  nur  aus  Elephantenzähnen 
bestanden,  der  einzige  Artikel,  welcher  die  Fracht  aus  dem  Innern 
deckte.  Von  Nordwesten  her  aber  hatten  sich  seit  1851  Mam- 
bari,  ein  Negerstamm  des  portugiesischen  Angola,  mit  Feuerwaffen 


Die  grossen   Entdeckungen  in  den  Jahren    1849 — 1856.  i-jg 

und  englischen  Kattunen  handeltreibend,  am  Liambye  gezeigt. 
Diese  Leute  begehrten  aber  als  Rückfracht  Sklaven ,  während 
Sklaverei  weder  der  Urbevölkerung  noch  den  Makololo  damals 
noch  bekannt  war.  Livingstone  schlug  daher  vor,  mit  einer  Kara- 
wane von  Makololo's  einen  Handelspfad  nach  der  portugiesischen 
Westküste  zu  suchen,  wohin  das  Elfenbein  des  Barotselandes  von 
den  Makololo  abgesetzt  werden  könnte.  Er  hoffte  dabai  zu  Wasser 
auf  dem  Liambye  so  bedeutend  gegen  Norden  vorzudringen,  dass 
er  eine  gleiche  Breite  wie  die  Mündung  des  Coanza  gewinne,  und 
dann  nach  Westen  abbiegend,  in  das  Quellengebiet  dieses  Stromes 
zu  gelangen. 

Im  Herbst  1853  begann  der  Missionär  mit  27  Makololo  diese 
neue  Reise ,  die  ihn  durch  völlig  unbekannte  Räume  des  Innern 
führte.  Er  bediente  sich  dazu  eines  einheimischen  Fahrzeuges 
und  fuhr  den  Liambye  aufwärts,  bis  dieser  gegen  Osten  in  das 
Innere  zurückwich,  während  er  einen  von  Norden  herabkommenden 
Seitenfluss,  den  Liba ,  verfolgte,  von  dessen  Quellengebiete  unter 
1 1  °  südl.  Br.  er  sich  westnordwestlich  wandte  und  bald  auf  Ge- 
wässer stiess ,  die  sämmthch  nach  Norden  abflössen  und  dem 
grossen  adantischen  Stromsystem  des  Zaire  oder  Congo  ange- 
hörten. 

Je  höher  er  im  Liambyethal  vordrang,  desto  dichter  bewachsen 
wurden  die  Ufer.  Auf  die  sonnigen  Prairien  im  Barotselande 
folgten  die  dichten  und  feuchten  Wälder  der  Balondastämme. 
Diese  friedfertigen,  aber  geizigen  Völker,  die  sich,  wenigstens  was 
den  weiblichen  Theil  betrifft,  noch  in  dem  Zustande  befanden, 
wie  ihre  Mütter  sie  geboren  hatten,  treiben  Ackerbau  und  viel 
Bienenzucht,  denn  Vieh  findet  sich  nur  in  wenigen  Exemplaren 
bei  den  Häuptlingen.  Bei  ihnen  stiess  Livingstone  zuerst  auf 
Götzenbilder,  denn  die  hochgearteten,  mit  Humor  und  Poesie  be- 
gabten Bitschuana's  beten  zu  dem  grossen  Geiste,  zur  Sonne,  und 
verehren  die  Geister  ihrer  Vorfahren. 

Von  seinem  Ausgangspunkt  im  Süden  an  bis  zum  Ziel  seiner 
Entdeckungen,  von  25  bis  10°  südl.  Br.,  hatte  Livingstone  keinen 
Berg  und  kein  Thal  gesehen,  vielmehr  ist  die  Ebene  so  flach, 
dass  die  riesenhaften  Ameisenhügel  oder  die  künstlichen  Hügel, 
auf  denen  man,  um  vor  Ueberschwemmungen  sicher  zu  sein,  im 
Barotselande  die  Dörfer  erbaut ,  die  einzigen  Bodenerhebungen 
bilden.     Die  grosse  Ebene  besitzt  2500  bis  5000  Fuss  Höhe  über 

12* 


l8o  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

dem  Meer,  und  zwar  hat  man  sich  zu  denken,  dass  der  Ngamisee 
selbst  die  niedrigste  Einsenkung  im  Mittelpunkte  dieses  an  den  Ost- 
und  Westrändern  aufsteigenden  tellerförmigen  Plateau's  bilde.  Den 
Westrand  erreichte  Livingstone  plötzlich ,  als  er  aus  den  feuchten 
und  überschwemmten  Wäldern  der  Balonda  sich  auf  einmal  am 
Saume  des  jäh  abstürzenden  Tafellandes  gewahrte  und  zu  seinen 
Füssen  sicl^eine  sonnige  Ebene  ausbreitete,  gegen  Westen  begrenzt 
von  einem  blauen  Höhenzuge,  der  wiederum  nichts  andres  war, 
als  der  Absturz  des  Tafellandes,  welches  an  jener  Stelle  hufeisen- 
artig ausgenagt  ist,  um  in  seinem  Zwischenraum  dem  stattlichen 
Strome  des  Coango  oder  Congo  Raum  zur  Entwickelung  zu  gönnen. 
Als  man  in  die  Ebene  hinabgestiegen  war  und  verlegen  umher- 
suchte, wo  man  den  Strom  überschreiten  sollte,  erschien  ein  Senhor 
Cypriano,  ein  Portugiese  halber  Kaste,  und  führte  die  Entdecker 
nach  einer  nahen  Fähre  und  über  den  Coango  nach  Cassange, 
dem  äussersten  Vorposten  der  Portugiesen  gegen  Osten,  wo 
—  seltsam  genug !  —  Livingstone's  Pässe  untersucht  wurden. 
Die  grösste  FährHchkeit  der  Reise  war  jedenfalls  die  Regenzeit, 
in  Folge  welcher  Livingstone  vom  Fieber  nie  verlassen  wurde. 
Mehr  lästig  als  gefährlich  war  die  drohende  Stimmung  der  Völker- 
schaften auf  dem  rechten  Ufer  des  Coango  zwischen  den  Balonda- 
leuten  und  der  portugiesischen  Gränze.  Sie  begehrten  nämlich 
einen  Transitzoll  von  Livingstone,  und  zwar:  einen  Mann  als 
Sklaven,  oder  einen  Zahn,  oder  einen  Ochsen.  Wurde  nichts 
gewährt,  so  kamen  sie  mit  Waffen  und  drohten  die  kleine  Schaar 
umzubringen.  Es  hat  sich  aber  bei  allen  Fällen  auf  der  Hin-  und 
Rückreise  ergeben,  dass  diese  Neger,  wenn  Ernst  gemacht  wurde, 
sich  leicht  in  Schrecken  jagen  Hessen.  Ein  einziges  mal ,  und 
zwar  hart  an  der  portugiesischen  Gränze,  sendeten  sie  ein  paar 
Kugeln  den  Abziehenden  nach.  Diese  Ungebühr  hat  ihre  einfache 
Erklärung.  Die  Gebiete  im  Osten  des  Coango  werden  von  Pom- 
beiros ,  das  heisst  handeltreibenden  portugiesischen  Negern  durch- 
zogen, deren  Frachten  aus  Sklaven  bestehen.  Da  nun  diese 
Sklaven  während  des  Transits  immer  Gelegenheit  haben  zu  ent- 
schlüpfen, so  würden  die  Pombeiros  ihre  Waare  verlieren,  wenn 
sie  nicht  den  guten  Willen  der  Häuptlinge  durch  Geschenke 
erkauften.  So  sind  denn  durch  diese  Gewohnheit  die  Häupt- 
linge auf  den  Gedanken  gekommen,  es  gebühre  ihnen  überhaupt 
ein  Transitzoll.     Obgleich  nun  Livingstone  mit  seinen  speerkundigen 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren  1849 — 1856.  jgi 

Makololo  leicht  hätte  alle  diese  lästigen  Raubstänime  einzeln  über- 
wältigen können ,  so  lag  es  doch  nicht  in  seinem  Sinne  ,  seinen 
Pfad  durch  Blut  zu  bezeichnen,  denn  er  wollte  ja  einen  friedlichen 
Handelsverkehr  zwischen  der  Küste  und  dem  Innern  vermitteln. 
Sekeletu ,  der  Fürst  der  Makololo ,  hatte  in  gleicher  Absicht  und 
mit  grosser  Weisheit  seinen  Leuten  verboten ,  ihre  Schilder  mit- 
zunehmen ,  damit  diese  halbe  Entwaffnung  ihre  leic^  erregbare 
Streitlust  bändige.  So  verstand  sich  denn  Livingstone  hie  und  da 
als  Transitgebühr  zum  Opfer  eines  Ochsen ,  von  denen  er  ein 
Dutzend  aus  dem  Barotselande  mit  sich  getrieben  hatte. 

Am  31.  Mai  1854  erreichte  der  Entdecker  St.  Paul  de  Loanda, 
den  grossen  portugiesischen  Hafenplatz  an  der  Ostküste  Südafrika's, 
wo  seine  Makololo  sich  an  den  Wundern  der  europäischen  Civilisa- 
tion  satt  sehen  konnten.  Im  Herbst  desselben  Jahres,  von  dem 
britischen  Consul  reichlich  unterstützt  und  mit  Frachten  europäi- 
scher Waaren  versehen,  wurde  der  Rückzug  in  das  Innere  auf 
beinahe  demselben  Wege  wieder  angetreten;  allein  da  die  nord- 
westliche Handelsstrasse  nach  der  Küste  nicht  den  Erwartungen 
entsprach ,  so  versuchte  jetzt  Livingstone  aus  dem  Innern  eine 
Strasse  nach  dem  indischen  Ocean  und  der  Ostküste  auszuspähen, 
indem  er  den  Liambye  (Zambesi)  abwärts  nach  der  Mündung  zog. 
Dieses  Verkehrsmittel  ist  leider  nicht  sehr  vollkommen,  denn  sein 
Profil  wird  etwas  unterhalb  der  Tschobemündung  durch  Katarakte 
gebrochen.  Es  sind  die  jetzt  weltbekannten  Victoriafälle  oder 
Mosi  oa  tunya,  der  lärmende  Rauch,  wie  die  Makololo  so 
poetisch  sie  nennen.  Man  denke  sich  den  ruhig  fliessenden  Rhein, 
wenn  er  bei  Kehl  die  Schift  brücke  erreicht,  statt  der  Schiffbrücke 
aber  einen  Spalt,  so  schmal,  dass  am  Rand  eine  querfallende  Palme 
Wand  und  Wand  überbrücken  würde.  Der  Fluss,  von  diesem 
Schlund  verschluckt,  schiesst  dann,  plötzlich  zu  einem  schmalen 
Bach  verengt  und  seitwärts  abgebogen,  kochend  in  seinem  Eng- 
pass  weiter.  An  dieser  Stelle  verliess  ihn  Livingstone  mit  seiner 
Makololoschaar ,  um  auf  einem  kürzeren  Wege  den  Kafue  oder 
Bashukulompo  ,  einen  linken  Seitenstrom  des  Zambesi ,  zu  errei- 
chen. Der  Weg  führte  ihn  hier  durch  äusserst  fruchtbare  park- 
artige Prairien  an  den  östlichen  Tellerrand  der  südafrikanischen 
Hochebene,  wo  er  unzählbare  Heerden  von  Zebras  und  Elephan- 
ten  in  paradiesischem  Frieden  und  zahm,  wie  in  den  ersten 
Schöpfungstagen,  weiden  sah.     Da  dieser  Rand    der   Ebene  5000 


l82  Zur  Geschichte  der  Geographie. 

Fuss  über  dem  Meere  liegt  und  der  Boden  sehr  trocken  ist,  so 
verbürgt  sich  Livingstone,  dass  Europäer  dort  unter  dem  15.** 
südl.  Breite  und  mitten  im  Innern  ein  heilsames  Klima  und  das 
fruchtbarste  Land  der  Welt  treffen  würden.  Dort  wohnten  die 
Makololo,  ehe  sie  das  Borotsethal  eroberten,  und  sie  denken  noch 
mit  Wehmuth  der  Fleischtöpfe  dieses  für  Nomaden  auserlesenen 
Landes,  leider  vertrieb  sie  von  dort  die  Streitlust  des  grossen, 
jetzt  hinfäUig  gewordenen  Matebeieherrschers  Mosilikatse ;  allein 
eine  kleine  europäische  Colonie  vermöchte  ihnen  dort  leicht  wie- 
der Schutz  zu  geben,  und  sie  könnte  das  fette,  aber  durch  seine 
Fieber  schädliche  Barotsethal  wieder  verlassen.  Dorthin  ist  Living- 
stone jetzt  im  Begriff  wieder  abzugehen,  indem  er  versuchen  will, 
den  Zambesi  mit  einem  Dampfer  aufwärts  zu  befahren.  Dieser 
Strom,  den  der  Entdecker  bei  seiner  Vereinigung  mit  dem  Kafue 
zum  erstenmale  wiedersah,  fhesst  von  dort  in  einem  von  hohen 
Gebirgszügen  eingeengten  Thal  bis  zur  Küste  und  wird  nur  noch 
durch  kleine  Katarakte  oberhalb  der  jetzt  äussersten  portugiesischen 
Station  Tete  unterbrochen,  wie  Livingstone  leider  zu  spät  erfuhr, 
da  er  gerade  diese  Stelle  des  Stromes  durch  einen  Seitenmarsch 
umgangen  hatte.  Der  Zug  des  Entdeckers  und  seiner  mit  Elfen- 
beinzähnen beladenen  Makololo  stiess  auf  sehr  geringe  Schwierig- 
keiten. Als  man,  die  Gränzen  des  Makololoreiches  überschritt, 
besorgte  man  auf  feindlichen  Empfang  von  Seiten  der  Batoka- 
stämme zu  stossen ,  die  von  Sebituane  unterworfen ,  sich  später 
befreit  hatten.  Auch  kam  es  in  dem  ersten  freien  Dorfe  zu 
drohenden  Auftritten.  Doch  schon  beim  nächsten  schwanden  alle 
Besorgnisse,  da  die  Batoka  sich  der  merkwürdigen  Karawane 
günstig  erwiesen.  Auch  am  untern  Zambesi,  und  zwar  abermals 
hart  an  der  portugiesischen  Gränze,  schienen  sich  die  Eingebornen, 
welche  mit  den  Europäern  kurz  zuvor  in  Fehde  gelegen  hatten, 
dem  Vordringen  Livingstones  und  namentlich  seiner  Kreuzung  des 
Flusses  zu  widersetzen ;  allein  als  man  erkannte,  dass  der  Häupt- 
ling des  Zuges  kein  Portugiese  sei,  sondern  zu  der  grossen  neger- 
freundhchen  Nation  der  Britten  gehörte,  liehen  die  Eingeborenen 
willig  ihre  Fahrzeuge  zum  Uebersetzen  der  Entdecker. 

Livingstone's  grossen  Thaten  verdanken  wir  plötzlich  die  Be- 
kanntschaft einer  Terra  incognita  von  15  geographischen  Graden 
von  Nord  nach  Süd,  und  mindestens  10°,  von  West  nach  Ost 
gerechnet.     Er  ist  der  erste  europäische  Reisende,  welcher  in   die- 


Die  grossen  Entdeckungen  in  den  Jahren  1849 — 1856.  183 

sem  Sinne  das  Innere  des  Festlandes  von  einer  Küste  zur  andern 
durchzogen  hat.  Mit  seinen  Beobachtungen  fallen  die  Vorstellun- 
gen, als  sei  Afrika  ein  wasserloses ,  von  der  Sonne  versengtes 
Tiefland.  Die  Pracht  der  Vegetation  und  die  Fülle  animalischer 
Belebung  gleicht  ganz  dem  Reichthum  Brasiliens,  Wie  es  nicht 
anders  zu  erwarten  war,  stiess  der  Entdecker  nur  auf  wenig  ent- 
wickelte Negerreiche,  denen  gegenüber  selbst  die  Makololo  wie 
Civilisatoren  erscheinen.  Für  die  Zukunft  vor  allem  wichtig  ist 
die  Entdeckung  eines  hoch  gelegenen  gesunden  Prairienlandes, 
welches  sich  von  dem  Zambesi  aus  leicht  und  ungefährlich  wird 
erreichen  lassen.  Fassen  dort  Europäer  erst  Fuss,  so  wird  kein 
Raum  des  geheimnissvollen  Festlandes  für  uns  länger  ein  Räthsel 
bleiben.  Es  ist  jetzt  überhaupt  nur  noch  die  schmale  äquatoriale 
Zone  zwischen  5°  nördl.  und  10°  südlicher  Breite  übrig,  welche 
noch  als  unbetretener  leerer  Raum  auf  unsern  Karten  erscheint; 
aber  während  wir  schreiben,  wird  von  drei  Seiten  auch  diese 
letzte  Domäne  geographischer  Geheimnisse  eingeengt.  Dr.  Vogel, 
über  dessen  angebliche  Hinrichtung  noch  kein  hinreichend  glaub- 
würdiges Zeugniss  vorliegt ,  befand  sich  in  Wadai ,  im  Südosten 
des  Tsadsees,  der  Piemontese  Brün  Rollet  ist  auf  dem  Wege,  die 
westlichen  Ursprungsgewässer  des  Nil  jenseits  des  4.°  nördl.  Br. 
zu  untersuchen,  und  der  waghalsige  Burton,  welcher  sich  bis  zur 
Kibla  in  Mekka  gedrängt  und  Härrar  in  Ostafrika  zuerst  erreicht 
hat,  befindet  sich,  mit  einem  Fahrzeuge  bewaffnet,  auf  dem  Marsch 
von  Sansibar  ins  Innere  nach  dem  fabelhaften  Binnenmeere  Nyassa 
oder  Ukerewe,  von  dem  so  abenteuerUche  Sagen  in  Umlauf  gesetzt 
wurden.  Das  ist  auch  immer  die  wichtigste  Folge  grosser  Ent- 
deckungen gewesen,  dass  sie  unmittelbar  zu  weiteren  Thaten 
führten,  besonders  wenn  grosse  Reisende  glücklich  und  ruhm- 
bedeckt heimkehrten. 


II. 


Zur  mathematischen  und  physischen 
Geographie. 


1.    Ueber  die  Pluralität  der  Welten. 
I. 

(Ausland   1855.     Nr.  i.     5.  Januar.) 

Am  Ende  des  Jahres  1853  erschien  in  J-.ondon  unter  obigem 
Titel  (Of  the  pluraHty  of  Worlds,  an  Essai)  ein  kleines  Buch  von 
297  Seiten,  welches  lange  unbeachtet  blieb,  bis  man  erfuhr,  der 
Verfasser  sei  der  berühmte  Whewell.  Da  die  Schrift  in  antiplu- 
ralistischem Sinne  verfasst  war,  so  erschienen  bald  darauf  einige 
Streitschriften  gegen  die  Ansichten  des  berühmten  Naturforschers, 
und  unter  diesen  war  die  bedeutendste  von  Sir.  David  Brewster 
unter  dem  Titel:  ,,Mehr  als  eine  Welt  -  ein  Glaubenssatz  der 
Philosophen  und  die  Hoffnung  der  Christen."  Man  sollte  nach 
dem  ersten  Ueberlegen  meinen,  jeder  Christ  könne  sich  nur  die 
antipluralistische  Entscheidung  der  Frage  aneignen,  und  zwar  aus 
demselben  Grunde ,  als  die  Kirche  wohl  mit  Bedauern  das  Pto- 
lemäische  System  durch  Copernikus  zertrümmert  sehen  musste.') 
Die  Erde  war  nicht  mehr,  wie  im  Mittelalter,  das  Centrum  der 
bewegten  Welt ;   nicht   um   sie   herum    kreisten  Sonne,    Mond  und 


i)  Wenn  man  doch  endlich  aufhörte,  das  Verbot  der  Galileischen  Lehren 
der  röniischen  Kirche  als  ein  Verbrechen  des  Obscurantismus  vorzuwerfen.  Co- 
pernikus, der  früher  als  Galilei  die  Sonne  zum  Stehen  brachte  und  die  Erde 
bewegte,  ist  nie  von  der  Kirchencensur  getroffen  worden.  Warum  nicht  er, 
sondern  Galilei  ?  Offenbar  desswegen,  weil  Galilei  seine  richtige  Lehre  benützte, 
um  sie  gegen  den  Bibeltext  in  den  Streit  zu  führen.  Es  waren  also  die  pole- 
mischen Stellen  im  Dialogo,  welche  Galilei  die  Verfolgung  zuzogen.  Man 
proscribirte  nicht  den  Lehrsatz,  sondern  die  Folgerungen,  zu  denen  er  benutzt 
wurde.  Vgl.  A.  v.  Reumont,  Beiträge  zur  ital.  Geschichte.  Berlin  1853. 
Bd.    I.     S.   306  ff. 


jgg  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

Planeten  und  die  Sphäre  der  Fixsterne,  sondern  sie  verlor  sich 
als  ein  unbedeutendes  Individuum  im  Universum  und  erschien  als 
dienstbarer  Körper  innerhalb  eines  geordneten  Systemes.  Wenn 
nun  die  neue  Wissenschaft  den  Erdball  als  den  wahrscheinlich  im 
Sonnensystem,  und  vermuthlich  im  Universum  einzig  bewohnbaren 
Körper  darstellt,  so  giebt  sie  ihm  jene  bevorzugte,  ich  möchte 
sagen  exclusive  Stellung  wieder  zurück,  die  ihm  seit  Copernikus 
abhanden  gekommen  war.  Im  kirchlichen  Sinne  sollte  man  also 
dem  AntipluraUsten  im  voraus  Recht  zuerkennen.  Allein  in 
England  denkt  man  anders.  Man  kann  die  Vorstellung  von  der 
Pluralität  der  Welten  nicht  aufgeben ,  weil  man  das  Bedürfniss 
fühlt,  deft  Schauplatz  eines  zweiten  höheren  Lebens  örtlich  vor- 
handen und  wahrnehmbar  zu  denken.  Nun  trifft  es  sich  aber 
zufällig,  dass  der  Antipluralist  Whewell  zu  den  streng  Gläubigen, 
Sir  David  Brewster  aber  mehr  zu  den  sogenannten  Freidenkenden 
zählt.  Im  i8.  Jahrhundert  hatte  Thomas  Payne  die  vielbestrittene 
Frage  mit  der  Schärfe  seiner  Logik  zerhauen :  ,,die  Annahme 
einer  Mehrheit  von  Welten,  sagt  er,  zieht  den  überlieferten  Glau- 
ben ins  Gemeine  und  LächerHche,  und  zerstäubt  seine  Trümmer 
wie  der  Wind  einen  Federhaufen  auseinanderjagt.  Der  eine  und 
der  andere  Glaube  können  nicht  miteinander  bestehen,  und  wer 
zwei  Welten  zu  gleicher  Zeit  denkt,  der  hat  weder  über  die  eine 
noch  über  die  andere  nachgesonnen."  Der  Prediger  Dr.  Chalmers 
dagegen  versicherte  in  seinen  astronomischen  Vorlesungen,  die  er 
im  Jahre  1807  zu  Edinburg  hielt,  in  den  siderischen  Welten  sei 
jenes  Paradies  zu  suchen,  welches  alle  Theologen  angenommen, 
von  Buddha  bis  auf  Swedenborg !  Man  wird  sich  noch  mit  einigem 
Vergnügen  erinnern,  dass  im  Jahre  1836  in  mehreren  Sprachen 
eine  kleine  Schrift  erschien,  worin  der  Name  Sir  John  Herschels 
missbraucht  wurde.  Der  grosse  Astronom  sollte  von  dem  Obser- 
vatorium am  Gap  der  guten  Hoffnung  durch  seine  Gläser  Bewoh- 
ner des  Mondes  entdeckt  haben ,  die  ein  Mittelding  zwischen 
Mensch  und  Fledermaus  vorstellten.  Es  fehlten  der  kurzweiligen 
Mystification  bekanntlich  nicht  illuminirte  Abbildungen,  und  eine 
Zeitlang  gab  es  viele,  die  sich  von  der  ersten  Betroffenheit  nicht 
recht  erholen  konnten. 

Der  echte  Gelehrte  wird  vielleicht  mit  einigem  Widerwillen 
auf  die  wiederholte  Anregung  jener  philosophischen  Streitfrage 
blicken.     Denn  entschieden  kann  sie  jetzt  nicht  werden,  entschie- 


Ueber  die  Pluralität  der  Welteu.  igg 

den  wird  sie  vielleicht  nie.  Von  der  dialektischen  Gewandtheit 
der  streitenden  Parteien  wird  also  der  momentane  Sieg  über 
schwankende  Gemüther  abhängen.  Ein  solcher  Sieg  aber  bleibt 
ohne  Werth  für  die  Wissenschaft.  Indessen  sollte  man  nicht 
allzustreug  dergleichen  Bemühungen  verurtheilen.  Lockt  auch  am 
Schlüsse  nicht  der  Gewinn  einer  neuen  Wahrheit,  so  übt  sich  doch 
das 'Denken  im  Laufe  des  Processes  und  der  Verstand  gewöhnt 
sich  an  den  kritisch  richtigen  Gebrauch  der  Analogien. 

Hören  wir  den  Pluralisten  Sir  David  zuerst,  so  lehrt  er  uns 
vor  allen  Dingen,  dass  nur  ,,wenn  wir  die  Welten  mit  lebendigen 
imd  denkenden  Wesen  bevölkern,  ihrem  Dasein  ein  Zweck  gegeben 
werden  könnte."  ,,Das  Leben  sei  beinahe  eine  Eigenschaft  der 
Körperwelt.  Wo  ein  Körper  sich  findet,  da  rege  sich  auch  Leben : 
sinnliches  Leben,  um  die  Schönheit  der  Welt  zu  gemessen,  Ge- 
müthsleben  zur  Anbetung  des  Schöpfers ,  und  Verstandesleben-, 
um  seine  Weisheit  zu  verkündigen."  ,,Wie  könne  man  sich  nur 
vorstellen,  dass  die  Erde ,  ein  unbedeutender  Punkt  im  All ,  ein 
Planet,  den  nichts  besonderes  auszeichnet,  der  in  unserem  System 
weder  den  Mittelpunkt  bilde,  noch  in  grösster  Sonnennähe  sich 
befinde,  der  ausschliessliche  und  privilegirte  Sitz  des  geistigen  und 
animahschen  Lebens  sei?  Dürfe  man  behaupten,  dass  Jupiter  zum 
Beispiel  nach  seinen  Massenverhältnissen  ein  Gigant,  und  in  die 
Mitte  unseres  Systems  gestellt,  keine  uns  ähnlichen  Bewohner 
tragen  sollte?  Sei  man  zu  der  Vermuthung  befugt,  dass  die  Fix- 
sterne mit  den  Planeten,  die  sie  begleiten,  und  ihren  vermuthlichen 
Satelliten  ihre  täglichen,  jährlichen  und  säcularen  Bewegungen  voll- 
ziehen, ungesehen  und  unbeobachtet  eine  Aufgabe  erfüllen  sollten, 
welche  der  menschliche  Verstand  nicht  zu  erfassen  vermöge?  Man 
denke  sich  Licht,  das  nichts  erleuchte,  Feuer,  die  nichts  erwärmen, 
Wasser,  die  keinen  Durst  stillen,  Wolken,  die  nichts  beschatten, 
und  Lüfte,  die  niemand  erquicken !" 

Es  ist  ein  mächtiger  Geist,  den  Sir  David  heraufbeschwört: 
der  menschliche  Schauder  vor  dem  Leeren.  Und  dieser  Schauder 
wird  uns  um  so  unerträgUcher  bei  der  Vorstellung  von  der  Un- 
endlichkeit des  Raumes  und  seiner  Erfüllung  mit  bewegten  oder 
sich  bewegenden  Körpern.  Aber  es  giebt  noch  etwas,  was  ebenso 
unendHch  ist  als  der  Raum,  nämlich  die  Zeit.  Die  Leere  in  der 
Zeit  und  die  Leere  im  Raum  mögen  auf  unser  Fassungsvermögen 
die  gleichen  Eindrücke  hervorbringen.     Der  Antipluralist  hat  daher 


igo 


Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 


einen  geschickten  Zug  gethan,  wenn  er    die    Vorstellung   von    der 
Unendlichkeit  der  Zeit  als  Zeuge  gegen  den  Raum  beschwört. 

,,Was  die  räumliche  Ausdehnung  der  astronomischen  Ent- 
deckungen betrifft,  entgegnet  Whewell,  so  bemerke  ich  nur,  dass 
ihnen  die  geologischen  nichts  schuldig  bleiben.  Sie  breiten  sich 
in  der  Zeit  aus,  wie  die  astronomischen  im  Räume;  sie  tragen 
uns  zurück  über  MilHonen  Jahre,  das  heisst  hinter  Millionen  Erd- 
umläufe, wie  uns  die  Astronomie  hinausträgt  über  Millionen  Erd- 
bahndurchmesser. Die  Geologie  füllt  mit  Begebenheiten  das  Ge- 
biet der  Dauer,  wie  die  Astronomie  das  Gebiet  des  Raumes  mit 
Körpern  füllt.  Von  der  Wirkung  zur  Ursache  zurückweichend, 
rollt  die  Geologie  vor  uns  auf  die  Unendlichkeit  des  Vergangenen, 
wie  die  Astronomie  die  Unendlichkeit  der  äusserlichen  Welt  uns 
entschleiert  durch  die  Progression  der  geometrischen  Formeln. 
Die  Astronomie  wandert  von  einem  Punkte  des  Alls  zum  andern 
durch  eine  Verkettung  von  Dreiecken,  die  Geologie  strebt  zurück 
von  einem  Abschnitt  der  terrestrischen  Geschichte  zum  andern, 
durch  Verkettung  der  mechanischen  und  organischen  Gesetze. 
Wenn  sich  die  eine  auf  geometrische  Lehrsätze  stützt,  so  steht  die 
andere  auf  den  Axiomen  des  ursächlichen  Zusammenhanges. 
Der  Mensch  ist  ein  ebenso  unbedeutendes  Wesen  im  Vergleich  zu 
den  Zeiten  wie  zum  Raum.  Das  Menschengeschlecht  füllt  eben- 
sogut nur  ein  Atom  der  Zeit  aus,  wie  es  nur  ein  Atom  im  Räume 
erfüllt.  Wenn  unsere  Erde,  die  Wohnstätte  des  Menschen,  nur 
ein  Punkt  im  unendlichen  All  ist,  so  ist  die  Gegenwart  der 
Menschheit  auch  nichts  weiter  als  ein  Punkt  am  Ablauf  einer  un- 
endlichen Zeit.  Wenn  wir  nichts  sind  gegen  die  UnermessUchkeit, 
die  uns  umgiebt,  so  sind  wir  auch  nichts  vor  der  Ewigkeit  der 
verflossenen  Zeit,  vor  der  Ewigkeit  des  verflossenen  Lebens,  das 
vergangen  war,  bevor  wir  erschienen,  als  die  Erde  schon  bestand 
und  Leben  über  ihre  Fläche  sich  verbreitete.  Wenn  die  Mensch- 
heit nur  eine  kleine  Familie  bildet  neben  einer  Unendlichkeit 
anderer,  möglich  gedachter  Familien  auf  den  Welten,  die  uns 
Gesellschaft  leisten,  so  ist  sie  auch  nur  eine  kleine  Familie  neben 
den  unzähHgen  Geschwadern  wirklicher  Thiere,  denen  sie  auf 
der  Erde  nachgefolgt  ist.  Wenn  die  Planeten  bewohnte  Körper 
sein  können,  so  wissen  wir  mit  Sicherheit,  dass  die  Meere,  aus 
denen  unsere  Gebirge  auftauchten ,  mit  lebendigen  Wesen  bevöl- 
kert waren." 


Ueber  die  Pluralität  der  Welten. 


191 


Soweit  gehen  die  dialektischen  Beweise  der  AntipluraUsten. 
Whewell  ist  übrigens  zu  besonnen,  um  trocken  zu  behaupten,  es 
kann  keine  bewohnte  Welt  ausserhalb  der  Erde  geben.  Er  sagt 
nur,  man  bringe  keinen  Beweis  dafür,  dass  es  bewohnte  Welten 
wirklich  gebe.  Wohl  aber  gäbe  es  Gründe,  welche  die  Bewohn- 
barkeit der  uranologischen  Körperwelt  sehr  bezweifeln  Hessen. 
Zuerst  inüsse  man  ganz  absehen  von  den  Fixsternen.  Wenn  man 
sie  mit  unserer  Sonne  vergleiche,  so  sei  es  eine  ebenso  wohlfeile 
als  voreilige  Vermuthung.  Kaum  dass  wir  aus  den  Veränderungen 
ihres  Lichtes  bei  einer  sehr  kleinen  Zahl  wissen,  dass  sie  irgend- 
wie sich  bewegen.  Ob  diese  Sonnen  auch  Planeten  haben,  ist 
noch  Ungewisser.  Der  berühmte  Astronom  Struve  hat  nachgewie- 
sen, dass  mindestens  ein  Viertel,  vielleicht  sogar  ein  Drittel  sämmt- 
licher  Fixsterne  sogenannte  Doppelsterne  sind ,  also  solche ,  die 
sich  um  ihren  geraeinsamen  unsichtbaren  Schwerpunkt  drehen. 
Es  möchte  aber  sehr  schwierig  für  unser  Verständniss  ihrer  Be- 
wegungen sein,  wenn  wir  solche  Sterne  noch  mit  einem  Planeten- 
inventar ausstatten  wollten.  Auch  A.  v.  Humboldt  sagt  im  Kos- 
mos entschieden,  dass  kein  triftiger  Grund  vorhanden  sei,  sich  die 
Fixsterne  in  Begleitung  von  Planeten  zu  denken ,  ebenso  wie  die 
Sonnenplaneten  theils  einsam,  theils  in  Begleitung  von  Satelliten 
auftreten. 

Sir  David  denkt  sich  den  dunklen  Sonnenkörper  dicht  be- 
völkert mit  Wesen  höherer  GottähnUchkeit ,  die  zum  Zeitvertreib 
durch  die  veränderlichen  Oeffnungen  des  Sonnenlichtmantels  (Son- 
nenflecken) die  Individuen  des  Weltalls  betrachten.  Die  Sonne 
strahlt  aber  von  jedem  Quadratfuss  ihrer  Oberfläche  den  sieben- 
fachen Wärmewerth  unserer  stärksten  Glühofen  aus.  Das  specifi- 
sche  Gewicht  der  Sonne  ist  etwa  so  gross,  als  das  des  Wassers, 
und  beide  Umstände  müssen  den  Sonnengespenstem  ihr  Dasein 
sehr  heiss  und  schlüpfrig  machen. 

Nach  der  Analogie  der  terrestrischen  Verhältnisse  müssen  wir 
das  Dasein  von  Organismen  leugnen ,  wo  sich  nicht  die  Mütter 
des  organischen  Lebens  finden,  nämlich  Luft,  Wärme  und  Feuch- 
tigkeit. Um  nun  beim  Mond  zu  beginnen ,  so  zeigt  er  keine 
Spuren  von  Anwesenheit  des  Wassers,  und  wenn  er  wirklich  eine 
Atmosphäre  besitzt,  so  ist  sie  tausendfach  dünner  als  die  unsrige. 
Nach  Whewells  Schilderung    ist  dieser  Satellit  nur    ein    ungeheurer 


102  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

Schlackenhaufen,  eine  Schichtung  vertrockneten  Schlammes  und 
erstorbener  vulkanischer  Trichter. 

Unter  den  Planeten  gewähren  Neptun,  Uranus,  Saturn  und 
Jupiter  wegen  ihrer  grössern  Entfernung  von  der  Sonne  und  ihrer 
geringen  specifischen  Schwere  den  Organismen  kein  gastliches  Obdach. 
Denn  wenn  Neptun  und  Uranus  so  schwer,  und  Jupiter  etwas 
schwerer  ist  als  Wasser ,  so  würde  Saturn  auf  dem  Wasser  hin- 
schwimmen wie  ein  hölzerner  Apfel.  Nach  Whewell  ist  Saturn 
eine  mit  Wasser  gemischte  Nebelsphäre,  und  wenn  sich  wirkhch 
Wesen  dort  linden,  so  müssten  es  wahre  Schlamm-  und  Regen- 
geister aus  gallertartigen  Substanzen  sein. 

Sir  David  Brewster  hatte  eine  besondere  Vorliebe  für,  Jupiter 
gefasst,  und  er  sucht  den  Jupiterianern  das  Dasein  so  erträgUch 
als  möglich  zu  machen.  Bei  seiner  Entfernung  von  der  Sonne 
ist  die  Wärme,  welche  der  Planet  von  dem  Centralkörper  em- 
pfängt, viel  zu  gering,  um  organisches  Leben  zu  erwecken. 
Diesen  Mangel  deckt  Sir  David  durch  die  Hypothese  einer  inner- 
lichen starken  Jugendwärme  des  Jupiters.  Wenn  man  ihm  ein- 
redet, dass  das  Sonnenlicht,  welches  zum  Jupiter  gelange,  fünfmal 
schwächer  sei  als  das  unsrige,  wesshalb  Wesen  unserer  Art  dort 
in  völliger  Dämmerung  umhertappen  möchten,  so  versieht  er  be- 
hend die  Jupiterianer  mit  einer  fünfmal  grösseren  Pupille  und  einer 
fünfmal  empfindlicheren  Netzhaut.  Zu  solchen  Thorheiten  kann 
ein  geistreicher  Mensch  sich  hinreissen  lassen,  wenn  er  beweisen 
will,  was  er  zu  behaupten  nirgends  den  Beruf  besass !  Selbst  die 
Asteroiden ,  von  denen  manches  nicht  grösser  ist  als  unser  zur 
Kugel  geformter  Montblanc,  lässt  Sir  David  nicht  in  Ruhe,  son- 
dern dringt  ihnen  seine  Heerschaaren  zur  Miethe  auf! 

Von  den  innern  Planeten  der  Erde  muss  zuerst  die  Unbe- 
wohnbarkeit  des  Merkur  wegen  seiner  allzugrossen  Sonnennähe 
und  seiner  specifischen  Schwere,  welche  dem  Golde  gleich  kommt, 
anerkannt  werden.  So  bleiben  denn  nur  der  innere  und  der 
äussere  Nachbar  der  Erde ,  Venus  und  Mars,  als  Wohnungen 
übrig.  Aber  bei  beiden  sind  doch  grosse  Unterschiede  bezüglich 
ihrer  und  der  terrestrischen  Atmosphäre  vorhanden.  Wir  können 
uns  nicht  versagen,  aus  dem  uranologischen  Theil  des  Kosmos 
hier  ein  paar  Worte  einzuschalten.  „Die  Analogien,  sagt  Hr.  v. 
Humboldt,  welche  Mars  mit  der  Erde  darbietet,  sind  ganz  mete- 
orologischer Art.     Ausser    den   dunklen   Flecken,    von    denen 


Ueber  die  Pluralität  der  Welten. 


^93 


einige  schwärzlich,  andere  aber  in  sehr  geringer  Zahl,  gelbroth 
und  von  der  grünlichen  Contrast-Farbe  sogenannter  Seen 
umgeben  sind,  erscheinen  auf  der  Marsscheibe  noch,  sei  es  an  den 
Polen ,  welche  die  Rotationsaxe  bestimmt ,  sei  es  nahe  dabei  an 
den  Kälte-Polen,  abwechselnd  zwei  weisse,  schneeglänzende  Flecken. 
Die  weissen  Flecken  werden  wechselweise  grösser  oder  kleiner, 
je  nachdem  ein  Pol  sich  seinem  Winter  oder  Sommer  nähert. 
In  den  physikalisch-astronomischen  Beiträgen  von  Mädler  und 
Beer  sind  vortreffliche  graphische  Darstellungen  der  Nord-  und 
Süd-Halbkugel  des  Mars  enthalten ;  und  diese  merkwürdige ,  im 
ganzen  Planetensysteme  einzige  Erscheinung  ist  darin  nach  allen 
Veränderungen  der  Jahreszeiten  und  der  kräftigen  Wirkung  des 
Polafsommers  auf  den  wegschmelzenden  Schnee  durch  Messungen 
begründet  worden.  Sorgfältige  zehnjährige  Beobachtungen  haben 
auch  gelehrt,  dass  die  dunklen  Marsflecken  auf  dem  Planeten 
selbst  ihre  Gestalt  und  relati^'e  Lage  constant  beibehalten.  Die 
periodische  Erzeugung  von  Schneeflecken,  als  meteorischen, 
von  Temperaturwechsel  abhängigen  Niederschlägen, —  einige 
optische  Phänomene,  welche  die  dunklen  Flecken  darbieten,  sobald 
sie  durch  die  Rotation  des  Planeten  an  den  Rand  der  Scheibe 
gelangen,  machen  die  Existenz  einer  Mars- Atmosphäre  mehr  als 
wahrscheinlich." 

Nichts  erweckt  wohl  für  unsere  terrestrische  Vorstellung  ein 
grösseres  Gefühl  der  Heimathlichkeit  beim  Anblick  des  Mars,  als 
dass  wir  wissen,  es  gebe  dort  Wolken  und  Sonnenschein,  Regen 
und  Schnee,  heisse  und  kalte  Zonen ,  Flüsse  und  Seen.  Sind  wir 
aber  desswegen  berechtigt,  dort  das  Dasein  von  Wesen  zu  ver- 
muthen,  die  empfinden  und  begreifen  wie  wir? 

Venus  und  Mars,  sagt  Whewell,  liegen  uns  im  Räume  etwa 
so  nahe,  als  in  der  Zeit  die  zoologische  Gegenwart  der  Erde  der 
tertiären  Periode,  und  während  dieser  haben  unzählige  Massen  be- 
lebter '\^'esen  existirt ,  ehe  der  Mensch  erschien.  Die  Nachbar- 
schaft zweier  ähnlicher  Planeten  lässt  vielmehr  vermuthen ,  dass 
die  Erde  gleichsam  das  Mittelglied  der  ganzen  Kette  bilde  und 
dass  der  vollkommenste  Träger  des  organischen  Lebens,  nämlich 
der  Mensch,  sich  allein  auf  dem  Erdball  finde,  während  Venus 
sich  zu  sehr  der  tropischen  und  Mars  zu  sehr  der  arktischen  Zone 
des  Sonnensystems  (wenn  diese  Ausdrücke  erlaubt  sind)  nähert. 
Der  Schlusssatz  des  englischen  Antipluralisten   lautet    daher:    Die 

Peschel,  Abhandlungen.     U.  1 1 


194 


Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie, 


Erde  liegt  in  dem  Mittelpunkt  der  gemässigten  Zone  des  Sonnen- 
systems ,  und  sie  ist  innerhalb  dieses  Systems  unter  den  Körpern 
der  höheren  specifischen  Schwere  der  beträchthchste ;  sie  allein 
■war  vorbereitet  als  häuslicher  Herd  im  Weltall ,  und  an  diesem 
Herd  hat  sich  die  Menschenfamilie  niedergelassen. 


(Ausland  1S55,     Nr.  52.     28.  Decbr.) 

Wir  haben  des  lebhaften  Streites  gedacht,  der  in  England  in 
Folge  einer  anonymen  Broschüre  geführt  wird ,  in  welcher  der 
berühmte  Geolog  Whewell  nachwies,  dass,  soweit  unsere  jetzigen 
Kenntnisse  reichen,  wir  weit  eher  berechtigt  sind,  unsere  Erde  als 
den  einzigen  Träger  lebendiger  Wesen,  als  andere  Gestirne  für 
bevölkert  zu  halten.  Der  Antiplurahst  ist  mit  dieser  Ansicht  ver- 
einzelt geblieben,  während  eine  Fluth  von  Gegenschriften  ihn  zu 
widerlegen  suchte.  Ausser  Sir  David  Brewster  ,,mehr  Welten  als 
eine"  hat  der  Professor  der  Geometrie  an  der  Universität  zu 
Oxford,  der  Ehrw.  Baden  -  Powell ,  eine  ,, Einheit  der  Welten  und 
Philosophie  der  Schöpfung",  und  der  Astronom  der  indischen 
Compagnie  W.  S.  Jakob  „einige  Worte  mehr  über  die  Mehrheit 
der  Welten"  im  ])luralistischen  Sinne  veröffentlicht.  Zuletzt  ist 
auch  noch  das  Edinburgh  Review  gekommen.  Vor  allen  Dingen 
muss  man  staunen  über  die  Leidenschafdichkeit,  womit  der  Streit 
geführt  wird.  Einer  der  Essayisten  verdächtigt  sogar  den  grossen 
Geologen,  der,  nebenbei  gesagt,  sehr  orthodox  ist,  einer  Art  unsitt- 
lichen Sophismus,  und  es  fehlt  wahrhaftig  wenig,  dass  man  den 
anonymen  Autor  nicht  geradezu  der  Ketzerei  beschuldigt. 

Nichts  kann  wohl  klarer  sein  als ,  dass  jeder  Theolog  der 
antipluralistischen  Theorie  sich  zuneigen  wird.  Ein  Christ  muss 
sich  sagen,  dass  Gott  durch  die  Sendung  seines  Erlösers  unser 
Menschengeschlecht  auf  eine  geradezu  unerhörte  Art  ausgezeichnet 
hat.  Die  Kirche  und  die  Bibel  vertrugen  sich  vortrefflich  mit  dem 
aristotelischen  System.  Die  Erde  war  der  Mittelpunkt  der  Welt, 
um  den  sich  alle  Gestirne  drehten,  Sonne  und  Planeten  wandelten. 
Kopernikus  vernichtete  dieses  System,  und  die  Erde  wurde  ein 
untergeordnetes  Glied  eines  Sonnensystems,  welches  allem  Vermu- 


Ueber  die  Pluralität  der  Welten, 


'n 


then  nach  wieder  einem  grösseren  Ganzen  angehört ,  das  wieder 
nichts  für  sich,  sondern  nur  ein  kleines  Fragment  unter  den  Welten 
des  Firmaments  bildet.  Wenn  nun  ein  Philosoph  die  Kühnheit 
hatte,  unsern  Erdball  unter  diesen  Millionen  Gestirnen  als  den 
einzig  bewohnbaren  zu  preisen,  so  konnte  gewiss  nichts  orthodoxer 
sein.  Allein  die  Mehrzahl  der  Menschen  denkt  anders.  Sie  meint, 
die  Herrlichkeit  Gottes  und  seiner  Schöpfung  nehme  gleichsam 
arithmetisch  zu,  wenn  die  Millionen  Welten  Millionen  organischer 
Schöpfungen  trügen.  Alle  ihre  Einwendungen  laufen  auch  zuletzt 
auf  den  Satz  zurück :  wozu  wären  jene  Welten  vorhanden ,  wenn 
sie  nicht  bewohnt  würden?  Man  sieht,  es  sind  Zweckmässigkeits- 
rücksichten,  welche  die  Plurahsten  zu  ihrer  Hypothese  nöthigen. 
Sie  stellen  sich  den  Schöpfer  vor  wie  einen  Häuserspeculanten, 
der  gewiss  aus  ökonomischem  Instinct  nicht  so  viel  Wohnungen 
errichtet  haben  wird ,  damit  es  ihm  zuletzt  an  Miethbewohnern 
fehle.  Solche  Egoisten  sind  wir!  Wenn  die  Welten  nicht  für 
Wesen  unseres  Schlages  gebaut  wären,  welchen  Zweck  könnten  sie 
haben?  Dass  sie  um  ihrer  selbst  willen  da  seien,  dass  sie  Zwecken 
dienen  können,  die  wir  nicht  begreifen  ,  oder  die  nun  einmal  die 
Natur  sich  vorgenommen  hat,  unserer  Spürkraft  zu  verhüllen,  das 
fällt  dem  Völkchen  nie  ein. 

Der  Glaube  an  eine  Bewohnbarkeit  anderer  Gestirne  ist  für 
den  Psychologen  von  ungewöhnlichem  Interesse,  denn  man  ertappt 
gewöhnlich  dabei  die  Menschen ,  ohne  dass  sie  es  wähnen ,  auf 
Gelüsten  einer  Seelenwanderung.  Die  SentimentaUtät  kann  sich 
nicht  beruhigen  bei  dem  ,, dummen  Wort:  vorbei!"  Alle  versagten 
Lieblingswünsche  sollen  in  irgend  einem  andern  Dasein  zur  Er- 
füllung kommen.  Der  unsterblichen  Seele  wird  dann  ein  ,, lichte- 
res Gewand"  angezogen,  als  hätte  sie  noch  Geschlecht  und  Leib, 
sie  erwacht  dann  zu  einem  „reineren  Dasein",  nicht  zu  jenem 
Dasein,  an  welches  der  Christ  allein  glauben  darf,  sondern  zu 
einem  zweiten  verfeinerten,  wie  die  Brahmanen  voraussetzen.  Für 
diese  zweite  verbesserte  Auflage  sucht  der  empfindsame  Mensch 
diesen  oder  jenen  funkelnden  Stern,  den  Sirius,  die  Capella,  die 
Vega,  oder  einen  andern  Edelstein  des  Firmaments,  oder  auch 
irgend  einen  obscuren  dritter  oder  vierter  Grösse,  denn  ,,Raum 
ist  in  der  kleinsten  Hütte  etc."  Natürlich  ist  es  ein  höchst  un- 
populäres, also  auch  ein  müssiges  Unternehmen,  wenn  ein  Natur- 
forscher  auftritt ,    upd   den    lieben    Leuten    verräth ,    es    sei    kein 

13* 


Iq6  Zur  mathematischen  imd  physischen  Geographie. 

Quartier  für  sie  auf  irgend  einem  leuchtenden  Punkt  des  strah- 
lenden Himmels. 

Gegen  Whewells  Gründe  selbst  hat  man  nicht  ein  einziges 
stichhaltiges  Wort  vorgebracht.  Doch  wir  irren  vielleicht.  Capitän 
Jakob  und  der  Essayist  des  Edinburgh  Review  haben  den  Anti- 
pluralisten    glänzend   besiegt ,    nämlich    durch    folgendes   Beispiel : 

Man  denke  sich  eine  Urne,  in  der,  wie  man  weiss ,  tausend 
Kugeln  einer  unbekannten  Farbe  verborgen  liegen.  ¥.s  zieht  je- 
mand eine  Kugel,  und  diese  Kugel  ist  schwarz.  Nach  allen 
Lehren  der  Logik  wird  nun  derjenige,  welcher  behauptet,  dass  alle 
tausend  Kugeln  schwarz  seien,  die  grösste  Wahrscheinlichkeit  für 
sich  haben.  Kommt  aber  einer  und  sagt,  ich  vermuthe  dennoch, 
dass  999  Kugeln  weiss,  und  die  einzige,  welche  gezogen  worden 
ist ,  eine  schwarze  sei ,  so  wird  er  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
tausendmal  eher  Unrecht  als  Recht  haben,  weil  es  tausendmal 
unwahrscheinUcher  wäre,  dass  die  einzige  schwarze,  statt  einer  der 
999  weissen  Kugeln  gezogen  worden  wäre.  Nichts  kann  richtiger 
sein  als  diese  Sätze,  die  kein  Mensch  bei  gesunden  Sinnen  be- 
streitet. Nun  gestehen  Pluralisten  und  Antipluralisten  zu,  dass  sie 
etwas  sicheres  über  die  Bewohnbarkeit  von  Planeten,  Sonnen  und 
Gestirnen  nicht  wissen.  Sie  wissen  allein,  dass  unter  diesen  Mil- 
lionen Millionen  Körpern  der  einzige  bekannte  die  Erde  und  diese 
Erde  bewohnbar  sei,  dass  also  millionenmal  millionenmal  die 
pluralistische  Theorie  wahrscheinhcher  sein  müsse,  als  die  anti- 
plurahstische. 

Wir  wissen  nicht,  was  Whewell  auf  diesen  Einwurf  noch  ant- 
worten wird.  Wir  ahnen  aber ,  dass  tausend  unserer  Leser 
sprachlos  im  ersten  Augenblick  bleiben  werden,  wo  sie  jenen  dia- 
lektischen Streich  empfangen,  wir  besitzen  aber  das  gute  Zutrauen, 
dass  sie  sich  im  nächsten  Augenblick  erholt  haben  und  ausrufen 
werden :  das  ist  ja  der  glänzendste  Beweis  für  Whewells  antiplu- 
ralistische Theorie !  Das  Kugelbeispiel  lehrt  uns,  dass  es  millionen- 
mal millionenmal  wahrscheinlicher  ist,  es  verhalte  sich  mit  der 
Bewohnbarkeit  anderer  Himmelskörper  genau  so,  wie  mit  der  Erde, 
als  anderswie,  und  gerade  das  wollte  ja  Whewell  beweisen. 

Dass  die  Erde  bewohnbar  ist,  wissen  wir  alle.  Der  Geolog 
weiss  aber  noch  mehr,  er  weiss,  dass  sie  lange  Zeit  nicht  bewohn- 
bar gewesen  sei.  Er  kann  die  Zeitdauer  nicht  ahnen ,  welche 
verfliessen  musste,    ehe  die  geballte  Dunstmasse ,    aus  welcher  die 


Ueher  die  Pluralität  der  Welten. 


[97 


Erde  entstand,  sich  verdichtete.  Er  vermag  zu  ahnen  —  aber 
nur  zu  ahnen,  nicht  auszusprechen  —  welche  Zeit  mit  der  Bildung 
der  ältesten  Gebirge  verstrich.  Er  weiss  schon  etwas  mehr  über 
die  Schöpfungsdauer  der  geschichteten  Gesteine.  Diese  Gesteine 
ordnet  er  bekanntlich  in  grosse  Zeitalter.  Welcher  Abstand  in 
Jahren  aber  uns  von  einem  einzigen  dieser  Zeitalter  trennt,  ist 
annähernd  berechnet  worden.  Die  Pflanzen  der  Steinkohlenperiode 
bedurften  einer  mittleren  Temperatur  der  Erde  von  2  2  °  R.  Die 
Erde  hat  sich  seitdem  um  14°  R.  abgekühlt.  Zu  dieser  Abküh- 
lung aber  waren  nach  den  Versuchen  über  das  Abkühlungsver- 
hältniss  der  Laven  und  des  geschmolzenen  Basaltes  9  MiUionen 
Jahre  und  für  den  Uebergang  der  Erde  aus  ihrem  flüssigen  in 
festen  Zustand  350  Mill.  Jahre  erforderlich.  So  schreitet  der  Geo- 
log hinweg  über  untergegangene  Pflanzen  und  Thiergeschlechter, 
die  jedes  wieder  einen  unendlichen  Raum  in  der  Zeit  füllen,  ehe 
er  als  letztes  Geschöpf  des  Menschen  habhaft  wird.  Gewiss  ist, 
dass  die  Menschheit  viel  älter  ist  als  man  sie  früher  gehalten. 
Unser  chronologisches  Wissen  reicht  zurück  bis  3000  Jahre  vor 
Christi  Geburt,  wo  wir  die  Aegypter  bereits  in  einem  geordneten 
Staatswesen,  im  Besitz  der  Baukunst,  und,  was  wichtiger  ist,  eines 
Kalenders  finden.  Welche  Zeit  musste  verstreichen,  ehe  eine 
solche  Civilisation  sich  bildete?  Man  kann  das  Mass  des  erforder- 
lichen chronologischen  Raumes  aber  noch  so  weit  ausdehnen, 
sagen  wir  auf  30  Jahrtausende,  was  sind  Jahrtausende  gegen  die 
Zeitwerthe  der  Geologie?  Die  Erscheinung  des  Menschengeschlech- 
tes auf  dem  Erdboden  ist  also  der  Zeit  nach  etwas  ausserordent- 
lich unbedeutendes,  und  nimmt  im.  Vergleich  zur  bekannten  Ver- 
gangenheit unseres  Planeten  kaum  den  Zeitraum  ein,  mit  dem  Ein 
Blitz  eine  Nacht  zu  erhellen  vermag.  Die  Pluralisten  behaupten, 
es  empöre  sich  unser  Verstand  bei  der  Vorstellung,  dass  von  den 
Millionen  Welten,  die  allmähUg  am  Firmament  zum  Vorschein 
kommen,  die  Erde  allein  von  vernünftigen  Wesen  bewohnt  sein 
solle.  W  he  well  entgegnet  darauf,  dass  es  eben  so  empörend  sei, 
die  Erde  sich  durch  Millionen  von  Jahrtausenden  unbewohnbar 
und  dann  nur  so  kurze  Zeit  bewohnt  zu  denken.  Darauf  hat 
man  nichts  besseres  zu  erwidern  vermocht,  als  dass  der  Geolog 
die  Dauer  des  Menschengeschlechts  auf  dem  Erdboden  nicht  kenne. 
Sir  David  Brewster  hält  sie  sogar  für  unberechenbar.  Allerdings 
wissen    wir    darüber    wenig    oder    nichts.     Immerhin    aber    ist  es 


igg  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

wichtig  sich  zu  sagen,  dass  die  Erde  theilweise  schon  aufgehört 
hat,  für  organisches  Leben  bewohnbar  zu  sein.  Wir  wissen  längst, 
dass  einst  das  feste  Land  der  arktischen  und  antarktischen  Gürtel 
eine  reiche  Vegetation  bedeckte.  Man  hat  sogar  neuerdings,  wenn 
auch  etwas  voreilig,  behauptet,  dass  die  Mächtigkeit  der  Kohlen- 
schichten von  dem  Aequator  nach  den  Polen  abnehme,  gleichsam 
als  habe  die  Vegetation ,  also  auch  die  Kohlenbildung ,  an  den 
früher  erkalteten  Polargegenden  auch  früher  begonnen,  als  in  der 
damals  für  das  Pflanzenleben  noch  allzuheissen  tropischen  Zone. 
Man  müsste  sich  also  denken ,  dass  die  Erkaltung  der  Erde  von 
den  Polen  nach  dem  Aequator  fortschreitet  und  dort  einstmals  das 
organische  Leben  seinen  Untergang  finden  werde.  Dieser  Process 
wird  natürHch  ein  äusserst  langsamer  sein ,  da  bis  jetzt  eine  Ab- 
nahme der  mittleren  Temperatur  auf  der  Oberfläche  unseres  Pla- 
neten während  der  historischen  Zeit  noch  nicht  beobachtet  werden 
konnte.  Allein  ganz  widersinnig  ist  es,  dem  Menschengeschlecht 
eine  ewige  Dauer  zuzutrauen,  da  uns  die  Geologie  von  dem 
Untergang  so  vieler  frühern  Formen  des  organischen  Lebens 
berichtet. 

Von  einem  einzigen  himmlischen  Körper ,  nämlich  vom 
Monde,  wissen  wir  mit  ziemlicher  Sicherheit,  dass  er ,  weil  ihm 
jede  Atmosphäre  fehlt,  eine  ,, klanglose  Einöde"  sein  müsse.  Nicht 
so  der  Pluralist  im  Edinburgh  Review.  Er  beruft  sich,  aber  mit 
Unrecht,  auf  die  Autorität  Sir  John  Herschels,  welcher  es  in  Un- 
gewissheit  lässt ,  ob  sich  dennoch  nicht  etwas  wie  die  Wirkung 
einer  Atmosphäre  am  Monde  entdecken  lasse.  Wie  sehr  sich  aber 
die  Pluralisten  in  ihrem  Eifer  Blossen  geben ,  mag  man  aus  dem 
Einwand  schliessen,  den  Prof.  Baden-Powell  gegen  die  Abwesen- 
heit einer  Mondatmosphäre  vorgebracht  hat.  Er  beruft  sich  auf 
eine  neue  Entdeckung  des  Astronomen  Hansen ,  welcher  durch 
seine  Beobachtungen  auf  die  Vermuthung  gekommen  ist,  dass  der 
Schwerpunkt  des  Mondes  von  der  Erde  um  6  geogr.  Meilen  ent- 
fernter liege  als  der  geometrische  Mittelpunkt  des  Mondes,  so  dass 
also  die  Seite,  welche  der  Mond  uns  zukehre,  stärker  gewölbt  sei 
als  die  abgewendete  Halbkugel,  woraus  erklärt  werden  soll,  wess- 
halb  der  Mond,  in  derselben  Zeit,  als  er  um  die  Erde  sich  bewegt 
gleichzeitig  eine  Umdrehung  um  seine  eigene  Achse  vollbringe. 
Der  Oxforder  Gelehrte  meint  nun :  wenn  sich  das  so  verhielte, 
so  müsste    nothwendig   alle   Luft    und   alles  Wasser   nach  der  De- 


Ueber  die  Pluralität  der  Welten. 


199 


pression  des  Mondes,  das  heisst  auf  seine  von  der  Erde  abgewen- 
dete Fläche  laufen ,  und  es  sei  möglich ,  dass  während  die  uns 
zugekehrte  Seite  des  Mondes  organisch  leblos ,  ohne  Luft  und 
ohne  Wasser  sei,  die  andere  Hälfte  unter  Pflanzenwuchs  strotze! 
Mit  solchen  Phantastereien  beantworten  die  ergrimmten  Pluralisten 
die  nüchternen  Sätze  des  grossen  Geologen !  Es  ist  kürzlich  von 
uns  erwähnt  worden,  dass  der  Tag  auf  dem  Mond  zwei  Wochen 
dauere  und  eben  so  lang  die  Nacht,  dass  daher  ein  so  grosser 
Unterschied  von  Kälte  und  Hitze  an  der  Oberfläche  des  Mondes 
entstehen  müsse ,  dass  das  (nicht  vorhandene)  Wasser  im  Lauf 
eines  Tages  auf  dem  Monde  zu  sieden  und  das  Quecksilber  in 
der  i4tägigen  Nacht  gefrieren  müsse.  Man  stelle  sich  bei  solchem 
Wechsel  der  Temperatur  einen  strotzenden  Pflanzenwuchs  auf  dem 
Monde  vor. 

Darin  ist  aber  Whewell  vielleicht  zu  weit  gegangen ,  dass  er 
die  Bewohnbarkeit  des  Mars  und  der  Venus  bestritt.  Wir  wissen 
über  die  Venus  noch  ausserordentlich  wenig,  indessen  unsere  besten 
Autoritäten,  die  Herschel,  Arago,  Alex.  v.  Humboldt,  Schröter, 
Beer  und  Mädler,  gestehen  diesem  Planeten  wegen  gewisser  Er- 
scheinung eines  Däramerungslichtes  eine  Atmosphäre  zu.  Der 
Mars  endlich  steht,  wie  es  im  Kosmos  so  schön  heisst,  der  Erde 
durch  seine  meteorologischen  Aehnlichkeiten  unter  allen  Planeten 
am  nächsten.  Er  ist  mit  Schnee  an  beiden  Polen  bedeckt,  welche 
vor  den  Wirkungen  des  kräftigen  Polarsommers  hinwegschmelzen. 
Whewell  meint  dagegen,  Mars  gehöre  schon  der  arktischen,  Venus 
der  tropischen  Zone  unseres  Sonnensystems  an,  und  die  Erde 
allein  bewege  sich  in  dem  temperirten  Gürtel  dieses  Systems, 
endlich  lägen  Venus  und  Mars  uns  im  Raum  etwa  so  nahe  als 
der  Zeit  nach  die  zoologische  Gegenwart  der  Erde  unserer  tertiären 
Periode.  Hier  hat  Sir  David  Brewster  wohl  Recht ,  wenn  er  be- 
hauptet, wir  wüssten  gar  nicht,  welche  Wärme  die  Sonnenstrahlen 
einem  fernen  oder  nahen  Planeten  mittheilen  könnten,  und  ob  die 
Temperatur,  die  sie  erzeugten,  im  Quadrat  der  Abstände  sich 
-vermindere.  Die  eigene  Wärme  der  Erde  sei  früher  viel  grösser 
gewesen,  und  wir  wüssten  gar  nichts  über  die  eigene  Wärme  der 
andern  Planeten.  Allein  damit  wird  noch  nicht  der  Grundgedanke 
des  grossen  Geologen  umgestossen,  der  in  dem  Satz  besteht,  dass 
das  organische  Leben  auf  der  Erde  ein  vergängliches  sei,  dass 
die    ehemals    unbewohnbare    Erde     wieder    unbewohnbar    werden 


200  '^"r  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

tnüsste,  und  dass  diess  analog  auf  alle  übrigen  Planeten  bezogen 
werden  solle. 

Vom  Jupiter  behauptet  er  ebenfalls,  er  könne  schon  desswegen 
nicht  bewohnt  sein,  weil  das  Sonnenlicht  wegen  der  grossen  Ent- 
fernung dort  niemals  mehr  als  die  Helligkeit  eines  Londoner  Ne- 
beltages zu  erzeugen  vermöge.  Diess  allein  würde  die  Abwesen- 
heit organischer  Wesen  nicht  beweisen,  nicht  einmal  dass  ihnen 
die  Gabe  des  Gesichtes  fehlte.  Wir  wissen  nämUch,  dass  die  Natur 
durch  Verschärfung  der  sinnlichen  Organe  solchen  Mängeln  leicht 
abzuhelfen  weiss.  Bei  der  ehemaligen  geringern  Durchsichtigkeit 
unserer  Atmosphäre  schuf  die  Natur  Thiere  mit  so  viel  Augen, 
dass  sie  sich  auch  in  jener  geologischen  Dämmerung  zurecht  fin- 
den konnten.  Allein  die  Substanz  der  Jupitersoberfläche  ist  nur 
etwas  weniger  dicht  als  das  Wasser,  während  die  Anziehungskraft 
dieses  Körpers  so  stark  ist,  dass  ein  menschlicher  Körper,  welcher 
der  Jupitersoberfläche  nahe  käme,  mit  der  Geschwindigkeit  des 
Falles  auf  der  Erde  durch  die  Substanz  des  Jupiters  hindurch  nach 
dessen  Mittelpunkt  gerissen  werden  würde.  Wir  müssten  uns  die 
Jupitersbewohner,  sagt  Whewell  malerisch,  aus  Gallerte  geformt 
denken,  wenn  sie  auf  jenem  Planeten  nicht  einsinken  sollten. 
„Die  uns  gleichartigen  Himmelskörper,  die  Planeten,  bemerkt  der 
geistreiche  Schieiden,  bieten  meistentheils  so  abweichende  Verhält- 
nisse dar,  dass  ein  verständiger  Mensch  seine  Phantasie  zu  etwas 
besserem  gebrauchen  wird,  als  sich  die  Möglichkeit  menschenähn- 
licher Existenzen  auf  diesen  Körpern  zu  entwickeln." 

Es  bleibt  also  noch  die  Sonne  übrig ,  über  deren  Bewohn- 
barkeit merkwürdigerweise  wenig  gestritten  worden  ist.  Arago  hat 
der  Hypothese  einen  vollständigen  Paragraphen  gewidmet.  Man 
sollte  meinen,  die  hohe  Temperatur  vernichte  dort  jedes  organische 
Leben.  Allein  bekanntUch  ist  der  eigentliche  Sonnenkörper  völlig 
dunkel,  und  es  ist  nur  seine  gasartige  Lichtsphäre,  welche  leuch- 
tet und  wärmt.  Dieser  Lichtmantel  ist  aber  weit  genug  vom 
Sonnenkörper  entfernt,  und  es  liegt  auch  zwischen  beiden  noch 
eine  dunstförmige  Schicht,  dass  auf  dem  festen  Kern  der  Sonne 
eine  sehr  massige  Temperatur  herrschen  kann  ,  ja  wir  wissen  aus 
Erfahrung,  dass  sie  wirklich  herrscht,  weil  man  thermometrisch  den 
Einfluss  der  Sonnenflecken  und  ihren  erkältenden  Einfluss  gemessen 
hat.  Das  Sonnenlicht  selbst  aber,  meint  Arago,  möchte  auf  der 
Oberfläche    des    Sonnenkörpers    wegen    der    verhüllenden    Dunst- 


Ueber  die  Pluralität  der  Welten.  201 

massen  zwischen  der  Photosphäre  und  dem  Centralkörper  etwa  der 
Wirkung  eines  starken  NordHchtes  gleichkommen.  Allein  auch  bei 
der  Sonne  ist  die  geringe  Dichtigkeit  der  Substanz,  etwa  ein  Viertel 
der  der  Erde  ,  ein  Hinderniss  an  ihre  Bewohnbarkeit  zu  denken. 
Von  den  Fixsternen  wissen  wir  bekanntlich  ausserordentlich 
wenig.  Wir  wissen  nur ,  dass  ihr  Licht  nicht  polarisirt  sei  und 
darin  dem  Sonnenlicht  gleiche.  Wir  kennen  ferner  die  Abstände 
von  noch  nicht  einem  Dutzend  Fixsternen  von  der  Erde,  und 
schliessen  aus  der  Bewegung  der  Doppelsteme,  dass  auch  sie  den 
Newton'schen  Gesetzen  gehorchen.  Gleichen  sie  in  allen  Stücken 
unserer  Sonne,  dann  steht  es  sehr  bedenklich  mit  ihrer  Bewohn- 
barkeit. Ob  sie  Planeten,  Monde,  Kometen,  Zodiakallichter  be- 
sitzen, wissen  wir  eben  so  wenig.  Der  Analogie  nach  sollte  man 
es  glauben,  und  die  auf  der  British  Association  besprochenen 
regelmässigen  Störungen  in  den  Bahnen  von  Doppelgestirnen 
ermuthigen  zu  dieser  Annahme.  Dass  sich  auch  dort  die  Vor- 
bedingungen eines  organischen  Lebens ,  eine  gewisse  Temperatur, 
eine  gewisse  Quantität  Licht,  Atmosphären  und  die  Stoffe  zur 
Bildung  organischer  Wesen  finden  sollten,  wer  wird  die  Mög- 
lichkeit bestreiten?  Nur  vergesse  man  nie,  dass  die  Erscheinung 
des  organischen  Lebens  an  die  Zeit  gebunden ,  eine  ausserordent- 
lich vergängliche  ist.  Nun  wissen  wir  aber,  dass  das  Licht,  wel- 
ches wir  gleichzeitig  am  Firmament  erblicken,  chronologisch  sehr 
verschiedenen  Ursprungs  ist.  Man  hält  sich  überzeugt,  dass  Mil- 
lionen Jahre  verstreichen  mussten,  ehe  das  Licht  von  Sternen,  die 
weit  von  uns  abstehen,  unser  Auge  erreichte.  Ehe  der  Lichtstrahl 
zu  uns  kam,  welche  Veränderungen  kann  seitdem  der  leuchtende 
Körper  erlitten  haben?  Welche  Veränderungen  hat  die  Erde  in 
der  Zeit  erlitten,  seitdem  der  Lichtstrahl  entsendet  wurde  bis  zu 
dem  Augenblick,  wo  er  uns  eiTeichte  ?  Das  Licht,  hat  man  vor- 
trefflich gesagt,  ist  die  älteste  historische  Urkunde  vom  Dasein  der 
Materie.  Der  Glanz  eines  Sternes  lässt  uns  empfinden ,  was  Mil- 
lionen Jahre  vor  uns  schon  vorhanden  war.  Auch  das  Licht  des 
Firmaments  hat  seine  Geschichte.  Arago  hat  nach  der  Mehrzahl 
der  grünen  Sterne  auf  der  einen  und  andern  Hemisphäre  geschlos- 
sen, dass  die  eine  dem  Verglühen  oder  Erlöschen  näher  sei  als 
die  andere,  wenn  man  nämlich  annimmt,  dass  die  farbigen  Strahlen 
sich  langsamer  bewegen  als  die  weissen,  Avas  jedoch  noch  immer 
eine  Streitfrage  geblieben  ist. 


202  '^"r  mathematischen   imd  physischen  Geographie. 

Der  zähe  Glauben  der  Pluralisten  flüchtet  sich ,  wenn  ihm 
alle  andern  Einwendungen  geraubt  worden  sind,  gewöhnlich  noch 
zu  der  P'rage :  ob  es  denn  nicht  möglich  sei,  dass  jedes  Gestirn 
ein  organisches  Leben  eigener  Art  haben  könnte?  Darauf  lässt 
sich  freilich  nur  antworten  :  wir  wissen  so  etwas  nicht,  wir  wissen 
nicht  einmal,  ob  wir  die  Möglichkeit  zugeben  dürfen.  Man  ver- 
suche, sich  ein  organisches  Leben  vorzustellen,  ohne  Atmosphäre, 
ohne  einen  gCAvissen  Grad  der  Dichtigkeit  eines  himmlischen 
Körpers,  ohne  Licht,  ohne  Wärme,  ohne  die  lebenbildenden  Sub- 
stanzen, ohne  Wasserstoff,  Sauerstoff,  Stickstoff  und  Kohlenstoff. 
Wir  beneiden  eine  Phantasie,  welche  solche  Schwierigkeiten  über- 
windet, denn  wir  selbst  \ermögen  uns  bis  zu  dieser  Höhe  nicht 
aufzuschwingen.  Ein  organisches  Leben,  welches  wir  nicht  denken 
und  nicht  uns  Aorzustellen  vermögen,  möchte  trotzdem  vorhanden 
sein ;  vorhanden  denken  können  wir  es  nicht,  und  was  wir  nicht 
zu  denken  vermögen,  kann  für  uns  auch  nie  vorhanden  sein. 


2.    Was  ist  eine  Sonne? 

(Ausland   1S65.      Xr.    9.     4.   März.) 

Die  Iiicas  von  Peru  hatten  ihre  besondern  Ansichten  von 
der  Sonne.  Sie  wussten,  dass  die  Sonne  ein  Gott  und  dass  sie 
zugleich  der  Ahnherr  ihres  Hauses  sei.  Aber  auch  unter  den 
Incas  regten  sich  schon  ketzerische  Gedanken.  Der  vorletzte  der 
regierenden  Monarchen  von  Peru  zweifelte  sehr  stark  an  der  Gött- 
lichkeit seines  Ascendenten ,  denn  nach  dem  Einerlei  ihrer  Be- 
wegungen ,  meinte  er ,  gleiche  die  Sonne  einem  Stücke  Vieh  an 
einer  Leine.  Solche  ehrenrührige  Dinge  äusserte  ein  Inca  in  Peru 
über  die  oberste  Gottheit  seines  Reiches ,  als  bereits  die  Spanier 
den  Rand  der  Südsee  erreicht  hatten  !  Hätten  die  Spanier  damals 
schon  einem  dieser  gekrönten  Kinder  der  Sonne  das  photographische 
Facsimile  eines  Sonnenfleckens  mit  den  Nasmyth'schen  ,, Weiden- 
blättern" vorgelegt,  dem  Inca  wäre  gewiss  bange  geworden  beim 
Anblick  seines  Grossvaters ,  und  er  hätte  vielleicht  sich  gedacht, 
dass  auch  dort  etwas  faul  sein  müsse  im  Staate  Dänemark. 

Die  meisten  Sonnenflecken  bestehen  aus  einem  schwarzen 
Kern  (Umbra)  und  aus  einem  Schattenrande  (Penumbra)  um 
diesen  Kern,  der  dunkler  als  der  Lichtmantel  (Photosphäre)  der 
Sonne  und  heller  als  der  schwarz  erscheinende  Fleckenkern  ist. 
Lange  Zeit  sti-itt  man  sich  darüber,  ob  die  Flecken  Erhöhungen 
oder  Vertiefungen  in  dem  Lichtmantel  seien.  Lalande  meinte 
noch ,  das  Lichtmeer  der  Sonne  erleide  eine  Bewegung  wie  Ebbe 
und  Fluth ,  und  bei  starken  Ebben  würden  Felsen  und  Klippen 
entblösst  und  erschienen  uns  wie  schwarze  Flecken. 

Schon  Galilei  hatte  bemerkt,  dass  wenn  zwei  Sonnenflecken 
neben  einander  stehen  und  durch  eine  Lichtbrücke  getrennt  werden. 


204  ^"'"  "mathematischen  und  physischen  Geographie. 

dieser  Isthmus  bei  der  Bewegung  vom  Mittelpunkte  nach  dem 
Rande  der  Sonne  schmaler  werden ,  ja  gänzlich  verschwinden 
müsste ,  Avenn  die  Flecken  der  Sohne  Anschwellungen  des  Licht- 
mantels wären.  Da  jenes  nicht  der  Fall  ist,  so  schloss  er,  dass 
die  Flecken  Vertiefungen  sein  müssten.  In  demselben  Sinne  sprach 
Alexander  Wilson  die  Ansicht  aus,  dass  die  Sonnenflecken  trichter- 
förmige Einsenkungen  sein  könnten.  Der  Kernflecken  (Umbra) 
würde  also  den  inneren  Mund,  der  Schattenrand  (Penumbra)  die 
Wand  des  Trichters  vorstellen.  Sah  man  senkrecht  in  den  Trichter 
hinein,  so  war  der  Kernflecken  von  einem  gleich  breiten  Schatten- 
saum links  und  rechts ,  oben  und  unten  umgeben ;  bewegte  sich 
der  Flecken  hierauf  nach  dem  rechten  Rande  der  Sonne,  so  blieb 
die  rechte  Trichterwand  fast  so  breit  wie  sie  war,  die  linke  wurde 
aber  mehr  und  mehr  verdeckt,  wie  es  die  Gesetze  der  Perspective 
verlangen.  Diese  Lehre  wurde  jedoch  bestritten ,  denn  es  kam 
nicht  immer  vor,  dass  sich  beim  Fortrücken  nach  dem  Rande 
der  Sonne  die  linke  Seite  des  Schattenrandes  schmälerte,  sondern 
sie  blieb  bisweilen  so  gross  wie  sie  gewesen  war.  Der  Astronom 
Faye,  dem  wir  die  neuesten  Arbeiten  über  die  Sonne  verdanken, 
ist  zu  dem  Ergebniss  gelangt,  dass  unter  loo  Erscheinungen  von 
Sonnenflecken  8 1  die  Lehre  Wilsons  bestätigen ,  1 9  ihr  Avider- 
sprechen.  Er  selbst  aber  hat  sich  dafür  entschieden ,  dass  die 
Sonnenflecken  Vertiefungen  sein  müssen,  Avenigstens  machen  gute 
Stereoskopien  der  Sonnenflecken  diesen  Eindruck. 

Die  Sonnenflecken  sind  am  häufigsten  in  der  Aequatorialzone 
der  Lichtkugel,  sie  fangen  an  bei  30°  heliocentrischer  südlicher 
oder  nördHcher  Breite  selten  zu  werden  und  fehlen  in  den  Polar- 
räumen. Wenn  wir  irdische  Vorgänge  auf  die  Sonne  übertragen 
dürften,  so  könnten  wir  sagen,  die  Flecken  kämen  in  der  Passat- 
zone  der  Sonne  zum  Vorschein.  Dieser  Ausdruck  verführte  Sir 
John  Herschel  zur  Ansicht,  in  den  Flecken  die  Wirkung  von 
Passatströmungen  auch  in  der  Sonne  zu  vermuthen ,  auch  auf  ihr 
heissere  und  kältere  Gürtel  anzunehmen.  Diese  geistreiche  Hypo- 
these ist  in  der  neuesten  Zeit  von  der  Sonne  selbst  verläugnet 
worden.  Unsere  Passate  wehen  zwar  immer  von  Ost  nach  West, 
aber  doch  mit  einer  leichten  Abbiegung  nach  dem  Aequator.  Die 
Sonnenflecken  müssten  sich  also ,  wenn  es  Sonnenpassatflecken 
wären,  stets  dem  Sonnenäquator  zu  nähern  suchen,  oder  was 
dasselbe  sagen  will,  stets  an  heliocentrischer  Breite  Aerlieren.     Man 


Was  ist  eine  Sonne? 


205 


hat  aber  Flecken  beobachtet,  die  sich  vom  Sonnenäquator  in  der 
Richtung  nach  den  Polen  entfernten,  und  damit  hat  die  Her- 
schel'sche  Vermuthung  wie  so  viele  andere  Vermuthungen  das 
Schicksal  der  bethlehemitischen  Kinder  ereilt. 

Lange  noch  nach  Arago's  und  A.  v.  Humboldt's  Tod  glaubte 
jedermann,  dass  die  schwarzen  Kernflecken  der  Sonne  nichts 
anderes  seien ,  als  die  nackte  Haut  des  Lichtkörpers  und  des 
Urahnen  der  Inca  von  Peru,  Man  sprach  von  einer  festen  Kugel 
der  Sonne ,  die  von  einem  Ivichtmantel  umgeben  wäre ,  der  bis- 
weilen zerreisse,  um  den  entblössten  Leib  des  Fixsternes  zu  zeigen. 
Man  glaubte  sogar ,  es  könne  unter  jenem  Lichtmantel  auf  der 
Terra  firma  der  Sonne,  wenn  nicht  kalt  doch  kühl  sein.  Man 
dachte  sich  diesen  Kern  der  Kugel  auch  ziemlich  hell  beleuchtet, 
obgleich  die  Flecken  unseren  Sehwerkzeugen  gänzlich  lichtlos 
erscheinen,  denn  auch  das  schärfste  künstliche  Licht  der  Menschen, 
nämlich  die  Hydrooxygengasflamme  erscheint,  vor  der  Sonnen- 
scheibe betrachtet,  wie  ein  schwarzer  Körper,  so  dass  also  die 
Dunkelheit  der  Kernflecken  nur  dem  Lichtcontraste  ihren  Ursprung 
verdankte.  Allem  Anschein  nach  steht  auch  dieser  Vermuthung 
von  einem  festen  kühlen  Sonnenkern  ein  bethlehemitisches  Schicksal 
bevor,  oder  hat  sie  bereits  ereilt.  Im  Jahre  1862  kündigten  ämlich 
ein  englischer  Astronom,  Herr  Nasmyth,  dem  Reichstag  der  bri- 
tischen Naturforscher  (British  Association)  an,  er  habe  an  den 
Rändern  der  Sonnenflecken ,  besonders  in  den  Räumen ,  die  man 
bisher  den  Schattenrand  (Penumbra)  der  Flecken  nannte,  Körper 
wahrgenommen ,  die  wie  ,, Weidenblätter"  aussehen  und  die  sich 
bisweilen  wie  Brücken  über  Flecken  selbst  hinüberlegen  sollten'). 
Ein  Jahr  später  hatten  andere  Astronomen  die  „Weidenblätter', 
auch  bemerkt,  aber  nicht  eigentlich  ,, Weidenblätter",  sondern 
Reiskörner  oder  linsenförmige  Lichtkörper.  Noch  spätem  Astro- 
nomen erschienen  die  Weidenblätter  oder  Reiskörner  eher  wie 
Krystallnadeln ,  anderen  wie  die  Ränder  eines  Strohdaches,  noch 
andere  fanden  Aehnlichkeit  mit  den  Diatomaceen ,  endlich  noch 
schärfere  Seher  verglichen  sie  mit  einem  Schwärm  oder  einem 
Geschwader  von  Fischen.  Noch  ein  Schritt  weiter  und  man  wagte 
den  Ausspruch,  es  könnten  Organismen,  das  heisst  belebte  Wesen 


i)  S.  Ausland   1862  vom   15.  Octbr.     S.   1026. 


2o6 


Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 


sein,  zumal  wir  wissen,  dass  belebte  Wesen  Licht  und  Elektricität 
zu  entwickeln  vermögen.  Damit  nicht  etwa  ein  unvorsichtiger 
Leser  allzurasch  sich  über  eine  solche  Kühnheit  entsetze ,  fügen 
wir  hinzu,  dass  niemand  geringer  dieses  grosse  Wort  gelassen 
ausgesprochen  habe  als  Sir  John  Herschel.  Was  man  bis  jetzt 
darüber  weiss  und  gesehen  hit,    dT>   /Ligt  unsei    Holzschnitt,  und 


tiiii 


es  bleibt  jedem  überlassen,  ob  er  Weidenblätter  oder  Reiskörner, 
oder  ein  Linsengericht,  oder  Krystallnadeln ,  oder  Diatomaceen, 
oder  fischähnhche  Lichtgeister  sehen  will.  Die  Vergleiche  bestätigen 
sämmtlich,  dass  jene  Körper  schlanke  und  zugespitzte  Gestalten 
haben.  Sie  sind  beträchtlich  länger  als  200  und  beträchtlich 
breiter  als  40  deutsche  Meilen ,  also  etwa  doppelt  so  lang  aber 
nicht  viel  breiter  als  die  Halbinsel  ItaHen.  Sie  sind  über  die 
ganze  Sonne  verstreut  in  unparteiischer  Unordnung ,  und  nur  an 
den  Rändern  der  Flecken  stehen  sie  stets  nach  einwärts  geordnet, 
wie  die  Haare  eines  Pelzwerkes,  oder  Halme  von  Gräsern  am 
Rande  der  Gewässer,  und  ebenso  ist  bei  den  ,, Brücken"  über  die 
Flecken  eine  gewisse  Anordnung  nicht  zu  verkennen,  daher  denn 
auch  schon  manche  Beobachter  Aeusserungen    polarer  Kräfte   aus 


Was  ist  eine  Sonne? 


207 


der  Stellung  dieser  Lichtkörper  wahrgenommen  haben  wollen. 
Diese  Körper  sind  nicht  ruhig,  sondern  sie  verändern  beständig 
ihre  Lage.  Zwei  entfernte  und  getrennte  Beobachter  bemerkten 
gleichzeitig  an  demselben  Sonnenflecken  wie  ein  Aufruhr  unter 
den  „Weidenblättern"  entstand,  welche  sich  mit  der  lobenswürdigen 
Geschwindigkeit  von  1500  Meilen  (oder  fast  eines  Erddurchmessers) 
in  der  Minute'  vorwärts  stürzten,  um  den  Schlund  eines  schwarzen 
Kernfleckes  zu  überbrücken.  Die  Erde  blieb  bei  dieser  Bewegung 
in  der  Sonne  nicht  empfindungslos ,  denn  auf  allen  magnetischen 
Observatorien  wurde  ein  sogenanntes  magnetisches  Gewitter  be- 
obachtet, alle  Telegraphendrähte  waren  elektrisch  überladen  und 
ein  Nordlicht  zitterte  am  Himmel.  Es  war  das  nicht  anders  zu 
erwarten  nach  der  schönen  Entdeckung  von  Schwabe ,  dass  die 
Zeiten  der  höchsten  Frequenz  der  Sonnenflecken  periodisch  zu- 
sammenfallen mit  den  Zeiten  der  höchsten  Frequenz  der  magne- 
tischen Gewitter  auf  Erden. 

Die  Kernflecken  der  Sonne,  schwer  sichtbar  mit  unbewaffnetem 
Auge,  bedecken  ungeheure  Räume,  häufig  bis  zu  40  Mill.  deutsche 
Quadratmeilen,  einer  ist  sogar  gesehen  worden,  von  180  Mill. 
Quadratmeilen  Oberfläche,  so  dass  sich  Sir  John  Herschel  ver- 
bindhch  machte ,  die  Erde  durch  dieses  Loch  im  Lichtmantel 
der  Sonne  hindurchzuwerfen  und  rings  um  den  Rand  noch  einen 
freien  Raum  von  200  deutschen  Meilen  übrig  zu  lassen. 

Arago  erfand  ein  schönes  Instrument ,  das  Polariskop ,  mit 
Hülfe  dessen  er  zu  unterscheiden  vermochte,  ob  ein  Strahl  aus 
natürlichem  oder  polarisirtem  Licht  bestehe.  Wäre  die  Sonne 
eine  weissglühende  Eisenkugel,  so  würden  die  Strahlen  von  ihren 
Rändern  oder  selbst  Strahlen ,  die  sich  einigermassen  vom  Mittel- 
punkt entfernen ,  Polarisationsmerkmale  zeigen.  Wäre  sie  ein 
feuerflüssiger  Körper,  wie  schmelzendes  Glas,  so  würde  das  gleiche 
der  Fall  sein.  Die  Strahlen,  welche  die  Sonne  selbst  von  den 
äussersten  Rändern  uns  zusendet,  erscheinen  aber  im  Polariskop 
als  sogenanntes  natürliches  Licht,  und  da  nur  Gaslicht  natürliches 
Licht  unter  diesen  Bedingungen  ausstrahlt,  so  schloss  Arago,  dass 
der  Lichtmantel  der  Sonne  aus  Gas  bestehen  müsse.  Diese  Ansicht 
ist   noch  jetzt   die    herrschende ').     Dagegen    hat  der   französische 


x)  Man  hält  übrigens  den  polariskopischen  Beweis  Arago's  gegenwärtig 
nicht  mehr  für  ganz  zuverlässig ,  seitdem  Herr  Faye  in  Paris  von  einer  Kugel 
aus   mattem    Silber   polarisationsfreies  Licht   auch    in   beträchtlicher  Entfernung 


2o8  ''-i"'  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

Astronom  Faye ,  gestützt  auf  die  Verschärfung  des  teleskopischen 
Sehens  und  auf  die  Fortschritte  der  Physik  und  Chemie  seit 
Arago's  Zeiten,  eine  neue  Lehre  über  die  Natur  der  Sonne  auf- 
gestellt, die  wir  versuchen  wollen  in  möglichster  Kürze  wiederzugeben. 
Die  Lichtentwickelung  an  der  Oberfläche  der  Sonne  kann 
keinem  chemischen  Verbrennungsprocess  zugeschrieben  werden, 
denn  dieser  würde  nach  Helmholtz'  Berechnungen  unter  den 
günstigsten  Verhältnissen  nur  3000  Jahre  haben  dauern  können. 
Das  ist  einestheils  zu  wenig  für  die  Lebenslust  des  Menschen- 
geschlechtes und  die  historische  Chronologie  und  andrerseits, 
was  viel  wichtiger  ist,  nicht  in  Einklang  zu  setzen  mit  geologischen 
Erkenntnissen,  da  wir  ganz  sichere  Urkunden  besitzen,  dass  schon 
vor  Hunderttausenden  von  Jahren  auf  Erden  die  Sonne  geschienen 
hat  und  Regen  gefallen  ist.  Die  Wärme  der  Sonne  verdanken 
wir  vielmehr  der  Zusammenballung  von  Stoffen  nach  den  Gesetzen 
der  Anziehungskraft.  Durch  dieses  Zusammenballen  wurde  die 
ursprüngliche  Bewegung  der  Stoffe  aufgehoben,  und  wir  wissen, 
dass,  wo  Bewegung  durch  Widerstand  vernichtet  wird,  eine  ganz 
bestimmte  Quantität  Wärme  erzeugt  werden  muss,  nach  dem 
Mayer'schen  Gesetz ,  dass  Wärme  umgewandelte  Kraft  oder  Be- 
wegung ist.  Die  Sonne  ist  nach  Faye's  Vorstellungen  ein  ver- 
dichteter Gasball,  der  durch  die  Verdichtung  selbst  einen  unge- 
heuren Schatz  von  Wärme  in  sich  eingeschlossen  hat.  Fänden 
keine  innerlichen  Störungen  statt,  so  würde  dieser  Gasball  aus 
lauter  concentrischen  Schichten  oder  lauter  Zwiebelschalen  von 
Gas  bestehen,  deren  Temperatur  von  aussen  nach  innen  zunähme. 
Ein  solcher  Gasball  könnte  sich  nur  äusserst  langsam  abkühlen, 
denn  da  die  von  innen  ausstrahlende  Wärme  von  jeder  nächsten 
äussern  Gasschicht  wieder  verschluckt  oder  aufgesogen  würde,  so 
könnte  die  äusserste  Schale  dieser  Gaszwiebel  nur  sehr  wenig 
Wärme  empfangen  und  ausstrahlen,  so  dass  die  Sonne  den  Be- 
wohnern ihrer  Planeten  als  ein  vergleichsweise  sehr  kalter  Körper 
erschiene.  Allein  das  Innere  der  Sonne  tauscht  seine  Wärme 
beständig  mit  der  Oberfläche  aus  durch  Vermittelung  aufsteigender 
und  niedersinkender  Strömungen.  Gelangt  ein  heisser  Strom  aus 
dem  Innern   an   die    kühle  Oberfläche,    so    werden    Niederschläge 

vom  Centrum  erhielt,  und  da  die  Oberfläche  des  Lichtniantels  der  Sonne  sehr 
rauh  ist ,  oder  wie  Herschel ,  der  Grossvater,  sich  ausdrückte,  der  Schale  einer 
Orange  gleicht,  so  kann  das  Polariskop  nicht  endgültig  entscheiden. 


Was  ist  eine  Sonne ' 


209 


oder  Dünste  verdichtet  werden.  Diese,  dem  Gesetze  der  Schwere 
gehorchend,  werden  später  wieder  durch  die  äusseren  Schichten 
in  die  wärmeren  Sonnenschichten  fallen  und  abermals  in  Gas  auf- 
gelöst werden.  Auf  diese  Art  wird  die  starke  Wärmestrahlung  der 
Oberfläche  durch  die  aufsteigende  Strömung  gerechtfertigt.  Jene 
Stoffe  ,  die  an  der  Oberfläche  ihre  Gasform  verlieren,  geben,  da 
sie  glühend  werden,  dem  sonst  lichtlosen  Sonnengas  eine  Leucht- 
kraft, genau  wie  es  bei  unsern  gewöhnlichen  Gasflammen  der  Fall 
ist.  Das  Gas,  womit  wir  unsere  Zimmer  und  unsere  Strassen  er- 
leuchten ,  \  erdankt  seine  Lichtwirkiuig  nur  dem  Umstand ,  dass 
die  Verbrennung  seiner  Luftarten  nicht  vollständig  erfolgt,  sondern 
einzelne  Bestandtheile  des  Gases  nur  weissglühend  werden.  Wir 
können  eine  vollständige  Verbrennung  unseres  Gases  sogleich  her- 
stellen ,  wenn  wir  statt  der  gewöhnlichen  einen  sogenannten 
Bunsen'schen  Brenner  an  die  Gasröhre  schrauben.  Diese  Bun- 
sen'sche  einfache  Vorrichtung  leitet  nämlich  atmosphärische  Luft 
in  die  Gasflamme,  worauf  eine  vollständige  Verbrennung  des  Gases 
erfolgt,  die  Flamme  aber  bei  einer  aufs  höchste  gesteigerten  Wärme- 
entwickelung allen  Glanz  und  alle  Leuchtkraft  verliert  und  sich 
in  eine  sogenannte  dunkle  oder  finstere  Flamme  verwandelt, 
ähnlich,  wie  ja  auch  der  Weingeist  durch  eine  lichtlose  Flamme 
verbrennt.  Faye  stellt  sich  also  das  Innere  der  Sonne  als  einen 
Gasball  im  Zustande  höchster  Erhitzung  vor,  dessen  aufsteigende 
Ströme  dunkel,  wie  die  Flamme  eines  Bunsen'schen  Brenners, 
nach  der  Oberfläche  gelangen,  wo  sich  ihre  Luftarten  verdichten 
und  weissglühend  erhitzt  zu  leuchten  beginnen.  Da  wo  der  auf- 
steigende heisse  Gasstrom  den  Lichtmantel  (Präcipitationssphäre) 
verdrängt,  wird  sich  ein  Flecken  zeigen.  Was  wir  also  schwarz 
sehen,  ist  nicht  ein  fester  kühler  Körper ,  sondern  die  lichtlose, 
heisse  Gasmasse  der  Sonne. 

Aus  der  Zerlegung  des  Sonnenlichtes  in  dem  von  Kirchhofl" 
erfundenen  Spectroskop  hat  sich  ergeben,  dass  in  dem  Lichtmantel 
der  Sonne  Dämpfe  von  Nickel ,  Kobalt ,  Eisen ,  Mangan ,  Kupfer, 
Zink,  Barium,  Natrium,  Magnesium,  Chromium,  Calcium,  Alu- 
minium, Strontium,  sowie  Sauerstoff  und  Was.serstoff  gegen- 
wärtig sind. 

Diess  ist  in  kurzen  Worten  das  Neueste,  was  wir  von  unserer 
Sonne  wissen  oder  \ermuthen  dürfen. 


Peschel,  Abhandlungen.     FI.  I4 


3.    Ueber  die  Aufgaben  der  heutigen 
Erdmessungen. 

(Ausland   1866.  'Nr.  48.     27.   November.) 

Am  diesjährigen  Stiftungsfeste  der  Münchener  Akademie  der 
Wissenschaften  hielt  C.  M.  Bauernfeind  über  das  oben  genannte 
Thema  einen  Vortrag,  der  jetzt  als  Denkschrift  gedruckt  uns  vor- 
liegt'). Wer  die  Schwierigkeiten  der  Erörterung  verwickelter 
mathematischer  Probleme  vor  einer  Versammlung,  die  dem  münd- 
lichen Vortrag  ohne  Anstrengung  folgen  soll,  gehörig  zu  ermessen 
versteht,  der  muss  dem  Vortragenden  das  Lob  ertheilen,  dass  er 
sehr  glücklich  seine  Aufgabe  bemeistert  hat.  Das  bequemste  Ver- 
fahren in  solchen  Fällen  besteht  darin ,  dass  man  von  dem  Ein- 
fachen fortschreitet  zu  dem  Verwickelten  und  den  Process  der 
menschlichen  Erkenntniss  in  eine  historische  Erzählung  verwandelt. 

Ehe  man  daran  denkt,  die  Grösse  der  Erde  zu  messen,  muss  man 
einen  Begriff  haben  von  ihrer  Gestalt.  Pythagoras  oder  die  Pytha- 
goräer  waren  die  ersten,  welche  erriethen,  dass  die  Erde  eine  Kugel 
sei;  allein  sie  schlössen  es  nur  daraus,  dass  sie  unsern  Planeten  für 
vollkommen  hielten ,  und  ihm  daher  die  vollkommenste  Körper- 
form, nämlich  die  der  Kugel,  zutrauten.  Nach  ihnen  erwarb  sich 
Aristoteles  den  unvergänghchen  Ruhm,  die  Kugelgestalt  unseres 
Planeten  aus  dem  bogenförmigen  Erdschatten  bei  Verfinsterung 
des  Mondes,  sowie  aus  dem  Verschwinden  oder  Auftauchen 
von      Gestirnen ,     je     nachdem     man      sich    auf     unserer     Halb- 


i)  Die  Bedeutung  moderner  Gradmessungen.     München  1S66.     Verlag  der 
königlichen  Akademie. 


Ueber  die  Aufgaben  der  heutigen  Erdmessungen.  211 

kugel  nördlich  oder  südlich  bewegt,  gefolgert  zu  haben.  Dass 
auch  die  mit  Wasser  bedeckten  Theile  an  der  sphärischen  Krüm- 
mung theilnehmen,  lehrte  Ptolemäus  aus  dem  frühern  Auftauchen 
von  Mastenspitzen  eines  von  hoher  See  heransegelnden  Schiffes, 
sowie  aus  dem  frühern  Verschwinden  niederer  Küstengegenstände 
vor  den  höhern,  wenn  sich  das  Schiff  vom  Lande  entfernt.  War 
die  Erde  eine  Kugel,  so  Hess  sich  ihr  Umfang  annähernd  ermit- 
teln, Avenn  man  die  Entfernung  zweier  Punkte  unter  demselben 
Mittagskreis  und  zugleich  ihre  Polhöhe  oder  geographische  Breite 
kannte.  Eratosthenes  (etwa  200  v.  Chr.)  glaubte  annehmen  zu 
dürfen,  dass  Alexandria  und  Syene  am  Nil  genau  südnördlich  von 
einander  lagen,  was  ungenau  war.  Die  Polhöhen  der  beiden 
Städte  dififerirten  nach  seiner  Messung  der  Sonnenhöhen  um  7  ° 
12',  was  ebenfalls  ungenau  war.  Ihr  Abstand  auf  einer  Mittags- 
linie hätte  demnach  gerade  den  50.  Theil  eines  Erdumfanges  aus- 
gefüllt ,  und  da  die  Entfernung  der  beiden  Städte  von  den  Nil- 
schiffern oder  nach  populären  Angaben  von  Strassenlängen  5000 
Stadien  betrug ,  so  brauchte  er  nur  mit  5  o  zu  multipliciren ,  um 
für  die  Grösse  des  Erdumfanges  250,000  Stadien  zu  finden.  War 
auch  diese  Schätzung  ungefähr  um  ein  Sechstel  zu  gross,  so  musste 
doch  das  Verfahren  des  Eratosthenes  zur  richtigen  Erkenntniss 
führen,  und  ist  bis  auf  die  heutige  Zeit  der  Erdmessungen  immer 
beobachtet  worden.  Der  Wahrheit  hätte  sich  Eratosthenes  wahr- 
scheinlich um  vieles  mehr  genähert,  wenn  er  den  zurückgelegten 
Weg  zwischen^ Alexandrien  und  Syene,  sei  es  mit  einer  Messruthe 
oder  mit  einer  Messkette,  wirklich  festgestellt  hätte.  So  blieb  das 
Verdienst  einer  ersten  Erdmessung  den  Arabern  vorbehalten.  Der 
Chahf  Mamun  Hess  von  Astronomen  in  der  Ebene  von  Sindschar 
ein  Erdbogenstück  von  2  Graden  messen,  und  zwar,  wie  Bauern- 
feind behauptet,  mit  Stäben.  Das  Ergebniss  lautete  auf  56% 
arabische  Meilen,  und  scheint  sich  nur  6  —  7  Procent  von  der 
Wahrheit  entfernt  zu  haben.  Fand  dieser  Versuch  im  neunten 
Jahrhundert  n.  Chr.  statt,  so  gehört  die  nächste  Verbesserung  dem 
Anfang  des  17.  Jahrhunderts  (vor  16 17)  an.  Ein  holländischer 
Mathematiker,  Willebrord  Snellius ,  niass  den  Erdbogen  zwischen 
Bergen  op  Zoom  und  Alkmaar.  Er  war  der  erste,  der  sich  dabei 
einer  Kette  von  Dreiecken  bediente.  Er  mass  Hämlich  zuerst  auf 
ebenem  Grunde  eine  gerade  Linie  oder  eine  sogenannte  Standlinie 
von  87   Ruthen  und  5  Zoll,    begab  sich  hierauf  nach  einander  an 

14" 


212  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

die  beiden  Endpunkte  seiner  Standlinie  und  mass  die  beiden  Win- 
kel, welche  die  Standlinie  an  den  Endpunkten  mit  irgend  einem 
entfernten  Gegenstand,  einem  Baum  oder  einem  Bauwerk,  bildete. 
Wenn  in  einem  Dreieck  die  Länge  einer  einzigen  Seite  (Basis)  und 
die  Grösse  der  anliegenden  Winkel  bekannt  sind,  so  lassen  sich 
durch  einfache  Rechnung  die  vorher  unbekannten  Längen  der 
beiden  andern  Seiten  des  Dreiecks  finden.  Eine  dieser  Dreieck- 
seiten diente  ihm  nun  wieder  zur  Basis  (Standlinie)  eines  neuen 
Dreiecks  ,  an  welches  er  ein  drittes ,  ein  viertes ,  überhaupt  eine 
ganze  Kette  anschliessen  konnte,  bis  er  zwei  weit  abgelegene 
Punkte  an  der  Erdoberfläche  durch  die  Spitzen  der  beiden  letzten 
Dreiecke  berührt  hatte.  Das  Verdienst  von  Snellius'  Verfahren 
beruht  also  darin,  dass  er  nur  eine  ganz  kleine  Strecke  mass  und 
dann  durch  trigonometrische  Berechnung  und  Winkelmessungen 
die  Entfernung  zweier  entlegener  Städte  (beziehungsweise  ihrer 
Thürme)  auffinden  lehrte.  Seit  dieser  Zeit  haben  sich  alle  Erd- 
messer mit  zwei  unwichtigen  Ausnahmen  des  nämlichen  Verfahrens 
bedient.  Wie  Bauernfeind  bemerkt ,  berechnete  Snellius  seine 
Dreiecke,  als  ob  sie  in  einer  Ebene  und  nicht  auf  einer  gekrümm- 
ten Kugelfläche  gelegen  gewesen  wären.  Er  vernachlässigte  also 
das,  was  die  geodätische  Sprache  den  sphärischen  Excess  nennt, 
und  er  Avar  dazu  berechtigt,  da  seine  Instrumente  bei  weitem  nicht 
die  Schärfe  besassen,  imi  sich  der  Wahrheit  bis  auf  sehr  geringe 
Grössen  zu  nähern.  Die  Winkel  seiner  Dreiecke  nämlich,  sowie 
die  Polhöhen  an  den  Endpunkten  der  Dreiecke  bestimmte  er  mit 
optischen  Instrumenten  ohne  Linsengläser.  Als  durch  die  Erfindung 
des  Fadenkreuzes  das  Fernrohr,  welches  bis  dahin  nur  ein  Raum 
durchdringendes  Instrument  gewesen  war,  zu  einem  Werkzeug  der 
Winkelmessung  von  höchster  Schärfe  erhoben  wurde,  begann  ein 
neuer  Abschnitt  auch  für  die  Erdmessungen. 

Wir  können  uns  hier  eine  Abschweifung  von  dem  akademi- 
schen Vortrage  nicht  versagen.  Vor  mehreren  Jahren  veröfl^ent- 
lichte  ein  jugendlicher  Historiker,  Thomas  Buckle,  eine  Geschichte 
der  Civilisation,  welche  in  deutscher  Uebersetzung  leider  bereits 
die  zweite  Auflage  erlebt  hat.  Wir  sagen  leider,  weil  Buckle  unter 
fünf  Behauptungen  meist  vier  Unwahrheiten  oder  Ungenauigkeiten 
ausspricht.  Gewiss  wäre  aus  ihm  ein  ausgezeichneter  Historiker 
geworden ,  wenn  ihn  der  Tod  nicht  so  früh  abgerufen  und  ihn 
verhindert  hätte,   seine  eigenen    Irrthümer  einzusehen  und  zu  ver- 


Leber  die  Aufgaben  der  heutigen  Erdmessungen.  21-5 

bessern.  So  schmäht  er  unter  anderm  Ludwig  XIV.  wegen  seiner 
Begünstigung  von  Schriftstellern  und  Gelehrten  ,  um  den  Satz  zu 
beweisen,  dass  durch  den  Schutz  von  Fürsten  nie  die  menschhchen 
Erkenntnisse  einen  Aufschwung  gewonnen  hätten,  ja,  er  lässt  sich 
sogar  zu  folgendem  Satz  hinreissen:  ,, Ludwig  XIV.  bestieg  1661 
den  Thron,  und  von  diesem  Augenblick  bis  zu  seinem  Tode  im 
Jahre  17 15  bildet  die  Geschichte  Frankreichs,  soAveit  sie  Entdeck- 
ungen betrifft,  ein  leeres  Blatt  in  den  Annalen  Europa' s."  (Vol. 
III.  p.  76.  Leipzig  1865.)  Der  Irrthum  ist  hier  so  ungeheuerlich, 
dass  sich  sogar  an  die  Thronbesteigung  Ludwigs  XIV.  eine  ganz 
neue  Zeitperiode  des  geographischen  Wissens  knüpft.  Im  Jahre 
1669  berief  nämlich  der  König  Jean  Dominique  Cassini  an  die 
Pariser  Sternwarte,  und  unter  seiner  Leitung  veranstaltete  die 
Akademie  die  ersten  wissenschaftlichen  Reisen.  Um  den  König, 
erzählt  Delambre  in  seiner  Geschichte  der  Astronomie,  durch  etwas 
zu  erfreuen,  was  ihm  mehr  Unterhaltung  bieten  konnte,  als  die 
trocknen  Arbeiten  der  Sternwarten,  beschloss  man,  die  Grösse  der 
Erde  zu  messen.  Man  übertrug  die  Ausführung  der  Messarbeiten 
dem  berühmten  Picard.  Der  kleine  Erdbogen,  welcher  im  Jahre 
1669  und  1670  von  ihm  gemessen,  und  wobei  die  Winkel  der 
Dreiecke  zuerst  mit  dem  Fernrohr  bestimmt  wurden,  lag  zwischen 
Paris  und  Amiens.  Picard  hat,  wie  sich  später  ergab,  nicht  aus 
Ungenauigkeit,  sondern  wegen  der  noch  fortbestehenden  Unvoll- 
kommenheit  seiner  Messwerkzeuge  sich  kleine  Fehler  in  der  Mes- 
sung der  Standlinie  und  andere  Fehler  bei  der  astronomischen 
Messung  des  Breitenunterschiedes  der  beiden  Endpunkte  seiner 
Dreieckskette  zu  Schulden  kommen  lassen.  Ein  glücklicher  Zufall 
wollte  aber,  dass  beide  Fehler  sich  genau  ausglichen  und  die  Pi- 
card'sche  Erdbogengrösse  bis  auf  ein  Minimum  der  heute  gefun- 
denen Länge  gleichkommt.  Diese  Messung  ist  für  die  Geschichte 
der  menschhchen  Erkenntnisse  von  unabsehbarer  Wirkung  gewesen ; 
denn  bereits  war  Newton  auf  der  Spur  seines  wichtigen  Gravita- 
tionsgesetzes, welches  er  aus  den  Wirkungen  der  gegenseitigen 
Anziehung  der  Erde  und  des  Mondes  abzuleiten  versuchte.  Der 
mathematische  Beweis  wäre  ihm  nie  gelungen,  wenn  er  nicht  die 
Grösse  der  Erde  gekannt  hätte.  Die  Messung  des  Snellius  enthielt 
nämlich  noch  so  grosse  Fehler,  dass  sich  jenes  Gesetz  nicht  be- 
stätigte und  Newton  seine  Nachforschungen  wieder  bei  Seite  ge- 
legt hatte.     Er  nahm  sie  erst  wieder  auf,  als  ihm  die  Picard'sche 


2  14  '^"'^  mathematischen  xmä  physischen  Geographie. 

Erdbogengrösse  bekannt  wurde,  und  er  gerieth,  als  ihm  eine  erste 
Berechnung  die  Bestätigung  seines  Gesetzes  zeigte,  in  eine  solche 
nervöse  Aufregung,  dass  er  nicht  im  Stande  war,  seine  Berech- 
nung zu  wiederholen,  sondern  zu  dieser  Aufgabe  Freundeshülfe 
anrufen  musste.  Wie  sieht  es  also  mit  Buckle's  obiger  Behauptung 
aus  ? 

Ebenfalls  mit  Unterstützung  Ludwigs  XIV.  und  im  Auftrag 
Cassini's  ging  1669  der  grosse  Astronom  Richer  nach  Cayenne, 
um  einige  Aufträge  der  Pariser  Sternwarte  dort  auszuführen. 
Gleich  beim  Beginn  der  Beobachtungen  entdeckte  er ,  dass  seine 
Pariser  Pendeluhr  um  zwei  Minuten  täglich  zurückblieb,  und  dass 
er  ihr  Pendel  um  i  ^4  Linien  verkürzen  musste ,  damit  sie  so 
regelrecht  ging,  wie  in  Paris.  Bis  dahin  hatte  man  geglaubt,  dass 
an  allen  Orten  der  Erde  Pendel  von  gleicher  Länge  ihre  Schwin- 
gungen in  gleichen  Zeiträumen  vollziehen,  dass  die  Schwingungen 
rascher  erfolgen  je  kürzer  die  Pendel,  und  langsamer,  je  länger 
sie  wurden.  Richer  entdeckte  dagegen,  dass  ein  Pendel  von  der- 
selben Länge  in  Paris  seine  Schwingungen  rascher  vollzog,  als  im 
tropischen  Amerika.  Daraus  wurde  geschlossen,  gestützt  auf  das 
Newton'sche  Gravitationsgesetz ,  dass  die  Schwerkraft  der  Erde, 
von  Avelcher  die  Pendelschwingungen  abhängig  sind,  am  Aequator 
geringer  sei,  als  an  den  Polen,  und  man  kam  auf  den  Gedanken, 
dass  die  Erde  (keine  mathematisch  reine  Kugel,  sondern  am 
Aequator  angeschwollen,  an  den  Polen  abgeplattet  sei.  Die  frühe 
Erkenntniss  von  der  Abplattung  unseres  Planeten  verdankt  man 
also  ebenfalls  mittelbar  der  Unterstützung  Ludwigs  XIV.  und  den 
Arbeiten  der  Pariser  Akadem.ie.  Newton  berechnete  sogleich  den 
Abplattungseffect  zu  ^1.230,  was  so  viel  sagen  will,  dass  die  Aequa- 
torialachse  der  Erde  um  ^230  länger  sei  als  ihre  Polarachse, 
Huyghens  dagegen  fand  durch  Rechnung  ^579-  Newton  ging 
bei  seiner  Berechnung  von  der  Annahme  aus,  dass  die  Erde  in 
allen  ihren  Schichten  gleiche  Dichtigkeit  besässe,  Huyghens  da- 
gegen verlegte  alle  Anziehungskraft  in  den  INIittelpunkt  der  Erde; 
beide  Annahmen  haben  sich  nicht  bestätigt,  und  daher  liegt  auch 
die  wirkHch  gemessene  Abplattung  in  der  Mitte  zwischen  beiden 
theoretischen  Werthen.  Nach  Richers  Rückkehr  Hess  die  Aka- 
demie unter  dem  Patronate  Ludwigs  XIV.  von  Cassini  und  Lahire 
1680 — 83  die  Erdbogenmessungen  über  ganz  Frankreich  ausdeh- 
nen; sie  wurden  aber  erst  vollendet  von  Cassini,  dem  Sohn,  Lahire, 


Ueber  die   Aufgaben  der  heutigen  Erdmessungen.  2  1 5 

dem  Sohn  und  Maraldi.  Wenn  die  Erde  eine  abgeplattete  Kugel 
ist  wie  eine  Orange,  dann  müssen  die  Abstände  zwischen  zwei 
Breitengraden  kleiner  am  Aequator  und  grösser  in  der  Nähe  der 
Pole  sein.  Man  fand  aber  umgekehrt,  dass  im  südlichen  Frank- 
reich die  Abstände  der  Breitengrade  grösser  waren  als  im  nörd- 
lichen. Wie  sich  später  ergab,  entstand  die  damalige  Verwirrung 
daraus ,  dass  die  Messkunst  noch  nicht  die  Schärfe  besass ,  um 
die  Abplattung  der  Erde  zu  bestätigen,  die  bereits  das  Pendel 
angezeigt  hatte.  Es  erhob  sich  vielmehr  ein  5ojähriger  Streit 
zwischen  Astronomen  und  Mathematikern,  wovon  die  einen 
die  Orangen-,  die  andern  die  Eigestalt  der  Erde  vertheidigten- 
Die  Frage  wurde  endlich  wiederum  durch  königliche  Unter- 
stützung und  wiederum  unter  der  Leitung  der  Pariser  Akademie 
gelöst.  Man  schickte  nämlich  eine  Anzahl  französischer  Astro- 
nomen nach  Lappland ,  um  dort  ein  Erdbogenstück ,  und  eine 
andere  Abtheilung,  darunter  den  unsterblichen  Bouguer  und  seinen 
grossen  Begleiter  Lacondamine,  nach  Peru,  um  in  der  Nähe  des 
Aequators  die  Grösse  der  Breitenabstände  genau  zu  messen.  Das 
lappländische  Ergebniss,  welches  schon  im  Juli  1736  bekannt 
wurde,  lautete  für  einen  Meridiangrad  am  Polarkreis  auf  57,438 
Toisen,  das  peruanische  Ergebniss,  welches  erst  1744  ermittelt 
wurde,  lautete  auf  56,753  Toisen,  folglich  waren  die  Abstände  der 
Breitengrade  am  Aequator  kleiner  als  am  Polarkreis,  wie  es  nicht 
anders  sein  kann,  wenn  die  Erde  ein  an  den  Polen  abgeplattetes 
und  am  Aequator  angeschwollenes  Sphäroid  ist. 

So  hatte  denn  die  Geodäsie  nachgewiesen,  dass  das  Secun- 
denpendel  als  ein  Instrument  zur  Ermittelung  der  Erdgestalt  be- 
trachtet werden  dürfe.  Mit  dem  Pendel  lässt  sich  die  wechselnde 
Grösse  der  Schwerkraft  an  verschiedenen  Orten  der  Erdoberfläche 
auf  zweierlei  Weise  finden :  entweder  man  verkürzt  oder  verlängert 
das  Pendel  so  lange,  bis  seine  Schwingungen  genau  einen  Secun- 
denzeitraum  ausfüllen  ,  oder  man  trägt  ein  Secundenpendel  von 
gleicher  Länge  auf  verschiedene  Stationen  vom  Aequator  in  der 
Richtung  nach  den  Polen,  wie  diess  z.  B.  von  Sabine  im  atlanti- 
schen Meer  bis  zum  80°  nördl.  Breite  geschehen  ist,  und  zählt 
die  Schwingungen  dieses  Pendels  im  Laufe  eines  Sternentages. 
Im  erstem  Fall  wird  sich  die  Schwerkraft  genau  verhalten  wie  die 
Pendellänge ;  in  dem  zweiten  aber  wie  Quadrate  der  Schwingungs- 
zahlen.    Auf  diesem  Wege  hat  man   ermittelt,    dass    die    Schwer- 


2i6  Zur   mathematischen  und  physischen  Geographie. 

kraft  am  Aequator  zu  der  am  Pole  sich  verhält  wie  179:180, 
oder  mit  andern  Worten,  dass  die  Schwerzunahme  ^/^go  der 
Schwere  am  Pole  beträgt.  Nun  hat  einer  der  ausgezeichnetsten 
Mathematiker,  Clairaut,  welcher  mit  bei  der  lappländischen  Grad- 
messung verwendet  wurde,  den  schönen  Satz  nachgewiesen,  dass, 
wie  auch  die  Massen  im  Innern  der  Erde  vertheilt  sein  mögen, 
doch  stets  die  Summe  der  Abplattung  und  der  Zuwachs  der 
Schwere  vom  Aequator  bis  zu  den  Polen  2^2  nial  so  gross  sein 
muss,  als  die  Schwungkraft  unter  dem  Aequator.  Die  Schwung- 
kraft unter  dem  Aequator  beträgt  aber  7277»  und  daher  ergiebt 
sich  aus  dem  Clairaut'schen  Satze,  dass  die  Pendelbeobachtungen 
eine  Abplattung  der  Erde  von  durchschnittlich   ^/^gg  anzeigen,  denn 

/277    -^    2   /g    =      /180    +      /2S9. 

Wir  haben  aber  noch  ein  anderes  Mittel,  um  die  Abplattung 
der  Erde  zu  bestimmen.  Der  grosse  Geometer  Laplace  schloss 
ganz  richtig,  dass  die  Abweichung  der  Erde  von  der  reinen  Kugel- 
form den  Mond  in  seinen  Bewegungen  stören  müsse,  und  er  gab 
eine  Formel,  wie  gross  die  Störungen  und  in  welchem  Sinne  sie 
erfolgen  müssten,  je  nach  der  Grösse  der  Abplattung.  Er  Hess 
hierauf  aus  Greenwicher  Beobachtungen,  die  wirklich  erfolgten, 
Störungen  messen,  und  es  ergab  sich  daraus  eine  Quantität  der 
Abplattung  von  ^/g^j ,  während  das  Ergebniss  der  peruanischen 
Erdmessung  durch  directe  Messung  den  Abplattungswerth  auf 
V304  festgestellt  hat.  Wir  sehen  hier  also ,  dass  man  auf  drei 
ganz  unabhängigen  Wegen,  nämlich  durch  Bestimmung  der  Länge 
des  Secundenpendels,  durch  Beobachtung  der  Bewegungen  des 
Mondes  und  durch  Bestimmung  der  Grösse  von  Erdbogenstücken 
dahin  gelangte,  den  Unterschied  zwischen  dem  grossen  und  dem 
kleinen  Durchmesser  der  abgeplatteten  Erdkugel  in  runden  Zahlen 
auf  etwa  V300  festzustellen.  Geologische  Vermuthungen  hatten 
sich  dieser  Erkenntniss  bemächtigt,  um  darin  eine  Stütze  zu  fin- 
den. War  die  Erde  ehemals  eine  feuerflüssige  Kugel ,  so  sagte 
man,  und  setzte  sie  sich  um  ihre  Achse  in  Bewegung,  so  musste 
nothwendig,  da  die  Schwungkraft  der  Erde  am  Aequator  um  ein 
vielfaches  grösser  ist  als  jenseits  der  Polarcirkel,  die  noch  weiche 
Masse  am  Aequator  anschwellen  und  umgekehrt  der  Durchmesser 
der  Erde  von  Pol  zu  Pol  ein  wenig  kürzer  werden.  Leider  besitzt 
diese  Beweisführung  keine  genügende  Kraft  mehr,  seit  Sir  John 
Herschel  gezeigt  hat,     dass  auch   ohne    einen  plastischen  Zustand 


Leber  die  Aufgaben  der  heutigen  Erdmessungen.  217 

der  Erde  eine  Abplattung  der  Erde  eintreten  musste.  Denken  wir 
uns  die  Erde  als  eine  mathematisch  reine  Kugel  von  kalten,  nicht 
dehnbaren  Gesteinsmassen,  aber  umgeben  von  einer  Wasserhülle, 
deren  Rauminhalt  den  heutigen  Weltmeeren  und  stehenden  Was- 
sern entsprechen  würde,  so  müsste  diese  Wasserhülle,  so  lange  die 
Erde  fern  von  allen  Himmelskörpern  im  Weltenraum  ohne  eine 
Bewegung  schwebte,  überall  gleiche  Tiefe  besitzen,  oder  mit  an- 
dern Worten  eine  concentrische  Schale  um  die  mineralische  Kugel 
bilden.  Sowie  sich  die  Erde  aber  als  Planet  im  Sonnensystem 
um  ihre  Achse  zu  bewegen  begann,  hätten  sich  die  Wassermassen 
aus  den  Polarcirkeln  zurückziehen  und  am  Aequator  anhäufen 
müssen.  Die  Meere  hätten  die  Wirkung  der  Winde,  der  Strö- 
mungen der  Ebbe  und  Fluth  erleiden  müssen  ,  folglich  hätte  das 
Meer  allmählich  die  Festländer  an  den  Polen  abgenagt ,  die  Mee- 
resströmungen die  Erosionsmassen  dem  Aequator  zugeführt ,  bis 
die  Anhäufung  von  Schuttmassen  zuletzt  dem  ehemals  mathema- 
tisch reinen  Erdkörper  die  abgeplattete  Gestalt  gegeben  haben 
würde. 

Wir  sahen,  dass  die  Erdmessungen  seit  Richers  Entdeckungen 
eine  ganz  neue  Aufgabe  erhalten  haben,  nämlich  nicht  bloss  die 
Feststellung  der  Grösse,  sondern  auch  der  Gestalt  unsers  Planeten. 
Der  französische  Nation alconvent  stellte  noch  eine  andere  Anfor- 
derung an  sie.  Könnten  wir  nämlich  jemals  genau  die  Grösse 
der  Erde  bestimmen,  so  würde,  sei  es  ihr  Umfang  oder  ihr  Durch- 
messer, für  den  bürgerlichen  Verkehr  uns  eine  Masseinheit  gewäh- 
ren, die  so  unveränderlich  wäre,  dass  sie  100  mal  verloren  nach 
Tausenden  und  hundert  Tausenden  von  Jahren  immer  genau  wie- 
der aufgefunden  werden  könnte.  Das  souveräne  Volk  in  Frank- 
reich befahl  also  zum  dritten  Mal  in  Frankreich  einen  Erdbogen 
zu  messen,  aus  diesen  Messungen  die  Grösse  eines  Erdquadranten, 
d.  h.  eines  Kreisviertels  vom  Aequator  nach  einem  der  Pole,  zu 
berechnen,  diese  Länge  durch  zehn  Millionen  zu  divrdiren  und 
den  Quotienten  als  die  unerschütterliche  Masseinheit  unter  dem 
Namen  Meter  einzuführen.  Jene  dritte  Gradmessung,  unter  Bor- 
da's  Leitung  von  Mechain  und  Delambre  begonnen ,  aber  erst 
unter  dem  Kaiserreich  von  Biot  und  Arago ,  von  Dünkirchen  bis 
Formentera  vollendet,  umfasste  12^/2  Breitengrade,  und  durch  sie 
wurde  die  Grösse  des  Meters  zu  443,296  Pariser  Linien  festgesetzt. 
Obgleich  sich  die  Schärfe  der    Messinstrumente   bei    der    Grössen- 


2 1 8  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

bestimmuiig  der  Standlinie  ausserordentlich  vervollkommnet,  und 
die  Berechnung  des  Erdbogens  nach  den  neuen  mathematischen 
Sätzen  Legendre's  und  Delambre's,  welche  die  Zurückführung  der 
sphärischen  Dreiecke  auf  ebene  erlaubte,  an  Genauigkeit  gewonnen 
hatte,  so  war  doch  die  Abplattung  ein  wenig  zu  klein  (i  :  334) 
angenommen  worden  und  auch  andere  Fehler  untergelaufen ,  so 
dass  nach  Bessels  schärferer  Prüfung  der  Erdquadrant  der  fran- 
zösischen Geodäten  um  855  Meter  und  ihre  Masseinheit  um  nahezu 
^/ij^  Millimeter  zu  kurz  ist,  mit  andern  Worten,  dass  10,000,855 
Meter  des  französischen  Masses  erst  10,000,000  idealen  Metern 
entsprechen  würden.  Die  Vorzüge  des  metrischen  Systems  be- 
stehen also  einzig  und  allein  in  seiner  Decimaltheilung ,  während 
seine  physische  Grösse  etwas  ebenso  willkürliches  ist,  als  irgend 
ein  anderes  Fuss-  oder  EUenmass. 

In  unserem  Jahrhundert  haben  sich  die  Erdbogenmessungen 
ausserordentlich  vervielfältigt.  In  Grossbritannien  hat  man  einen 
Erdbogen  bis  zu  dem  nördlichsten  erreichbaren  Punkte  ausgedehnt 
und  sein  Südende  zugleich  über  den  Canal  hinweg  mit  den  fran- 
zösischen Dreiecksnetzen  verknüpft.  In  Deutschland  fanden  eben- 
falls Erdbogenmessungen,  in  Bayern,  Sachsen,  Württemberg  und 
Baden  statt.  Wichtig  für  die  Wissenschaft  waren  jedoch  nur  die 
Bogenmessung  zwischen  Göttingen  und  Altona,  ausgeführt  von 
unserm  unsterblichen  Gauss,  die  dann  später  von  dem  Astronomen 
Schuhmacher  auf  Kosten  der  dänischen  Regierung  über  Holstein 
ausgedehnt  wurde,  sodann  die  Messung  zwischen  Memel  und  Kö- 
nigsberg, welche  der  grosse  Astronom  Bessel  im  Verein  mit  dem 
jetzigen  Gen.-Lieutnant  Baeyer  ausführte.  Der  hannoversche  wie 
der  ostpreussische  Bogen  ist  sehr  klein,  die  Ausführung  dagegen, 
wie  die  Berechnung  der  Dreiecke,  waren  so  meisterhaft ,  dass  sie 
den  nachfolgenden  Arbeiten  als  Muster  gedient  haben.  Es  ist 
begreiflich,  dass  die  Genauigkeit  der  Endergebnisse  mit  der  Grösse 
des  Erdbogens  wachsen  muss.  Die  Engländer  haben  sich  daher 
ein  grosses  Verdienst  erworben,  dass  sie  von  Cap  Comorin ,  der 
Südspitze,  ihre  Messung  durch  die  ganze  Halbinsel  Indiens  bis 
zum  Himalaya  ausdehnten  und  einen  Bogen  von  nicht  weniger 
als  21°  21'  17"  Spannung  gewannen.  Aber  selbst  diese  Grösse 
Avurde  verdunkelt  durch  die  vierzigjährige  russische  Erdbogen- 
messung  von  StrUAe  und  Tenner,  welche  in  Bessarabien  beginnt, 
auf  der  Kval-Insel  vor  Hammerfest  in  Norwegen  endigt  und  sich 
über  2  5 1/3  Breitegrade  erstreckt. 


lieber  die  Aufgaben  der  heutigen  Erdmessungen. 


219 


Um  die  Grösse  der  Erde  zu  bestimmen ,  kann  man  nicht 
bloss  Entfernungen  längs  eines  Mittagskreises,  sondern  ebenso  gut 
Stücke  eines  Breitekreises  messen.  Hatte  man  aber  schon  grosse 
astronomische  Schwierigkeiten  um  die  geographische  Breite  der 
Bogenendpunkte  mit  der  nöthigen  Schärfe  zu  bestimmen ,  so  war 
es  vor  Erfindung  der  elektrischen  Telegraphen  noch  viel  schwie- 
riger, die  geographischen  Längen  zweier  Orte  mit  vertrauenswerther 
Schärfe  zu  ermitteln.  Der  Versuch  einer  Längenbogenmessung 
zwischen  dem  45.  und  46.  Breitegrad,  welcher  vor  etwa  vierzig 
Jahren  von  österreichischen,  sardinischen  und  französischen  Geo- 
däten ausgeführt  wurde,  brachte  daher  keine  befriedigenden  Er- 
gebnisse und  gilt  als  ein  missglückter  Versuch.  Gegenwärtig  aber, 
wo  man  Mittel  zu  einer  verschärften  Längenbestimmung  besitzt, 
soll  auf  Anregung  des  Gen.-Lieutnant  Baeyer  eine  grossartige 
Messung  durch  Verknüpfung  der  vorhandenen  Dreiecke  ausgeführt 
werden.  Das  Unternehmen,  welches  den  Namen  ,, mitteleuropäische 
Gradmessung"  führt,  wurde  durch  Staatsverträge  eingeleitet  und 
erstreckt  sich  gegenwärtig  in  Russland  über  39,  in  Preussen  über 
12,  in  Belgien  über  5  und  in  England  über  13  Längegrade; 
doch  sind  die  letzten  Ergebnisse  noch  nicht  zur  Oeffentlichkeit 
gelangt. 

Die  Erdmessungen  haben  uns  auch  mit  einer  andern  That- 
sache  bekannt  gemacht,  welche  störend  auf  die  mathematischen 
Arbeiten  einwirkte.  Alle  Winkelmessungen  am  Himmel  wie  an 
der  Erdoberfläche  müssen  fehlerhaft  sein,  wenn  das  Bleiloth  nicht 
senkrecht  auf  dem  Horizont  steht.  Schon  zur  Zeit  der  peruani- 
schen Gradmessung  argwöhnte  Bouguer,  dass  in  der  Nähe  grosser 
Gebirgsmassen  das  Bleiloth  ein  wenig  aus  der  senkrechten  Linie 
hinweg  und  von  den  Bergmassen  angezogen  würde  (Localattraction). 
Man  ist  dann  später  dieser  Fehlerquelle  auf  die  Spur  gekommen 
und  hat  sie  zu  beseitigen  verstanden.  Die  Lothab  weichung  ist 
meistens  sehr  gering,  doch  hat  man  sie  in  den  Alpen  und  im 
Kaukasus  bis  auf  20  und  54  Bogensecunden  anwachsen  sehen. 
Mit  grosser  Ueberraschung  entdeckten  jedoch  die  Engländer,  als 
sich  ihre  Messungen  dem  Himalaya  näherten,  dass  die  Lothlinie 
von  jenen  ungeheuren  Bergmassen  nicht  abgelenkt  wurde,  die 
Russen  dagegen  fanden  in  einer  ebenen  Gegend  um  Moskau  zur 
noch  grössern  Verwunderung  eine  Ablenkung  des  Lothes  von  12 
Bogensecunden ,    und    da    sich    an   jener  Stelle  gerade  die  Gränze 


2  20  ^^ir  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

einer  Gebirgsart  erstreckt,  so  vermuthet  man  jetzt,  dass  die  ver- 
schiedene Dichtigkeit  der  Felsarten  unserer  Erdrinde  auf  die  Rich- 
tung der  Lothlinie  Einfluss  haben  müsse.  Der  Vortragende ,  der 
neuerdings  eine  strengere  Theorie  der  atmosphärischen  Strahlen- 
brechung in  den  „astronomischen  Nachrichten" ')  gegeben  hat, 
hofft  jedoch  mit  ihrer  Hülfe  in  Zukunft  die  örtlichen  Störungen 
der  Lothlinie  aufzufinden. 

Im  Anfang,  wo  man  über  die  Gestalt  der  Erde  nachdachte, 
hielt  man  sie  für  eine  viereckige  Tafel  oder  für  eine  runde  Scheibe. 
Es  war  der  grösste  Schritt  zur  Annäherung  an  die  Wahrheit,  als 
man  vermuthete,  sie  müsse  eine  Kugelform  besitzen  ;  noch  schärfer 
erkannte  man  die  wirklichen  Verhältnisse,  als  Richer  entdeckt  hatte, 
dass  sie  an  den  Polen  abgeplattet  sei,  und  wenn  auch  nicht  die 
reine  Kugelgestalt,  doch  die  mathematische  Form  eines  kugel- 
förmigen Umdrehungskörpers  (Rotationssphäroids)  besitze.  Aber 
nicht  emmal  diese  Gestalt  ist  in  ihrer  Reinheit  vorhanden.  Die 
Erdmessungen  sind  so  genau  geworden ,  dass  nach  Beseitigung 
aller  Fehlerquellen  kein  Zweifel  mehr  übrig  bleibt,  dass  die  Erde 
von  der  eUiptischen  Form  örtlich  zurückweicht.  So  erscheint  sie 
namentHch,  wenn  man  den  englischen  Bogen  zu  Grunde  legt,  viel 
abgeplatteter  als  anderswo,  und  wenn  man  jetzt  die  Angabe  liest, 
dass  die  Erde  um  V290  abgeplattet  sei,  so  ist  dieser  Zahlenaus- 
druck nur  das  mathematische  Mittel  aus  verschiedenen  für  correct 
geltenden  Erdbogenmessungen.  Man  hat  sich  also  einen  Quer- 
schnitt durch  die  Erde  von  Pol  zu  Pol  nicht  als  ein  reines  Ellip- 
soid  zu  denken,  sondern  die  wahre  Oberfläche  wird  stellenweise 
einen  Hohlraum,  stellenweise  eine  Wölbung  längs  der  mathemati- 
schen Linie  bilden ;  doch  sind  diese  Abweichungen  so  gering,  wie 
etwa  die  Wellen  auf  der  See ,  die  wir  uns  unbeschadet  der  ört- 
lichen Störungen  doch  als  eine  sphärisch  gekrümmte  Fläche  denken. 


i)  C.  M.  Bauernfeind,  Die  atmosphärische  Strahlenbrechung;  I.  Abschn. 
die  astronomische  Strahlenbrechung;  II.  Abschnitt  die  terrestrische  Strahlen- 
brechung.    Separat-Abdruck.     München    1866.     Cotta. 


4.    Ueber  die  Gestalt  der  Erde. 

(Ausland   i86S.     Nr.  34.     20.  August.) 

Wir  wollen  im  nachstehenden  versuchen,  den  Leser,  so  weit 
es  möglich  ist,  mit  den  Erörtermigen  eines  Mathematikers  über 
die  Gestalt  der  Erde  bekannt  zu  machen,  ohne  auf  die  verwickel- 
ten Rechnungen  selbst  einzugehen^). 

Die  Gestalt  der  Erde  ist  auf  drei  verschiedenen  Wegen  be- 
stimmt worden.  Laplace  fand  sie  in  seinem  Studierzimmer,  und 
obgleich  sein  Verfahren  eigentlich  nichts  mit  der  gegenwärtigen 
Aufgabe  zu  schaffen  hat ,  so  verweilt  man  doch  gern  dabei ,  weil 
es  zu  den  Triumphen  des  menschlichen  Scharfsinns  gehört.  La- 
place sagt  sich,  dass,  wenn  die  Erde,  wie  man  aus  andern  That- 
sachen  geschlossen  hatte,  am  Aequator  angeschwollen,  an  den 
Polen  plattgedrückt  oder  ein  sogenanntes  Umdrehungssphäroid 
sei,  der  Mond  in  seinem  Umlauf  gewisse  Störungen  erleiden  müsse, 
denen  er  entgehen  würde,  wenn  die  Erde  eine  reine  Kugel  wäre. 
Der  Mond  ward  also  befragt,  die  Störungen  wurden  aufgefunden, 
und  Laplace  berechnete  1802  daraus  einen  Abplattungswerth  von 
^/soö )  der  den  andern  gefundenen  Werthen  überraschend  nahe 
kam ,  so  dass  man  nur  bedauern  kann ,  warum  niemand  die 
Rechnung  später  erneuert  hat,  da  doch  die  Störungen  des  Mondes 
und  die  Dichtigkeit  der  Erde  jetzt  etwas  besser  gekannt  werden, 
als  vor  60  Jahren. 

Man  kann  aber  die  Gestalt  der  Erde,  das  heisst  die  Ab- 
plattungsgrösse ,    noch   anders    finden.      Da   die  Aeusserungen   der 


i)  Untersuchungen    über    die    Gestalt    der    Erde    von    Dr.    Philipp  Fischer, 
Dir.  der  techn.   Schule  zu  Darmstadt,  Darmstadt  1868. 


22  2  2ur  mathematischen  und  physischen  Geographie, 

Schwerkraft  an  der  Erdoberfläche  abnehmen  mit  den  Qtiadraten 
der  Entfernung  vom  Erdmittelpunkte,  so  wird  ein  Körper  an  den 
Polen  stärker  angezogen  werden  als  am  Aequator ;  denn  wenn 
die  Erde  abgeplattet  ist ,  so  befinden  wir  uns  an  den  Polen  ihrem 
Mittelpunkte  näher  als  am  Aequator.  Um  diese  Abnahme  oder 
Zunahme  der  Anziehung  zu  messen,  dafür  haben  wir  ein  einfaches 
Instrument ,  das  Pendel.  Die  Dauer  einer  Pendelschwingung  ist 
bekanntlich  abhängig  von  seiner  Länge.  Je  kürzer  das  Pendel, 
desto  rascher  die  Schwingungen.  Das  Pariser  Secimdenpendel  hat 
also  eine  ganz  bestimmte  Länge,  wenn  es  genau  eine  Schwingung 
in  genau  einer  Zeitsecunde  vollziehen  soll.  Nun  ist  es  merkwürdig 
und  für  die  Untersuchungen  unseres  Verfassers  höchst  empfehlend, 
dass  das  Pendel  lange  vor  den  Gradmessungen ,  ja  längere  Zeit 
in  Widerspruch  mit  den  geodätischen  Messungen,  eine  Abplattung 
der  Erde  angezeigt  hat.  Wohl  hatte  noch  früher  Newton  es  als 
eine  theoretische  Forderung  ausgesprochen ,  dass  die  Erde ,  weil 
sie  sich  drehe,  eine  Anschwellung  am  Aequator,  eine  Abplattung 
in  den  Polarräumen  erUtten  haben  müsse.  Dass  diess  aber 
wirklich  der  Fall  sei,  fand  erst  Richer,  der  das  Pariser  Secunden- 
pendel  zu  seinen  astronomischen  Aufgaben  nach  Guayana  mit- 
genommen hatte.  Es  versagte  nämlich  dort  seine  Dienste,  denn 
seine  Schwingungen  erfolgten  nicht  genau  in  einer  Secunde,  sondern, 
etwas  träger.  Er  musste  also  das  Pariser  Secundenpendel  kürzen, 
um  das  Secundenpendel  für  Guayana  zu  erhalten.  Offenbar  war 
also  eine  Verminderung  der  örtlichen  Anziehungskraft  für  Guayana 
nachgewiesen  worden.  Wenn  man  nun  vom  Aequator  angefangen 
nach  den  beiden  Polen  zu,  so  weit  sie  erreichbar  sind,  überall  die 
Länge  der  örthchen  Secundenpendel  feststellen  könnte,  so  würde 
sich  mit  einer  geeigneten  Formel  aus  ihren  Längen  die  Gestalt 
der  Erde  berechnen  lassen.  Bequemer  für  die  Beobachtimg  und 
sicherer  im  Ergebniss  ist  es  aber,  wenn  man  ein  unveränderliches 
Secundenpendel,  z.  B.  das  der  Greenwicher  Sternwarte,  nach 
irdischen  Punkten  von  verschiedenen  Breiten  trägt  und  die 
Schwingungszahlen  innerhalb  der  nämlichen  Zeitdauer,  sagen  wir 
eines  Tages  oder  einer  Woche,  ermittelt.  So  ist  es  denn  auch 
geschehen,  und  wir  haben  eine  Reihe  von  Pendelreisen  erhalten, 
von  denen  die  des  Hrn.  Freycinet,  wie  wir  sogleich  nebenbei 
bemerken  wollen,  die  verdächtigsten  sind,  die  des  Capt.  (jetzt 
General)  Sabine  zu  den  vertrauenswerthesten  zählen.     Er  trug  das 


Ueber  die  Gestalt  der  Erde.  223 

Greenwicher  Pendel  über  den  Aequator  nach  der  Insel  Ascension, 
nach  Sierra  Leone,  nach  der  Küste  von  Brasilien,  nach  den  west- 
indischen Inseln,  zuletzt  nach  Spitzbergen  und  Ostgrönland,  im 
ganzen  nach  13  Stationen,  und  so  erhielt'  er  einen  Werth  für  die 
Abplattung  der  Erde,  der  \288'7  betrug.  Der  BequemHchkeit 
halber  wurden  theils  Inseln,  theils  Küstenpunkte  gewählt,  so  dass 
in  zwei  Jahren  die  Messungen  vollendet  werden  konnten.  Es  ist 
nicht  unwichtig ,  schon  hier  aufmerksam  zu  machen ,  dass  diese 
Messungen  entweder  im  Meer  fauf  Inseln")  oder  am  Meer  (an 
Küsten)   stattfanden. 

Man  kann  aber  die  Abplattung  an  der  Erde  selbst  messen. 
Wäre  die  Erde  eine  Kugel,  so  müsste  natürlich  am  Pariser  Mittags- 
kreis der  Abstand  vom  Aequator  bis  zum  ersten  nördlichen  Breite- 
grade genau  so  gross  sein,  wie  der  Abstand  zwischen  lat.  55° 
und  lat.  56°,  sowie  zwischen  lat.  89°  bis  lat.  90°  (Nordpol). 
Liegt  aber  der  Pariser  Mittagskreis  auf  einem  elliptischen  Körper, 
ist  die  Umdrehungsachse  der  Erde  um  ein  gewisses  Bruchtheil 
kürzer  als  ihr  Aequatorialdurchmesser,  so  werden  die  Abstände 
eines  Breitengrades  am  Aequator  kürzer  als  unter  lat.  55°  und 
am  Nordpol  länger  als  unter  lat.  55°  sein,  und  nur  unter  diesem 
letztern  Parallel  etwa  den  Werth  haben,  wie  wenn  der  Pariser 
Meridian   ein  Kreis  wäre. 

Nun  sieht  jedermann ,  wie  leicht  es  Aväre ,  die  Gestalt  der 
Erde  zu  finden.  Wir  brauchen  nur  die  Länge  der  Breitengrade 
bei  verschiedenen  Polhöhen  an  den  Mittagskreisen  unter  einander 
zu  vergleichen.  Wir  brauchen  nicht  einmal  bis  an  den  Pol  zu 
gehen;  wenn  wir  nur  ein  Stück  der  Erdkrümmung  genau  kennen, 
so  werden  wir  das  Ganze  schon  berechnen.  So  schicken  wir  denn 
Gelehrte  an  den  Polarkreis ,  nach  Lappland  (Maupertuis)  und 
andere  nach  Quito  (Bouguer,  Lacondamine),  lassen  dort  Erdbogen- 
stücke  messen,  und  aus  ihren  Unterschieden  ergiebt  sich  zum 
erstenmal  nicht  bloss,  dass  die  Erde  abgeplattet  sei,  sondern  auch 
wie  gross  annähernd  diese  Abplattung  ausfalle.  Seitdem  haben 
sich  die  Bogenmessungen  imendHch  vervielfältigt,  sie  sind  auch 
schärfer  geworden  in  ihren  Ergebnissen. 

Wie  jeder  Nachdenkende  sich  selbst  sagen  kann,  zerfällt  eine 
solche  Aufgabe  in  zwei  ganz  verschiedene  Theile.  Einmal  muss 
man  die  irdische  Entfernung  zwischen  den  Endpunkten  des  Bogen- 
stückes    an    dem   Meridian    genau   kennen,    dann    aber  muss   man 


/ 

2  24  ^"'   mathematischen  und  physischen  Geographie. 

den  astronomischen  Abstand  der  Breitengrade  an  den  Endpunkten  auf- 
finden. Das  erste  ist  verhältnissmässig  leicht,  das  andere  sehr  schwer, 
und ,  wenn  wir  es  recht  streng  nehmen ,  örtlich  unmöglich.  Das 
erste  ist  eine  geodätische  Aufgabe,  das  andere  ist  eine  astronomische. 
Wer  die  Geschichte  der  frühern  verunglückten  Messungen  kennt, 
der  weiss  auch ,  dass  die  Fehler  des  Geodäten  viel  kleiner  waren, 
als  die  Fehler  der  Astronomen.  Wenn  daher  der  Chalif  Mamun 
von  seinem  Astronomen  in  der  Wüste  einen  Breitengrad  messen 
liess,  so  wurde  er  ^•on  den  Schelmen  arg  belogen,  als  sie  ihm  ein 
Ergebniss  heimbrachten,  welches  nichts  anderes  war,  als  die  ge- 
läufige Angabe  des  Alterthums,  überset/t  in  arabische  EUenwerthe. 
Nicht  dass  wir  zweifelten ,  dass  sie  wirklich  gemessen  hätten ,  sei 
es  durch  Schrittzählen  oder  mit  einer  Kette;  allein  wie  weit  die 
Polhöhen  der  beiden  Endpunkte  des  Bogens  entfernt  lagen ,  dazu 
besassen  sie  Aveder  Instrumente  von  der  nöthigen  Schärfe,  noch 
die  erforderlichen  astronomischen  Kenntnisse.  Woher  wollten  sie 
wissen,  dass  die  ])eiden  Endpunkte  auf  einem  Mittagskreis  genau 
um  I  Grad  oder  60  Bogenminuten  entfernt  lagen?  Nicht  auf  zehn 
Bogenminuten  ab  oder  zu  waren  sie  bei  ihrem  eiligen  Verfahren 
ihrer  Polhöhen  sicher. 

Seit  Snellius  Zeiten,  also  2^2  Jahrhunderten,  misst  man  nicht 
etwa  die  Endpunkte  der  Bogen  unmittelbar,  obgleich  auch  das 
vorgekommen  ist,  sondern  man  misst  ein  beliebiges  kleines  Stück 
zwischen  ihnen,  betrachtet  diess  als  die  Basis  eines  Dreiecks  und 
misst  von  den  Endpunkten  dieser  Basis  die  Winkel  nach  einem 
hervorragenden  Punkt  in  der  Nähe.  So  erhält  man  ein  erstes 
Dreieck,  dessen  Seitenlängen  sich  durch  Rechnung  leicht  finden 
lassen.  Eine  Seite  dieses  Dreiecks  benutzt  man  als  Basis  für  ein 
neues  Dreieck,  bis  man  durch  eine  Reihe  an  einander  geket- 
teter Dreiecke  die  beiden  Endpunkte  des  Bogens  verbunden 
hat.  Dass  sie  unter  dem  gleichen  Mittagskreis  liegen,  kommt  fast 
nie  vor  ^),  ist  auch  ganz  unnöthig ,  denn,  durch  Rechnung  kann 
man  ohne  viele  Mühe  genau  die  Grösse  des  Abstandes  der  beiden 
Endpunkte  berechnen,  wenn  sie  wirklich  auf  dem  gleichen  Mittags- 
kreis gelegen  wären.  Will  man  sich  überzeugen,  dass  am  Ende 
der  Dreieckskette,    in  der  Winkelmessung   der  Dreiecksberechnung 


i)  Bei  Göttingen  und  Altona  wiire  es  beinahe  zugetroffen,     was  selbst  di 
Verwunderung  eines  Gauss  erregen  durfte. 


Ueber  die  Gestalt  der  Erde. 


225 


kein  Fehler  vorgefallen  ist,  so  braucht  man  nur  eine  Basis  am 
Enddreiecke  oder  irgend  eine  in  der  Kette  befindliche  Basis 
(Verificationsbasis)  nachzumessen.  Die  Instrumente  sind  aber  in 
neuester  Zeit  derart  verfeinert  und  dem  Verfahren  mit  Benutzung 
des  Microskops  eine  solche .  Schärfe  gegeben  worden,  dass  man 
die  geodätischen  Fehler  als  Null  betrachten  darf.  Schon  unter 
Delambre  und  Mechain,  also  am  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts,  war 
die  Genauigkeit  so  weit  gediehen,  dass  auf  57,000  Toisen  oder 
einen  Grad  die  Messungsfehler  höchstens  i — 1V2  Toise  betragen 
konnten.  Seitdem  ist  man  aber  noch  \  iel  weiter  gelangt  und 
an  den  modernen  Erdbogenmessungen  beträgt  der  mögliche 
Messungsfehler  auf  57,000  Toisen  nicht  eine  Dritteltoise. 

Wie  steht  es  aber  mit  der  astronomischen  Genauigkeit?  Sind 
die  Polhöhen  der  beiden  Endpunkte  immer  genau  bekannt: 

Schon  die  astronomischen  Beobachtungen,    untereinander  ver- 
glichen, zeigen  bisweilen,  wenn  auch  selten,  starke  Abweichungen. 
Die  stärkste,  welche  unser  Verfasser   anführt,    betrifft   die  geogra- 
phische Breite  von  Chfton.     Sie  lautet  nämhch : 
nach  Clarke     53°  27'   29"  5 
nach  Bessel      53°  27'  31"  5 
0°     o'     2 "  o 

Bisweilen  schwanken  also  die  gefundenen  Werthe  um  2  Bogen- 
secunden,  zwei  Bogensecunden  sind  aber  an  einem  Mittagskreise 
etwa  32  Toisen  (ä  6  pieds).  Bei  den  Grössen  der  Erdbogen 
schwächen  sich  jedoch  solche  Fehler  bedeutend  ab,  ja  es  können, 
wenn  nur  recht  viel  astronomische  Bestimmungen  vorhanden  sind, 
Stationen  mit  zweifelhafter  Polhöhe  gänzlich  ausser  Berechnung 
gelassen  werden.  So  haben  denn  auch  die  astronomischen 
Beobachtungsfehler  nichts  beunruhigendes.  Die  Gefahr  droht  viel- 
mehr von  gewissen  örtlichen  Störungen  der  Beobachtung  selbst. 
Ehe  wir  aber  die  Erörterung  auf  diesen  Punkt  lenken,  müssen 
wir  zuvor  einen  Blick  auf  die  Rechnungsergebnisse  werfen 

Im  Jahre  1831  war  Schmidt  in  Göttingen  mit  Anwendung 
der  von  Gauss  gegebenen  ,, Methode  der  kleinsten  Quadrate", 
gestützt  auf  7  vorhandene  Erdbogenmessungen ,  die  zusammen- 
addirt  30°  27'  Länge  besassen ,  zu  einem  Abplattungswerth 
von  ^297'5''  gel^^gt-  Bessel,  der  noch  einige  neuere  Messungen 
hinzufügen  konnte  (Bogenlänge  50°  ;^^'),  kam  zu  einer  Abplattung 

Peschel,  Abhandlungen.     II.  15 


2  20  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

von  V299'i5»  ^^i^y  l'is-tte  1849  V299»33  Und  James  1858  eine  solche 
von  V298'07  ermittelt.  In  der  Zeit  von  1827  — 1858  war  die  Länge 
der  brauchbaren  Bogenmessungen  von  30°  22'  auf  63°  30'  ge- 
wachsen, und  doch  war  das  letzte  Ergebniss  beinahe  das  nämliche 
gebheben;  da  nun  die  Werthe  der  Abplattung  nach  den  Pendel- 
messungen zwischen  ^283  ^^s  V285  gefunden  worden  waren,  so 
fing  man  an,  in  ihnen  nichts  weiter  zu  sehen,  als  eine  annähernde 
Bestätigung  von  secundärem  Werth.  Dennoch  stimmten  die 
Werthe  der  Abplattung  aus  den  Pendelmessungen  sehr  gut  mit 
den  geodätischen  überein,  wenn  man  bei  Berechnung  der  letzteren 
die  sogenannte  zweite  grosse  ostindische  Gradmessung  ausser  Spiel 
Hess.  Nun  kam  aber  die  russische  Gradmessung  hinzu,  und  schon 
als  sie  erst  eine  Entwicklung  von  15°  16'  erlangt  hatte,  sah  sich 
James  genöthigt,  die  Abplattung  wieder  auf  V294>26  ^u  erhöhen, 
also  den  Werthen  der  Pendelmessungen  wieder  näher  zu  bringen. 
Die  Absicht  der  oben  angeführten  Untersuchungen  ist  es  nun,  die 
ostindische  Gradmessung  zu  verdächtigen  und  die  Pendelmessungen 
wieder  zu  Ehren  zu  bringen,  ja  ihnen  die  Entscheidung  der  Zweifel 
zuzumuthen. 

Nicht  etwa,  dass  der  Verfasser  gegen  die  englischen  Erd- 
messer und  Astronomen  den  geringsten  Vorwurf  erheben  wollte. 
Ausdrücklich  bemerkt  er,  dass  die  indischen  Messungen  der 
terrestrischen  wie  der  astronomischen  Bogenlängen  mit  derselben 
Sorgfalt  ausgeführt  wurden  und  dasselbe  Vertrauen  verdienen,  wie 
etwa  die  preussischen ,  russischen  oder  englisch-französischen.  In 
Ostindien  aber  waren  die  Astronomen  Störungen  ausgesetzt,  gegen 
die  man  sich  bis  jetzt  nicht  schützen  kann.  Schon  im  Jahre  1738 
untersuchte  Bouguer  am  Chimborazo,  ob  nicht,  wie  diess  das 
Newtonische  Anziehungsgesetz  gebieterisch  erfordert,  die  Nähe 
grosser  Berge  das  Loth  aus  seiner  senkrechten  Richtung  abzu- 
lenken (Localattraction)  vermöge.  Er  war  damals  nicht  im  Stande, 
diese  Erscheinung  nachzuweisen.  Sie  lässt  sich  überhaupt  nur  an 
den  astronomisch  bestimmten  Punkten  einer  Dreieckskette  erkennen. 


l)  Das  heisst  mit  andern  Worten,  wenn  man  V297>5  ^°^  Aequatorial- 
durchmesser  (a)  an  die  Umdrehungsachse  (b)  der  Erde  setzt,  so  wird  diese  so 
gross,  wie  der  Aequatorialdurchmesser.     In  Buchstaben  ausgedrückt  ist  also  der 

Abplattungswerth . 


Ueber  die  Gestalt  der  Erde. 


227 


Denken  wir  uns  also,  dass  eine  Triangulation  Punkte  nördlich 
und  südlich  von  den  Alpen  verbinden,  und  dass  dieses  Gebirge 
das  Loth  am  Südabhang  nach  Norden ,  am  Nordabhang  gegen 
Süden  ein  wenig  anziehen  werde,  so  müssen  alle  Astronomen  an 
jenen  betroffenen  Punkten  zu  fehlerhaften  Breitenbestimmungen 
genöthigt  werden.  Denn  es  ist  ja  nicht  bloss  das  Loth,  also  ein 
Gewicht  an  einem  Faden,  welches  verrückt  wird,  auch  die  Ober- 
fläche des  Quecksilbers  in  einer  Schale,  oder  die  Luftblase  in  einer 
mit  Wasser  gefüllten  Glasröhre  wird  abgelenkt  werden.  An  einem 
solchen  Ort  giebt  es  dann  zwei  Horizonte,  einen  mathematischen 
und  einen  physischen  der  Schwerkraft.  Auf  diesem  letztern  be- 
wegen sich  alle  Thätigkeiten  des  Astronomen ,  und  bildet  er  mit 
dem  mathematischen  Horizont  einen  Winkel ,  so  werden  auch 
die  Polhöhen  um  diesen  Winkel  verfälscht  werden.  Erkannt  wird 
der  Irrthum  erst,  wenn  die  Breite  des  Orts,  wie  sie  aus  den  Erd- 
messungen berechnet  werden  kann  (geodätische  Breite),  nicht  mit 
der  beobachteten  Polhöhe  (astronomische  Breite)  übereinstimmt. 
Die  Lothablenkung  ist  in  Genf  6"  41  und  in  Bern  7"  73  südlich, 
d.  h,  die  beobachteten  Polhöhen  werden  um  den  gleichen  Betrag 
zu  nördlich  ausfallen ,  in  Mailand  dagegen  ist  die  Lothablenkung 
12"  83  nördlich  oaer  die  astronomischen  Breiten  werden  zu 
südlich  ausfallen ,  folglich  würde  man  den  Abstand  (amplitudo)  des 
Berner  und  Mailander  Breitenkreises  um  20"  56  zu  gross  finden 
oder  um  335  Toisen  sich  irren.  Zwischen  Mondovi  und  Andrate, 
wovon  das  eine  durch  die  ligurischen  Alpen  eine  südliche ,  das 
andere  durch  den  Monterosa  eine  nördliche  Lothablenkung  erleidet, 
gaben  die  astronomischen  Beobachtungen  einen  Polhöhenabstand 
von  1°  7'  27  an,  während  er  nach  den  geodätischen  Messungen 
I  "^  8'  14"  8  hätte  betragen  sollen,  so  dass  durch  die  Loth- 
ablenkung ein  Irrthum  von  47  "  8  entstand.  Zwischen  der  Stadt 
Duschel  und  der  Stadt  Wladikawkas  liegt  der  Kaukasus,  der  die 
Lothe  so  mächtig  anzieht,  dass  die  Polhöhenabstände,  astronomisch 
gemessen,  von  den  geodätisch  berechneten  um  53"  9  sich  ent- 
fernen, auf  einen  Abstand,  der  nur  55'  50"  6  beträgt.  Man 
wird  bemerken ,  -^dass  die  Alpen  und  der  Kaukasus  ostwestUch 
streichen.  Natürlich  stören  solche  Gebirge  am  meisten,  während 
man  z.  B.  am  Ural  oder  an  den  Anden  die  Lothablenkungen 
weniger  zu  befürchten  hätte,  weil  sie  dort  meistens  in  der  Richtung 
nach   Westen   oder   Osten    stattfänden ,    während    bei    den    Grad- 

15* 


2  28  2:ur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

messungen  nur  die  Ablenkungen  im  Sinne  der  Mittagskreise 
Störungen  verursachen.  Allein  auch  fern  von  Gebirgen,  auf  \öllig 
unverdächtigen  Gebieten  ist  man  vor  solchen  Erscheinungen  nicht 
mehr  sicher.  So  findet  bei  dem  Punkt  Evanx  an  der  französischen 
Dreieckskette  eine  Ablenkung  von  8  und  bei  Cowhythe  an  dem 
britischen  Erdbogen  eine  solche  von  lo  Bogensecunden  statt. 
Noch  interessanter  ist  eine  Stelle  in  der  Nähe  südlich  \  on  Moskau, 
wo  folgende  Ablenkungen,  ausgehend  "\on  einer  WSW  nach  ONO 
streichenden  Linie  festgestellt  worden  sind: 

Ablenkung. 

Bei    einem   Abstand   von     2,5   engl.  jNIeilen   2"  2 

„        8  „  „        7"  8 

„  „  ,,  ,,      13  ,,  ,,        5"   I 

•     „  „  .,  „      18  „  „        2  "   I 

„  ,,  M      23  ,,  ,,        o"   o 

Diese  letztere  Erscheinung  wird  einstimmig  dadurch  erklärt, 
dass  entweder  an  den  Rändern  dieser  Ablenkungsinsel  das  Erd- 
innere aus  Massen  von  ungewöhnUcher  specifischer  Schwere  (Me- 
talle) bestehe,  oder  dass  unter  jener  Stelle  sich  ein  Hohlraum  im 
Erdinnern  befinde  oder  ein  Becken  auf  grosse  Tiefen  mit  specifisch 
sehr  leichten  Erdarten  ausgefüllt  werde.  Dass  im  letztern  Falle 
eine  Lothablenkung  stattfinden  müsste ,  darüber  besteht  kein 
Zweifel.  Liegen  aber  nicht  alle  Küstenpunkte  am  Rande  -von 
Becken ,  die  mit  specifisch  leichteren  Massen  ,  nämlich  mit  See- 
wasser ausgefüllt  sind?  Muss  nicht  die  Lothablenkung  eine  sehr 
beträchtliche  werden,  wenn  von  eine  Küste  der  Meeresboden 
jäh  zu  grossen  Tiefen  abstürzt?  Sowie  es  uns  klar  wird,  dass 
diese  Frage  unbedingt  bejaht  werden  muss,  sehen  wir  auch  zugleich 
ein,  dass  sehr  viel  auf  die  geographische  Gliederung  des  Gebietes 
ankommt,  über  welches  eine  Dreieckskette  ausgebreitet  wurde. 
Europa  beispielsweise,  eine  grosse  Halbinsel,  die  sich  nach  Westen 
zuspitzt,  nach  Osten  mit  grossen  Festlandsräumen  verbunden  ist, 
im  Norden  aber  von  der  seichten  Nordsee  begrenzt  wird,  muss  als 
ein  vergleichsweise  ablenkungfreier  Raum  erscheinen,  oder  vielmehr 
als  ein  Raum  mit  vorwaltend  östlicher  Ablenkung,  die  aber  nicht  be- 
lästigt, denn  wenn  nur  nicht  das  Loth  m  der  Richtung  der  Mittags- 
kreise, also  nach  Norden  oder  Süden  angezogen  wird,  müssen  die 
astronomischen  Breiten  mit  genügender  Wahrheit  sich  ermitteln  lassen. 


Ueber  die  Gestalt  der  Erde. 


229 


Das  britische  Indien  dagegen  ist  von  allen  Erdräumen  vielleicht 
das  unschicklichste  Gebiet  zu  einer  Erdbogenmessung.  Die  eng- 
lische Dreieckskette  beginnt  nämlich  am  Cap  Comorin,  dem  Süd- 
horn  einer  Halbinsel  am  Rande  des  ziemlich  jäh  und  sehr  tief 
abfallenden  Beckens  des  indischen  Oceans.  Dort  muss  also  eine 
verdoppelte  Lothablenkung  nach  Norden  wirksam  sein,  denn  erstens 
stösst  der  oceanische  „Hohlraum",  wenn  man  so  sagen  darf,  das 
Loth  nach  Norden,  und  dann  Avird  es  ausserdem  noch  durch  die 
Hochlandmasse  des  Dekan  ebenfalls  dorthin  gezogen.  Sowie 
sich  nun  die  Dreieckskette  tiefer  in  die  Halbinsel  senkt,  wird  zwar 
die  oceanische  Lothabstossung  schwächer,  dafür  aber  die  conti- 
nentale  Anziehung,  an  der  sich  ganz  Innerasien  betheiligt,  immer 
stärker,  und  zuletzt  muss  die  Anziehung  des  Himalaya,  Karakorum 
und  Küenlün  höchst  beträchtliche  Werthe  erreichen.  Diess  ist 
der  Grund,  wesshalb  die  Ergebnisse  der  ostindischen  Gradmessung 
so  verdächtig  erscheinen.  Man  wird  sich  aber  vielleicht  sagen, 
dass  die  Engländer  diese  Dinge  mit  ebenso  hellen  Augen  gesehen 
haben  als  wir  selbst,  und  dass  sie  Grund  gehabt  haben  müssen, 
sich  über  sie  hinwegzusetzen.  Die  Möglichkeit  der  Lothablenkung 
ist  ihnen  auch  nicht  entgangen ,  allein  die  Rechnungen  innerhalb 
der  ostindischen  Dreieckskette  schienen  zu  bestätigen,  dass  eine 
solche  Ablenkung  nicht  stattfinde.  Die  geodätischen  und  die 
astronomischen  Breiten  zeigten  nämlich  bei  der  Annäherung  an 
die  centralasiatischen  Gebirgswälle  keine  der  erwarteten  oder  be- 
fürchteten Unterschiede.  Allein  wenn  man  sich  sagt,  dass  die  ge- 
sammte  Masse  von  Hochasien  bei  der  Lothablenkung  betheiligt 
ist,  so  folgt  daraus,  dass  die  Anziehung  nach  Norden  symmetrisch 
auf  der  Dreieckskette,  vom  Cap  Comorin  angefangen,  wachsen 
konnte. 

Wie  gegründet  aber  die  Befürchtungen  des  Darmstädter  Mathe- 
matikers sind,  beweisen  die  verzweifelten  Versuche,  diese  angeb- 
liche Abwesenheit  der  Lothablenkung  in  Indien  zu  rechtfertigen. 
Der  britische  Reichsastronom  Airy  wollte  es  sogar  ganz  natürlich 
finden,  dass  der  Himalaya  keine  Lothablenkung  bewirke.  Er  geht 
davon  aus,  dass  das  Erdinnere  schmelzflüssig  und  wegen  der 
A-ielen  Klüfte  und  Spalten  die  Cohäsionskraft  der  Gebirge  ver- 
schwindend klein  sei,  so  dass  also  die  Gebirge  wie  Schlacken  auf 
der  Lava  des  Erdinnern  schwimmen  sollten,  folglich  um  so  vieles 


2'^o  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

leichter  sein  müssen  als  dieses  letztere.  Diess  wäre  nicht  nur  der 
Fall,  wenn  die  Erdoberfläche  auf  zwei  deutsche  Meilen  Tiefe  (!), 
es  wäre  sogar  noch  möglich,  wenn  sie  auf  20  deutsche  Meilen 
Tiefe  erstarrt  wäre.  Dagegen  lässt  sich  nun  erwiedern,  dass  die 
neuere  Geologie  ein  heissflüssiges  Erdinnere  nicht  mehr  kennt, 
oder  höchstens  ^ines ,  welches  mindestens  um  den  fünften  Theil 
eines  Erdradius  Tiefe  unter  uns  liegt.  Aber  gesetzt,  Gebirgsmassen 
beständen  aus  specifisch  leichteren  Gesteinen  als  die  andere  Erd- 
kruste, was  sich  vielleicht  aus  andern  geologischen  Hypothesen 
rechtfertigen  liesse  ,  wie  kommt  es  denn ,  dass  wir  im  Kaukasus 
und  an  den  Abhängen  der  Alpen  die  Lothablenkung  nachweisen 
können? 

Eine  andere  Erklärung  hatte  der  russische  Akademiker  Schubert 
versucht.  Er  nahm  zur  Ausgleichung  der  Widersprüche  an,  die 
Erde  sei  kein  Umdrehungssphäroid ,  sondern  ein  „EUipsoid  mit 
drei  Achsen".  Der  Unterschied  zwischen  diesen  beiden  Körpern 
lässt  sich  leicht  durch  Worte  zur  Anschauung  bringen.  Durch- 
schneidet man  ein  Umdrehungssphäroid  gleich  einem  Apfel  in  zwei 
Hälften,  in  der  Art,  dass  der  Schnitt  durch  einen  Mittagskreis 
geführt  wird,  so  ist  die  Schnittfläche  eine  Elhpse.  Durchschneidet 
man  aber  den  Umdrehungskörper  am  Aec^uator,  so  ist  die  Schnitt- 
fläche ein  Kreis.  Beim  EUipsoid  mit  drei  Achsen  ist  aber  auch 
die  äquatoriale  Schnittfläche  eine  Ellipse,  die  bei  der  Erde  dadurch 
entsteht,  dass  man,  nachdem  sie  bereits  an  den  Polen  plattgedrückt 
war,  sie  durch  einen  Druck  an  zwei  gegenüberliegenden  Stellen 
des  Aequators  noch  ein  wenig  sich  zusammengeschoben  denkt. 
Bemerken  wir  sogleich ,  dass  alle  Geologen  die  sphäroidische  Ge- 
stalt der  Erde  als  nothwendige  Folge  ihrer  Umdrehung  ansehen. 
Es  ist  dabei  ganz  gleichgültig,  ob  man  sich  zu  vulkanistischen 
oder  neptunistischen  Ansichten  bekennt,  ob  man  annimmt,  die 
Erde  sei  ehemals  schmelzflüssig  oder  eine  bis  zum  Mittelpunkt 
starre  Kugel  gewesen.  In  beiden  Fällen  müsste  als  letztes  Er- 
gebniss  der  Umdrehung  immer  ein  Rotationssphäroid  entstehen. 
Unser  Verfasser  hat  jedoch  andere  Gründe,  und  zwar  mathema- 
tische, zur  Verwerfung  der  Schubert'schen  Annahme  uns  vorgelegt. 
Gleichviel  ob  die  Erde  ein  EUipsoid  mit  drei  Achsen  oder  ein 
Rotationssphäroid  sei,  in  beiden  Fällen  müsste  ihre  Umdrehungs- 
achsc  gleich  gross    sein.     Allein    zu  Folge    der    grossen    russischen 


Ueber  die  Gestalt  der  Erde, 


231 


Gradmessung  beträgt  die  Umdrehungsachse  3,261,428,7  Toisen, 
und  zufolge  der  ostindischen  3,261,547,3  Toisen.  Beide  Messungen 
geben  also  einen  Unterschied  von  118,6  Toisen.  Andererseits 
müsste,  da  die  beiden  Messungsmeridiane  auf  50  Längengrade  von 
einander  entfernt  liegen,  wenn  der  Aequatorialschnitt  durch  die 
Erde  eine  Ellipse  wäre,  der  aus  ihnen  berechnete  Werth  der 
Aequatorialdurchmesser  sehr  grosse  Unterschiede  zeigen,  statt 
dessen  aber  besitzt  der  Aequatorialdurchmesser  der  russischen 
Erdmessung  3,272,610,3  und  der  ostindische  3,272,650,9  Toisen. 
Der  Unterschied  zwischen  beiden  beläuft  sich  also  nur  auf  40,6 
Toisen.  Wo  also  die  Annahme  eines  Ellipsoids  mit  drei  Achsen 
keinen  Unterschied  duldet,  finden  'wir  einen  grossen,  und  wo  sie 
einen  grossen  erheischt,  nur  einen  kleinen. 

Ein  wenig  Nachdenken  über  die  Folgen  der  Lothablenkung 
lässt  uns  auch  inne  werden,  wie  schwierig  es  ist,  den  Begriff  der 
mathematischen  Gestalt  der  Erde  festzustellen.  Man  verständigte 
sich  früher  allgemein  dahin,  dass  man  unter  der  mathematischen 
Gestalt  der  Erde  diejenige  Krümmung  ihrer  Oberfläche  verstehen 
wolle,  welche  auf  unserer  Erdoberfläche  das  Meereswasser  bilden 
würde,  wenn  es  durch  ein  Netz  von  Canälen  quer  durch  die  Fest- 
lande sich  ungehindert  vereinigen  könnte.  Allein  die  Lothab- 
lenkungen würden  auch  in  diesem  Falle  nicht  verstatten,  dass  sich 
die  Meeresfläche  spiegelglatt  an  die  ideale  Gestalt  anlege,  sondern 
sie  würde  sich  immer  wieder  in  Wellenkämmen  und  Wellenthälern 
heben  oder  senken,  und  zwar  sollte  nach  Schuberts  Berechnung 
bei  einer  Lothablenkung  von  10"  ein  Wellenkamm  oder  ein  Wellen- 
thal von  20  Zoll  entstehen.  Unser  Verfasser  giebt  uns  nun  zu 
bedenken,  dass  aus  dem  gleichen  Grunde  der  physische  Meeres- 
spiegel, von  dem  aus  wir  unsere  Messungen  führen,  durchaus  nicht 
mit  dem  mathematischen  zusammenfalle.  An  Küsten,  die  sich  rasch 
zu  grossen  Tiefen  senken,  oder  die  sich  hart  an  der  See  zu  grossen 
Gebirgen  erheben,  muss  der  Meeresspiegel,  angezogen  von  den 
specifisch  schwereren  Festlandmassen,  über  das  mathematische 
Niveau  hinaufgezogen  werden,  und  erst  auf  einem  gewissen  Ab- 
stand vom  Ufer,  wo  die  Festlandsablenkung  Null  wird,  dürften 
wir  einer  Curve  begegnen,  jenseits  welcher  der  physische  Meeres- 
spiegel mit  dem  mathematischen  zusammenfällt. 

Die  Folgen  dieser  Massenanziehung   hat   unser    Mathematiker 


2'?  2  '^"''  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

sehr  scharfsinnig  nachgewiesen  an  den  Ergebnissen  der  Pendel- 
messungen. Er  theilt  sie  nämlich  in  zwei  Classen,  in  solche,  die 
an  Festlandsküsten,  und  in  solche,  die  auf  Inseln  stattfanden. 
Da  zeigt  sich  nun  mit  grosser  Uebereinstimmung ,  dass  auf  den 
Festlandspunkten  die  kleineren ,  auf  den  Inseln  die  grösseren  Be- 
träge der  Schwerkraft  beobachtet  worden  sind,  und  die  Ausnahmen, 
die  etwa  vorkommen ,  sich  gut  rechtfertigen  lassen.  Besonders 
auffallend  ist  es ,  dass  oceanische  Inseln  fern  ab  von  den  Con- 
tinenten  die  stärkste  Vermehrung  der  Schwerkraft  zeigen.  Steigt 
nämlich  der  Meeresspiegel  in  Folge  der  Anziehung  der  Festland- 
massen an  den  Küsten  über  den  mathematischen  Meeresspiegel 
hinauf,  so  werden  solche  Küstenpunkte  dem  Centrum  der  Erde 
ferner  liegen,  folglich  eine  Schwächung  der  Schwerkraft  erfahren. 
Inseln  dagegen,  fern  von  den  Festlanden  gelegen,  die  aus  grosser 
Tiefe  vereinzelt  aufsteigen ,  wie  diess  bei  den  atlantischen  Archi- 
])e\en  der  Fall  ist,  werden  in  Folge  ihrer  geringen  Masse  den 
physischen  Meeresspiegel  nur  schwach  zu  heben  vermögen,  folgUch 
befindet  man  sich  an  ihren  Küsten  (relativ)  dem  Erdmittelpunkt 
näher  und  die  Schwerkraft  ist  dort  beträchtlicher  als  an  den 
Festlandsrändern. 

Die  Schlussergebnisse  des  Verfassers  sind  daher  folgende ; 
Die  ostindische  Gradmessung,  wegen  ihrer  starken  Lothablenkungen 
verdächtig,  sollte  ausser  Kraft  gesetzt  werden  bei  der  vorläufigen 
Berechnung  der  Abplattungsgrösse.  Man  sollte  wieder  zurück- 
kehren zu  den  Pendelmessungen  und  sie  vervielfältigen.  Neue 
Breitengradmessungen  wären  auf  Gebieten  auszuführen ,  wo  Loth- 
ablenkungen weniger  zu  besorgen  sind.  Um  theoretisch  den  Be- 
trag der  Lothablenkung  zu  ermitteln,  dazu  fehlen  uns  jedoch  noch 
wichtige  Anhaltspunkte.  Die  durchschnittliche  Dichtigkeit  der 
Erde,  auf  verschiedenen  Wegen  berechnet,  hat  verschiedene  Ergeb- 
nisse geliefert.  Nach  unserm  Verfasser  hat  man  eine  specifische 
Schwere  von  5,5,  mit  andern  Worten  die  s^/äfache  Dichtigkeit 
des  Wassers  als  den  annehmbarsten  Werth  zu  betrachten,  dem 
aber  ,, mindestens"  eine  Unsicherheit  von  0,15  oder  V37  ^^^ 
Ganzen  beigelegt  werden  muss.  Ferner  aber  sollten  wir  auch 
die  durchschnittliche  Dichtigkeit  der  Gesteine  bis  zu  einer  Tiefe 
von  ^/g  bis  ^/4  deutsche  Meilen  örtlich  zu  bestimmen  vermögen. 
Ausserdem    fehlen    uns    schärfere  Bestimmungen    über   die   mittlere 


Ueber  die  Gestalt  der  Erde. 


233 


Höhe  der  Festlande,  sowie  über  die  Tiefen  der  Ocenne.  Bis 
diese  Vorbedingungen  nicht  erfüllt  sind ,  wird  sich  die  Lothab- 
lenkung schwerlich  theoretisch  ermitteln  lassen.  Jedenfalls  müssen 
wir  uns  eingestehen,  dass  wir  noch  weit  entfernt  sind,  den  Ab- 
plattungswerth  der  Erde  bis  zu  einer  beruhigenden  Genauigkeit 
zu  kennen,  namentlich  aber,  dass  die  Uebereinstimmung  in  den 
Ergebnissen  der  Berechnungen  von  Schmidt,  Airy  und  Bessel  uns 
in  trügerische  Sicherheit  gewiegt  hatte,  und  die  Aufgabe  keines- 
Avegs  als  gelöst  angesehen  werden  darf. 


5.    Zur  Geschichte  des  Pflanzenreiches. 

(Ausland  1857.     Nr.    i.     2.  Januar.) 

Wie  die  Oberfläche  unserer  Erde,  wie  die  Geschlechter  unserer 
Thiere,  wie  die  Bevölkerungen  unseres  Planeten,  so  haben  auch 
die  Gewächse  ihre  eigene  Geschichte.  Die  Geologen  wissen  uns 
von  mancher  verlorenen  Art  der  Thiere  zu  erzählen,  und  von  den 
physikahschen  Veränderungen,  welche  ihren  Untergang  bewirkten. 
Alte  Chroniken  geben  uns  Aufkärung  über  den  Zeitpunkt,  wo  da 
und  dort  der  letzte  Bär,  der  letzte  Wolf  erlegt  wurde,  und  wie 
allmählich  das  Verbreitungsgebiet  der  Raubthiere  abnahm.  Auch 
wissen  wir,  dass  früher  oder  später  ein  Zeitpunkt  eintreten  wird, 
wo  der  Mensch  gänzlich  diese  oder  jene  Art  vertilgt  haben  wird. 
Dem  Biber  werden  bald  die  stillen  Einöden  im  amerikanischen 
Westen  fehlen,  wo  er  seine  Wasserarbeiten  ungestört  verrichten 
könnte ;  der  Büfifel,  den  die  Rothhäute  jagen,  und  der  jetzt  schon 
vergleichsweise  selten  geworden  ist,  wird  schwerlich  noch  das 
zwanzigste  Jahrhundert  erleben,  und  der  Wallfisch,  der  einst  alle 
Oceane  bevölkerte,  ist  jetzt  schon  in  die  äussersten  arktischea 
und  antarktischen  Breiten  verdrängt  worden,  und  seine  Art  dem 
Erlöschen  nahe.  Aber  nicht  bloss  Menschen  und  Thiere,  auch 
die  Gewächse  haben  eine  historische  Gegenwart  und  Vergangenheit. 
Sie  führen  unter  sich  grosse  Kriege,  der  Stärkere  vertilgt  den 
Schwächern,  und  der  Besiegte  verliert  sein  Gebiet  an  den  Eroberer. 
Andere  Arten  gerathen  der  Cultur  in  die  Hände,  sie  entwickeln 
sich,  sie  nehmen  andere  Formen  an,  so  dass  das  historisch  Ge- 
wordene völlig  unähnlich  wird  mit  den  wild  gebliebenen  Vettern. 
Die  Pflanzen  wandern  auch  —  freiwillig  oder  absichtlich.  Sie 
erscheinen   als  Auswanderer   und  Fremdlinge   an    fernen  Gestaden 


Zur  Geschichte  des  Pflanzenreiches. 


235 


und  in  neuen  Welttheilen,  um  ihre  Art  auf  Kosten  eingeborner  zu 
verbleiten.  Oft  genug  sind  sie  die  Träger  der  Civilisation  und  die 
letzten  Ursachen  der  höchsten  Begebenheiten  innerhalb  des 
Menschengeschlechtes  und  innerhalb  der  Schöpfung  geworden. 
Vor  dem  Halm  des  Weizenkornes  klärt  sich  der  tausendjährige 
Eichenurwald.  Die  reichbewachsene  Oberfläche  der  Erde  wird 
kahl,  es  treten  sogar  Veränderungen  im  Klima  ein ;  das  gehörnte 
Wild,  das  Pelzthier  flüchtet,  und  mit  ihnen  weichen  die  Jägervölker 
zurück,  und  alles  diess  vor  der  historischen  Allmacht  eines  kleinen 
Kornes,  welches  nun  seit  Jahrtausenden  ein  gleiches  Schicksal 
theilt  mit  der  nach  Gesittung  ringenden  Menschheit,  welches 
vielleicht  als  Fremdling  in  unsern  Welttheil  gekommen,  unsere 
Voreltern  gezähmt,  welches  die  entdeckenden  Seefahrer  nach  neuen 
Continenten  begleitet,  welches  die  ersten  sesshaften  Ansiedlungen 
gegründet  und  alle  grossen  Städte  erbaut,  alle  Wunder  unserer 
Civilisation  bewirkt  hat,  und  doch  in  seiner  gegenwärtigen  Form, 
wie  viele  vermuthen,  erst  ein  Product  menschlicher  Erziehung  ge- 
wesen ist,  welches  ohne  unsere  Pflege,  ohne  künstliche  Abwartung 
nicht  überall  gedeihen  will,  das  dennoch  beinahe  über  die  ganze 
Erde  sich  verbreitet  hat  und  über  dessen  Heimath  wir  nichts 
sicheres  wissen. 

Ueber  solche  Begebenheiten  sollten  wir  nun  eine  genaue 
Chronik  und  Chronologie  besitzen,  da  uns  die  historischen  Vor- 
gänge im  vegetabilischen  Theil  der  Schöpfung  so  nahe  angehen. 
Wer  die  ersten  Thatsachen  zu  dieser  Geschichte  des  Pflanzenreichs 
sammelte,  den  müssten  wir  als  den  Begründer  einer  neuen  Wissen- 
schaft begrüssen.  Einen  solchen  Namen  verdient  der  ungleich 
grössere  Sohn  eines  grossen  Gelehrten,  Alphonse  de  CandoUe, 
der  Verfasser  der  Betrachtungen  über  botanische  Geographie, 
welche  im  vorigen  Jahre  erschienen  sind  ^).  Eine  Geschichte  der 
Pflanzen  muss  aber  nothwendig  beginnen  mit  ihrer  Schöpfung,  sie 
soll  uns  Rede  und  Antwort  geben  auf  die  Frage,  ob  die  Arten 
gleichsam  von  einem  Elternpaar  abstammen  oder  nicht.  Jedes 
Nachdenken  über  dieses  Problem  muss  zu  Vermuthungen  führen, 
die  innerhalb  zweier  extremen  Meinungen  fallen.  Es  giebt  nämlich 
sehr  geistvolle  und  wissenschaftlich  geachtete  Botaniker,  welche  es 


i)  Alph.    de    Candolle,     Geographie    botanique    raisonnee.        Paris    1855. 
2  Vols. 


236  Zur  mathematischen  und  i^hysischen  Geographie. 

für  möglich  halten,  dass  aus  einer  einzigen  Pflanzenzelle  allmählich 
sich  der  ganze  Reichthum  der  vegetabilischen  Welt  erschlösse  Der 
erste  organische  Keim,  der  zu  einem  Pflanzenorganismus  sich 
entwickelte,  verbreitete  sich  nach  dieser  Ansicht  in  fremde  Kli- 
mate;  er  erhtt  allmählich  durch  die  dauernden  physikalischen 
Gegensätze  in  seiner  neuen  Heimath  eine  Veränderung  seiner 
Merkmale,  die  sich  befestigten  und  zu  neuen  Arten  ausbildeten. 
Die  Individuen  dieser  neuen  Arten  sonderten  sich  wieder  ab.  Aus 
Variationen  entstanden  Varietäten ,  aus  Varietäten  Racen ,  die  all- 
mählich bleibende  wurden;  die  Mitglieder  zwischen  den  extremen 
Varietäten  starben  aus  oder  wurden  durch  geologische  Vorgänge 
getrennt ,  und  zuletzt ,  als  der  beobachtende  Geist  des  Menschen 
sich  den  Arten  zuwandte,  vermochte  er  nicht  mehr  die  gemeinsame 
Abkunft  der  verschiedenen  Abarten  zu  erkennen,  und  sah  sich 
genöthigt,  einen  besondern  Schöpfungsact  für  jede  derselben  an- 
zunehmen. Für  diese  Theorie  erklärten  sich  viele  Erscheinungen, 
die  noch  gegenwärtig  beobachtet  werden  können,  und  die  Verthei- 
diger  dieser  Anschauung  geben  ihren  Gegnern  an  Scharfsinn  durch- 
aus nichts  nach.  Zu  den  letztern  aber  zählt  jedenfalls  der  grosse 
Genfer  Gelehrte,  der  jüngere  De  Candolle.  Er  ficht  für  zwei 
Sätze,  welche  von  vornherein  die  Frage  entscheiden  müssen. 
Erstens  behauptet  er,  dass  ohne  künstliches  Dazwischentreten  in 
der  Natur  keine  neuen  Arten  mehr  entstehen,  keine  entstanden 
sind,  so  weit  das  Wissen  der  Menschen  rückwärts  in  der  Zeit 
reicht.  Zweitens,  dass  jede  Pflanzenart  ihr  eigenes  Klima  nie  ver- 
ändert hat ,  und  dass ,  wenn  die  Landwirthe  von  Acclimatisation 
fremder  Pflanzenformen  reden,  sie  nur  einem  süssen  Trug  nach- 
gehen ;  dass  in  der  Natur  niemals  die  Arten  ihr  KHma,  das  heisst 
die  Summe  aller  physikaUschen  Erfordernisse  ihres  Wachsthums 
verändert  haben ,  und  dass ,  wenn  wirklich  einzelne  Gewächse 
ausserhalb  ihres  Klimas  ,, heimisch"  geworden  sind,  sie  diess  nur 
dem  menschlichen  Einschreiten  zu  verdanken  haben,  welches  die 
physikahschen  Mängel  der  neuen  ,, Heimath"  durch  künstliche 
Ersatzmittel  beseitigte. 

An  der  Schwelle  solcher  Untersuchungen  liegt  aber  ein  Dru- 
denfuss.  Das  schlimmste  ist,  dass  die  Gelehrten  nicht  wissen, 
was  sie  unter  Art  verstehen  sollen.  Dem  Laien  scheint  die  Fest- 
stellung des  Begriffs  ausserordentlich  leicht,  während  De  Candolle 
offen  bekennt,    dass,    je    länger   er   nachgedacht,    die  Lösung  des 


Zur  Geschichte  des  Pflanzenreiches. 


23: 


Problems  ihm  schwieriger  geworden  sei.  Wir  alle  wissen  oder 
glauben  zu  wissen,  was  ein  Dorf  und  was  eine  Stadt  sei;  es  setze 
sich  aber  jemand  hin  und  suche  die  richtige  Definition,  es  könnte 
ihm  dann  begegnen,  dass  er,  wie  De  CandoUe  nachweist,  auf  eine 
Feststellung  des  Begriffs  fiele  wie  im  Wörterbuch  der  französischen 
Akademie,  nach  welcher  London  ganz  unzweifelhaft  für  ein  Dorf 
erklärt  werden  muss.  Der  grosse  Botaniker  mustert  alle  altern 
und  neuern  Begriffsbestimmungen  der  Art,  und  gelangt  schliesslich 
zum  Ergebniss,  dass  die  Zoologen  immer  den  grössten  Nachdruck 
auf  die  Gegenwart  einer  denkbaren  gemeinsamen  Abstammung 
aller  Individuen  der  Art ,  die  Botaniker  mehr  auf  die  Ueber- 
einstimmung  der  Individuen  in  den  Merkmalen  der  Gleichartigkeit 
gelegt  haben,  und  diess  letztere  ist  logischer,  insofern  ja  die 
Möglichkeit  einer  gemeinsamen  Descendenz  zu  den  Merkmalen 
der  Gleichartigkeit  gehört.  Seine  Begriffsbestimmung  lautet  daher, 
dass  wir  unter  Art  verstehen  müssen:  ,,die  Gesammtheit  aller  Indi- 
viduen, die  sich  so  weit  gleichen,  dass  man  ihnen  eine  gemeinsame, 
oder  die  ^Möglichkeit  einer  gemeinsamen  Abkunft  von  einem  Paar 
oder  einem  Individuum  zutrauen  dürfe"  (une  coUection  de  tous 
les  individus  qui  se  ressemblent  assez,  pour  qu'on  puisse  croire 
qu'ils  sont  sortis,  ou  qu'ils  auraient  pu  sortir  dun  seul  couple  ou 
d'un  seul  individu).  Innerhalb  der  Arten  kommen  aber  ver- 
schiedene Abweichungen  von  physiologischem  Werthe  vor,  die 
sogenannten  Variationen.  So  werden  immergrüne  Arten,  die  aus 
ihrer  warmen  Heimath  in  ein  rauhes  Klima  gebracht  werden, 
jährig.  Unser  Kirschbaum,  der  auf  Ceylon  in  grossen  Elevationen 
gebaut  wird,  verliert  dort  nie  seine  Blätter.  Würde  man  einen 
solchen  Baum  jetzt  noch  nach  Europa  zurückverpflanzen,  so  würde 
er  wahrscheinlich  wieder  die  Jahreszeiten  einhalten.  Allein  wenn 
man  mit  diesem  Versuch  zögert ,  wenn  man  Kirschbäume  euro- 
päischer Abkunft  erst  nach  fünfzig  Jahren  oder  länger  zurück- 
versetzen wollte,  so  würden  sie  vielleicht  gar  nicht  mehr  unser 
Klima  vertragen.  Befestigt  sich  nämlich  die  Variation,  so  entstehen 
daraus  die  Varietäten.  Die  Weinreben  auf  Madeira  und  am  Cap 
sind  bekanntlich  Auswanderer  aus  Europa ,  und  erst  seit  etwa 
400  Jahren  nach  jener  neuen  Heimath  gelangt.  Die  Rebe  vom 
Cap  oder  von  Madeira,  die  nach  Europa  zurück^•erpflanzt  wird, 
behält  sämmtliche  Merkmale  ihrer  Varietät  bei.  Nun  ist  aber  die 
Befestigung  der  Varietät  bei  allen  Pflanzen  leichter,  die  nicht  durch 


2-3S  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

Samen  erzogen  werden;  würde  man  Madeirareben  aus  Samen 
ziehen  wollen,  so  wäre  die  Behauptung  der  Varietät  ausserordentlich 
unwahrscheinlich;  umgekehrt,  weil  der  Weinstock  seit  den  Römer- 
zeiten immer  aus  Ablegern,  nie  aus  Samen  gezogen  worden  ist, 
haben  sich  seine  unzähligen  Varietäten  ausbilden  können.  Wo 
aber  die  Varietät  auch  durch  Samen  sich  fortpflanzen  lässt,  spricht 
man  gewöhnlich  von  Racen.  Weinkerne  von  weissen  Trauben 
geben  weisse ,  Weinkerne  von  blauen  Trauben  blaue  Trauben. 
Der  weisse  oder  der  schwarze  Mohn  liefert  weisse  oder  schwarze 
Früchte.  Die  holländischen  Spargel  bewahren  ihre  Merkmale 
ebenfalls  nach  der  Zucht  aus  Samen.  Weisse  Hyacinthen  liefern 
beinahe  immer  wieder  weisse  Hyacinthen.  Bei  andern  Arten  aber 
ist  die  Race  nicht  erblich.  Man  hat  hundert  gelbe  Kirschen 
(Cerasus  padus)  gesäet ,  von  denen  auch  nicht  ein  Kern  gelbe 
Früchte  geliefert  hat;  man  hat  loo  gelbe  Sanct  Lucienkirschen 
(Cerasus  Mahaleb)  gesäet,  und  sie  haben  rothe,  braune  oder 
schwarze  Kirschen  getragen,  und  von  loo  gelben  Kornelkirschen 
(Cornus  mas)  hat  nur  der  zwölfte  Theil  gelbe  Früchte  gebracht. 
Nun  ist  nichts  leichter,  als  Racen  im  Thier-  wie  im  Pflanzenreich 
zu  erzeugen.  Man  braucht  nur  die  Individuen,  bei  denen  sich 
Racenquahtäten  zeigen,  zu  isoliren,  und  aus  ihren  Abkömmlingen 
immer  wieder  die  Individuen,  welche  die  gesuchten  Eigenschaften 
im  höchsten  Grade  besitzen ,  auszuwählen ,  bis  sich  nach  Ablauf 
etlicher  Generationen  die  Race  befestigt  hat.  Bei  den  Pflanzen 
gehört  zur  Bildung  von  Racen  eine  Organisation,  welche  der  Fort- 
pflanzung durch  Samen  nicht  hinderlich  ist,  eine  Absonderung 
von  allen  andern  Formen  derselben  Art,  die  Fortdauer  der  Ein- 
flüsse, welche  die  Bildung  der  besondern  Form  hervorrief,  endlich 
der  Ablauf  einer  gewissen  Zeit  bis  ztnn  Erblichwerden  der  Racen- 
qualität.  Diese  Bedingungen  finden  sich  äusserst  selten  in  der 
Natur,  während  ein  geschickter  Gärtner  sie  leicht  herstellen  kann. 
Der  Mensch  vermag  auch  Racen  zu  entdecken,  die  veränderte 
physikalische  Verhältnisse  zu  vertragen  vermögen.  So  hat  man 
frühreifenden  Mais  entdeckt  und  die  vorzeitige  Race  zu  erhalten 
vermocht,  so  dass  jetzt  Mais  gebaut  wird,  wo  er  vor  50  Jahren 
nie  zur  Reife  kam  ,  und  darauf  zum  Theil  beruht  die  „süsse  Chi- 
märe" der  sogenannten  Acchmatisationen.  Eben  so  ist  es  mit  den 
Hybriden  oder  Bastarden.  Im  Garten  sind  sie  leicht  zu  erzielen, 
selten  aber  tragen  die  Al)kömmlinge  verschiedene  Arten  fruchtbaren 


Zur  Geschichte  des  Pflanzenreiches.  239 

Samen ,  und  dieser  wiederum  trachtet  in  der  zweiten  und  dritten 
Generation  immer  entschiedener  zur  Rückkehr  nach  einer  der 
beiden  Arten.  Nun  handelt  aber  die  botanische  Geographie  von 
den  spontanen  Gewächsen  allein,  und  in  der  freien  Natur  sind 
Hybriden  die  grössten  Seltenheiten ;  auch  können  die  Samen,  wenn 
sie  je  fruchtbar  sein  sollten,  die  Bastardform  mitten  unter  den 
Individuen  reiner  Art  nie  in  folgenden  Generationen  aufbewahren. 
Dass  also  die  Mannichfaltigkeit  der  Arten  durch  Erzeugung  von 
Bastarden  entstanden  sei,  ist  im  höchsten  Grad  unwahrscheinlich. 
Ferner  verlässt  nie  die  Art  die  Gränzen  ihres  Verbreitungsgebietes. 
Seit  Jahrhunderten  nun  strengen  sich  alljährlich  verschiedene 
Arten  an,  ihre  Polar-  oder  ihre  Aequatorialgränze  zu  überschreiten, 
nach  einem  wärmern  oder  rauhern  Klima  vorzudringen,  und  immer 
wirft  sie  die  Natur  in  den  alten  Gürtel  zurück. 

Nun  ist  es  allerdings  nicht  zu  leugnen,  dass  die  Gattungen 
und  Arten  an  Mannichfaltigkeit  mit  den  fortschreitenden  geo- 
logischen Zeitaltem  zunehmen.  Es  wäre  also  doch  möglich,  dass 
das,  was  wir  jetzt  Arten  nennen,  ursprünglich  nur  Racen  gewesen 
sind.  Zur  Bildung  erblicher  Racen  war  aber  Isolirung  erforderlich. 
Was  der  Hand  des  Gärtners  leicht  ist,  würde  der  Natur,  die  jeden 
Zwang  vermeidet,  unendlich  schwer  werden ;  allein  man  kann  sich 
recht  wohl  denken ,  dass  grosse  geologische  Vorgänge,  das  Auf- 
steigen von  Gebirgen  oder  das  Versinken  von  Festländern  die 
variirenden  Individuen  einer  Art  räumlich  getrennt,  also  isolirt 
hätten.  An  den  verschiedenen  Punkten  hätte  dann  die  Mehrzahl 
einer  Varietät  über  die  andern  gesiegt.  Gesetzt  nun,  es  wären 
die  Varietäten  a,  ß,  y,  ö,  e,  L,  Yj,  d-  vorhanden  gewesen,  aber 
nach  der  geologischen  Umwälzung  die  Individuen  getrennt  worden, 
an  dem  einen  Punkt  die  Varietät  a,  am  andern  die  Varietät  ^ 
übrig  geblieben,  die  Uebergänge  aber  verschwunden,  so  müssen 
wir  jetzt ,  wo  wir  nur  die  Extreme  der  Varietät  vor  uns  haben, 
sie  für  verschiedene  Arten  halten.  Sie  können  sich  nicht  fruchtbar 
begatten,  weil  sie  getrennte  Gebiete,  Inseln  und  Festländer  be- 
wohnen, oder  weil  die  eine  Varietät  früher  blüht  als  die  andere. 
So  konnten  wirklich  neue  Arten  entstehen,  indem  die  geologischen 
Kräfte  die  Rolle  des  Gärtners  übernahmen.  Allein  wenn  auch 
ein  solcher  Fall  denkbar  ist ,  so  sieht  doch  jedermann  ein,  dass 
die  Zahl  solcher  abgeleiteten  Formen  unendlich  klein  sein  müsse 
gegen   die   wahren   uranfänglichen   Arten.      Die   Verzweigung    der 


240  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

Arten  könnte  doch  nur  sehr  ähnhche  Formen  hervorgebracht 
haben,  es  bleiben  aber  immer  genug  Arten  übrig,  wo  keine  Aehn- 
hchkeit  auf  eine  gemeinsame  Abkunft  mit  dritten  Arten  deutet. 
Endlich  aber  finden  sich  gerade  die  meisten  dieser  angeblichen 
Pseudoarten  noch  heutigen  Tages  in  grösster  Nähe  oder  durch- 
einander in  demselben  Lande;  man  müsste  also  denken,  dass  ein 
geologisches  Ereigniss  sie  zuerst  isolirt,  ein  anderes  sie  wieder 
vereinigt  hätte. 

Andere  Gelehrte  haben  sich  damit  geholfen,  dass  in  früheren 
geologischen  Zeitaltern  die  Arten  grössere  Anlage  zum  "\^ariiren 
besessen  hätten.  De  Candolle  belehrt  uns  an  einem  schlagenden 
Beispiele,  wie  wenig  eine  solche  Ausflucht  Wahrscheinlichkeit  be- 
sitzt. Zwischen  den  Gipfeln  des  Aetna  und  dem  glühenden  Ufer- 
saum Siciliens  liegen  klimatische  Unterschiede  wie  zwischen  zwei 
verschiedenen  geologischen  Zeitaltern.  Wenn  nun  Samenkörner 
von  dem  Gipfel  des  Aetna  herabgetragen  werden,  was  doch  fort- 
während stattfindet,  so  ertragen  sie  dasselbe  wie  einen  Uebergang 
geologischer  Epochen,  und  zwar  einen  plötzlichen,  wenn  sie  un- 
mittelbar vom  Gipfel  nach  dem  Ufersaum  gelangen ,  oder  einen 
langsamen ,  wenn  sie  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  den  Berg 
herabrücken ,  dennoch  aber  zeigen  in  beiden  Fällen  die  Arten 
niemals  eine  neue  Anlage  zu  variiren.  Noch  andere  Gelehrte 
haben  gesagt,  dass  das  Pflanzenreich  in  seiner  Jugendzeit  eine 
grössere  Fähigkeit  zu  variiren  besessen  habe,  und  dass  die  älteren 
Pflanzenformen  daher  schärfer  bestimmte  Arten  besitzen  sollten 
als  die  vergleichsweise  modernen.  Diess  ist  aber  nicht  der  Fall, 
die  Flechten  und  noch  mehr  die  Algen  gehören  zu  den  ältesten 
Pflanzenformen  und  sind  heute  noch  variabler  als  die  modernen 
Formen,  und  übrigens  zeigt  sich,  dass  die  Kryptogamen,  die  all- 
gemein als  die  altern  angesehen  werden,  im  Durchschnitt  genau 
so  viel  Arten  in  den  Geschlechtern  zählen  als  die  Phanerogamen, 
während  es  doch  umgekehrt  sein  müsste ,  wenn  jene  Hypothese 
statthaft  wäre. 

Die  Mehrzahl  der  gegenwärtigen  Arten  war  vorhanden  als 
bereits  die  Oberfläche  der  Erde  ihre  jetzige  geographische  Gestalt 
empfing.  Selbst  aus  der  heiligen  Schrift  darf  man  folgern,  dass 
durch  die  Noachische  Fluth  die  ^•orhandenen  Formen  nicht  ^er- 
nichtet  winden,  wenigstens  heisst  es  dort,  dass  die  Taube  ein 
Oelblatt  nach  der  Arche  brachte  und  dass  der  Weinstock  erhalten 


Zur  Geschichte  des  Pflanzenreiches. 


24] 


geblieben  war.  Für  ein  grosses  Alter  der  jetzigen  Arten  sprechen 
ferner  die  unterseeischen  Wälder,  die  man  in  Amerika  angetroften 
hat.  In  New  Yersey  fand  man  in  Morästen ,  welche  das  Meer 
noch  zur  Zeit  der  Ebbe  bedeckt,  Stämme  mit  1080  Jahresringen, 
imd  unter  einem  solchen  einen  zweiten  von  500  Jahren,  der  bereits 
versunken  gewesen  sein  muss,  ehe  der  andere  keimen  konnte,  also 
hatten  die  Wälder  1500  Jahre  gestanden,  ehe  das  Land  unter  das 
Niveau  des  Meeres  sank.  In  Georgien  haben  sich ,  seit  der  Ur- 
wald gelichtet  worden  ist,  in  Folge  der  Austrocknung  tiefe  Spalten 
in  dem  Erdreich  gebildet.  Anfangs  fand  man  eine  solche  nur 
drei  Fuss  tief  Rasch  aber  gewann  sie  55  Fuss  Tiefe,  300  Yards 
Länge  und  eine  Breite  zwischen  20  und  180  Fuss.  Daraus 
schloss  der  grosse  Geolog  Sir  Charles  L3'en,  dass  Wälder  den 
Boden  Carolin a's  vom  Augenblick  an  bedeckt  haben 
müssen,  wo  er  sich  über  das  Wasser  erhob. 

Die  erste  Erschaffung  organischer  Wesen  ist  für  das  Auge  des 
Naturforschers  verhüllt.  Entweder  er  nimmt  an ,  dass  die  ersten 
organischen  Wesen  aus  dem  unorganischen  Stoffe  nach  einem 
unbekannten  und  für  uns  unbegreiflichen  Gesetze 
hervorgingen,  oder  er  schreibt  diese  Schöpfung  dem  Zwischen- 
treten einer  höheren  ausserhalb  der  ^Materie  liegenden  Ursache 
zu.  Beides  ist  unerfasslich  für  uns,  und  in  solchen  Fällen  ist  immer 
diejenige  Vermuthung  vorzuziehen,  welche  unserer  Einbildungskraft 
die  geringere  Anstrengung  zumuthet.  Lange  Zeit  gefiel  man  sich 
darin ,  die  Schöpfung  der  organischen  Welt  einer  allmählichen 
Entwickelung  aus  einer  Monade,  einem  einzigen  organischen  Keim, 
einer  einzigen  belebten  Zehe  zuzuschreiben.  De  CandoUe  hat  als 
Botaniker  diese  Ansicht  widerlegt,  die  uns  überhaupt  nicht  viel 
weiter  bringt.  Offenbar  macht  es  der  Phantasie  weit  weniger 
Anstrengung,  eine  fortgesetzte  Erschaffung  jeder  einzelnen  Art 
sich  vorzustellen,  als  die  wissenschaftlich  unmöghche  Entwickelung 
aus  Einem  Lebenskeime  zu  verfolgen.  Nicht  darin  Hegt  das 
Wunderbare,  dass  100,000  Arten  erschaffen,  sondern  dass  über- 
haupt ein  Uebergang  von  der  unorganischen  Materie  zu  Organismen 
gefunden  wurde.  Die  erste  Monade  musste  immer  geschaffen 
werden ,  nimmt  man  aber  Einen  Schöpfungsact  an ,  so  muss  man 
auch  an  einen  Schöpfer  denken,  und  es  ist  dann  ^öllig  werthlos 
zu  streiten ,  ob  die  Schöpfung  aus  einem  einzigen  oder  vielen 
historisch  getrennten  Acten    bestand.     Wer   aber   an  einen  Ueber- 

Peschel,  Abhandlungen.    II.  l6 


242  ^^^  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

gang  der  leblosen  Materie  zu  Organismen  ohne  Zwischentreten 
eines  Schöpfers  glaubt,  der  stellt  sich  als  möglich  vor,  was  vöUig 
unbegreiflich  ist.  Er  glaubt  an  dieses  Unbegreifliche  wie  andere 
an  einen  Schöpfer  glauben,  so  dass  also  der  Atheist  genau  seiner 
Einbildungskraft  dieselbe  Anstrengung  zumuthen  muss  als  der 
Offenbarungsgläubige. 

Die  wissenschaftliche  Untersuchung  kann  also  nie  das  Ent- 
stehen der  Arten  ergründen,  sondern  sie  wird  uns  nur  einige  andere 
Fragen  beantworten  können.  Linne  nahm  an,  dass  sämmtliche 
Thiere  und  Pflanzen  von  einem  Brennpunkt  der  Schöpfung  gleich- 
zeitig ausgingen.  Diese  Hypothese  ist  gänzlich  aufgegeben  worden, 
und  im  Widerspruch  damit  steht,  dass  kein,  auch  kein  grösseres 
Gebiet  nur  den  zehnten  Theil  der  vorhandenen  Arten  aufzuweisen 
hat.  Buffon  nahm  dafür  zwei  Ausgangspunkte  oder  Centren  der 
Schöpfung  an  den  Polen  an,  wo  zuerst  die  hohe  Temperatur  für 
das  Erscheinen  des  Pflanzenlebens  erniedrigt  worden  sein  sollte, 
so  dass  also  das  Auftreten  der  organischen  Welt  am  Aequator  am 
spätesten  gefallen  wäre.  Allein  in  früheren  geologischen  Zeitaltern 
fand  nicht  der  heutige  Temperaturunterschied  zwischen  den  Polar- 
gegenden und  dem  Aequator  statt,  denn  die  Atmosphäre  empfing 
durch  die  innere  Erdwärme  ihre  Temperatur  und  wenig  oder  nichts 
davon  durch  die  Sonnenstrahlen.  Andere  Gelehrte  haben  geglaubt, 
das  organische  Leben  müsste  auf  den  höchsten  Berggipfeln  be- 
gonnen haben,  die  am  frühesten  eine  gemässigte  Temperatur  ge- 
nossen hätten.  Allein  nach  den  neuesten  Fortschritten  der  Geo- 
logie muss  man  annehmen,  dass  die  Gebirge  sich  viel  später  er- 
hoben haben  als  die  Ebenen.  De  Candolle  nimmt  daher  ver- 
schiedene Schauplätze  der  Schöpfung  an  und  er  illustrirt  den  Vor- 
gang durch  das  Erscheinen  neuer  und  Untersinken  älterer  Fest- 
lande unter  das  Meer,  so  dass  also  die  Pflanzen  Zeit  hatten,  sich 
nach  verschiedenen  Theilen  der  Erdoberfläche  zu  verbreiten.  Nur 
durch  eine  Mehrheit  von  Brennpunkten  der  Schöpfmig  lässt  es 
sich  erklären,  dass  z.  B.  an  beiden  Polen  sich  identische  Arten 
finden,  während  doch  zwischen  ihnen  die  gemässigte  und  warme 
Zone  sich  ausbreitet  und  die  Transportmittel  der  Samen  nicht  aus- 
reichen, um  diesen  räumlichen  Abstand  zu  bewältigen.  Ebenso 
finden  sich  alpine  Arten  zugleich  auf  Gebirgen,  die  durch  grosse 
Länder-  oder  Wassermassen  getrennt  sind.  Unter  den  räumlich 
gesonderten    Arten    zeichnen    sich    vorzüglich  Wasserpflanzen    aus, 


Zur  Geschichte  des  Pflanzenreiches.  241 

deren  Samen  unter  der  Oberfläche  des  Wassers  reifen  und  die 
mitunter  eine  grosse  specifische  Schwere  besitzen.  Solche  Pflanzen 
haben  jedenfalls  die  geringste  Fähigkeit,  selbst  für  ihre  Verbreitung 
zu  sorgen,  und  dennoch  findet  man  identische  Arten  solcher  Ge- 
wächse an  den  verschiedensten  Punkten  der  Erde.  Man  kann 
sich  ihre  Verbreitung  nur  dadurch  erklären,  dass  früher  ein  anderer 
Länderzusammenhang  existirte,  dass  neue  Continente  sich  erhoben 
haben  und  ältere  wieder  untergingen,  so  dass  der  Zusammenhang 
der  gleichartigen  Gewächse   unterbrochen  wurde. 

Die  Trennung  des  Gleichartigen  kann  auch  andern  Vorgängen 
zugeschrieben  werden.  Jede  Pflanze  wird  danach  trachten,  sich  zu 
verbreiten.  In  diesem  Vorrücken  wird  sie  nicht  aufgehalten  werden, 
bis  sie  die  physikaHschen  Gränzen  ihres  Wachsthums  findet.  Viele 
Pflanzen  haben  die  Eigenschaft,  an  grosse  klimatische  Gegensätze 
sich  zu  gewöhnen,  indessen  giebt  es  doch  für  jede  ein  Maximum 
und  Minimum ,  welches  sie  zu  ertragen  im  Stande  ist.  Erreicht 
sie  ein  Gebirge ,  so  wird  sie  stehen  bleiben  müssen ,  wenn  sie  die 
niedrigen  Temperaturen  der  Gebirgsscheide  nicht  zu  überwinden 
vermag.  Man  findet  aber  dennoch  bisweilen  dieselben  Arten  dies- 
seits und  jenseits  der  Anden,  ohne  dass  man  sich  den  Transport 
der  Samen  zu  erklären  vermöchte.  In  solchen  Fällen  muss  man 
entweder  an  doppelte  Herde  der  Schöpfung  denken,  oder  annehmen, 
dass  die  Pflanzenart  älter  sei  als  das  Gebirg,  welches  später  auf- 
stieg und  die  gleichartigen  Individuen  von  einander  schied.  Es 
giebt  aber  auch  noch  Vorgänge,  welche  eine  Trennung  des  Gleich- 
artigen leichter  zu  erklären  vermögen.  Eine  Pflanze  wird  sich 
nur  verbreiten,  wo  sie  die  Oberfläche  noch  unbewachsen  findet. 
Fallen  dagegen  Samen  auf  einen  dichtbewachsenen  Boden,  so 
werden  sie  nur  kümmerlich  aufkommen  und  leicht  wieder  ver- 
trieben werden.  Es  giebt  auch  zahlreiche  Pflanzen,  die  gesellig 
auftreten.  Wo  sie  einen  geeigneten  Boden  antreft'en,  da  verbreiten 
sie  sich  mit  Ausschluss  alles  Fremdartigen.  Stossen  nun  zwei 
solche  Arten  aufeinander,  so  beginnt  der  Kampf.  Die  Pflanzen 
führen  beständig  Krieg  gegen  einander  um  die  Herrschaft  ihrer 
Domänen,  der  Stärkere  wirft  den  Schwächern  zurück,  der  Kräftige 
überwuchert  und  tödtet  den  Zartem.  Jede  Veränderung  des 
Klimas,  jede  örtliche  Hebung  der  irdischen  Oberfläche,  überhaupt 
der  kleinste  Wechsel  in  den  physikalischen  Verhältnissen  des 
Pflanzengebietes  wird  die  eine  Art   auf  Kosten   der  andern  begün- 


244 


Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 


stigen.  So  kämpft  jede  Pflanze  beständig  um  ihr  Leben,  und  zwar 
weit  mehr  als  die  Thiere,  denn  diese  bekriegen  sich  nur  gelegent- 
lich, die  Pflanzen  aber  setzen  ihren  Kampf  ununterbrochen  fort. 
Die  Eroberer  im  Pflanzenreich  haben  dasselbe  Unheil  angestiftet 
wie  in  der  menschlichen  Geschichte  die  Geschwader  der  Völker- 
w^anderung.  Manche  Arten  wurden  auf  ihren  Heerziigen  völlig 
vernichtet  und  verschwanden  unter  dem  Boden.  Einzelne  solcher 
Arten  fanden  eine  Zuflucht,  als  frühere  Continente  versanken  und 
Reste  von  ihnen  als  Inseln  noch  über  dem  Meer  sich  erhielten. 
So  z.  B.  besitzt  die  Insel  St.  Helena  ihre  eigene  Flora,  allein 
gerade  die  Arten,  welche  dort  ausschliesslich  auftreten,  sind  gegen- 
wärtig im  Absterben  begriffen,  weil  eingewanderte  Pflanzen  kräftiger 
gedeihen  und  ihnen  die  letzte  Zuflucht  streitig  machen.  Es  sind 
dort  namentUch  Acacia  longifolia  und  andere  australische  und  cap- 
ländische  Arten ,  welche  gegen  den  eingebornen  Pflanzenwuchs 
Krieg  führen.  Bekannt  ist,  dass  die  Distel  erst  mit  den  Europäern 
nach  der  neuen  Welt  gekommen  ist,  aber  ungeheuer  rasch  über 
die  Pampas  Südamerika's  sich  verbreitet  hat ,  wo  sie  jetzt  der 
Schafzucht  ausserordentUch  hinderlich  geworden  ist.  Ein  ganz 
modernes  Beispiel  ist  das  Erscheinen  der  Wasserpest  (Anacharis 
alsinastrum)  in  England,  die  dort  im  Jahre  1841  zuerst  gesehen 
wurde  und  seitdem  unglaubhchen  Schaden  in  allen  Canälen  und 
ruhigen  Wassern  angerichtet  hat.     (S.  Ausl.   1856  S,  456.) 

De  Candolle  nimmt  nicht  bloss  eine  Mehrzahl  von  Brenn- 
punkten der  Schöpfung  an,  sondern  auch  eine  chronologische 
Trennung  der  Schöpfungen.  Die  Erdoberfläche  konnte  nicht  gleich- 
zeitig der  Aufenthalt  verschiedener  Arten  sein.  Der  aus  dem  Meer 
gehobene  Boden  vermochte  anfangs  nur  eine  Salzflora  zu  ernähren. 
An  den  Felsen  konnten  sich  nur  Flechten  und  Moose  anhängen, 
und  endlich  zeigt  die  fossile  Flora,  z.  B.  die  aus  der  Zeit  der 
Kohlenbildungen ,  grosse  Aehnlichkeit ,  um  nicht  zu  sagen  voll- 
ständige Gleichheit  zwischen  den  Pflanzenformen  der  entferntesten 
Gegenden,  während  in  spätem  Epochen  die  verschiedenen  Regionen 
ihre  abgesonderten  und  wenig  gemeinsame  Arten  besitzen.  Nach 
der  Bildung  einer  Oberfläche  für  den  Pflanzenwuchs  erschienen 
zuerst  die  Kryptogamen,  die  Meerpflanzen  und  solche  Arten,  welche 
die  Feuchtigkeit  liebten,  sehr  spät  dagegen  die  zweisamenlappigen 
Gewächse.  Wenn  auch  grosse  Paläontologen  in  Bezug  auf  das 
Thierreich  nicht  die  Ansicht  gelten    lassen    wollen ,    der  Botaniker 


Zur  Geschichte  des  Pflanzenreiches. 


'■4S 


muss  es  aussprechen,  dass  die  verwickeiteren  Organismen  immer 
den  einfachen  in  der  Zeit  nachfolgten.  Merkwürdig  ist  auch  noch, 
dass  die  Samen  der  einfachem  und  altem  Formen  wenige,  der 
verwickelten  Formen  die  besten  Transportmittel  besitzen.  Wenn 
nun  die  erstem  in  Gebieten  angetroffen  werden,  wohin  ihre 
Transportmittel  nicht  reichten,  so  müssen  sie  sehr  frühe  dagewesen 
sein,  wo  noch  ein  anderer  Länderzusammenhang  bestand.  Uebri- 
gens  ist  die  Hypothese  einer  gleichzeitigen  Schöpfung  schon  dess- 
wegen  unhaltbar,  weil  viele  Arten  nur  im  Schatten  anderer  gedeihen 
(Cacaobaum),  so  dass  also  die  schattengebende  Pflanze  jedenfalls 
früher  als  der  Schützling  vorhanden  gewesen  sein  muss.  Das 
gleiche  gilt  von  den  Schmarotzerpflanzen,  Ebenso  war  es  noth- 
wendig,  dass  es  Pflanzen  und  Früchte  gab ,  ehe  es  Pflanzen-  und 
Früchtefresser  geben  konnte. 

Die  letzte  Frage,  die  man  sich  noch  beantworten  kann, 
betrifft  die  Controverse,  ob  die  Arten  von  Einem  Individuum  oder 
Einem  Paar ,  oder  von  mehreren  abstammen.  De  Candolle  ent- 
scheidet sich  dafür,  dass  man  bei  gewissen  Arten  sich  die  Ab- 
stammung von  Einem,  bei  vielen  von  mehreren  Individuen  denken 
kann.  Das  wunderbare  liegt  nicht  darin,  dass  10,000  Individuen 
auf  einmal ,  sondern  dass  überhaupt  das  Individuum  einer  Art 
geschaffen  wurde.  Denkt  man  an  eine  gleichzeitige  Pluralität  der 
Individuen,  dann  ist  man  aller  Sorge  überhoben,  wie  eine  einzelne 
Pflanze  den  vielen  Gefahren,   die  sie  bedrohten,  entgehen  konnte. 

Von  allgemeinem  Interesse  in  De  Candolle's  Werk  sind  die 
Untersuchungen  über  die  Heimath  der  Culturpflanzen.  Die  ur- 
sprüngHche  Heimath  einer  Pflanze  wird  sich  nur  dann  entdecken 
lassen,  wenn  man  die  Art  wild  antrifft.  Allein  es  gehört  eben 
das  Auge  des  Botanikers  dazu,  um  zu  unterscheiden,  ob  die  Pflanze, 
die  er  ungepflegt  trifft,  nicht  eine  verwilderte  oder  der  Cultur 
entsprungene,  oder  eine  naturahsirte  sei.  Wo  man  eine  Pflanze 
nicht  wild  trifft,  oder  wo  sie  schon  vor  unvordenklichen  Zeiten 
naturaUsirt  worden  ist,  muss  man  philologische  Hülfsmittel  ge- 
brauchen, um  zu  sehen,  welches  Volk  zuerst  der  Pflanze  ihren 
Namen  gegeben  hat. 

Die  Kartoffel  (Solanum  tuberosum)  stammt  nicht  aus  Ca- 
rolina, sondern  wird  wild  in  Chile  und  auf  der  Insel  Chiloe  an- 
getroffen, und  ist  erst  durch  Europäer  in  Nordamerika  naturalisirt 
worden.     Die  Maniocwurzel    (Tatropha  Manihot,    Janipha  M.), 


246  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

wovon  die  giftige  und  die  unschädliche  zwei  getrennte  Arten  bilden, 
ist  nicht  aus  Afrika  nach  Amerika  gekommen,  sondern  hat  ihre 
Heimath  in  dem  tropischen  Theil  der  neuen  Welt.  Die  Yams- 
wurzeln oder  Dioscoreen  gehören  dem  hinterindischen  Archipel 
an,  und  sie  haben  sich  in  derselben  Richtung  wie  die  malayische 
Cultur  verbreitet.  Die  Dioscorea,  welche  auf  Tahiti  und  den 
Freundschaftsinseln  gebaut  Avird,  trägt  einen  Namen  (Ubi)  malay- 
ischen  Ursprungs.  Die  süsse  Batate  (Convolvulus  Batatas)  ist 
wahrscheinlich  heimisch  in  Amerika  gewesen.  Von  den  15  Arten 
Bataten  befinden  sich  1 1  allein  auf  diesem  Festlande,  vier  andere 
auch  noch  in  andern  Welttheilen.  Sie  ist  daher  wahrscheinlich  in 
Indien  und  China  naturalisirt  worden.  Die  Artisch oke  (Heh- 
anthus  tuberosus)  wird  erst 'seit  dem  17.  Jahrhundert  in  Europa 
gebaut.  Sie  kam  aus  einem  gemässigten  Himmelsstrich  Amerika's, 
vielleicht  aus  Mexico,  vielleicht  aus  Peru,  denn  beides  ist  möglich. 
Der  Name  Radieschen  lässt  uns  beinahe  vermuthen ,  dass  der 
Raphanus  sativus  in  Klostergärten  bei  uns  naturalisirt  worden. 
Wild  wächst  das  Radieschen  auf  der  Insel  San  Pietro  bei  Sardinien 
und  in  Griechenland.  Unsere  gemeine  Zwiebel  (Allium  Cepa) 
wurde  von  altersher  in  Europa  gebaut,  und  die  Alten  kannten 
verschiedene  Varietäten  unter  dem  Namen  cyprische,  cretensische, 
samothracische  Zwiebel.  Westasien,  Palästina,  vielleicht  auch 
Indien  ist  die  Heimath  dieser  Art.  Sie  ist  aus  Europa  nach 
Amerika  gelangt,  denn  das  mexicanische  Xonacatl  gehörte  nicht 
zur  Gattung  Lauch.  In  unserer  Küchensprache  hört  man  zuweilen 
eine  Zwiebelart  ,, Charlotte"  nennen.  Es  ist  diess  eine  komische 
Verstümmelung  des  lateinischen  Namens  Ascalonia,  nach  der  Stadt 
dieses  Namens.  Im  französischen  echalote  hat  sich  der  Name 
des  Allium  ascalonicum  viel  reiner  erhalten. 

Für  unsern  Hanf  (Cannabis  sativa),  der  im  nördlichen  Indien 
wild  getroffen  wird,  findet  sich  ein  Sanskritname.  Im  allgemeinen 
aber  scheint  sein  Vaterland  das  gemässigte  Asien  bis  zum  cas- 
pischen  See  gewesen  zu  sein.  Da  die  altägyptischen  Mumien  in 
]^  e  i  n  e  n  gehüllt  waren,  so  hat  die  Cultur  des  Linum  usitatissimum 
am  Nil  ein  sehr  hohes  Alter ,  obgleich  die  in  Aegypten  erzeugte 
Art  oder  Abart  wahrscheinlich  verschieden  ist  von  der,  welche 
wild  in  Lenkoran  am  kaspischen  See,  in  Russland  und  Sibirien 
getroffen  wird.  Das  Zuckerrohr  wird  nirgends  mehr  wild  an- 
getroffen.    Der  Name  selbst,  der  in  seiner  arabischen  Umwandlung 


Zur  Geschichte  des  Pflanzenreiches. 


247 


ZU  uns  gekommen  ist,  stammt  aus  dem  Sanskrit  und  Indien,  oder 
das  tropische  Asien  ist  das  Vaterland  des  Saccharum  officinarum. 
Die  Varietät ,  welche  auf  Tahiti  wächst  und  die  seit  dem  letzten 
Jahrhundert  als  einträglicher  allgemein  in  Amerika  gebaut  worden 
ist,  war  auf  den  Gesellschaftsinseln  nicht  heimisch,  sondern  ist  erst 
dort  naturalisirt  worden. 

Der  Klee  (Trifolium  pratense)  wurde  erst  im  16.  Jahrhundert 
und  zwar  zuerst  in  Deutschland  der  Cultur  unterworfen.  Der 
Spinat  (Spinacia  oleracea) ,  den  weder  Griechen  noch  Römer 
kannten,  und  dessen  Name  nicht  auf  ein  spanisches  Vaterland 
deutet,  sondern  zunächst  aus  dem  Arabischen  Isfanadsch  entstanden 
ist,  während  die  Perser  ihn  Ispanadsch  nennen  und  er  im  Hin. 
dustani  Isfany  heisst,  ist  wahrscheinlich  nicht  vor  dem  16.  Jahr- 
hundert nach  Europa  gekommen.  Der  Tabak  (Nicotiana  Ta- 
bacum)  ist  bis  jetzt  noch  von  keinem  Botaniker  wild  in  Amerika 
angetroifen  worden.  Den  Namen  Tabak  haben  wir  aus  der  Sprache 
der  Antillenbewohner  entlehnt,  die  aber  nicht  das  Kraut,  sondern 
das  Instrument  zum  Rauchen  so  nannten.  Man  streitet  noch,  ob 
Nicotiana  chinensis  und  persica  eingeborne  Arten  Asiens  sind.  De 
CandoUe  verneint  es.  Uebrigens  ist  in  den  asiatischen  Sprachen 
der  Name  des  Krautes  überall  von  unserm  Tabak  herzuleiten, 
und  endlich  gesteht  der  grosse  Sinologe  Stanislas  Julien  in  chine- 
sischen Schritten  vor  der  Berührung  mit"  Europäern  nie  den  Tabak 
erwähnt  gefunden  zu  haben.  Der  T  h  e  e  (Thea  chinensis)  wird 
wild  in  Assam  gefunden,  doch  besitzt  die  Sanskrit-Sprache  keinen 
Ausdruck  für  die  Pflanze,  und  auf  die  Theecultur  finden  sich  An- 
spielungen in  den  ältesten  Sagen  der  Chinesen.  Der  Indigo 
(Indigofera  Anil)  stammt  aus  Indien,  doch  giebt  es  auch  Arten, 
die  in  Amerika  heimisch  sind  und  die  bereits  vor  der  Entdeckung 
dort  gebaut  wurden ,  wenn  sich  A.  v.  Humboldts  Wahrnehmung 
bestätigt,  dass  bereits  die  mexicanischen  Maler  bei  den  Hiero- 
glyphen das  Indigoblau  gebrauchten.  Der  Maulbeerbaum, 
und  zwar  sowohl  Morus  alba  wie  nigra,  wächst  ungepflegt  in  Klein- 
asien. Armenien,  Thracien,  Thessalien,  Griechenland  und  Italien, 
obgleich  er  dort  vielleicht  erst  naturalisirt  worden  ist.  Erst  seit 
dem  16.  Jahrhundert  wurden  in  Italien  die  Seidenwürmer  mit 
Morus  alba  gefüttert ,  während  man  vorher  die  Blätter  der  nigra 
gab.  M.  alba  ist  eine  Gartenpflanze  in  Indien,  wächst  aber  un- 
gepflegt im  Norden  China's.     Der  Name  Safran  (Crocus  sativus) 


248  Zur  mathematischen  und   physischen  Geographie. 

ist  den  Arabern  entlehnt.  Der  griechische  Ausdruck  -AQoy.og 
stammt  vielleicht  aus  dem  Hebräischen.  Westasien  scheint  das 
Vaterland  gewesen  zu  sein.  Indien  empfängt  seinen  Safran  aus 
Kaschmir,  und  daher  der  Name  Kaschmirajamma.  Dem  gemeinen 
Citren enbaum  (Citrus  medica)  wird  von  Theophrast  Medien 
als  Vaterland  angewiesen.  Erst  im  3.  und  4.  Jahrhundert  nach 
mehreren  misslungenen  Versuchen  wurde  er  in  Italien  naturalisirt. 
Zu  Moses'  Zeiten  kannten  ihn  die  Hebräer  jedenfalls  noch  nicht, 
wohl  aber  bereits  unter  der  Römerherrschaft.  Sein  Vaterland 
scheint  Nordindien  zu  sein,  da  die  Sanskritsprache  ihn  unter  dem 
Namen  Bidschapura  kennt.  In  China  ist  er  wahrscheinhch  nur 
naturalisirt  worden.  Die  saure  Citrone  (Citrus  Limonum)  hat 
das  gleiche  Vaterland.  Aus  dem  Sanskritnamen  Nimbuka  ist  im 
Hindustani  Nimu ,  Limu  ,  Libu  entstanden,  woher  der  europäische 
Ausdruck  Limone  rührt.  Die  Araber  brachten  dieses  Culturgewächs 
nach  dem  Abendlande,  und  Kreuzfahrer  aus  Palästina  nach  Italien. 
Die  bittere  Pomeranze  (Citrus  vulgaris)  hiess  im  Sanskrit 
Nagrunga,  woraus  im  Hindustani  Narundschi  entstand,  welches 
durch  arabische  Vermittelung  (Narundsch)  zum  Italienischen  Naranzi 
sich  umwandelte.  Die  Araber  bauten  die  Frucht  seit  dem  9.  Jahr- 
hundert n.  Chr.  in  ihrem  Vaterland,  und  Kreuzfahrer  brachten 
die  Pflanze  nach  Europa,  doch  waren  ihnen  die  Araber  (1002  n. 
Chr.)  auf  Sicilien  schon  zuvorgekommen.  Die  süsse  Orange  (Citr. 
Aurantium  dulcis,  nach  De  Candolle  nur  eine  Race  von  C.  vulg.), 
wächst  jetzt  wild  in  den  Neilgherries,  allein  ihre  Cultur  in  Indien 
ist  vergleichsweise  modern.  Die  ursprüngliche  Heimath  ist  das 
südliche  China,  Cochinchina,  Birma.  Die  Frucht  wurde  am  Beginn 
des  16.  Jahrhunderts  bereits  in  Italien  gebaut,  ist  also  nicht  durch 
portugiesische  Indienfahrer  zuerst  nach  Europa  gebracht  worden. 
Der  Wein  wächst  in  allen  Ländern  südlich  vom  Kaukasus  wild. 
Auch  giebt  es  einen  Sanskritnamen  dafür,  was  auf  ein  hohes  Alter 
der  Cultur  in  Nordindien  deutet.  Von  den  Kirschen  arten  ist 
Prunus  avium  im  südHchen  Europa  heimisch,  namentlich  in  Griechen- 
land, und  wenn  Plinius  davon  spricht,  dass  Lucullus  erst  aus  dem 
Pontus  die  Kirsche  nach  ItaHen  gebracht  habe,  so  ist  die  saure 
Kirsche  (Prunus  Cerasus)  darunter  zu  verstehen.  Unser  deutscher 
Name  Kirsche  hat  einen  lateinischen  oder  besser  griechischen 
Ursprung  (-/.ägaGog),    was    auf  eine  Naturalisation  in  Klostergärten 


Zur   Geschichte  des   Pflanzenreiches. 


!49 


schliessen  lässt.  Der  Name  Weichsel  dagegen  ist  auf  uns  durch 
slavische  Völker  gekommen.  Die  Pflaume  (Prunus  domestica 
griech.  jtgovvrj ,  lettisch  Pluhme)  wächst  wild  südlich  vom  Kau- 
kasus. ^Var  sie  im  südlichen  Europa  nicht  heimisch,  so  ist  sie 
doch  seit  hohem  Alter  dort  naturalisirt  worden.  Die  Aprikose 
(Prunus  armeniaca)  hat  ihre  Heimath  südHch  vom  Kaukasus. 
Schon  die  Alten  gaben  ihr  einen  armenischen  Ursprung  {Lirfka 
uQixevia'/.a,  malum  armeniacum).  Zu  Theophrasts  Zeiten  war  dieser 
Baum  in  Griechenland  noch  nicht  bekannt ,  dagegen  kennt  ihn 
bereits  Dioskorides  (i.  Jahrh.  nach  Chr.)  unter  dem  Namen  TCQai'/.6y.ia, 
woraus  Aprikose  entstanden  ist.  Der  Name  Pfirsich  (Amygdalus 
Persica),  den  die  Alten  Malum  persicum  nannten,  deutet  auf  einen 
persischen  Ursprung,  wenigstens  empfingen  ihn  von  dort  Griechen 
und  Römer.  In  Nordindien  wird  er  gebaut,  da  aber  ein  Sanskrit- 
name fehlt  und  der  Pfirsich  in  den  ältesten  chinesischen  Legenden 
eine  grosse  Rolle  spielt,  so  ist  sein  Vaterland  wahrscheinlich  China. 
Die  Hellenen  erhielten  erst  Kenntniss  von  ihm  seit  Alexanders 
Heerzügen.  Nach  Japan  wurde  er  von  den  Chinesen  gebracht. 
Der  Mandelbaum,  welchen  Cato  Nux  graeca  nennt,  ist  wahr- 
scheinlich aus  Griechenland  nach  Italien  gekommen.  Theophrast 
behauptet,  dass  die  alten  Gartenkünstler  die  süsse  in  die  bittere 
Race,  und  umgekehrt  zu  verwandeln  verstanden,  was  aber  ver- 
muthlich  ein  Irrthum  ist.  Die  Hebräer  bauten  beide  Formen  des 
Mandelbaumes.  Vielleicht  ist  sein  Vaterland  Persien ,  Westasien, 
Algerien ,  und  die  Pflanze  in  Griechenland  und  Italien  erst  natu- 
ralisirt worden.  Der  Birnbaum  (Pyrus  communis)  wächst  un- 
gepflegt im  gemässigten  Europa.  Wir  haben  unrecht,  wenn  wir 
über  den  Ausdruck  Bire  in  der  Pfälzer  Mundart  lachen,  denn  das 
Wort  stammt  aus  dem  Celtischen  Peren,  woher  auch  das  lateinische 
Pyrus  entstanden  ist.  Dasselbe  Vaterland  hat  auch  der  Apfel- 
b  a  u  m  (Pyrus  Malus).  Die  Bretonen  und  Wälschen  sagen  Aval, 
die  GalHer  Afalan,  woraus  Apfel  und  Apple  entstanden  ist.  Die 
Melone  (Cucumis  Melo,  ndniov,  Mi]lo7ca7ta}V ,  Melo)  wurde 
schon  in  hohem  Alter  gebaut,  ist  aber  noch  nie  in  den  mediterra- 
neischen  Ländern  wild  gefunden  worden.  Vielleicht  stammt  sie 
aus  Transkaukasien. 

In  Bezug  auf  unsere  Halmfrüchte  giebt  es  getheilte  Meinungen. 
Es  kann  bei  der  eigenthümlichen  Organisation  der  Blüthe  nie  Hy- 


2  Co  ^'•ii'  mathematisclien  und  physischen  Geographie. 

briden  der  Halmfrüchte  geben,  und  De  Candolle  neigt  sich  zu  der 
Ansicht,  dass  unsere  Körnerfrüchte  die  geringste  Neigung  zu  vari- 
iren  besitzen.  Er  beruft  sich  dabei  auf  den  Weizensamen,  den 
man  in  altägyptischen  Särgen  gefunden  und  gesäet  haben  will. 
Allein  wir  dürfen  nicht  verschweigen,  dass  viele  Botaniker  diess 
für  eine  Mystification  halten.  Andere  Gelehrte  meinen,  der  Weizen 
sei  als  ein  Product  der  Cultur  aus  den  Aegilopsarten  (Walch) 
entstanden.  Diese  Ansicht  ist  in  Bezug  auf  Aeg.  ovata  erst  neuer- 
dings wieder  von  einem  brittischen  Botaniker')  vertheidigt  worden. 
Man  hat  aber  diese  Aegilopsart  in  botanischen  Gärten  jahrelang 
gebaut,  ohne  dass  er  in  Weizen  sich  verwandelt  hätte;  auch  ist 
es  sehr  unwahrscheinlich,  dass  diese  Graminee  barbarische  Völker 
zum  Ackerbau  verführen  konnte.  Die  Cultur  des  Weizens 
(Triticum  vulgare)  ist  in  unserm  Welttheil  so  alt  wie  der  Acker- 
bau; in  China  wurde  diese  Frucht  im  Jahre  2822  v.  Chr.  vom 
Kaiser  Chi-nong,  einer  historischen  Person,  eingeführt.  Nach  der 
ägyptischen  Mythologie  fand  Osiris  Weizen  und  Gerste  wild 
wachsend  im  Lande.  Moses  nennt  Palästina  das  Weizenland. 
Uebrigens  lässt  sich  das  Vaterland  des  Weizens  nicht  mehr  ent- 
decken. Dasselbe  gilt  von  der  Gerste  (Hordeum),  dagegen 
stammt  der  römische  Name  des  Roggens  (Seeale  cereale)  aus 
dem  Celtischen  Secal  oder  Segal.  ,  Die  eigenthümlichen  Ausdrücke 
Rog,  Roggen  in  den  germanischen,  Zyto  in  den  slavischen  Sprachen, 
beweisen  wenigstens  so  viel,  dass  die  Pflanze  von  diesen  Völkern 
von  altersher  gebaut  worden  sei.  Weder  Aegypter  noch  Griechen 
kannten  die  Frucht,  und  Plinius  erwähnt,  dass  sie  am  Fuss  der 
Alpen  von  den  Taurinern  gebaut  wurde.  Ihre  Heimath  ist  wahr- 
scheinlich das  gemässigte  Europa,  obgleich  man  sie  doch  nicht 
mehr  wild  antrifft.  Den  H  a  f  e  r  (Avena  sativa) ,  aus  welchem 
von  den  alten  Germanen  und  jetzt  noch  von  den  Schotten  Brod 
gebacken  wurde  und  wird,  bauten  weder  Hebräer  noch  Aegypter, 
weder  Griechen  noch  Römer,  und  er  ist  in  Griechenland  bis  auf 
den  heutigen  Tag  noch  eine  Curiosität  geblieben,  nach  Indien 
aber  erst  durch  die  Engländer  gebracht  worden.  Das  Wort  Hafer 
ist  älter  als    der    römische  Ausdruck  avena ,    dagegen    stammt  das 


i)  Edinburgh    Review    October    1856.      De   CandoUe's    Geographica!    Bo- 
tany  p.    516. 


Zur  Geschichte  des  Pflanzenreiches.  251 

englische  oats  aus  dem  Böhmischen  oder  Russischen.  Das  wahre 
Vaterland  ist  jetzt  nicht  mehr  zu  entdecken.  Der  Reis  (Oryza 
sativa)  ist  indischen  Ursprungs  und  erst  seit  2822  v.  Chr.  in 
China  eingeführt  worden.  Auch  für  den  amerikanischen  Ursprung 
des  Mais  (Zea  Mais),  den  man  wild  noch  nie  angetroffen  hat, 
streitet  der  Verfasser  mit  triftigen  Gründen.  Er  hält  es  nicht  für 
bewiesen,  dass  Mais  in  China  schon  frühzeitig  im  16.  Jahrhundert 
gebaut  worden  sei. 


6.    Die  Rolle  der  Gewürze  im  Welthandel 
und  auf  der  Londoner  Ausstellung. 

(Ausland   1862.    Nr.  44.    26.   October.) 

Im  Mittelalter  waren  die  Gewürze  die  höchsten  und  wichtig- 
sten Güter  des  Welthandels,  Alexandrien  im  14.  und  15.  Jahrhun- 
dert beinahe  der  ausschliessliche  Markt  der  Gewürze,  und  Vene- 
digs Glanz  hauptsächlich  von  seinen  Alexandrinischen  Verbin- 
dungen abhängig.  Bekanntlich  geschah  es  ja  aus  dem  Streben 
der  Portugiesen  und  Spanier  nach  den  Ursprungsländern  der  Ge- 
würze zu  fahren,  Pfeffer,  Ingwer,  Zimmet,  Nelken  und  Muskatnüsse 
aus  erster  Hand  zu  kaufen ,  dass  die  östlichen  und  westlichen 
Seewege  nach  Indien  entdeckt  wurden.  Gegenwärtig  ist  der  Ge- 
würzhandel, wie  man  sehen  wird,  nur  ein  schwacher  Zweig  des 
Welthandels  geworden ;  statt  dessen  aber  sind  Baumwolle,  Zucker, 
Kaffee,  Thee,  Wolle  und  Getreide  dem  Werthe  wie  dem  Volumen 
nach ,  zum  höchsten  Range  aufgestiegen.  Der  Verfall  des  Ge- 
würzhandels trat  aber  erst  im  vorigen  Jahrhundert  vollständig  ein. 
Alle  Gewürze  nämlich  hatten  ursprünglich  einen  ausserordentlich 
kleinen  Verbreitungsbezirk,  sie  liessen  sich  daher  leicht  monopo- 
lisiren.  Die  grösste  Erbitterung  herrschte  in  der  ersten  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts  zwischen  Spanien  und  Portugal  um  den  Besitz 
der  Molukkemnseln,  fünf  kleiner,  aus  der  See  hervorragender  vul- 
kanischer Krater  an  der  Westküste  von  Gilolo  ,  deren  Oberfläche 
zusammen  kaum  der  eines  Schweizer  Cantons  gleich  kam.  Den- 
noch galten  sie  als  das  schönste  Juwel  in  der  Krone  Portugals, 
aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  sie  allein  die  Heimath  der  Ge- 
würznelkenmyrte waren,  deren  Producte  um  mehr  als  mit  Silber 
aufgewogen    wurden.     Jedes    der    Gewürze    hat    seine    besonderen 


Die  Rolle  der  Ge\vürze   im  Welthandel  und  auf  der  Lond.  Ausstellung 


^53 


Schicksale  durchlebt  und  die  weitesten  Wanderungen  auf  der  Erde 
zurückgelegt,  und  wir  müssen  daher  die  einzelnen  Gewürze  beson- 
ders behandeln.  Wir  benutzen  dazu  den  Bericht  des  Hrn.  Aubry 
le  Comte,  Mitghed  der  französischen  Jury  in  London;  für  ältere 
Preisangaben  Tooke,  History  of  Prices,  vol.  IV ;  sowie  v.  Klöden's 
physikalische  Geographie  und  unsere  botanischen  Handbücher. 

Zimmet.  Es  gilt  jetzt  als  ausgemacht,  dass  der  Zimmet  des 
Alterthums  nicht  von  Ceylon  kam,  sondern  das  Zimmetland  (cin- 
namomifera  regio)  der  griechischen  und  lateinischen  Geographen 
die  heutige  Somaliküste  Afrika's  am  Golfe  von  Aden  war,  wie  sie 
ja  auch  Gap  Dschardhafun ,  das  Osthorn  des  afrikanischen  Con- 
tinents,  das  Vorgebirge  der  Gewürze  (Prom.  Aromatum)  genannt 
haben.  Bis  zum  13.  Jahrhundert  n.  Chr.  war  der  Zimmet  Ceylons, 
der  dort  wild  vorkommt,  kein  Gegenstand  des  Handels  (Sir 
Emers.  Tenent  Ceylon,  tom.  I,  p.  575).  Gegenwärtig  aber  ist 
Ceylon  die  Zimmetinsel,  und  Colombo  der  Zimmetmarkt  der  Welt. 
Man  unterscheidet  sieben  Sorten,  wovon  die  besten  rase  corundu 
und  pany  corundu,  süsser  oder  Honig-Zimmet  genannt  wer- 
den. Die  letzte  Art  erzielt  man,  wenn  die  Kronen  der  Zimmet- 
bäume  (Cinnamomum  Ceylonicum),  wie  bei  uns  die  der  Weiden, 
in  der  Jugend  abgeworfen  werden.  Lässt  man  die  Rinden  härter 
werden,  so  verlieren  sie  an  Arom.  Die  Ausfuhr  aus  Colombo 
erhob  sich  1860  auf  644,857,  und  1861  auf  554,364  Pfund. 
Jetzt  wird  aber  auch  in  China,  auf  Malabar  und  in  Niederländisch- 
indien der  Zimmetstrauch  gezogen,  ebenso  auf  Mauritius,  Reunion, 
den  Antillen,  Guayana  und  Südamerika.  Cochinchina,  nach  Cey- 
lon der  Hauptproducent ,  schickt  250  bis  300,000  Pfd.  Zimmet 
nach  Europa.  England  hat  782,486  Pfund  im  Jahre  1860  ein-, 
und  davon  wieder  691,816  Pfund  ausgeführt.  Frankreichs  Ver- 
brauch beträgt  etwas  über  200,000  Pfund.  Nehmen  wir  den 
Zimmetverbrauch  auf  eine  MilHon  Pfund  an,  und  das  Pfund  mit 
I  Shill.  oder  10  Sgr.,  denn  die  Preise  der  ersten  Sorte  schwank- 
ten (1852  — 1856)  zwischen  11  Pence  bis  2  Shillinge  9  P.  in  Lon- 
don, so  beträgt  der  Werth  des  Zimmetumsatzes  333,000  Thlr. 

Die  Cassienrinde  (Cassium  arom.)  kommt  hauptsächlich 
aus  den  chinesischen  Provinzen  Kuang-tong  und  Kiang-tse,  welche 
etwa  5  Mill.  Pfd.  ä  125  Eres,  (der  Centner)  ausführen.  Die  chi- 
nesische Rinde  ist  weit  den  Producten  Malabars,  Bombay's,  Bor- 
neo's,  Sumatra's,  Celebes\  Brasiliens  und  Mauritius'  überlesren.    Die 


2^4  ^"''  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

Philippinen  erzeugen  nach  China  die  meisten  Cassia,  Der  weisse 
Zimmet  und  die  Cascarille  sind  Surrogate,  welche  von  Jamaika 
und  den  Bahamainseln  stammen.  Die  Quantitäten  der  Cassien- 
rinde,  welche  der  Handel  bewegt,  lassen  sich  schwer  bestimmen. 
So  betrug  1850  die  Einfuhr  in  England  1,050,008  Pfd.,  1860  da- 
gegen nur  580,560  Pfd.  Rechnen  wir  im  ganzen  6  Mill.  Pfd.  zu 
I  Sh,,  so  beträgt  der  gesammte  Werth  2  Mill.   Thlr. 

Muscatnüsse  und  Muscatblüthen.  Die  Frucht  des 
Muscatnussbaumes  hat  die  Grösse  einer  Wallnuss,  und  ist  in  einen 
lederartigen  zerschlitzten  gelben  Mantel  gehüllt,  der  Macis  oder 
Muscatblüthe  heisst ;  um  diese  liegt  die  grüne  fleischige  Hülle. 
Der  Baum  war  auf  den  Molukken  heimisch,  wurde  aber  dort,  wie- 
wohl vergeblich,  von  den  Holländern  ausgerottet,  und  wird  jetzt 
nur  noch  auf  Banda  und  Amboina  cultivirt.  Allein  längst  schon 
hat  man  den  Holländern  ihr  Monopol  entrissen.  Die  Muscatnuss 
(Myristica  moschata)  wurde  in  Guayana,  auf  Mauritius,  der  Reu- 
nionsinsel,  auf  Pulo  Pinang  und  auf  Singapur  acclimatisirt ;  allein 
an  allen  diesen  Orten  fängt  der  Baum  wieder  an  zu  verschwmden, 
weil  ihn  die  Cultur  als  unergiebig  vernachlässigt.  Es  ist  offenbar 
ein  aus  der  Mode  gekommenes  Gewürz.  Während  Frankreich  im 
Jahr  1860  nur  etwas  über  60,000  Pfd.  verbraucht  hat,  bleibt  Eng- 
land immer  noch  der  beste  Abnehmer,  indem  es  1860  470,000 
Pfd.  Nüsse  und  106,000  Pfd.  Muscatblüthen  verzehrte.  Die  Ge- 
sammtausfuhr  der  Banda-Inseln  wird  auf  600,000  Pfd.  Nüsse  und 
200,000  Pfd.  Blüthen  geschätzt.  Gegenwärtig  werden  auf  dem 
Londoner  Markt  die  Nüsse  mit  7  P.  bis  4  Sh. ,  und  Blüthen  mit 
8  P.  bis  2  Sh.  das  Pfund  notirt.  Wenn  wir  am  Ursprungsort 
einen  Preis  von  20  Silbergr.  für  die  Nüsse  und  von  10  Silbergr. 
für  die  Blüthen  annehmen ,  werden  wir  uns  wohl  nicht  sehr  weit 
von  der  Wahrheit  entfernen.  Die  Werthe  im  Welthandel  betragen 
daher  400,000  Thlr.  für  die  Nüsse  und  66,000  Thlr.  für  die 
Blüthen. 

Nelken.  Die  Königin  der  Gewürze  (Caryophyllus  aroma- 
ticus)  war  anfangs  nur  auf  den  fünf  Molukken  heimisch.  Sie  ist 
die  Blüthe  einer  Myrte,  welche  mit  der  Hand  gepflückt  und  an 
der  Sonne  getrocknet  wird.  Im  Handel  unterscheidet  man  fünf 
Sorten,  die  gewöhnliche  zahme,  die  weibliche  Nelke,  den  Kiri, 
den  Königsnagel  und  den  wilden  Nagel.  Jetzt  haben  die  Hollän- 
der den  Sitz  der  Cultur  von  den  Molukken  nach  Amboina  verlegt. 


Die  Rolle  der   Gewürze  im  Welthandel  und  auf  der  I.ond.  Ausstellung.     255 

Längst  aber  hat  sich  die  Nelkenmyrte  nach  Java,  Singapur,  Cey- 
lon, den  Seschellen,  Mauritius,  Reunion,  Sansibar,  Guayana  und 
den  Antillen  verbreitet.  Es  gab  eine  Zeit,  wo  die  Pflanzungen 
von  Oyac  (Cayenne)  Europa  mit  einem  wahren  Nelkenregen  über- 
schütteten. Die  Reunionsinsel  erzeugte  eine  Zeitlang  allein  1,600,000 
Pfd. !  Dann  kamen  aber  die  furchtbaren  Orkane ,  welche  ihren 
Baumwuchs  vernichteten ,  und  zuletzt  vertrieb  der  furchtbarste 
Feind  aller  aromatischen  und  narcotischen  Culturen ,  nämlich  der 
Zuckerbau,  die  Nelken  fast  gänzlich  von  der  Insel.  England, 
welches  den  Einkauf  für  die  christhche  Welt  besorgt,  bezog  1850 
749,646  Pfd.  und   1860  981,308  Pfd.,  nämlich  aus 

Sansibar     ....      254,646   Pd. 
beiden  Indien      .     .     678,569     ,, 
anderen  Ländern     .       48,093     „ 
981,308  Pfd. 

wovon  es  709,854  Pfd.  wieder  ausführte.  Frankreich  brachte 
450,000  Pfd.  in  den  Welthandel.  Die  Knospen  des  Cassienzim- 
metbaumes  dienen  als  Surrogat  für  die  Nelken,  und  haben  im 
frischen  Zustand  einen  Zimmetgeruch.  Ihr  Verbrauch  ist  sehr  ge- 
ring, und  war  1860  auf  30,000  Pfd.  gesunken.  Rechnen  wir  das 
gesammte  Volumen  an  Nelken  im  Welthandel  auf  2  Mill.  Pfd., 
und  das  Pfund  im  Durchschnitt  zu  5  Silbergr.,  denn  die  Preise 
für  afrikanische  Nelken  betragen  nur  3^/4 — 4^2  P.,  und  für  nieder- 
ländisch-indische 4V2  — 16  P.,  so  beläuft  sich  der  Gesammtwerth 
auf  333,000  Thlr. 

Das  merkantihsch  wichtigste  Gewürz  ist  noch  immer  der 
Pfeffer,  und  nicht  umsonst  hat  der  Goethische  Götz  v.  Ber- 
lichingen  die  Nürnberger  Gewürzkrämer  ,,Pfefifersäcke"  gescholten! 
Die  PfeffeiTebe  (Piper  nigrum),  welche  den  schwarzen  Pfeffer 
des  Handels  liefert,  ist  auf  Malabar  heimisch,  wesshalb  auch  die 
Portugiesen,  als  sie  nach  Indien  segelten,  zuerst  der  malabarischen 
Stapelplätze  durch  ihre  Forts  sich  bemächtigten.  Jetzt  hat  sich 
die  Cultur  nach  dem  malayischen  Indien,  nach  Siam,  Cochinchina, 
nach  der  afrikanischen  Republik  Liberia,  nach  Guayana  und  auf 
den  Antillen  verbreitet.  Die  gemeinen  Sorten  werden  jetzt  meist 
von  Java  und  aus  Palembang  auf  Sumatra ,  die  feinsten  Sorten 
dagegen  von  der  Westküste  dieser  Insel  und  von  Pulo  Pinang  in 
der  Malakastrasse  bezogen,  während  China   auf  den    siamesischen 


2c6  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

Märkten    seinen    Bedarf   kauft.     Die    Gesammterzeugung   vertheilt 
sich  auf  folgende  Art : 

Westküste  von   Sumatra  ....      20,000,000  Pfd. 
Ostküste       „  „          ....       8,000,000    ,, 

Inseln  der  Strasse    von  Malaka     .       3,600,000    ,, 

Halbinsel  Malaka 3>733,333     >. 

Borneo 2,666,667     ,, 

Siam 8,000,000     ,, 

Malabarküste 4,000,000     ,, 

50,000,000  Pfd. 
Der  Verbrauch  Englands  belief  sich  1860  auf  12,810,040  Pfd., 
während  der  französische  nur  etwas  mehr  als  6  Mill.  Pfd.  beträgt. 
Die  Preise  schwankten  \on  1848 — 1856  von  2^2 — sVs  P-  Ge- 
genwärtig werden  sie  mit  373 — 4^/2  P-  notirt.  Nimmt  man  4  P. 
oder  ^/g  Sh.  als  Durchschnitt  an,  so  beläuft  sich  der  Werth  des 
gesammten  Pfeffers  im  Welthandel  auf  5V2   Mill.  Thlr. 

Rot  her  oder  Gay  enn  e- Pfeffer.  Die  kleinen  Samen- 
körner des  Gaspicum  annuum ,  welche  in  zinnoberrothen  Beeren 
enthalten,  und  nicht  bloss  als  rother,  sondern  auch  als  türkischer 
und  als  spanischer  Pfeffer  im  Handel  bekannt  sind,  dienen  in  den 
heissen  Ländern,  wo  der  Verbrauch  der  Gapsicumarten  ein  ganz 
ungewöhnHcher  ist,  als  ein  tägliches  Gewürz,  welches  in  der  Zu- 
bereitung der  Gerichte  dieselbe  Rolle  spielt  wie  bei  uns  das  Salz. 
Aber  fast  aller  rother  Pfeffer  wird  am  Ursprung  selbst  verzehrt, 
und  das  einzige  europäische  Volk,  welches  einigen  Gebrauch  von 
diesem  Gewürz  macht,  sind  die  Engländer.  Sie  bedienen  sich 
aber  seiner  nur  zu  ihren  Fischsaucen  und  dem  Currypulver. 
Ebenso  beschränkt  ist  der  Verbrauch  der  Cardamome  (Elet- 
taria  Cardamomum),  deren  man  sich  in  Europa  höchstens  zur 
Verfälschung  der  Branntweine  oder  in  England  zur  Würzung  der 
Schildkrötensuppen  bedient.  Doch  beträgt  selbst  die  Einfuhr  nach 
England  nur  300  Gtr.,  welche  aus  Siam  oder  von  der  Westküste 
Afrika's  stammen.  Sehr  viele  orientalische  Plätze  versorgt  Mala- 
bar  mit  Cardamome ;  über  die  Mengen  und  Werthe  dieses  Gewür- 
zes, welche  der  aussereuropäische  Verkehr  bewegt,  fehlen  aber 
alle  Angaben. 

Senf.  Der  Senf  des  Handels  ist,  wie  man  weiss,  ein  Ge- 
werbserzeugniss  aus  sehr  vielen  Bestandtheilen.  In  den  feinen 
französischen    Senfen    der    Cote    d'Or    findet  sich    Zucker.    Honig, 


Die  Rolle  der  Gewürze  im  Welthandel  und  auf  der  Lond.   Ausstellung.     257 

Tragant  und  verschiedene  Gewürze.  In  der  Provence  fügt  man 
noch  Sardellen  (Anschoves) ,  in  der  Correze  sauren  Traubensaft 
(verjus)  oder  Weinmost  hinzu ,  der  durch  Einkochen  bis  auf  ein 
Drittel  verdickt  worden  ist.  Die  berühmtesten  französischen  Senf- 
arten kommen  aus  Dijon,  Brives,  Chälons  und  Turenne,  die  besten 
deutschen  Senfe  aus  Krems  in  Oesterreich  und  Frankfurt  a.  d.  O., 
die  besten  englischen  Sorten  aus  Wisbeach,  Lincoln  und  York. 
Im  ganzen  erzeugte  England  2000  Tonnen  (4,000,000  Pfd.)  Ta- 
felsenf. Der  Umsatz  im  internationalen  Handel  ist  dem  Werth 
nach  nicht  sehr  bedeutend. 

Vanille.  Diese  Schlingpflanze  (Vanilla  planifolia) ,  aus  der 
Familie  der  Orchideen ,  ist  ein  Kind  des  heissen  Küstensaumes 
von  Mexico,  und  da  ihre  Blüthen  sich  nicht  selbst  befruchten 
können,  sondern  Insecten  diese  Function  vollziehen,  so  muss  man 
überall,  wo  die  Vanille  fern  von  ihrer  Heimath  gebaut  wird,  und 
wo  das  befruchtende  Insect  nicht  vorhanden  ist,  wie  im  malayi- 
schen  Indien,  die  Befruchtung  jeder  einzelnen  Blüthe  mit  der  Hand 
vollziehen.  Ausser  in  Mexico  wächst  die  Vanille  noch  wild  in 
Brasilien  und  Guayana.  Cultivirt  wird  sie  auf  der  Insel  Reunion, 
in  neuerer  Zeit  aber  auch  auf  Ceylon,  Java,  Mauritius,  Tahiti,  Ja- 
maica  und  Trinidad.  Das  edelste  Product  wächst  im  Schatten 
der  Wälder  beim  Dorf  Zurtilla  im  mexicanischen  Staat  Oaxaca. 
In  Mexico  unterscheidet  man  vier  Sorten,  la  fine,  la  zacate,  la  re- 
zacate,  la  vazura.  An  Güte  steht  ihr  die  Reunionsvanille  am 
nächsten,  die  wilde  Schote  Guayana's,  die  von  einer  anderen  Va- 
nillenart (V  Pompona)  stammt,  ist  breit,  platt  und  holzig,  im 
Handel  wird  sie  Pomponne  genannt.  Eine  kleinere  Pomponne- 
sorte  ist  die  Vanille  der  Antillen ,  namentlich  Guadalupe's ,  wo 
etwa  2000  Pfd.  solcher  Vanille  gewonnen  werden,  die  aber  nur 
in  der  Parfümerie  ihre  Verwendung  findet.  Auf  Haiti  wächst  eine 
Vanillenschote,  die  man  unter  dem  Namen  Simarone  in  den  Han- 
del bringt,  sie  ist  röthlich,  spröde  und  wenig  aromatisch;  neuer- 
dings erscheint  auf  den  Märkten  auch  die  tahitische  Schote  von 
röthlichbrauner  Farbe ,  nicht  so  lang  als  die  mexicanische ,  aber 
fleischiger,  weniger  trocken,  biegsamer  und  von  einem  köstlichen 
Geruch,  leider  soll  man  bis  jetzt  sie  schwer  aufbewahren  können; 
das  meiste  davon  geht  übrigens  nach  CaUfornien  und  Chili.  Wie 
bei  den  Gewürznelken  übersteigt  bei  der  Vanille  die  Erzeugung 
den  Verbrauch,  so  dass  ihr  ehemaliger  Werth    von    70    Thlrn.  auf 

Peschel.  -Abhandlungen.     II.  1 7 


2c8  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

5  Thlr.  das  Pfd.  gefallen  ist,  und  in  Folge  dessen  die  künstliche 
Cultur  nicht  mehr  die  Kosten  lohnt.  Im  Jahr  1860  war  die  Ge- 
sammterzeugung  an  Vanille: 

auf  Reunion 12,000  Pfd. 

in  Mexico 16,000    ,, 

in  anderen  Ländern       .     .        3000    ,, 
31,000  Pfd. 
Der    Gesammtwerth    dieses     Erzeugnisses     beläuft    sich    also    auf 
155,000  Thlr. 

Piment,  Nelkenpfefifer ,  Jamaicapfefifer,  englisches  Gewürz, 
sind  die  Früchte  der  Nelkenpfeffermyrte  (Eugenia  Pimenta  oder 
Pim.  vulgaris),  die  von  den  Antillen  vorzüglich  aus  Jamaica  nach 
England  ausgeführt  werden.  Die  englische  Küche  bedient  sich 
fast  ausschliesslich  dieses  Gewürzes ,  welches ,  wenn  es  mit  den 
Früchten  der  Myrtus  acris  vermischt  wird,  in  Frankreich  Allerlei- 
würz (le  tout  epice)  heisst.  Je  nach  der  besseren  oder  geringeren 
Ernte  werden  2 — 8  Mill.  Pfd.  nach  England  eingeführt.  Gegen- 
wärtig stehen  die  Preise  auf  3  P.  Rechnen  wir  selbst  feinen 
Durchschnittsabsatz  von  5  Mill.  Pfd.,  so  würde  der  Gesammtwerth 
sich  doch  nicht  viel  höher  belaufen  als  auf  400,000  Thlr. 

Ingwer  nennt  man  im  Handel  die  Knollen  vom  Wurzelstock 
des  Zingiber  officinalis,    der   in    Ostindien ,    besonders   in   Malabar 
häufig  ist.     Dort  wird  er  hauptsächlich  von  Tehitscherry,  Cotschin 
und  Schernaad  im  Süden  von  CaUcut  ausgeführt.     Die  Cultur  hat 
sich  jetzt  weit  verbreitet  nach  Jamaica  und  Barbadoes,    nach  Bra- 
silien,   Westafrika,    nach    China   und   Ceylon.      Die   Einfuhr   nach 
England,  dem  Hauptverbraucher  dieses  Gewürzes  betrug  1860 
von  der  Sierra-Leone-Küste     2,124  Ctr. 
aus  Ostindien      .     -     .     .      15,027    ,, 
,,    Westindien    .      .     .     .        1,3T~>    ,, 
„    andern  Ländern      .     .  183     „ 

24,704  Ctr. 
Es  lässt  sich  schwer  schätzen,  was  die  übrigen  Völker  an 
Ingwer  verzehren,  der  nicht  über  England  bezogen  wurde.  Der 
Ingwerverbrauch  ist  übrigens  ein  sehr  geringer  ausserhalb  Gross- 
britanniens, und  ein  Centner  davon  wird  durchschnittlich  mit  25 
Thlrn.  bezahlt,  so  dass  also  obige  Mengen  einen  Werth  von  617,600 
Thlrn.  ergeben  würden,  wofür  wir  vielleicht  besser  in  runder  Summe 
700,000  Thlr.  setzen  können. 


Die  Rolle  der  Gewürze   im  Welthandel  und  auf  der  Lond.  Ausstellung.      259 

Cure  um  a  werden  die  meisten  unserer  Leser  wohl  nur  zu- 
bereitet als  Curcumapapier  oder  überhaupt  als  eines  der  empfind- 
lichsten chemischen  Reagentien  gekannt  haben,  ausserdem  dass  es 
auch  in  der  Seidenfärberei  verwendet  wird.  Unter  dem  Namen 
gelber  Ingwer,  indischer  Saffran  im  Handel  bekannt,  dient  es  aber 
auch  in  Pulverform,  aus  den  pomeranzenfarbigen  Wurzelknollen 
der  Curcuma  longa  gewonnen,  als  Gewürz  für  das  englische  Cur- 
rypulver, womit  bekanntlich  nach  indischer  Art  Reis,  Fisch  und 
Fleischstücke  zusammen  gekocht  werden.  Die  Haupterzeugungsorte 
sind  Bengalen,  die  Malabarküste,  die  Präsidentschaft  Madras,  Java, 
China,  sowie  die  Inseln  Reunion  und  Mauritius.  Die  Einfuhr 
nach  England  betrug  1860  2725  Tonnen  oder  54,500  Ctr.  Die 
Preise  schwankten  zwischen  6^/3  bis  9  Thir.  der  Centner,  und  der 
Gesammtverbrauch  musste  daher  auf  350,000  Thlr.  geschätzt 
werden.  Allein  in  den  engHschen  Preiscouranten  steht  Curcuma 
(Turmeric)  nicht  unter  den  Gewürzen*,  sondern  unter  den  Farb- 
stoffen, wie  auch  der  Saffran,  der  ebenfalls,  wiewohl  immer  selte- 
ner, noch  als  Gewürz  benutzt  wird. 

Endlich  ist  noch  die  Galgantwur zel  (Alpinia  Galanga)  zu 
nennen,  die,  ursprünglich  auf  Sumatra  zu  Hause,  jetzt  auch  bei 
Travancore,  Tschittagong,  in  China  und  auf  sehr  vielen  Inseln  des 
malayischen  Archipels  gebaut  wird.  Sie  dient  aber  nicht  bloss  als 
Gewürz,  sondern  als  Heilmittel  und  für  die  Parfümeriezwecke. 
London,  welches  Europa  mit  diesem  Producte  versieht,  importirte 
1850  im  Ganzen  1286  Centner,  die  von  Canton  bezogen  wurden. 
Da  wir  vergeblich  nach  einer  Preisangabe  uns  umgesehen  haben, 
können  wir  auch  den  Werth  dieses  Artikes  nicht  schätzen. 

Zum  Schluss  erhalten  wir  also  für  den  Gewürzhandel  der 
^Velt  folgende  Werthe: 


Zimmet     .     .     . 

333,000  Thlr. 

Cassia       .     .     . 

2,000,000     ,, 

Muscatnüsse 

400,000     „ 

Muscatblumen    . 

66,000     „ 

Nelken      .     .     . 

333,000     „ 

Pfeffer       .     .     . 

5,500,000     „ 

Vanille      .     .     .     . 

155,000     „ 

Piment      .     .     .     . 

400,000     „ 

Ingwer 

700,000     ,, 

9,887,000  Thlr. 

17* 


200  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

Setzen  wir  dafür  lo  Mill.  Thlr.  oder  1V2  Mill.  Pf.  St.  Nun^ 
hat  aber  der  Werth  der  Einfuhren  Grossbritanniens  in  einem 
Jahre  schon  120  MiUionen  Pfd.  SterUng  erreicht.  Was  ist  daneben 
der  Gewürzhandel  der  ganzen  Welt?  Vor  dem  Bürgerkriege  beliefen 
sich  die  Baumwollenernten  der  nordamerikanischen  Sklavenstaaten 
auf  vier  Millionen  Ballen  ä  440  Pfd.  Wird  das  Pfund  Baumwolle 
durchschnittlich  zu  6  P.  geschätzt,  so  beträgt  der  Werth  eines 
Ballens  11  Pfd.  St,  oder  73  Thlr.,  folglich  der  Werth  einer  ame- 
rikanischen Ernte  44  Mill.  Pfd.  Sterl.  oder  300  Mill.  Thlr.,  das 
Dreissigfache  des  Gesammtumsatzes  aller  Gewürze! 


7.    Die  narcotischen  und  einige  exotische 

Genussmittel  im  Welthandel  und  auf  der 

Londoner  Ausstellung. 

(Ausland    1862.      Nr.  45.      2.  Xovbr.) 

Indem  wir  den  Bericht  des  französischen  Schiedsrichters  auf 
der  Londoner  Ausstellung,  Aubry  le  Comte,  in  der  letzten  Num- 
mer dieser  Blätter  zu  erklären  und  zu  ergänzen  versuchten,  er- 
reichten wir  zuletzt  das  überraschende  Ergebniss,  dass  der  Ge- 
Avürzhandel,  der  im  Mittelalter  und  im  16.,  ja  noch  im  17.  Jahr- 
hundert der  einträglichste  Zweig  des  Welthandels  gewesen  war, 
seinem  Handelswerth  nach  auf  die  Bagatelle  von  1V2  Mill.  Pfd. 
St.  oder  10  Mill.  Thlrn.  herabgesunken  sei,  während  eine  einzige 
Baumwollenernte  der  nordamerikanischen  Staaten  in  den  früheren 
ruhigen  Zeiten  dem  Werth  nach  das  Dreissigfache  bedeutete.  Jetzt 
wollen  wir  auch  zu  ermitteln  suchen,  welcher  mercantilische  Rang 
den  narcotischen  Genussmitteln  gebühre. 

Im  Jahre  1664  schickte  die  ostindische  Compagnie  König 
Karl  II.  von  England  als  Muster  und  Probe  den  ersten  Thee  — 
zwei  Pfund  —  nach  Europa.  Drei  Jahre  später  (1667)  stieg  die 
Einfuhr  auf  100,  hundert  Jahre  später  auf  5  Mill.  Pfund.  Im 
Jahr  1850  wurden  121,780,800  Pfd.  Thee  aus  China  ausgeführt, 
1860  aber  134,236,288  Pfd.,  abgesehen  von  dem  Ziegelthee  und 
dem  Karawanenthee  (6^2  Mill.  Pfd.),  den  Russland  über  Kiachta 
bezieht.  Die  Engländer  haben  den  Thee  am  Südabhang  des  Hi- 
malaya  in  Assam,  dann  auch  in  den  Nilgherries  und  auf  Ceylon 
acclimatisirt.  Die  Einfuhr  indischen  Thees,  welche  1853  nur  552 
Pfd.  betrug,  ist  jetzt  (1860)  schon  auf  2,707,449  Pfd.  gestiegen. 
Auch  die  Holländer   haben    den    Thee   seit    1828    im  botanischen 


202  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

Garten  von  Buitenzorg  (Java)  gepflanzt.  Anfangs  wollte  die  Cultur 
nicht  gelingen;  die  Theeblätter  besassen  geringes  Arom  (Theein) 
und  einen  vorwiegend  zusammenziehenden  Geschmack,  also  einen 
Ueberfluss  an  Gerbsäure.  Mit  der  Zeit  aber  wurde  man  mit  den 
Culturgeheimnissen  besser  vertraut,  und  die  Erzeugung  stieg  1851 
auf  1,023,373,  1855  S'Uf  1,604,4x1  und  1860  auf  mehr  als  2  Mill. 
Pfd.  Sollte  der  chinesische  Aufstand  seine  Verheerungen  auch 
auf  die  Theegebiete  erstrecken  und  die  Ausfuhr  darunter  beträcht- 
lich leiden ,  so  ist  also  bereits  in  Assam  und  auf  Java  für  einen 
Ersatz  in  der  Noth  gesorgt.  Auch  in  BrasiUen  giebt  es  bei  Sanct 
Paul  (Minas  Geraes),  ferner  im  südafrikanischen  Natal,  endlich  auf 
Martinique  und  auf  der  Reunionsinsel  (bei  900  Meters  absoluter 
Höhe)  Theepflanzungen.  —  Die  Franzosen  sind  keine  Theetrinker, 
ihr  Gesammtverbrauch  erreichte  1860  noch  nicht  die  Höhe  von 
800,000  Pfd. 

Der  T  h  e  e  des  Handels  stammt  von  Einer  Pflanzenart  (Thea 
Chinensis) ,  welche  dem  Pflanzengeschlecht  der  CameUien  am 
nächsten  steht.  Die  grüne  oder  schwarze  Farbe  des  Thees  rührt 
nur  davon  her,  ob  die  Blätter  über  Feuer  oder  über  Dampf  ge- 
röstet werden.  Die  wichtigsten  grünen  Sorten  führen  die  Namen 
Twankey,  Hysong,  Young-Hysong,  Schiesspulver-,  Kaiserthee;  die 
schwarzen  heissen:  Pekoe,  Congou ,  Oolong,  Souchong,  Bohea. 
London  ist  der  Theemarkt  der  Welt,  man  kann  also  aus  den 
Londoner  Einfuhren  den  Rang  der  verschiedenen  Theesorten  er- 
messen.    Sie  bestanden  aus : 

1860.  1861. 

schwarzem  Tliee     .     .     .     76,839,000  Pfd.  76,792,000  Pfd. 

grünem  Thee     ....       9,817,000    „  7,593,000    ,, 

86,656,000    ,,  84,385,000    „ 

wovon 8,385,000    ,,  12,300,000  Pfd. 

wieder  ausgeführt  wurden.  Die  wichtigste  Sorte  für  den  Handel 
ist  der  schwarze  Congouthee,  von  dem  1860  6272»  1861  64  Mill. 
Pfd.  eingeführt  wurden.  Sie  bildet  also  drei  Viertel  sämmtlicher 
Zufuhren  und  ist  der  Thee  par  excellence.  Im  Londoner  Preis- 
courant  für  den  Monat  October  dieses  Jahres  schwanken  die  Preise 
zwischen  ^/^ — 1^2  Sh.,  also  zwischen  7Va  Silbergr.  oder  27  kr. 
bis    15    Silbergr.   oder    54   kr.    das    Pfd.  ^)     Doch   wird   auch  eine 


i)  Wir    reduciren    überall    das    Pfd.    St.     auf  6^/3    Thlr.  und  12  fi,,    den 
Schilling  daher  auf  10  Silbergr.   und  36  kr. 


Die  narcotischen  u.  einige  exotische  Genussmittel   im  Welthandel  etc.  263 

Bastardsorte  (Pekoe  kinds)  bis  zu  3^/3  Sh.  notirt.  Der  Thee,  den 
das  britische  Volk  verbraucht,  ist  ganz  sicherlich  fast  ausschliess- 
lich Congou.  Sehr  behebt  in  England  scheint  die  parfürairte 
Capersorte  zu  sein,  wovon  1860  und  1861  4^4  und  2%  Mill. 
Pfd.  ä  8 — 25  Silbergr.,  30—90  kr.  eingeführt  wurden.  Reiner 
Pekoethee  wird  nur  in  geringen  Mengen  (durchschnittlich  300,000 
Pfd.)  eingeführt,  dagegen  an  Blumen-Pekoe ,  Orangen  -  Pekoe  und 
parfümirtem  Orangen-Pekoe  4^5  Mill.  Pfund  im  vorigen  Jahre.  Die 
Beinamen  dieser  Sorten  rühren  davon  her,  dass  die  Chinesen  die 
Theeblätter  untermischt  mit  Blumen  und  Blüthen ,  besonders 
Orangeblüthen,  eintrocknen  lassen,  wodurch  der  Blumengeruch  in 
die  Theeblätter  übergeht.  Diese  beiden  parfümirten  Sorten  kosten 
9 — 2  2^2  Silbergr.  oder  33 — 81  kr.  das  Pfd.  Unter  den  grünen 
Theesorten  ist  das  „Schiesspulver"  die  gesuchteste,  indem  die  Ein- 
fuhren (1860  und  1861)  auf  5%  und  3  Mill.  Pfd.  sich  beliefen, 
bei  Preisen  von  20 — 39  Silbergr.  oder  i  fl.  12  kr.  bis  2  fl.  18 
kr.  Kaiserthee  wird  nur  in  sehr  geringen  Mengen,  248 — 292,000 
Pfd.,  verbraucht  und  kostet  15—25  Silbergr.  oder  44 — 90  kr. 
Von  Hysong  und  Young-Hysong  wurden  3  Mill.  Pfd.  eingeführt, 
und  es  schwanken  die  Preise  des  letztern  zwischen  9  —  26  Silbergr. 
oder  30 — 96  kr.,  während  der  Hysong  selbst  mit  13 — 30  Silbergr. 
oder  48  kr.  —  i  fl.  48  kr.  notirt  wird.  Endlich  kann  man  sich 
noch  der  mercantilischen  Wichtigkeit  wegen  den  schwarzen  Sou- 
chong  merken,  von  dem  der  Verbrauch  2 — 2V2  Mill.  Pfd.  beträgt, 
bei  einem  Preise  von  10 — 25  Silbergr.  oder  36 — 90  kr.  das  Pfd. 
So  lauten  die  Preise  im  Londoner  Grosshandel.  Wenn  die 
Leser  dann  noch  Zoll  und  Spesen  bei  Versendung  nach  dem 
Festlande  hmzurechnen  wollen,  so  können  sie  ziemlich  genau 
wissen,  wie  viel  theurer  sie  im  Kleinhandel  ihren  Thee  bezahlen 
müssen.  Rechnen  wir  aber,  dass  140  Mill.  Pfd.  Thee  alljährlich 
im  Völkerzwischenhandel  umgesetzt  werden,  und  schätzen  wir  das 
Pfund  im  Durchschnitt  zu  1 5  Silbergr. ,  so  ergiebt  sich  ein  Ge- 
sammtwerth  von  70  Mill.  Thlrn.,  also  das  Siebenfache  des  gesamm- 
ten  Gewürzhandels.  Es  giebt  sehr  viele  Theesurrogate,  die  wir 
nicht  in  Rechnung  bringen ;  dahin  gehören  die  Blätter  des  Kafifee- 
strauches,  deren  man  sich  auf  Sumatra  bedient,  der  Maniocthee 
auf  den  Antillen,  aus  den  Blättern  der  Capraria  biflora,  der  Mauer- 
thee  aus  der  Sauvagesia  erecta,  der  rothe  Thee  und  der  Anisthee 
in    Neufundland    und    Canada.       Zwei    neue    Theesurrogate    von 


264  '^-'■i'"  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

Reunion  sind  die  Ayapana,  welche  dem  ächten  Thee  recht  nahe 
kommen  soll,  und  das  Faham  aus  den  Blättern  einer  Orchidee, 
des  Angraecum  fragrans,  welches  die  Verdauung  begünstigen  und 
bei  angenehmem  Geschmack  auch  trefflich  als  erweichendes  Mittel 
dienen  soll.  Massenhaft  verbraucht  wird  von  allen  Vertretern  des 
Thees  nur  die  Yerba  mate  oder  der  Paraguaythee,  von  wel- 
chem Südamerika  40  Mill.  Pfd.  jährlich  verbraucht.  Man  kennt 
zwei  Sorten,  die  höher  geschätzte  Yerba  de  Carmini  und  die  ge- 
ringere Yerba  de  Palos.  Die  Heimath  sind  die  I>aplata- Staaten, 
Paraguay  und  Südbrasilien.  Im  Handel  werden  etwa  14 — 16 
Mill.  Pfd.  aus  Rio  Grande  do  Sul  meist  nach  südamerikanischen 
Häfen,  eine  Kleinigkeit  auch  nach  Bordeaux  zum  Preise  von  6 
Silbergr.  oder  22  kr.  das  Pfd.  ausgeführt.  Also  bewegt  der  Han- 
del etwa  für  3   Mill.   Thlr.  Paraguaythee. 

Die  Coca  wächst  hauptsächlich  in  Peru,  dessen  jährliche 
Erzeugung  aus  20  Mill.  Pfd.  zu  10  Silbergr.  besteht.  Die  Coca- 
blätter  werden  fast  nur  am  Erzeugungsorte  verzehrt. 

Der  Kaffee  Strauch,  ursprünglich  in  Habesch  (Abessinien) 
heimisch,  dann  nach  dem  jemenischen  Arabien  (Mocha),  von  dort 
nach  Ostindien  (Ceylon),  endlich  1723  durch  den  Generalstatthal- 
ter von  Batavia,  Zwaen  den  Kroom,  nach  Java  verpflanzt,  hat 
sich  seitdem  über  alle  tropischen  Erdstriche  verbreitet.  Unter  den 
Erzeugungsländern  steht  BrasiHen  obenan.  Es  lieferte  1820  erst 
iSVs»  1830  aber  64,  und  im  Jahre  1847  300  Mill.  Pfd.  in  den 
Handel,  ein  Volumen,  welches  sich  seitdem  als  mittlerer  Durch- 
schnitt erhalten  hat.  Im  gegenwärtigen  Augenblick  haben  die 
Kaffeepreise  ungewöhnlich  aufgeschlagen,  und  es  wird  daher  rich- 
tiger sein,  nach  dem  Stand  der  Märkte  am  Anfang  des  Jahres  zu 
berechnen.  Die  brasilianischen  Sorten  wurden  damals  mit  47  bis 
76  Sh.  notirt,  also  im  Durchschnitt  mit  60  Sh.  (20  Thlr.  oder 
36  fl.  der  Ctr.),  so  dass  demnach  die  brasilischen  Ausfuhren 
auf  60  Mill.  Thlr.  oder  108  Mill.  fl.  im  Werthe  sich  beliefen: 
Nach  BrasiHen  folgt  Java,  dessen  Erzeugung  von  46,781,729  Ki- 
logr.  im  Jahr  1839  und  55  Mill.  Kilogr.  im  Jahr  1841  sich  jetzt 
auf  I  Mill.  Picul  oder  125  Mill.  Pfd.  gehoben  hat.  Der  Mittel- 
preis für  Javabohnen  betrug  in  London  70  Sh.  (23  Vs  Thlr.  oder 
42  fl.),  also  der  Werth  der  Gesammtausfuhr  29^/3  oder  in  runder 
Summe  30  Mill.  Thlr. ;  den  dritten  Rang  in  Bezug  auf  die  Massen- 
production  nimmt    Ceylon    ein.     Seine   Ausfuhr    stieg    seit    185 1, 


Die  narcotischen  u.  einiije  exotische  Genussmittel  im  Welthandel  etc.    265 

wo  sie  339,744  Ctr.  betrug,  bis  1860  auf  466,987  Ctr.,  und  zwar 
wurden  dafür  Preise  zwischen  63 — 94  Sh.  erzielt;  wenn  wir  aber 
wiederum  70  Sh.  als  Mittelpreis  annehmen,  so  erhalten  wir 
8,995,000  oder  in  runder  Summe  9  Millionen  Thaler  für  den  Ge- 
sammtwerth  der  Ausfuhr.  Der  vierte  Rang  gebührt  Venezuela, 
dessen  Erzeugung  1833  6  MilL,  1850  aber  17  Mill.  Kilogramme 
betragen  hatte,  seitdem  aber  auf  die  Hälfte  oder  auf  17  Millionen 
Pfd.  gefallen  war.  Die  venezuelanischen  (La  Guayra)  Sorten 
werden  mit  67  bis  82  Sh.  in  den  Preiscouranten  aufgeführt; 
nehmen  wir  aber  als  Mittel  nur  70  Sh.  an,  so  hat  das  Gesammt- 
erzeugniss  einen  Werth  von  3,966,000  Thlrn.  oder  in  runder 
Summe  4  Mill.  Thlr.  Von  arabischem  Kaffee  oder  achtem  Mocha, 
der  mit  70  bis  135  Sh.  (23V3  Thlr.  oder  42  fl.  bis  45  Thlr.  oder 
Si  fl.  der  Ctr.)  notirt  wird,  gelangen  nur  250,000  Kil.  oder  50C0 
Ctr.  im  Werth  von  150,000  Thlr.  über  Alexandrien  nach  Europa. 
Ein  gänzlicher  Verfall  ist  in  Haiti  eingetreten  ,  dessen  Ausfuhren 
1789  den  ansehnlichen  Umfang  von  77  Mill.,  1826  noch  immer 
von  32  Mill.,  1850  nur  noch  von  2,065,420  Pfd.  besassen,  und 
jetzt  zu  einer  unwürdigen  Ziffer  herabgesunken  sind.  Eine  ähn- 
liche Verminderung  ist  in  dem  britischen  Westindien  bemerkbar. 
Es  betrug  nämlich  die  Erzeugung  an  Kaffee 


1829 

1850 

1860 

Pfd. 

Pfd. 

Pfd. 

Jamaica's 

18,690,654 

4,156,210 

6,145,362 

Br.  Guayanas 

7,163,016 

18,472 

„ 

Trinidads 

73,667 

96,376 

,, 

Dominica's 

942,114 

792 

10,000 

Sa.  Lucia's 

303.499 

35 

Abgesehen  von  Jamaica,  dessen  6  Mill.  Pfd.  ä  90  ShiUing  (30 
Thlr.  oder  54  fl.)  einen  Werth  von  1,800,000  Thlrn.  darstellen, 
ist  die  Kaffee  -  Erzeugung  in  Westindien  überall  vom  Zuckerbau 
verdrängt  worden.  Das  nämliche  gilt  von  den  französischen  An- 
tillen und  von  Reunion,  dessen  Kaffeegärten  nach  der  Verheerung 
durch  die  furchtbaren  Orkane  fast  gänzlich  aufgegeben  wurden, 
so  dass  jetzt  die  Gesammterzeugung  von  französischem  Colonial- 
kaffee  sich  nur  noch  auf  i   Mill.  Kilogr.  beläuft. 

Kaffee  wird  auch  auf  Celebes  und  Sumatra  gebaut,  ebenso 
auf  den  Philippinen,  auf  der  Malabarküste,  auf  Mauritius,  Sanct 
Helena,   ferner  auf  den  Inseln  San  Thome  und   Principe    im  Golf 


2  06  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

von  Benin ,  in  Liberia  und  am  Rio  Nunez  in  Guinea.  Für  alle 
diese  kleinen  Productionen  kann  man  als  runde  Summe  lo  Mill. 
Pfd.  zu  70  Sh.  oder  2,500,000  Thlr.  ansetzen.  Noch  ziemlich 
jung,  aber  schon  wichtig,  ist  die  Kaffeeerzeugung  Costarica's.  Der 
französische  Bericht  giebt  nichts  an  über  die  Ausfuhren  der  kleinen 
mittelamerikanischen  Repubhk.  Hr.  Belly  aber  schätzte  sie  vor 
fünf  Jahren  auf  200,000  Ctr. '),  ein  Volumen,  das  sich  seitdem 
jedenfalls  gesteigert  haben  wird.  Da  die  Costarica  -  Sorten  mit 
67 — 88  Shill.  notirt  wurden,  so  wollen  wir  als  Durchschnitt  25 
Thlr.,  und  für  die  Gesammtausfuhr  5  Mill.  Thlr.  annehmen.  Somit 
gelangen  wir  zu  folgendem  Ueberblick. 

Kaffeeausfurh. 
Mill.  Pfd.  Werth. 

Brasilien 300  60  Mill.  Thlr. 

Java 125  30     „ 

Ceylon 47  9     ,,         „ 

Costarica 20  S     »         j? 

Venezuela 17  4     ,,          ,, 

Jamaica 6  t,8  ,,         ,, 

Französische    Colonien    und 

andere  Länder    ....        10  2,5  ,,         „ 

525  Mill.  Pfd.  112  MiliTThir^ 
Der  französische  Bericht  schätzt  den  Verbrauch  an  Kaffee  in 
Europa  allein  auf  492  Mill.  Pfd.  Die  Verzehrung  Englands  be- 
läuft sich  nur  auf  83  Mill.  Pfd.,  die  französische  dagegen  beträgt 
125  Mill.,  die  des  Zollvereins  130  Millionen  u.  s.  w.  Wenn  aber 
der  Verbrauch  der  Vereinigten  Staaten  auf  224  Mill.  angegeben 
wird,  so  muss  gewiss  ein  Irrthum  zu  Grunde  liegen,  denn  gewiss 
kann  bei  der  grossen  nicht  consumirenden  Sklavenbevölkerung  von 
4  Mill.  Köpfen  und  bei  dem  starken  Theeverbrauch  die  Consum- 
tion  der  Vereinigten  Staaten  unmöglich  grösser  sein,  als  die  bri- 
tische. Ueberhaupt  aber  sind  die  Verbrauchsmengen  viel  höher 
angegeben ,  als  sich  die  Ausfuhrmengen  nachweisen  lassen. 

Ein  merkwürdiges  Fach  auf  der  Londoner  Ausstellung  bilden 
die  Kaffeesurrogate.  Das  wichtigste  darunter  ist  die  seit  der 
Napoleonischen  Continentalsperre,  also  seit  länger  als  50  Jahren, 
gebaute    Cichorie.     Grossbritannien    bezieht,    abgesehen,    dass    es 


i)  S.  Ausland   1861.     S.  366. 


Die  narcotischen  u.  einige   exotische  Genussmittel  im  Welthandel  etc.   267 

diess  Gewächs  auf  500  Acres  Land  selbst  baut,  über  9  Mill.  Pfd. 
von  auswärts,  meistens  aus  Belgien  und  aus  Holland.  In  England 
ist  nämlich  die  Ansicht  weit  verbreitet :  dass  Ys  Gewicht  Cichorien, 
zum  Kaffee  hinzugefügt ,  das  Getränk  „verbessere".  Auch  Frank- 
reich hat  an  der  eigenen  Erzeugung  von  16  Mill.  Pfd.  nicht  genug, 
sondern  führt  noch  8V4  Mill.  Pfd.  aus  Belgien  ein.  Oesterreich 
hat  eine  Menge  europäischer  „Kaffee" -Arten  ausgestellt,  nämlich 
süssen  Eichel-,  Runkelrüben-,  Mais-,  Gersten-,  Rübenkaffee.  Ein 
grosser  Producent  aus  Littowitz  (Mähren),  der  über  10  Mill.  Ctr. 
solchen  „Kaffees"  erzeugt,  hat  nicht  weniger  als  60  Muster,  und 
Hr.  J.  Leithner  aus  Gratz,  der  täglich  50  Ctr.  fabricirt,  44  Sur- 
rogate, darunter  auch  den  edlen  Feigenkaffee  ausgestellt.  Algerien 
wiederum  glänzt  durch  ein  eigenthümliches  Surrogat,  den  Johannis- 
brodkaffee. 

Der  Verbrauch  an  Cacao  wird  auf  36  Mill.  Pfd.  in  Europa 
und  auf  2  Mill.  Pfd.  in  den  Vereinigten  Staaten  angegeben*  Was 
Südamerika  und  die  Ursprungsländer  selbst  verzehren,  entzieht  sich 
jeder  Berechnung.  Die  Preise  schwanken  zwischen  56  Sh.  für 
brasilischen  bis  zu  loi  Sh.  für  westindischen  Cacao,  65  Sh.  (21% 
Thlr.  oder  59  fi.  der  Ctr.)  aber  scheint  der  richtige  Mittelpreis 
zu  sein,  so  dass  wir  also  für  den  Gesammtwerth  des  Umsatzes 
8V4  Mill,  Thlr.  rechnen  können.  Die  edelsten  Sorten  kommen 
aus  Soconusco,  allein  die  Hauptexporthäfen  sind  Caracas,  Guaya- 
quil,  La  Guayra,  Santa  Marta  und  Cartagena.  Venezuela  allein 
liefert  8  Mill.  Pfd.  jährlich,  Brasilien  über  Para  und  Bahia  6  Mill. 
Pfd.  Die  Ausfuhr  aus  Britisch  Westindien  und  Guayana  ist  von 
Jahr  zu  Jahr  gewachsen.  Sie  betrug  1831  nicht  ganz  1V2  Mill., 
1851   4V3  Mill  und   1860 

Dominica 125,000  Pfd. 

Santa  Lucia     ....         250,000  „ 

Granada 1,000,000  ,, 

Trinidad 5)400)000  „ 

Guayana 12,300  ,, 

6,787,300  Pfd7 

Dieser  gewaltige  Aufschwung  ist  erst  nach  der  Negeremancipation 
eingetreten,  deren  mercantihsche  Folgen,  wie  man  an  diesem  Bei- 
spiele gewahren  kann,  gewöhnlich  sehr  einseitig  nur  nach  der  Ab- 
nahme   der    Zuckerausfuhr    ermessen    werden.     Nach    DecandoUe 


208  ^"'"    niathematischen  und  physischen  Geographie. 

(Geogr.  botanique  rais.  p.  968)  wurde  der  Cacao  (Theobroma 
Cacao)  nur  im  Amazonas-  und  Orinocobecken  im  wilden  Zustand 
angetroffen.  Auf  den  Antillen  finde  man  an  begünstigten  Oert- 
lichkeiten  allerdings  wild  wachsende  Cacaobäume,  aber  DecandoUe 
zweifelt,  dass  sie  der  ächten  Cacaoart  (Theobroma  Cacao  L.)  an- 
gehören, Dass  die  alten  Mexicaner  den  Cacao  bauten  und  dass 
die  Cacaobohnen  bei  ihnen  im  Marktverkehr  als  Scheidemünze 
galten,  wie  diess  jetzt  noch  in  vielen  mittelamerikanischen  Ländern 
der  Fall  ist,  weiss  der  grosse  Genfer  Botaniker  recht  gut,  allein  er 
glaubt,  dass  jene  Producte  von  andern  Theobromaarten  herrühren 
müssten. 

Auf  Martinique  ist  jetzt  die  Cacaoerzeugung  (268,362  Kilogr.) 
in  Zunahme,  auch  Guadalupe,  Reunion  und  franz.  Guayana  er- 
zeugen etliche,  wenn  auch  geringe  Mengen.  Höchst  merkwürdig 
ist  aber  in  Bezug  auf  die  Wanderung  der  Culturgewächse,  dass 
jetzt  auf  Celebes,  sowie  auf  den  drei  afrikanischen  Aequatorial- 
inseln  Fernando  Po,  Principe  und  San  Thome  die  Cacaocultur 
einige  Ausdehnung  gewonnen  hat. 

Ein  tropisches  Nahrungsmittel ,  welches  vielleicht  in  der  Zu- 
kunft für  uns  noch  viel  wichtiger  werden  könnte,  ist  die  Tapioca. 
Das  Tapiocamehl  ist  ein  künstliches  Product  aus  den  Wurzeln  der 
Cassave  oder  Maniok  (Jatropha  Manihot  L.).  Die  Cassave  bildete 
das  Hauptnahrungsmittel  der  Antillenos  oder  Eingebornen  der 
Antillen ,  als  Cristobal  Colon  die  neue  Welt  entdeckte ,  und  die 
spanischen  Entdecker  erfuhren  sehr  früh,  dass  die  Maniokwurzeln 
des  Festlandes  ganz  unschädHch  wären,  während  die  auf  den  In- 
seln ein  jäh  wirkendes  Gift  enthielten.  Die  Wurzeln  wurden  und 
werden  noch  jetzt  zu  Brei  gestampft  und  durch  einen  Sack  der 
Saft  hindurchgeseiht.  Dieser  Saft  enthält  Blausäure,  und  die  Ma- 
niok, frisch  genossen,  hat  augenbUcklich  den  Tod  zur  Folge. 
Aber  gerade  jener  Milchsaft ,  welcher  nach  etlichen  Tagen  alle 
giftigen  Eigenschaften  verliert,  schlägt  ein  Stärkemehl  nieder, 
welches  Mussasch  oder  Sissip  in  Westindien  genannt  wird.  Rührt 
man  das  Maniokmehl  mit  Wasser  an  und  lässt  es  auf  kupfernen 
Platten  eintrocknen,  so  nimmt  es  die  Form  kleiner  Kügelchen  an, 
die  hart  und  grau  werden.  Diess  ist  die  Tapioca  des  Handels. 
Der  Fasernrückstand  der  ausgepressten  Wurzeln  wird  zu  Cassave" 
brod  umgestaltet,  und  dient  zur  Fütterung   der    Neger.     Im  Jahre 


Die  narcotischen  u.   einigt-  exotische  Genussmittel  im  Welthandel  etc.  260 

1853  sendete  vornehmlich  Biasüien  Tapioca  nach  Europa,  und 
zwar  5004  Ctr.,  alle  übrigen  Länder  nur  iio.  Jetzt  (1860)  hat 
die  brasilische  Ausfuhr  bis  auf  27  ig  Ctr.  abgenommen,  dagegen 
hat  die  einzige  Provinz  Wellesley  aufMalaka  8325  Ctr.  ausgeführt. 
Von  Wichtigkeit  ist  jedoch  bis  jetzt  dieser  Handelsartikel  noch 
nicht,  ebenso  wenig  wie  das  Mehl  der  Pfeilwurz  (Arrow- root, 
westindischer  Salep,  Marunda  arundinacea  L,),  deren  Wurzeln 
ebenfalls  ausgepresst  werden.  Das  Pfeilwurzmehl  hat  die  Eigen- 
schaft, dass  es  in  kochendem  Wasser  keinen  Kleister  bildet,  also 
ausserordentlich  leicht  verdaulich  ist,  wesshalb  die  Aerzte  schwachen 
Kranken  zur  Ernährung  Pfeilwurzmehl  verordnen.  England,  der 
Hauptabnehmer,  hat  seine  Einfuhr  von  16,000  auf  21,280  Ctr.  in 
der  Zeit  von  1850 — 60  gesteigert.  Das  meiste  (ä  14,620  Ctr.) 
wird  \on  den  drei  Antillen  Barbadoes,  St.  Vincent,  Jamaica  be- 
zogen, 5020  Ctr.  aber  kommen  aus  der  jungen  afrikanischen  Co- 
lonie  Natal.  Auf  der  Londoner  Ausstellung  sind  als  neue  Erzeug- 
nisse ostindische  Pfeilwurzmehle  aus  Cuttak,  Akyab,  Nagpur, 
Tschittagong  und  Travoncore  ausgestellt,  welche  aus  wild  in  den 
Dschengeln  wachsenden  Pflanzen  dargestellt  worden  sind,  ebenso 
ein  Salepmehl,  welches  aus  der  zweidornigen  Wassernuss  (Trapa 
bispinosa  L.)  gewonnen  wird,  und  eine  wichtige  Rimesse  Indiens 
nach  Kaschmir  bildet.  Alle  diese  exotischen  Nahrungsmittel  sind 
jedoch  wegen  ihres  bisher  noch  geringen  Absatzes  wenig  wichtig 
für  den  grossen  Völkerverkehr.  Eine  Ausnahme  jedoch  macht 
der  Sago,  welcher  bekanntHch  aus  dem  Mark  verschiedener  Pal- 
menbäume :  der  Saguerus  Rumphii,  der  Raphia  farinifera  und  der 
Cycas  circinalis  gewonnen  wird.  England  hat  in  der  Zeit  von 
1850  bis  1860  seine  Einfuhr  von  89,884  auf  179,825  Ctr.  gestei- 
gert, wovon  157,719  Ctr.  über  Singapur,  das  übrige  direct  von 
Sumatra ,  Borneo  und  von  andern  Inseln  Hinterindiens  bezogen 
wurde. 

Vergleichen  wir  dem  Werth  nach  die  narcotischen  Genuss- 
mittel unter  sich  und  mit  den  Gewürzen,  so  erhalten  wir  folgende 
Uebersicht : 


Tonnen. 

Werth. 

Gewürze     30,000 

10  Mill.  Thlr 

Thee           70,000 

70     „ 

2^0  ^u'^  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

Tonnen.  Werth. 

Kaffee      262,000  iio  Mill.  Thlr. 

Cacao  1,000  8 1/4  „       „ 

Diese  Zahlen  reden  sehr  deutlich;  sie  zeigen,  dass  nicht  bloss 
dem  Werthe  nach  die  narcotischen  Genussmittel  (Thee  und  Kaffee) 
die  Gewürze  um  das  sieben-  und  eilffache  übertreffen,  sondern 
dass  sie  auch  zusammen  beinahe  das  eilffache  an  Frachten  der 
Schifffahrt  liefern. 


8.    Ueber  die  Veränderungen  in  der 

Ernährung  der  europäischen  Völker   seit 

dem  sechzehnten  Jahrhundert. 

(Ausland   1855.     Nr,  27.     6.  Juli.) 

Vor  dem  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  kannte  man  in  Europa 
weder  den  Thee ,  noch  den  Cacao ,  noch  die  Vanille ,  noch  den 
Tabak.  Erst  im  Beginn  des  15.  Jahrhunderts  wurde  der  Kaffee 
von  Abyssinien  nach  Arabien  gebracht,  doch  erwähnt  bereits 
Macrizy,  ein  arabischer  Schriftsteller  des  9.  Jahrhunderts  der  Hid- 
schra,  dass  zu  seiner  Zeit  auf  den  Messen  zu  Mekka  der  Kaffee 
als  wichtiger  Handelsartikel  auftrat.  Das  erste  Kaffeehaus  wurde 
in  London  im  Jahre  1652  errichtet,  während  der  Thee  um  diese 
Zeit  noch  so  selten  war,  dass  1664  die  ostindische  Compagnie 
der  Königin  von  England  ein  paar  Pfund  solcher  Blätter  als  ein 
würdiges  Geschenk  überbringen  konnte.  Die  vier  als  Theetrinker 
grossen  Nationen  sind  die  Holländer,  Engländer,  Chinesen  und 
Russen,  zusammen  500  Millionen  Menschen.  England  verbraucht 
allein  60  Mill.  Pfund,  oder  etwas  mehr  als  zwei  Pfund  auf  den 
Kopf.  Man  kann  daher  den  Theeverbrauch  der  Welt  auf  1000 
bis  1500  Mill.  Pfund  schätzen.  Der  Kaffee  dagegen  ist  ein 
LiebHngsgetränk  der  Franzosen,  der  Deutschen  und  der  Osmanen. 
Er  zählt  etwa  120  Mill.  Liebhaber,  und  jährHch  werden  wohl 
gegen  600  Mill.  Pfund  davon  erbaut  und  verzehrt.  Der  Cacao, 
oder  vielmehr  die  Chokolade,  ist  ein  Lieblingsgetränk  in  den  ame- 
rikanischen Creolenstaaten ,  in  Spanien  und  Italien.  Chocolatl 
nannten  die  alten  Mexicaner  das  Erzeugniss  ihrer  Kochkunst, 
welches  wir  von  ihnen  ererbt  haben.  Der  Cacaobaum  wächst  nur 
unter  den  Tropen,   und  auch  da  nur  in  den   heissen  Niederungen. 


27  2  ^iT  mathematischen  und  physischen   Geographie. 

Cacao  und  Vanille  verlangen  die  höchste  Temperatur,  der  Cacao 
ist  ausserdem  sehr  schwer  zu  pflegen.  Er  wird  nur  am  Fuss  eines 
andern  Baumes  gepflanzt,  der  ihm  Schatten  gewähren  muss.  Im 
Palast  Montezuma's  wurde  vortrefi'liche  Chokolade  bereitet,  wie  die 
ersten  spanischen  Eroberer  uns  versichern.  Die  Cacaobohne  wurde 
ausserdem  so  geschätzt,  dass  sie  im  kleinen  Verkehr  als  Münze 
galt.  Und  diess  hat  sich  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten. 
Das  kleinste  Silberstück,  welches  in  Centralamerika  cursirt,  ist  der 
Medio  oder  der  halbe  Real.  Dieser  hat  Curs  gegen  40  oder  60 
Cacaobohnen,  und  mit  ein  paar  solchen  Bohnen  kann  man  Orangen, 
Ananas  oder  Bananen  einkaufen.  Der  Zucker  ist  ein  verhältniss- 
mässig  modernes  Nahrungsmittel.  Die  Araber  —  was  verdanken 
wir  nicht  alles  den  Arabern !  —  haben  das  Rohr  nach  Sicilien  und 
Andalusien  gebracht.  Der  Zucker  war  aber  selbst  am  Ende  des 
Mittelalters  noch  ein  kostbarer  Handelsartikel.  Der  beste  Zucker 
wurde  in  Cairo  gesotten ,  allein  die  feinste  Sorte  des  ägyptischen 
Zuckers  gelangte  gar  nicht  in  den  Handel,  sondern  wurde  am 
Hofe  der  Mamelukensultane  verzehrt.  Im  Jahre  1372  bestand  der 
Vorrath  von  Zucker  im  Haushalt  einer  Königin  von  Frankreich 
aus  vier  kleinen  Broden  von  etwa  fünf  Pfund.  Das  Pfund  Zucker 
war  in  Paris  zehn  damalige  Sous  werth,  die  so  viel  Silber  ent- 
hielten als  etwa  heute  4%  Eres.,  während  das  Silber  damals  im 
Vergleich  zu  den  Getreidepreisen  einen  vier-  bis  fünffach  höhern 
Werth  hatte.  Unter  den  Geschenken,  welche  nach  Abschluss  eines 
wichtigen  Handelsvertrags  1461  der  Sultan  von  Aegypten,  Almalek- 
almuiad-Ahmed,  dem  Dogen  von  Venedig  MaUpieri,  übersandte, 
befanden  sich  neben  zwölf  Tellern  und  acht  Schüsseln  aus  Por- 
cellan  40  kleine  Brode  Zucker.  Wir  wissen  alle,  dass  das  Zucker- 
rohr vom  Infanten  Heinrich  dem  Schiffer  nach  Madeira  und  auf 
die  Azoren,  von  den  Spaniern  nach  den  Canarien  verpflanzt  wurde. 
Der  Zucker  hat  aber  noch  eine  andere  grosse  historische  Begeben- 
heit veranlasst,  denn  er  ist  der  Stifter  der  Negersklaverei.  Es  hat 
zu  allen  Zeiten  Sklaverei  gegeben,  bei  den  Aegyptem,  den  Assy- 
riern, den  Persem,  den  Griechen,  den  Römern,  den  alten  Germanen. 
Die  Sklaverei  und  der  Sklavenhandel  hat  fortwährend  im  Mittel- 
alter bestanden.  Allein  die  Sklaverei  des  Orients,  wie  sie  uns  in 
der  Bibel  begegnet,  ist  durchaus  kein  sittlich  verwerflicher  Zustand. 
Sie  wird  noch  immer  durch  ihren  patriarchalischen  Charakter  ge- 
mildert, und  der  Sklave  wird  von  seinem  türkischen  Herrn  besser 


behandelt  als  mancher  Dienstbote  in  den  sogenannten  civilisirten 
Ländern;  er  isst  mit  seinem  Herrn  —  und  notabene  ohne  Gabel 
oder  Löffel  —  aus  derselben  Schüssel ,  und  wenn  der  Herr  die 
Pfeife  aus  dem  Mund  legt,  raucht  der  Sklave  weiter.  Ganz  anders 
sieht  die  transatlantische  Sklaverei  aus.  Dort  ist  es  die  Herrschaft 
und  die  Dienstbarkeit  zwischen  hohen  und  niedem  Racen,  dort 
wird  der  Sklave  ein  Element  der  Production.  Seine  physische 
Kraft  sinkt  zu  einem  Handelsartikel  herab ,  und  der  Mensch  in 
ihm  hat  nur  insofern  Werth,  als  er  zu  Arbeiten  abgerichtet  werden 
kann ,  welche  weder  Hausthiere  noch  Maschinen  zu  leisten  ver- 
mögen. Nun  war  es  aber  der  Zucker,  dessen  Cultur  zur  Neger- 
sklaverei geführt  hat,  wie  es  jetzt  in  den  Vereinigten  Staaten  die 
BaumwollenproducTion  ist,  Avelche  eine  Abschaffung  jener  unnatür- 
lichen Institution  verhindert.  Erst  im  Jahre  1659  wurden  die 
ersten  Zuckerraffinerien  in  Europa  angelegt,  und  in  England  bestand 
noch  im  Jahr  1700  der  ganze  Zuckerverbrauch  in  20  Mill.  Pfund 
oder  etwa  4  Pfund  auf  den  Kopf.  Jetzt  werden  in  England  28, 
in  Frankreich  8,  im  Zollverein  6,  in  Belgien  8,  in  Dänemark  11, 
in  den  Niederlanden  10  und  in  Oesterreich  etwa  3  Pfund  Zucker 
jährlich  auf  den  Kopf  verzehrt.  4500  Mill.  Pfund  Zucker  werden 
jährlich  auf  der  Welt  aus  Rohr,  und  500  Mill.  aus  Rüben  erzeugt 
und  verbraucht. 

Es  sind  wiederum  die  Araber ,  welche  vor  uns ,  neben  der 
Kenntniss  von  Zubereitung  der  Schwefelsäure,  der  Salpetersäure 
und  des  Scheidewassers,  mit  dem  alkohoHschen  Gährungsprocesse 
^  ertraut  waren.  Der  Branntwein  ist  ein  wichtiges  und,  wenn  massig 
genossen,  für  nördliche  Völker  ein  sehr  heilsames  Nahrungsmittel. 
Welche  Verheerungen  aber  hat  er  angestiftet,  als  er  in  südliche 
Breiten  drang!  Die  Urbevölkerung  Amerika's,  Afrika's  und  der 
Südsee  hat  furchtbar  durch  diese  Vergiftung  gelitten.  Um  Brannt- 
wein haben  die  rothen  Indianer  ihre  Jagdgebiete  verkauft,  um 
Branntwein  werden  noch  heutigen  Tages  die  kostbaren  Pelzthiere 
im  nördlichen  Amerika  schonungslos  von  den  amerikanischen 
Jägern  vertilgt,  Branntwein  ist  eine  Rimesse  für  schwarze  Sklaven, 
Branntwein  hat  manche  idyllische  Zustände  der  oceanischen  Insel- 
welt verderbt  und  geschändet. 

Als  das  erste  Schiff,  welches  die  Reise  um  die  Welt  vollendete, 
nämlich  die  Vittoria  unter  Elcano  vom  Geschwader  des  Magellan, 
in  Sevilla  ankam  und  in  directer  Fahrt    von   den  Bandainseln  die 

Peschel,  Abhandlungen.    II.  iS 


2  74  ^"'"  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

köstlichen  indischen  Gewürze  mitbrachte,  erregte  diese  kaum  ge- 
hoffte glückliche  Erreichung  sehnsüchtiger  Wünsche  bei  manchem 
Kopfe  Bedenken.  Aus  den  Berichten  der  Zeitgenossen  kann  man 
sehen,  mit  welcher  Freude  und  Bangigkeit  zugleich  das  Schiff 
empfangen  wurde.  Eine  Muscatnuss  wurde  zum  erstenmal  mit 
Blatt  und  Stiel  an  den  spanischen  Hof  gebracht  und  ging  be- 
wundert von  Hand  zu  Hand  durch  den  Kreis  der  Damen  und 
Cavaliere,  welche  die  Frucht  mit  Nase  und  Auge  bewunderten, 
denn  noch  nie  vorher  hatte  man  das  längst  gekannte  Gewürz  als 
Frucht  an  Zweig  und  Blatt  zu  sehen  bekommen.  Wie  soll  das 
aber  werden ,  fragte  man  sich ,  wenn  die  ehemals  so  theuern  Ge- 
würze jetzt  wohlfeil  werden,  vom  Palast  zum  Bürgerhaus,  von 
diesem  zur  Hütte  ihr  Genuss  sich  verbreitet?  Es  wird,  so  fürch- 
tete man,  ein  verweicWichtes  Geschlecht  heranwachsen  und  der 
Untergang  des  persischen  und  des  römischen  Reiches  steht  der 
lateinischen  Christenheit  bevor. 

Nichts  von  allen  diesen  Befürchtungen  ist  bis  jetzt  eingetreten. 
Wir  haben  zu  den  uralt  einheimischen  geistigen  Getränken ,  als 
Bier  imd  Wein,  noch  Branntwein ,  Thee ,  Kaffee,  Chocolade ;  wir 
haben  einen  starken  Verbrauch  von  Zucker  und  allen  möglichen 
alten  und  neuern  Gewürzen  in  unsere  tägliche  Consumtion  auf- 
genommen, und  unter  dem  Einfluss  dieser  Nahrungsmittel  haben 
gleichwohl  die  europäischen  Völker  zwei  neue  Welttheile  bevölkert, 
und  alle  zur  See  erreichbaren  Nationen  entweder  sich  unterworfen 
oder  in  irgend  eine,  wenn  auch  nur  materielle,  Abhängigkeit  gebracht. 
Es  giebt  aber  auch  jetzt  noch  gar  manches  furchtsame  Gemüth, 
welches  mit  einer  Art  Scheu  eine  solche  „unnatürliche"  Ernährung 
betrachtet.  Unter  unnatürlich  versteht  man  in  der  Regel  alles, 
was  die  Natur  nicht  freiwillig  gewährt.  Unnatürlich  in  diesem 
Sinne  wäre  es  aber  auch,  den  Wein  von  Bordeaux,  der  Pfalz  und 
des  Rheingaues  zu  trinken ,  denn  die  Rebe  verdankt  ihre  dortige 
Acclimatisirung  nur  künstlicher  menschlicher  Pflege.  Ja  selbst 
unsere  Brodfrüchte  sind  nicht  heimisch,  nicht  in  Deutschland,  nicht 
einmal  in  Europa;  sie  würden  wild  nicht  fortkommen,  ja  sie  sind 
zwar  in  verwildertem,  aber  noch  nie  in  wildem  Zustande 
irgendwo  angetroffen  worden.  Unsere  Halmfrüchte  verlangen  eine 
besondere  Bearbeitung  des  Bodens  und  obendrein  noch  Düngung. 
Diese  Cultur  ist  also  ein  überaus  künstlicher  Process,  und  dennoch 
hat  sich  die  Bevölkerung  Europa^s  fortschreitend  vermehrt.     Ja  es 


Ueber  die  Veränderungen  in  der  Ernährung  der  europäischen  Völker  etc.     275 

scheint  beinahe ,  als  wolle  die  Natur  uns  lehren ,  dass  gerade 
da,  wo  irgend  eines  ihrer  Erzeugnisse  besondere  Pflege  des 
Menschen  verlangt,  es  am  herrlichsten  gedeihe.  Die  köstlichen 
Gemüse ,  die  jetzt  allenthalben,  wo  sich  der  Gartenbau  gehoben, 
.so  schmackhaft  und  in  solcher  kolossalen  Grösse  erzeugt  werden, 
verdanken  wir  nur  der  höchsten  Kunst  und  sorgsamsten  Pflege. 
Die  Orangen  sind  da  am  süssesten,  wo  die  Bäume  noch  in  der 
kalten  Jahreszeit  zugedeckt,  und  die  köstlichsten  Weintrauben  fand 
Alex.  V.  Humboldt  in  Astrachan,  wo  sie  vor  der  vollen  Härte  des 
russischen  Winters  geschützt  werden  müssen.  So  erringt  auch 
der  Mensch  die  höchsten  geistigen  und  physischen  Fähigkeiten  an 
der  Nordgränze  der  gemässigten  Zone,  obgleich  er  erst  aus  tiefen 
Schachten  den  Stoff  holen  muss,  dessen  Verbrennung  die  sehr 
„natürliche"  Temperatur  des  Winters  mildern  muss.  Wir  sind  in 
diesem  Sinne  sämmtlich  Treibhauspflanzen,  und  eben  weil  wir  es 
sind,  weil  unsere  physische  Pflege  weit  höhere  Anstrengungen 
verlangt  als  die  ,, süsse  Gewohnheit  des  Daseins"  in  einer  schwe- 
benden Hängematte,  unter  dem  Schatten  der  Cocospalme  oder  des 
Brodfruchtbaumes  —  eben  desswegen  sind  wir  die  Herren  der 
Welt  und  unser  Europa  die  Metropole  des  menschlichen  Geschlechts. 

Erst  in  neuerer  Zeit  aber  ist  es  gelungen,  den  wissenschaft- 
lichen Beweis  zu  führen ,  dass  alle  jene  Nahrungsmittel ,  die  wir 
bisher  rein  wegen  ihrer  Fremdartigkeit  für  schädHch  hielten,  unsern 
Organismus  nicht  nur  nicht  stören,  sondern  ihm  sogar  Wohlthaten 
erzeugen.  Es  giebt  nichts  gesünderes  als  das  Theetrinken,  voraus- 
gesetzt,  dass  der  Thee  selbst  gesund  oder  rein  sei. 

Wenn  wir  von  Thee  sprechen,  so  meinen  wir  nicht  bloss  jene 
Blätter,  die  in  China,  und  seit  ein  Dutzend  Jahren  am  Südabhang 
des  Himalaya  in  Assam  und  Nepal  erzeugt  werden,  sondern  auch 
den  Paraguaythee ,  der  in  Südamerika,  den  Appalachan-,  den  Os- 
wego-  und  den  Labrador-Thee ,  welchen  die  rothen  Indianer  aus 
den  Blättern  einheimischer  Gewächse  sich  bereiten.  Wir  rechnen 
ferner  dazu  den  Thee,  welchen  die  farbigen  Bewohner  von  Su- 
matra aus  den  Blättern  der  Kafifeestaude  erzeugen.  So  haben 
unter  verschiedenen  Breiten  und  Längen  die  verschiedensten  Völker 
instinctartig  ein  Nahrungsmittel  aufgesucht,  welches  unseren  Körper 
ausserordentlich  zu  erquicken  und  zu  erfrischen  vermag.  Der 
Chemiker  aber  hat  später  nachgewiesen,  dass  alle  diese  Theesorten 
chemisch  einander  sehr  nahe  stehen.     Die  frisch  gepflückten  Thee- 


2'nS  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

blätter  haben  weder  einen  zusammenziehenden  Geschmack  noch 
einen  aromatischen  Geruch.  Beides  erhalten  sie  erst  nach  dem 
Rösten.  Die  Theeblätter  enthalten  so  viele  nährende  Substanzen, 
dass  wir  uns,  wenn  wir  sie  als  Gemüse  essen  wollten,  davon  mit 
demselben  Erfolge  wie  von  Bohnen  oder  Erbsen  nähren  könnten. 
Die  charakteristischen  Stoffe,  welche  das  Theeblatt  enthält,  sind 
ein  flüchtiges  Oel,  zweitens  das  sogenannte  Them  und  die  Gerb- 
säure. Die  Gerbsäure  ist  es,  welche  dem  Thee  seine  Farbe  giebt. 
Sie  löst  sich  im  Wasser  langsamer  als  das  Oel  und  das  Thein. 
Diese  beiden  Stoffe  werden  sehr  rasch  aufgelöst,  und  wenn  man 
daher  den  Thee  ,, länger  ziehen"  lässt,  so  bemächtigt  man  sich 
fast  nur  der  noch  ungelösten  Gerbsäure.  Diese  giebt  dem  Thee 
einen  zusammenziehenden  Geschmack  und  ist  wahrscheinlich  eine 
völlig  gleichgültige  Substanz,  insofern  sie  keinen  Einfluss  auf  die 
ermunternden  Wirkungen  jenes  Labsals  hat ,  obgleich  auch  eine 
andere  Ansicht  darüber  vertheidigt  werden  kann.  Gerbsäure  ge- 
winnt man  aus  Eichenrinde  und  benutzt  sie  bekanntlich  als  Lohe 
bei  der  Lederbereitung.  Unser  Magen  wird  daher  einem  ganz, 
ähnlichen  Processe  ausgesetzt,  wenn  wir  im  Thee  viel  Gerbsäure 
trinken.  Er  wird  buchstäbHch  gegerbt,  und  eine  Folge  davon  ist 
es,  nach  der  Ansicht  mancher  Chemiker,  dass  leidenschaftliche 
Theetrinker,  wie  die  Engländer,  ihre  Suppen  so  höllisch  würzen, 
und  Senf,  Pfeffer,  Salz  etc.  in  solchem  Uebermass  verbrauchen. 
Dass  aber  wirklich  Gerbsäure  in  unserer  Theekanne  enthalten, 
davon  kann  sich  jedermann  leicht  überzeugen.  Die  Galläpfel  ent- 
halten nämlich  wie  der  Thee  Gerbsäure,  und  Gerbsäure  mit  einer 
Lösung  aus  Eisenvitriol  giebt  unsere  Tinte.  Man  braucht  daher 
nur  in  einen  braunen  Theeaufguss  etwas  Eisenvitriollösung  zu 
giessen ,  so  erhält  man  eine  ganz  brauchbare  Tinte.  In  hundert 
Loth  Thee  ist  ein  Loth  Theeöl  enthalten,  ein  flüchtiger  Bestand- 
theil,  dem  das  Arom  und  der  Geschmack  des  Thees  im  hohen 
Grade  eigen  ist.  Wahrscheinlich  ist  diesem  Oel  die  narcotische 
Wirkung  des  Thees  zuzuschreiben.  Dieses  Oel  ist  es ,  welches 
den  Theekostern  Kopfschmerz  und  Schwindel  verursacht  und  wess- 
halb  der  frische  Thee  eine  eigenthümliche  berauschende  Wirkung 
hat.  Die  Chinesen  lassen  aus  Vorsicht  den  Thee  immer  ein  Jahr 
alt  werden,  so  dass  sich  ein  Theil  dieses  Oeles  verflüchtigen  kann. 
Ein  Jahr  und  mehr  als  dieses  muss  nothwendig  ^•erstrichen  sein, 
ehe  der  Thee  in  unsere  Haushaltungen  gelangt,  so  dass  wir  jenes 


Ueber  die  Veränderungen   in  der  Ernährung  der  europäischen  Völker  etc.     2  7  7 

Oel  nicht  mehr  zu  fürchten  haben.  Weit  merkwürdiger  noch  als 
das  Oel  und  die  Gerbsäure  ist  die  Anwesenheit  eines  Stoffes, 
welchen  die  Theeblätter  enthalten,  und  den  man  Thein  nennt. 
Trocknet  man  einen  hellen  Theeaufguss  in  der  Wärme  ein,  so 
erhält  man  einige  farblose  Krystalle.  Diese  Krystalle  sind  das 
Thein,  wovon  die  Blätter  etwa  2  Loth  in  jedem  Hundert  enthalten. 
Dieses  Thein  besteht  aus  50  Theilen  Kohlenstoff,  29  Theilen 
Stickstoff,   16  Theilen  Sauerstoff  und  5  Theilen  Wasserstoff. 

Das  quantitative  Verhältniss  in  dieser  Verbindung  hat  fiir  den 
Chemiker  einiges  Interesse,  uns  aber  ist  das  Thein  durch  einen 
andern  Umstand  merkwürdig.  Es  findet  sich  nämlich  nicht  bloss 
im  chinesischen  Thee,  sondern  auch  im  Kaffee,  im  Paraguay-Thee 
und  im  brasilischen  Guaranabrod,  eine  aus  dem  Samen  der  Paul- 
linia  austrahs  bereitete  Chocolade.  Der  ächte  Cacao  (Theobroma 
cacao)  enthält  statt  des  The'ins  einen  Stoff,  den  man  Theobromin 
genannt  hat  und  der  ähnlich  wie  das  Thein  zusammengesetzt  ist, 
nur  dass  er  sieben  Hunderttheile  mehr  Stickstoff  und  verhältniss- 
mässig  weniger  von  den  drei  andern  Bestandtheilen  besitzt.  Instinct- 
artig  also  hat  in  Brasilien,  in  Centralamerika,  in  Nordamerika, 
in  Abyssinien  und  in  China  die  Urbevölkerung  ein  vegetabilisches 
Product  entdeckt,  und  als  Nahrungsmittel  in  Gestalt  von  Thee, 
Kaffee,  Chocolade  zubereitet,  welches  denselben  wunderbaren  Stoff, 
nämlich  das  Thein  und  das  Theobromin  enthielt,  und  wodurch 
in  den  Augen  des  Chemikers  der  Thee  erst  recht  zum  Thee,  der 
Kaffee  zum  Kaffee,  der  Cacao  zum  Cacao  wird,  denn  alle  ihre 
übrigen  Bestandtheile  finden  sich  allenthalben,  das  Thein  aber 
gehört  ihnen  als  specifisches  Merkmal.  Das  Thein  soll  sogar,  wie 
wir  bereits  oben  bemerkt  haben,  in  den  Kaffeeblättern  vorhanden 
sein,  welche  den  Farbigen  auf  Sumatra  den  chinesischen  Thee  zu 
ersetzen  vermögen. 

Die  Chemie  aber  ist  nicht  dabei  stehen  gebUeben,  uns  über 
die  Richtigkeit  der  menschlichen  Instincte  und  ihre  Ueberein- 
stimmung  in  der  Wahl  der  Nahrungsmittel  an  so  verschiedenen 
Orten  aufzuklären,  sondern  sie  hat  uns  auch  über  die  wohlthätigen 
Folgen  dieser  scheinbar  so  „künstlichen"  Genussmittel  belehrt. 
Man  kann  vom  Kaffee  und  noch  mehr  vom  Thee,  vor  allem  aber 
\om  Cacao  behaupten ,  er  sei  nahrhaft ,  denn  er  enthält  ja  jene 
Bestandtheile,  die  wir  theils  zur  Blutbildung,  theils  zum  Athmungs- 
i)rocess    bedürfen.     Allein  wenn    sich   in  hundert   Loth  Thee   nur 


278  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

zwei  Loth  Thein  befinden ,  so  wird  man  finden ,  dass  davon  in 
einer  Tasse  kaum  Vsoo  ^^^  V400  Loth  sich  aufgelöst  finden  kann. 
Was  also  der  Thee  oder  der  Kaffee  zur  directen  Ernährung  bei- 
trägt, ist  ausserordentlich  gering.  Desto  merkwürdiger  und  einfluss- 
reicher sind  die  mittelbaren  Wirkungen. 

Der  menschliche  Körper  ist  bekanntlich  in  fortdauernder  Zer- 
setzung und  Erneuerung  begriffen.  Er  ist  wie  ein  Ofen ,  der  be- 
ständig geheizt  werden  will.  Wir  führen  ihm  in  der  Nahrung 
Brennstoffe  zu,  die  durch  den  Zutritt  der  atmosphärischen  Luft" 
buchstäblich  verbrannt  werden,  und  deren  gasartige  Verbrennungs- 
producte  wir  in  Gestalt  von  Kohlensäure  wieder  ausathmen, 
während  die  Schlacken  oder  Rückstände  auf  anderem  Wege  fort- 
geschafft werden.  Ausserdem  aber  verbrauchen  wir  täglich  und 
beständig  einen  Theil  der  in  Fleisch,  Blut  und  Knochen  ver- 
wandelten Nahrungsmittel,  und  diesen  Verbrauch  müssen  wir  neu 
ersetzen.  Diese  zersetzten  Theile  werden  im  Urin  abgeführt ,  und 
je  mehr  im  Urin  Harnstoff  und  Phosphorsäure  enthalten  ist, 
in  demselben  Verhältnisse  darf  man  sagen,  ist  die  Zersetzung 
unserer  Körperbestandtheile  rasch  oder  langsam  fortgeschritten. 
Ein  Theil  unseres  physischen  Ichs  wird  uns  beständig  entzogen, 
und  dieser  Theil  findet  sich  haui^tsächlich  im  Urin.  So  stellt 
der  Mensch  eigentlich  ein  fortwährendes  lebendiges  Subtractions- 
und  Additionsexempel  dar,  während  sich,  so  lange  dieses  irdische 
Leiden  dauert,  die  täglichen  neuen  Bildungen  und  Ausscheidungen 
die  Wage  halten.  Wenn  wir  nun  eine  Medicin  besässen,  welche 
diesen  Process  vermindern  oder  aufhalten  würde,  so  bedürften  wir 
weniger  '  Nahrung ,  denn  wir  nehmen  eben  nur  die  Nahrung 
um  die  täglich  durch  das  Leben  selbst  erlittenen  innern  Verluste 
an  Muskelfasern  oder  überhaupt  an  den  stickstoffhaltigen  Ge- 
weben unseres  Körpers  zu  ersetzen.  Eine  solche  Medicin  ist  aber 
im  Thee,  Kaffee,  Cacao  etc.  enthalten.  Man  hat  nämlich  gefun- 
den, dass  in  Folge  des  Genusses  von  Thee,  Kaffee  und  der  ver- 
wandten Nahrungsmittel  die  Menge  der  im  Urin  enthaltenen  zer- 
setzten Körpertheile  sich  vermindere,  oder  mit  anderen  Worten, 
dass  dieser  innere  Zersetzungsprocess  langsamer  erfolge.  Es  kommt 
aber  auf  eins  hinaus,  ob  wir  bei  grössern  Verlusten  mehr  Nahrungs- 
mittel zum  Ersatz  zu  uns  nehmen  oder  durch  Verminderung  dieser 
Verluste  eine  geringere  Menge  Nahrungsmittel  bedürfen.  Nun 
kommt    aber   im  Alter    eine  Zeit,    wo   der  Magen    nicht    mehr  so 


Ueber  die  Veränderungen  in  der  Ernährung  der  europäischen  Völker  etc.       27g 

viel  Nahrungsmittel  verdauen  kann,  um  jene  täglichen  innern  Ver- 
luste zu  ergänzen.  Der  Körper  zehrt  dann  vom  Capital  und  ver- 
liert täghch  mehr  an  Umfang  und  Gewicht.  '  In  dieser  Zeit  erweisen 
jene  Getränke  ihre  höchsten  Dienste,  denn  sie  vermindern  die 
Geschwindigkeit  des  Verfalls,  die  sonst  nichts  mehr  aufzuhalten  ver- 
mag. Diese  Wirkungen  vermögen  schon  durch  3 — 4  Gran  Thein, 
welche  etwa  in  einem  Loth  Thee  enthalten  sind,  täglich  erzeugt 
zu  werden.  Es  hat  sich  aber  gefunden,  dass  man  über  einen 
täglichen  Verbrauch  jener  Menge  The'ins  nicht  hinausgehen  darf, 
weil  sich  dann  der  Pulsschlag  beschleunigt,  die  Einbildungskraft 
überreizt ,  und  ein  Zustand  erzeugt  wird ,  der  an  Berauschung  gränzt. 

Wenn  wir  nun  gewahren,  dass  Zufall  und  Erfahrung  den 
Menschen  auf  so  wunderbare  Nahrungsmittel  geführt  haben,  so 
sollten  wir  auch  diesem  Instinct  vertrauen,  welcher  in  allen  Theilen 
der  Erde  die  verschiedensten  Völker  an  narcotische  Genussmittel 
gewöhnte.  Namentlich  hat  der  Tabak  seit  dem  Ende  des  16.  Jahr- 
hunderts einen  Eroberungszug  durch  die  ganze  Welt  angetreten. 
Das  Tabakrauchen  war  den  Völkern  von  Nordamerika,  der  An- 
tillen, der  Küsten  des  caraibischen  Golfes  bekannt,  es  war  aber 
noch  nicht  bis  nach  Peru  gedrungen,  als  die  Spanier  dort  einfielen, 
ein  wichtiger  Beweis ,  dass  kein  Verkehr  zwischen  den  Cultur- 
reichen  Amerika's  über  und  unter  dem  Aequator  in  der  Zeit  vor 
der  Entdeckung  bestanden  hat.  Man  hat  Tabakspfeifen  in  Grab- 
mälern  auf  dem  Unionsgebiet  gefunden,  die  mit  tausendjährigen 
Bäumen  bewachsen  waren.  So  weit  reicht  das  Alterthum  des 
Tabakrauchens  in  die  Geschichte  hinauf.  Die  besten  Autoritäten 
unter  den  Aerzten  haben  bis  jetzt  sich  dahin  ausgesprochen,  dass 
das  massige  Tabaksrauchen  der  Gesundheit  nicht  schädlich  sei. 
Auch  der  Tabak  ist  ein  Nahrungsmittel  im  weitern  Sinne,  insofern 
er  den  Hunger  zu  vertreiben  vermag. 

Herr  Porter  hat  im  Jahre  1850  ausgerechnet,  dass  das  eng- 
lische Volk  etwa  24  Mill.  Pfund  für  Branntwein,  24  Mill,  für  Bier  und 
71/2  Mill.  für  Tabak,  also  beinahe  57  Mill.  Pfund  Sterling  für 
solche  extravagante  Nahrungsmittel  ausgebe,  mehr  also  als  die 
britischen  Staatsausgaben  in  Normaljahren  betragen  und  mehr  als 
die  Hälfte  des  gesammten  britischen  Bedarfs  an  Brodfrüchten, 
selbst  wenn  der  Quarter  Weizen  60  statt  50  Sh.  gelten  solle. 
Allem  Vermuthen  nach  geben  die  arbeitenden  Classen  in  England 
den  dritten  Theil  ihres   Verdienstes   für   solche    Genussmittel   aus. 


2  8o  ^^^'^  mathematischen  und   physischen  Geographie. 

Man  weiss  aber  auch,  dass  in  Indien,  wo  durchschnitdich  im  Jahr 
mit  einem  Sixpence  (i8  kr.)  per  Kopf  die  Kosten  für  Bekleidung 
bestritten  werden ,  der  Aufwand  für  narcotische  Genussmittel  das 
zweite  grösste  Item  in  den  Haushaltungen  bildet. 

Diese  grossen  Veränderungen  in  Kost  und  Nahrung  der  euro- 
päischen Völker,  welche  seit  300  Jahren  eingetreten  sind,  müssen 
nothwendigerweise  auf  den  physischen  Zustand  von  Einfluss  ge- 
wesen sein.  Wir  wissen  nicht,  ob  dieser  Einfluss  ein  günstiger 
oder  ungünstiger  gewesen  sein  mag.  Dürften  wir  nach  der  Ent- 
wickelung  der  politischen  Kraft,  nach  der  Bereicherung  unserer 
Kenntnisse  und  unseres  Wissens,  nach  den  grossartigen  materiellen 
und  geistigen  Fortschritten  urtheilen ,  so  wäre  die  Frage  leicht  zu 
entscheiden.  WissenschaftUch  aber  können  das  Problem  nur  der 
Chemiker  und  der  Physiolog  gemeinsam  lösen,  und  im  Resultate 
einer  Analyse  möchte  leicht  eine  Offenbarung  hegen ,  die  einen 
Verfall  oder  eine  höhere  Entwickelung  dieses  Geschlechtes  uns 
drohen  oder  verheissen  würde. 


9.    Ueber  das    gegenwärtige    Wissen  von 
den  Erdbeben. 

(Ausland    1869.     Nr.   47.     20.    November.) 

Bei  Gelegenheit  der  kürzlichen  Erdstösse  im  Rheinthal  sind 
Aeusserungen  mit  Zuversicht  ausgesprochen  worden,  die  uns  deut- 
lich bewiesen  haben,  dass  selbst  der  gebildete  Theil  unter  uns 
schlimmer  daran  ist,  als  der  ungebildete,  der  gar  nichts  weiss, 
nämhch  dass  er  von  dem  Irrthum  beherrscht  wird,  als  müsse 
früher  oder  später  ein  Vulkan  nahe  am  Sitze  oder  dem  Focus 
des  Erdstosses  ausbrechen.  Von  vornherein  möchten  wir  daher 
jedem  rathen,  alles,  was  er  über  die  Erschütterungen  unseres  Pla- 
neten zu  wissen  glaubte,  mit  einem  Schwamm,  wenn  diess  mög- 
lich ist,  auszulöschen,  und  zuerst  mit  dem  Geständniss  zu  beginnen, 
dass  wir  gar  nichts  wissen,  oder  wenigstens  erst  zu  wissen  an- 
fangen. Eine  strenge  Untersuchung  jener  Erscheinungen  fand  erst 
in  der  Zeit  von  1858 — 1862  statt,  und  wir  verdanken  sie  dem 
Briten  Mallet,  der  sich  Ende  Januars  1858  nach  den  schweren 
Erschütterungen  Calabriens  am  16.  December  1857  nach  dem 
Schauplatz  der  Verheerungen  begab.  Das  calabrische  Erdbeben 
ist  das  erste,  welches  methodisch  beobachtet  wurde,  und  mit  ihm 
beginnt  unsere  Kenntniss. 

Erdbeben  können  absichtlich  hervorgerufen  und  überwacht 
werden.  Jeder  Schlag  des  grossen  Hammers  in  der  Krupp'schen 
Gussstahlfabrik  bei  Essen  ruft  ein  Erdbeben  hervor.  Der  Schlag 
ist  so  heftig,  dass  Gebäude  auf  beträchtlichem  Abstand  von  dem 
Hammer  beschädigt  wurden.  Jeder  Schuss  aus  einem  Belagerungs- 
geschütz, jede  springende  Mine  in  einem  Bergwerk  oder  einem 
Steinbruch  euzeugt  ein  Erdbeben,    ja  jeder  schwere  Wagen,    dei 


282  Zur  mathematischen   und  physischen   Geographie. 

durch  unsere  Strassen  rasselt,  erschüttert  unsere  Gebäude.  Durch 
eine  äusserst  empfindliche  optische  Vorrichtung  konnte  Mallet 
beobachten,  dass  eine  Quecksilberoberfläche  noch  auf  100  Schritt 
(yards)  vom  massigen  Schlag  eines  Hammers  auf  Gestein  und  auf 
50  Schritt  durch  Stampfen  des  Fusses  erschüttert  wird.  Als  im 
Jahre  18 10  von  der  bekannten  Shakespeare-Klippe  ein  Stück  ins 
Meer  sank,  wurde  in  Dover  eine  Erderschütterung  gespürt  wie 
von  einem  Erdbeben,  und  noch  viel  stärker  war  der  Stoss  im 
Jahre  1772,  in  Folge  einer  gleichen  Veranlassung.  Was  wir  also 
unter  Erdbeben  gewöhnlich  verstehen,  unterscheidet  sich  nur  durch 
die  Stärke  der  Erschütterung.  Wenn  man  auf  Sternwarten  an 
mächtigen  Instrumenten  ein  sonst  nicht  fühlbares  Schwanken  der 
Grundlage  beobachtet  hat,  während  kurz  zuvor  in  weiter  Ferne 
ein  Erdstoss  stattfand,  so  ist  diess  genau  das,  was  wir  erwarten 
dürfen.  Bleibt  ein  Fusstritt  50  Schritt,  ein  Hammerschlag  100 
Schritt  noch  an  einem  Quecksilberspiegel  bemerkHch,  so  wird  es 
von  der  Stärke  des  Stosses  abhängen,  ob  er  noch  auf  50  und  auf 
100  Meilen  gefühlt  werden  kann.  Es  ist  aber  ein  sehr  gefähr- 
licher Irrthum,  wenn  man  behaupten  wollte,  dass  der  Sitz  einer 
Erschütterung  sehr  tief  in  der  Erdrinde  gewesen  sein  müsse,  wenn 
sie  auf  sehr  grosse  Entfernungen  noch  bemerkt  werden  konnte. 
Wenn  also  nach  dem  Lissaboner  Erdbeben  der  Carlsbader  Strudel 
ein  paar  Tage  stockte,  so  wird  man  sich  denken,  dass  die  Er- 
schütterung, bis  nach  Carlsbad  fortgepflanzt,  irgendwo  \on  einer 
Spaltenwand  etwas  Erdreich  ablöste,  welches  den  Quellencanal 
verstopfte,  wie  durch  eine  ähnliche  Verschüttyng  von  Klüften  das 
Erdbeben  von  Riobamba  verursacht  haben  mag,  dass  der  Vulkan 
von  Pasto  am  4.  Februar  1797  plötzlich  aufliörte  Dampf  aus- 
zustossen. 

Die  Erschütterungen  pflanzen  sich  nach  Mallets  Versuclien 
bei  Entzündung  von  Minen  mit  ungleicher  Geschwindigkeit  fort, 
je  nach  der  Beschaffenheit  des  erschütterten  Bodens.  Bei  Sand 
war  die  Geschwindigkeit  825  Fuss  (feet),  bei  stark  zerklüftetem 
Granit  1306  und  bei  dichter  geschlossenen  Granitmassen  1665 
Fuss  in  der  Secunde.  Bei  dem  Lissaboner  Erdbeben  betrug  die 
Geschwindigkeit  der  Fortpflanzung  je  nach  den  verschiedenen 
Berechnungen  3^/3  bis  5V2  deutsche  Meilen  in  der  Minute,  also 
ähnlich  wie  obige  Ergebnisse. 

Die  Form  der  Bewegung  ist  die  einer  Welle  von  einer  äusserst 


Ueber  das  gegenwärtige  \Vis3en  von  den  Erdbeben.  283 

flachen  Wölbung  und  Vertiefung  sowie  grosser  Breite.  Das  beste 
Gleichniss  von  der  Gestalt  der  Bewegung  gewährt  ein  Kornfeld, 
dessen  Halme  vom  Wind  bewegt  werden.  Bei  der  letzteren  Er- 
scheinung muss  man  zweierlei  streng  unterscheiden ,  nämlich  die 
Bewegung  der  Aehrenwelle  über  das  Feld  und  die  Bewegung  der 
einzelnen  Aehre,  die  vollendet  ist,  wenn  sie  sich  beugt  und  wieder 
aufrichtet.  Die  Aehrenwelle  bewegt  sich  nämlich  viel  rascher  als 
die  einzelne  Aehre,  und  genau  so  ist  es  bei  Erdbeben;  denn 
während  sich  die  Stosswelle  sehr  rasch  fortsetzt  mit  der  halben 
Geschwindigkeit  einer  abgeschossenen  Kanonenkugel,  bewegt  sich 
das  einzelne  Körperchen,  durch  welches  die  Welle  hindurchgeht, 
vielleicht  nur  wie  ein  etwa  2 — 3  Fuss  tief  frei  fallender  Körper. 
Für  das  calabrische  Erdbeben  ermittelte  Mallet  eine  Geschwindig- 
keit der  Welle  von  1000  Fuss,  eine  Geschwindigkeit  der  Wellen- 
theilchen  von  nur  8  Fuss.  Die  Erdwelle  muss  sich  aber  durch 
verschiedene  Mittel  fortpflanzen  über  Ebenen  und  felsige  Gebirge, 
durch  Landseen  und  Meeresstücke.  Die  Wirkung  ist  daher  eine 
sehr  verschiedene.  Im  allgemeinen  darf  man  sagen,  dass  die  See 
stärker  aus  ihrem  Gleichgewicht  erschüttert  wird,  als  das  Land 
und  eine  Ebene,  die  ja  doch  nur  meist  aus  lockerem  Erdreich 
besteht,  mehr  als  ein  angränzendes  felsiges  Hochland.  Die  mäch- 
tigsten Wirkungen  treten  dann  ein,  wenn  eine  Erdstosswelle  erst 
über  eine  Ebene  gerollt  ist  und  ein  Massengebirge  erreicht.  Wird 
der  Gebirgskamm  dann  auch  nur  ganz  unmerklich  und  die  Ebene 
selbst  nur  sehr  massig  erschüttert,  so  treten  dafür  an  den  Rändern 
beider  Gebiete,  besonders  da,  wo  die  Ebene  am  Gebirgsabhang 
sich  aufrichtet,  die  schlimmsten  Störungen  ein,  wie  man  diess  l)ei 
dem  calabrischen  Erdbeben  von  1783  beobachtet  hat,  wo  alle 
weicheren  Erdarten,  die  auf  der  Granitachse  des  Gebirges  auf- 
lagerten, am  heftigsten  gestört  wurden. 

Wichtiger  noch  ist  Mallets  Verfahren  zur  Bestimmung  des 
Ursprungsortes  der  Bewegung,  oder  mit  anderen  Worten  des 
Herdes  der  Erschütterung.  Denken  wir  uns,  dass,  in  einem 
grösseren  Umkreise  um  den  Ausgangspunkt  des  Stosses  in  massi- 
gen Entfernungen  Obelisken  aufgestellt  wären,  so  werden  diese 
sämmtlich  in  der  Richtung  der  Erschütterung  umfallen,  und  zwar, 
wo  nicht  absonderliche  Verhältnisse  obwalten,  mit  der  Spitze  nach 
einwärts.  Man  braucht  also  nur  den  von  ihnen  angedeuteten 
Richtungen    zu    folgen,    so    wird    man    dort,    wo  sich    die   Linien 


* 
284 


Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 


schneiden,  an  der  Oberfläche  der  Erde  den  Punkt  finden,  von 
welchem  scheinbar  die  Erschütterung  ausging.  Mallet  begab 
sich  nun  auf  den  Schauplatz  der  calabrischen  Verheerungen,  und 
er  suchte  sich  diejenigen  umgestürzten  Bauwerke  aus,  welche  am 
unzweideutigsten  die  Richtung  des  Stosses  durch  ihre  Trümmer 
bezeugten.  Nun  entwarf  er  auf  einer  Karte  sechzig  Pfade  der 
Erschütterungswelle.  Sie  alle  führten  in  einem  Umkreis  von  2 
deutschen  Meilen ,  dessen  Mitte  die  Stadt  Caggiano  einnahm. 
Wiederum  vereinigten  sich  48  von  jenen  60  in  einem  concentri- 
schen  Kreis  von  i  deutschen  Meile  Durchmesser,  32  in  einem 
Kreise  von  etwa  10,000  Fuss  Durchmesser,  endlich  16  in  einem 
Raum  von  nur  500  Schritt  Durchmesser,  dem  Mittelpunkt  aller 
übrigen  Kreise.  Dort  lag  also  der  Focus  oder  Ausstrahlungspunkt 
an  der  Erdoberfläche, 

Allein  an  der  Erdoberfläche  selbst  durfte  nicht  der  Ausgangs- 
punkt gesucht  werden ,  sondern  in  der  Tiefe,  Bestände  unsere 
Erdrinde  aus  einer  ganz  gleichförmigen,  also  gleich  elastischen 
Masse,  und  erfolgte  der  erste  Stoss  irgendwo  in  der  Tiefe,  so 
müsste  sich  die  Stosswelle  in  concentrischen  Sphären  verbreiten- 
War   der    Sitz    des   Stosses    bei    A    (Fig.    i),    so   wird    die   Welle 


8     ^,.,^JU_J^^.,_3_ 

^r  f  e'   d'    c        4 

/   ■  e      d     e     f      (/ 

V 


zunächst  an  den  Kreisbogen  cc',  dann  dd',  dann  ee',  dann  ft"', 
dann  gg'  «anlangen.  Erst  bei  B  erreicht  sie  jedoch  die  Erdober- 
fläche als  senkrechter  Stoss,  bei  i  und  i'  schon  unter  beträcht- 
lichen Winkeln,  und  je  weiter  sie  sich  fortpflanzt  unter  immer 
spitzeren  Winkeln.  Fern  vom  Focus  werden  die  Stösse  beinahe 
horizontal  erfolgen.  Denken  wir  uns  aber,  dass  der  Stoss  von  C 
kam,  so  lehrt  die  Figur  selbst,  dass  dann  bei  i  die  Richtung  des 
Stosses  mit  der  Oberfläche  einen  viel    steileren  Winkel  bildet,    als 


Ueber  das  gegenwärtige  Wissen  von  den  Erdbeben. 


285 


wenn  der  Sitz  des  Stosses  bei  A,  also  seichter  gewesen  wäre.  Ist 
durch  die  vorausgehenden  Untersuchungen  der  Punkt  B  ermittelt 
worden,  der  senkrecht  über  dem  Focus  lag,  so  wird  man  nun 
Bauwerke,  z.  B.  Mauern  aufsuchen,  die  mit  der  Richtung  des 
Stosses  in  gleicher  Ebene  lagen,  wie  es  bei  Fig.  2  von  d  e  f  g 
vorausgesetzt  wird.  In  dieser  Mauer  werden  sich  senkrecht  zur 
Richtung  des  Stosses  parallele  Risse  hh'  und  ii'  zeigen,  und  eine 
einfache  Rechnung  lehrt  dann,  da  der  Winkel  B  h'  C  gefunden 
ist,  wie  tief  unter  B  der  Ursprungsort  des  Stosses  (A)  gelegen  sein 
muss.  Mit  anderen  Worten,  je  mehr  wir  uns  von  dem  Ort  B, 
Avo  der  Stoss  senkrecht  war,  entfernen ,  desto  mehr  werden  sich 
die  Risse  an  günstig  gelegenen  Bauwerken  einer  Horizontale  nä- 
hern.      Aus     26     Stossrichtungen    berechnete    Mallet    nacli    dem 


Austrittswinkel  die  Tiefe  des  Focus.  Die  grösste  dadurch  an- 
gezeigte Tiefe  war  49,359  Fuss  (2V32  d.  geogr.  Meilen),  allein 
bei  23  Stossrichtungen  blieb  die  Tiefe  geringer  als  43,284  Fuss 
{i'^^/'i2  d.  geogr.  Meilen);  18  Stossrichtungen  zeigen  fast  überein- 
stimmend 34,930  Fuss  oder  i^ie  d.  geogr.  Meilen,  und  diess  war 
jedenfalls  der  wahre  Ausgangspunkt  des  Stosses.  Die  geringste 
Tiefe,  die  gefunden  wurde,  betrug  beiläufig  16,705  Fuss.  Wir 
können  also  sagen,  dass  aus  einer  Tiefe  von  etwa  1^/2  deutschen 
Meilen  der  Stoss  erfolgte. 

Jetzt  woTwir  wissen,  in  welcher  Art  sich  der  Erdstoss  fort- 
pflanzt und  in  welcher  Tiefe  er  entsteht,  müssen  wir  versuchen 
aus  den  Spuren,  die  er  hinterlässt,  auf  die  Umstände  zu  schliessen, 


2  86  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

die  ihn  vielleicht  hervorbringen.  Die  ältere  Schule  der  Vulkanisten 
machte  von  den  Erdbeben  den  grössten  Gebrauch,  um  alle  Un- 
gleichheiten der  Erdoberfläche  zu  erklären.  Galt  es  in  Gebirgen 
ein  Thal  zu  öff"nen,  so  wurde  ein  Erdbeben  herbeigerufen,  sollte 
die  Hebung  eines  Landes  erklärt  werden,  so  mussten  die  Erdbeben 
helfen.  Namentlich  hiess  es,  dass  die  Westküste  von  Südamerika 
ruckweise  aus  dem  stillen  Meere  steige  imd  nach  jedem  Erdstosse 
wollte  man  einen  solchen  Ruck  beobachtet  haben.  Gewöhnhch 
beruft  man  sich  auf  das  P^rdbeben  bei  Talcahuano  an  der  chileni- 
schen Küste,  wo  von  Fit/:roy  und  Charles  Darwin  ein  Empor- 
rücken der  Küste  um  etliche  Fuss  beobachtet  worden  sei.  Die 
Aeusserungen  Darwins  und  Fitzroy's  schhessen  jedoch  alle  Zweifel 
nicht  aus.  Wenn  noch  bei  Sir  Charles  Lyell  zu  lesen  ist,  dass 
1822  die  Küste  bei  und  in  der  Nähe  von  Valparaiso  um  3 — 4 
Fuss  gehoben,  worden  sei,  so  gründet  sich  das  auf  Behau ptimgen 
einer  Mrs.  Graham.  .  Es  soll  auch  gar  nicht  geleugnet  werden, 
dass  die  Küste  dort  steige,  nur  dass  diess  nicht  nothwendig  ein 
Verdienst  von  Erdstössen  gewesen  sei.  Es  befand  sich  nämlich 
damals  gerade  in  Valparaiso  der  berühmte  Muschelsammler  Cum- 
ming,  also  ein  vortrefflicher  Naturforscher,  der  wohl  täglich  den 
Stand  des  Meeres  beobachtete,  und  dieser  konnte  nach  dem  Erd- 
beben kein  Wahrzeichen  von  einer  Hebung  des  Landes  oder  einer 
Aenderung  des  Meeresspiegels  wahrnehmen.  Weit  besser  beglau- 
bigt ist  eine  Erhebung  der  Küste  Neuseelands  um  ethche  Fuss 
bei  Wellington  am  23.  Januar  1855  in  Verbindung  mit  einer 
Senkung.  Unzählig  sind  überhaupt  die  Beispiele  von  Landsen- 
kungen während  und  in  Folge  eines  Erdbebens.  Selten  verläuft 
ein  grösseres  Erdbeben,  ohne  dass  wir  lesen,  es  habe  sich  an 
irgend  einer  Stelle  eine  vorher  niCht  gekannte  Vertiefung  mit 
Wasser  gefüllt  und  ohne  den  ohnehin  schon  heimgesuchten  Frank- 
furtern Besorgnisse  erregen  zu  wollen,  möchten  wir  nur  anführen, 
dass  es  viel  weniger  uns  überraschen  würde  zu  vernehmen,  die 
ehemalige  Bundeshauptstadt  sei  in  die  Erde  versunken,  und  es 
habe  sich  an  ihrer  Stelle  ein  See  gebildet,  als  dass  im  Rheinthal 
oder  den  angränzenden  Gebirgen  sich  irgend  ein  neuer  Vulkan 
erhoben  habe.  Liest  man  Sir  Charles  Lyell  über  die  Erdbeben, 
so  wird  er  fast  überall  uns  von  Thatsachen  kleiner  Erhebungen 
berichten,  und  liest  man  Gustav  Bischof,  so  wird  man  nur  von 
Senkungen  hören.     Senkungen  sind  in  der  That  die  vorwiegenden 


Ueber  das  gegenwärtige  Wissen  von  den  Erdbeben.  287 

Erscheinungen.  Beim  Lissaboner  Erdbeben  versank  der  Quai 
sammt  allen  Schiffen,  die  an  ihm  festlagen,  ins  Meer,  und  bald 
darauf  fand  man  an  der  nämUchen  Stelle,  erst  bei  hundert  Faden 
(600  Fuss)  Grund.  Bei  dem  calabrischen  Erdbeben  vom  Jahr 
1783»  welches  aus  949  Stössen  bestand,  denen  1784  noch  151 
nachfolgten,  bildeten  sich  nicht  weniger  als  215  Seen  und  Moräste. 
Bei  den  Erdbeben  in  Syrien,  China,  Cumana  und  Indien  wird 
uns  ebenfalls  von  Bildungen  neuer  Seen  und  Moräste  berichtet. 
Bei  dem  vorjährigen  Erdbeben ,  welches  Arica  verheerte ,  ist  die 
Stadt  Cotacachi  verschwunden  und  an  ihre  Stella  jetzt  ein  See 
getreten. 

Auf  diese  Erfahrungen  gestützt,  haben  nun  unsere  Jungnep- 
tunisten  Volger,  Mohr  und  vor  allem  Gustav  Bischof,  die  Erdbeben 
erklärt  durch  Einstürzen  von  Hohlräumen  in  der  Erde.  Dadurch 
erhielte  der  alte  Aristoteles  recht,  welcher  schon  bemerkt  hatte, 
dass  Erdbeben  in  höhlenreichen  Gegenden  am  häufigsten  auftreten. 
Dass  unterirdische  Wasser,  wenn  sie  das  Kalkgebirge  oder  ein 
Salzflötz  auflösen,  sowie  wenn  sie  zwischengeschaltete  Thonlager 
erweichen ,  zuletzt  einen  Einsturz  der  Decke  bewirken  müssen, 
darüber  darf  kein  Wort  der  Entgegnung  verloren  werden.  Wie 
uft  stösst  nicht  der  artesische  Bohrer  auf  Hohlräume  im  Erdinnern  ? 
Stürzen  dann  die  geogn ostischen  Stockwerke  in  die  Tiefe  hinab, 
so  muss  an  der  Oberfläche  ein  See  oder  Morast  entstehen,  die  uns 
gleichsam  eine  Abbildung  liefern  der  Hohlräume ,  welche  vorher 
in  der  Tiefe  vorhanden  waren.  Solche  Einstürze  können  aber 
recht  leicht  nur  die  mittelbare  Folge  eines  Erdbebens  sein ,  denn 
waren  Höhlungen  vorher  vorhanden  und  das  Gewölbe  zum  Ein- 
sturz reif,  so  bedurfte  es  nur  einer  geringen  Erschütterung  zum 
Verschütten.  Sehr  viele  Erdbeben  mögen  überhaupt  nichts  weiter 
sein  als  Einstürze  von  Höhlen,  wenn  es  immerhin  auch  schwierig 
bleibt,  sich  die  Hohlräume  plötzlich  ausgefüllt  zu  denken,  und 
nicht  vielmehr,  dass  sich  das  Hangende  allmählich  senkt  und  rutscht. 

Umgekehrt  ist  die  Hypothese  der  Vulkanisten,  die  Erdbeben 
durch  Bildung  von  stark  gespannten  Dämpfen  zu  erklären,  nicht 
mehr  haltbar.  Sie  dachten  sich  nämlich,  dass  Wasser  in  das  heisse 
Erdinnere  dringe,  dort  in  Dampf  sich  verwandle  und  dieser  seine 
Decke  emporhebe.  Diess  passt  auf  das  calabrische  Erdbeben  von 
1857  nicht,  denn  gesetzt,  die  Wärme  des  Erdinnern  wachse  fort- 
während um  I  °  F.  auf  60  Fuss  (feet),  so  erhält  man  folgende  Werthe. 


288  ^^^"^  mathematischen  und  physischen  Geographie. 


Spannung 

Tiefe  des  Erdbeben- 

Erdwärme 

des  Dampfes 

stosses. 

Fuss. 

Grade  Fahrenheit. 

Atmosphären 

Minimum    .     . 

•      16,705      . 

•      •     339-4      •      . 

.        •    7-85 

Mittel     .     .     . 

•      34,930      . 

.      .      643.1      .      . 

.       148.88 

Maximum    .     , 

.     49-359     • 

.      .     883.6      .      . 

.      684.11 

Wasserdampf  in  eine  Höhle  eingeschlossen,  hätte  selbst  unter 
der  oben  angenommenen  höchsten  Temperatur  nur  8550  Fuss 
Kalkfelsen  zu  heben  vermocht,  während  das  Minimum  der  Tiefe 
des  Focus  doch  16,705  Fuss  betrug.  Hebungen  bei  Erdbeben 
sind  daher  auf  diesem  Wege  nicht  zu  erklären.  Weit  besser  ist 
es  mit  Mallet  anzunehmen,  dass  sich  im  Innern  der  Erde  ein  Riss 
von  ganz  geringer  Mächtigkeit  bildete,  dieser  mit  Wasser  sich 
füllte,  welches  sich  in  hochgespannte  Dämpfe  verwandelte.  Den 
Riss  beim  calabrischen  Erdbeben  hat  Mallet  hypothesisch  berech- 
net. Er  begann  in  einer  Tiefe  von  etwa  einer  deutschen  Meile 
und  erstreckte  sich  weiter  abwärts  auf  i^/^  deutsche  Meilen,  nicht 
genau  senkrecht ,  sondern  mit  einer  Neigung  gegen  Südosten, 
auch  nicht  gerade  streichend,  sondern  gekrümmt  auf  etwa  2^/4 
deutsche  Meilen  Ausdehnung.  Die  Zeit,  die  zum  Auseinander- 
reissen  erforderlich  war,  betrug  mindestens  7  ^2  Secunden ,  kann 
aber  auch  32  gedauert  haben.  Der  Dampf  drückte  die  Wände 
auseinander  und  das  Erdbeben  pflanzte  sich  als  Welle  bei  Zusam- 
mendruck elastischer  Körper  fort. 

Wenn  die  Bildung  eines  Risses  oder  einer  Kluft  die  erste 
Veranlassung  der  meisten  Erdbeben  ist,  so  lässt  sich  aus  folgender 
Statistik  ersehen,  welche  Nebenursachen  sich  als  wirksam  zeigen. 
Milne  hat  nämhch  eine  Tafel  von  139  schottischen  und  116  eng- 
lischen Erdbeben  entworfen,  und  als  Durchschnitte  gefunden: 

Zahl  der  Erdbeben. 

Allgemeines  monatliches  Mittel  =  21.2. 

Mittel  der  Monate  von  März  bis  August  ==   16.1. 

Mittel  der  Monate  von  September  bis  Februar    =  26.3. 

Umfassende  Untersuchungen  dieser  Art  verdanken  wir  jedoch 
Perrey.  Auch  er  berechnete  bei  isländischen  und  skandinavischen 
Erdbeben ,  die  er  leider  zusammengeworfen ,  für  die  Sommerzeit 
von  April  bis  September  ein  monatliches  Mittel  von  14,5  ,  für  die 
Winterzeit  von  20,1.  EndHch  hat  er  nachgewiesen,  dass  die  Erd- 
beben häufiger   eintreten    in  den  Syzygien   (Neu-    und  Vollmonds- 


Ueber  das  gegenwärtige  Wissen  von  den  Erdbeben.  289 

Zeiten)  als  in  den  Quadraturen  (erstes  und  letztes  Mondviertel), 
ferner  häufiger  in  der  Erdnähe  des  jMondes  (Perige)  als  in  der 
Erdferne  (Apoge).  Endlich  ist  es  ein  Ergebniss  der  Erdbeben- 
Statistik,  dass  Erschütterungen  häufiger  eintreten,  wenn  der  Mond 
sich  im  Meridian  des  erschütterten  Gebietes  befindet. 

Diess  beweist  uns  deutlich ,  dass  die  Erdbeben  häufiger  sich 
einstellen  im  Winter,  weil  sich  die  Erde  in  Sonnennähe  befindet, 
überhaupt  bei  allen  Stellungen  von  Sonne  und  Mond,  die  an  dem 
erschütterten  Ort  die  Hebung  einer  Fluthwelle  bewirken  würden, 
wäre  nicht  festes  Land,  sondern  ein  schrankenloser  Ocean  dort 
vorhanden  gewesen.  Diese  unläugbaren  Thatsachen  haben  leider 
zu  dem  irrigen  Schlüsse  geführt,  dass  das  geschmolzene  Erdinnere 
(sein  Dasein  vorausgesetzt),  von  Ebbe  und  Fluth  bewegt  werde, 
ja  die  Schule  der  Vulkanisten  hat  sogar  in  dem  Zusammentreften 
von  Erdbeben  mit  jenen  theoretischen  Fluthzeiten  der  Erdrinde 
eine  Bestätigung  von  dem  heissflüssigen  Zustande  des  Erdinnern 
finden  wollen.  Der  richtigen  Deutung  begegnen  wir  bei  Sir  John 
Herschel  (About  volcanos  and  earthquakes  §  57).  ,,Die  Zugkräfte 
von  Sonne  und  Mond,  obgleich  sie  nicht  Ebbe  und  Fluth  in  der 
starren  Erdrinde  bewirken  können,  erzeugen  doch  das  Bestreben 
zu  solchen  Bewegungen  und  würden  sie  bei  einem  flüssigen  Zu- 
stande wirklich  hervorrufen."  "Wir  müssen  uns  also  die  Erd- 
schichten in  der  Umgebung  eines  Ortes,  dem  ein  Erdbeben  droht, 
im  Zustande  irgend  einer  Spannung  denken,  der  jedoch  die  Co- 
häsion  noch  nahezu  gewachsen  ist.  Irgend  eine  Dislocation  in 
der  Erdrinde  ist  bevorstehend,  tritt  daher  bei  einem  Gleichgewicht 
von  Kraft  und  Widerstand  noch  ein  fluthbildendes  Bestreben 
hinzu,  so  wird  das  Erdbeben  reif.  Bei  dem  letzten  Erdbeben  im 
Rheinthale  sind  wohl  die  Massenzugkräfte  von  Sonne  und  Mond 
nicht  betheiligt  gewesen,  denn  wenn  auch  der  Stoss  erfolgte  einen 
Tag  vor  Neumond  und  nahe  der  Zeit  einer  Erdennähe  des  Mon- 
des ,  so  stimmt  doch  wiederum  die  Tageszeit  nicht ,  denn  sonst 
hätten  die  beiden  Stösse  kurz  vor  oder  kurz  nach  den  Culmina- 
tionen  (Mittag  oder  Mitternacht)  eingetreten  sein  müssen. 

Die  Vertheilung  der  Erdbeben  über  die  Oberfläche  unseres 
Planeten  lässt  manches  ahnen  über  die  ersten  Ursachen  ihres 
Auftretens,  denn  gewisse  Gebiete  werden  beständig,  manche  selten, 
manche  gar  nicht  von  Erdbeben  heimgesucht.  Ueberall  wo  thätige 
Vulkane  liegen,     sind  die  Erdbeben  zahlreich,    auch    ist   es    nicht 

Peschfl,  Abhandlungen.  II.  19 


200  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

anders  zu  erwarten.  Die  Lava-,  Schlacken-  und  x\schenmäntel 
(Krater)  der  Vulkane  sind  durch  ausgefüllte  Spalten  (Gänge) 
strahlenförmig  durchsetzt.  Jede  Oeffnung  einer  solchen  Spalte 
geschah  gewaltsam  und  hatte  eine  Erschütterung  zur  Folge.  Die 
Beispiele,  dass  Lavenergüsse  ohne  Erschütterung  sich  vollziehen 
(Sandwichinseln) ,  sind  dagegen  ausserordentlich  selten.  Wo  es 
also  Vulkane  giebt ,  müssen  auch  Erdbeben  häufig  sein ,  es  wäre 
wunderlich,  wenn  es  anders  wäre.  Da  nun  die  Vulkane  entweder 
im  Meere  selbst,  auf  Inseln  oder  hart  am  Meere,  sehr  selten  bin- 
nenwärts  liegen,  so  folgt  schon  aus  diesem  Umstände,  dass  Erd- 
beben auf  Inseln  und  an  Küstenländern  häufiger  sein  müssen. 
Daher  haben  für  uns  die  Erdbeben  Siciliens  sowie  an  der  West- 
küste Italiens,  auf  den  griechischen  Inseln,  auf  Island,  auf  mehre- 
ren atlantischen  Archipelen,  längs  der  Westküste  von  Südamerika, 
auf  den  Sandwichinseln,  in  Neu-Seeland,  an  der  Küste  von  Neu- 
Guinea,  im  Bereich  der  Sunda-,  Banda-,  Molukken-  und  philippi- 
nischen Inseln,  selbst  in  Japan  und  den  andern  vulkanischen  Insel- 
kränzen Nordasiens  sammt  Kamtschatka  nichts  befremdendes. 

Erdbeben  suchen  auch  mit  Vorliebe  die  Stätten  erloschener 
Vulkane  heim.  Gewöhnlich  folgen  auf  den  Ausbruch  eines  Vul- 
kans ebenfalls  Erdbeben.  Diese  entstehen  wahrscheinlich  in  Folge 
der  Abkühlung,  denn  schwindet  die  Wärme ,  so  müssen  sich  die 
von  ihr  ausgedehnten  Felsmassen  zusammenziehen  und  in  Spalten 
zerklüften.  Dieser  Process  dauert  bei  der  geringen  Wärmeleitung 
der  Felsarten  und  bei  der  tiefen  Lage  der  Lavaseen  unter  einem 
vulkanischen  Gebiete  wahrscheinlich  durch  geologische  Zeitalter 
hindurch.  Ihm  verdankt  England,  das  in  früheren  Erdaltern 
vulcanisch  bewegt  wurde ,  seine  häufigen  Erschütterungen.  Das 
gleiche  gilt  von  der  vormals  vulkanischen  Auvergne,  von  den 
caspischen  Niederungen  in  der  Nähe  des  erloschenen  Elbrus,  von 
den  sibirischen  Gebieten  am  Baikal-See;  und  wenn  man  sich  für 
die  rheinischen  Erdbeben  nach  einer  Ursache  umsieht,  so  genügt 
wohl  ein  Blick  auf  eine  geologische  Karte,  die  uns  dort  eine  An- 
zahl erloschener  Feuerberge  zeigt.  Manche  erloschene  Vulkane 
haben  sich  aber  das  Erschüttern  der  Erde  völlig  abgewöhnt,  denn 
die  Insel  Mauritius  im  indischen  Ocean,  ein  altvulkanisches  Bau- 
werk, kann  seit  unbestimmbar  langer  Zeit  nicht  gezittert  haben, 
sonst  wäre  der  seltsame  Felsblock  auf  dem  Gipfel  des  Pierre  Botte 
längst  herabgestürzt. 


Ueber  das  gegenwärtige  Wissen  von  den  Erdbeben.  29 1 

Diess  alles  sind  vulkanische  Erdbeben,  welche  schon  ein  be- 
hutsamer Geognost  wie  Naumann  zum  Missvergnügen  Humboldt's, 
von  andern  Erdbeben,  die  er  plutonische  nennen  wollte,  gern  ge- 
sondert hätte.  Aber  auch  plutonische  dürfen  wir  sie  vorläufig 
noch  nicht  nennen ,  sondern  bloss  nichtvulkanische.  In  früheren 
Zeiten  konnte  freilich  Hofifmann  noch  wagen,  das  Erdbeben  in 
Syrien  mit  dem  Ausbruch  des  Jorullo  in  Mexico  in  ursächlichen 
Zusammenhang  zu  setzen,  aber  jetzt,  wo  wir  über  die  Flegeljahre 
des  Vulkanismus  hinaus  sind,  wird  ein  derartiger  Griff  nur  Heiter- 
keit erwecken,  denn  da  die  Erde  an  verschiedenen  Punkten  täglich 
mehreremal  erschüttert  wird  und  es  etliche  Vulkane  giebt,  die  be- 
ständig speien,  so  kann  man  sagen:  kein  Erdbeben  ohne  Vulkan- 
ausbruch, kein  Vulkanausbruch  ohne  Erdbeben. 

Erdbeben  treten  auf  fern  von  allen  Vulkanen.  Selbst  die 
calabrischen  Erdbeben  möchten  wir  zu  den  unvulkanischen  rech- 
nen, wie  die  Erschütterungen  Jamaica^'s,  sowie  die  von  Cumanä 
und  Caracas,  vor  allen  aber  die  syrischen  sowie  die  seltenen  ägyp- 
tischen, ferner  die  häufigen  in  Kleinasien  bei  Brussa,  im  Industhal 
(Run  of  Catch),  im  Innern  von  Persien,  in  Skandinavien,  in  der 
Schweiz,  das  Erdbeben  von  Lissabon,  endlich  vor  allen  die  uner- 
klärlichen Erschütterungen  der  Mississippi-Ebene,  die  in  der  Nähe 
von  Neu-Madrid  vorher  ungekannte  Seen  schufen.  Selbst  manche 
Erschütterungen  der  Andenketten  mögen  nicht  durch  vulkanische 
Kräfte  erregt  worden  sein,  sondern  nur  von  Einstürzen  geogno- 
stischer  Stockwerke  herrühren  ,  wie  schon  Boussingault  vermuthet 
hat.  Ueberhaupt  sind  Gebirge  jüngerer  Erhebung  wie  die  Anden 
und  die  westlichen  Alpen  eben  wegen  ihrer  Jugend  nichtvulkani- 
schen Erdbeben  sehr  ausgesetzt,  wie  sich  umgekehrt  Welttheile 
von  hohem  geologischen  Alter  grosser  Ruhe  erfreuen.  Das  öst- 
liche Südamerika  gehört  zu  den  erdbebenfreiesten  Ländern ;  frei- 
lich fehlen  ihm  auch  die  Vulkane  und  die  Beobachter,  welche  die 
Stösse  den  Zeitungen  melden  könnten.  In  Südafrika  kann  nach 
Livingstone's  Zeugniss  wegen  eigenthümlicher  Felsbildungen,  die 
mit  Einsturz  drohen,  seit  undenklichen  Zeiten  kein  Erdbeben  ge- 
herrscht haben;  auch  Australien  gehört  bis  jetzt  zu  den  friedfer- 
tigsten Planetenstellen.  Selbst  junges  Gebiet,  aber  dann  ohne 
Gebirge  oder  nur  von  sehr  alten  Gebirgen  durchzogen,  ist  gewöhn- 
lich   erdbebenfrei ,     denn    von    der    norddeutschen  Tiefebene    über 

19* 


2  02  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

das  europäische  Russland  und  Sibirien  bis  zum  Baikal -See,  wo 
erloschene  Vulkane  auftreten,  herrscht  der  tiefste  Erdfriede. 

Zusammengefasst  bedeuten  uns  alle  diese  Thatsachen,  dass 
Erdbeben  seltener  sein  werden,  i)  im  Abstand  von  thätigen  Vul- 
kanen, 2)  im  Abstand  von  vormals  thätigen  Vulkanen,  3)  im  Ab- 
stand von  dem  Erderschütterer  Poseidon,  also  im  Binnenlande, 
und  nicht  auf  Halbinseln,  Inseln  oder  Küstengestaden,  4)  im  Ab- 
stand von  jung  erhobenen  Gebirgen ,  überhaupt  auf  grösseren 
Tiefebenen  (obgleich  auch  sie  nicht  gänzlich  frei  sind),  5)  in  alten 
Erdtheilen  im  Gegensatz  zu  den  jüngeren. 

Vor  allem  erfordert  der  jetzige  Stand  der  Wissenschaft,  dass 
die  Vulkanisten  alle  Erdbeben,  die  auf  einem  nicht  vulkanischen 
Gebiete  auftreten  und  die  sie  zu  Gunsten  ihrer  Hypothese  con- 
fiscirt  hatten,  als  Streitgegenstand  wieder  herausgeben.  Jede  plötz- 
liche Störung  der  Lagerungsverhältnisse  muss  ein  Erdröhnen  der 
nächsten  Umgebung  hervorbringen,  jedes  plötzliche  Zerreissen  der 
Erdrinde  in  Klüfte  wird  eine  Erdwelle  erzeugen,  Spaltenbildungen 
aber  sind  denkbar  auch  ohne  heissflüssiges  Erdinnere  und  ohne 
jede  Betheiligung  vulkanischer  Kräfte. 


10.   Thäler  und  Seen  in  den  Schweizer 
Alpen. 

(Ausland   1870.     Nr.  28.     9.  Juli.) 

Vielleicht  erinnert  sich  irgend  ein  getreuer  und  günstig  ge- 
stimmter Leser  dieser  Wochenschrift  einer  „Ferienreise  nach  dem 
Mittelmeer",  oder  da  es  schon  fünf  Jahre  her  sind,  dass  sie  in 
diesen  Spalten  veröftentlicht  wurde,  eher  noch  aus  dem  vorigen 
Jahre  der  ,, Reise  über  den  Apennin."')  Im  vergangenen  Früh- 
sommer verlor  sich  der  Verfasser  nicht  so  weit  als  vormals  nach 
Süden,  sondern  hatte  sich  den  Ceresio  oder  Luganer  See  als  Ziel 
und  Rastplatz  ersehen.  Zu  dieser  Wahl  bestimmte  ihn  zunächst 
die  geographische  Neugierde,  dieses  wunderHch  gegliederte  Süss- 
wassergefäss  näher  zu  betrachten,  da  seine  Umrisse  aussehen,  als 
ob  noch  einmal  der  Corner  See,  zusammengeschweisst  mit  dem 
Lago  Maggiore,  aber  im  kleinen,  hätten  wiederholt  werden  sollen. 
Der  Ceresio  übte  jedoch  noch  eine  andere  Zugkraft,  so  oft  seine 
Umgebung  auf  der  unschätzbaren  Karte  der  Schweizer  Geologen 
(Studer ,  v.  Escher  u.  s.  w.)  gemustert  worden  war,  wegen  der 
Porphyre,  die  dort  mächtig  hervorbrechen.  Porphyr  fehlt  auf  der 
Xordseite  der  Schweizeralpen,  und  da  der  Ferienreisende  noch  nie 
ein  Porphyrgebiet  betreten  oder  vielmehr  früher  an  solchen  geo- 
gnostischen  Schaugerichten  ohne  Liebe  und  Verständniss  vorbei- 
geeilt war,  so  Hess  sich  dort  utile  dulci ,  das  heisst  auf  deutsch : 
das  Geologische  mit  dem  Angenehmen  verbinden. 

An  Naturreizen  ist  nämlich  der  Luganer  See  verschwenderisch 
ausgestattet,  und  er  kann  sich  darin  mit  seinen  beiden  Nachbarn, 


i)  Die  Berichte  über  beide  Reisen  folgen  weiter  ui 


2Q4  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

dem  Verbano  und  Lario,  vollständig  messen.  Der  erstere,  besser 
gekannt  als  Lago  Maggiore,  eröffnet  an  einer  einzigen  glanzvollen 
Stelle  grossartige  Blicke ,  sonst  sind  seine  Ufer  und  seine  Fernen 
ziemlich  alltäglich ,  um  nicht  zu  sagen  ermüdend.  Die  genuss- 
reiche Strecke  liegt  wie  allbekannt,  auf  dem  kurzen  Wege  von 
Laveno  nach  Baveno,  da  wo  die  beiden  Schenkel  des  Sees  zu- 
sammentreffen, wovon  der  eine  jedoch,  nämUch  das  Thal  der 
Simplonstrasse ,  grösstentheils  schon  durch  GeröUe  wieder  zuge- 
schüttet, nur  noch  wenig  mit  Wasser  erfüllt  wird.  Dort  über  drei, 
vier  und  fünf  vorliegende  kühn  geschwungene  Ketten,  sanft  ab- 
gestuft in  südUchem  Blau ,  wird  im  Hintergrund  die  Monterosa- 
gruppe  sichtbar,  worauf  Berlepsch  seine  Touristenkundschaft  in 
seinem  Reisehandbuche  vorzubereiten  vergessen  hat.  Dort  liegen 
auch  die  Eilande  der  Enttäuschungen,  die  der  Familie  Borromeo 
angehören,  und  zu  denen  auch  die  leider  dem  Wanderer  uner- 
lässliche  Isola  bella  (prononcez :  Isola  burlesca)  gezählt  wird. 
Eben  so  steigern  sich  die  Reize  des  Comer  Sees  nur  auf  einer 
kurzen  Strecke,  und  zwar  genau  auf  einer  dem  Lago  Maggiore 
homologen  Stelle,  nämlich  in  der  Tremesina,  da  wo  bei  Bellaggio 
der  See  sich  in  den  Arm  von  Como  und  Lecco  gabelt.  Genau 
die  nämliche  Erscheinung  wiederholt  sich  im  Rheinthal,  zwischen 
Ragatz  und  Sargans ,  nur  dass  dort  von  einem  ehemaligen  See, 
genau  so  geformt  wie  der  Comer  See  mit  zwei  Schenkeln ,  nur 
noch  der  eine ,  nämUch  das  erhabene  Becken  von  Wallenstadt 
noch  jetzt  von  Süsswasser  erfüllt  wird.  So  grossartige  Bilder  wie 
von  Tremezzo  und  Cadenabbia  am  Comer  See,  oder  auf  dem 
Borromeischen  Zwickel  des  Lago  Maggiore,  entfaltet  unser  Ceresio 
nirgends,  denn  man  muss  sich  an  den  Uferwänden  des  Luganer 
Sees  schon  hoch  erheben,  um  einen  Blick  auf  die  Schneeberge  der 
Centralkette  zu  gewinnen.  Dafür  aber  ist  der  Luganer  See, 
obgleich  höher  gelegen,  weit  südlicher  durch  seinen  Pflanzenwuchs 
als  der  Lago  Maggiore,  und  auch  die  Bauart  von  Häusern  und 
Ortschaften  erscheint  italienischer  als  an  den  Ufern  des  Verbano. 
Obendrein  gehören  seine  Bewohner,  unter  deren  jüngeren  weib- 
lichen Bevölkerung  hässliche  Gesichter  oder  Gestalten  schwer  auf- 
zufinden, Schönheiten  dagegen  so  wohlfeil  sind  wie  die  dortigen 
Kirschen  im  Juni,  zu  ihrem  Lobe  sei  es  gesagt,  noch  immer  der 
Schweiz  an,  denn  selbst  ein  längerer  Aufentlialt  wurde  dem  Ver- 
fasser  auch    nicht   durch    einen   Versuch    von   Prellerei    verbittert. 


Thäler  und  Seen  in  den  Schweizer  Alpen.  295 

Wem  daher  die  Zeit  oder  die  Mittel  zu  einer  Wanderung  nach 
dem  Süden  der  Halbinsel  nicht  ausreichen,  wer  aber  doch  ein 
wenig  kosten  will  von  italienischer  Natur ,  der  versäume  nicht, 
wenn  er  sich  in  der  Nähe  befindet,  einen  Abstecher  sei  es  nach 
dem  Comer  See  oder  nach  unserm  Ceresio.  Dort  sieht  er  bereits 
die  zarten  Farben  des  Südens  im  fernen  Gebirgshintergrund  an 
ausserordentUch  edlen  Umrissen  und  Linien.  Das  blaugrüne  See- 
wasser leuchtet  kräftig,  und  das  Laub  der  Haine  dunkelt  tiefer 
unter  der  Wirkung  der  südeuropäischen  Sonne.  Wohlhabenheit 
herrscht  auf  gesegnetem  Boden.  Die  Villen  sind  sauber  gehalten, 
und  Spuren  von  Vernachlässigung  nirgends  bemerkbar.  Hurtige 
wohlgenährte  und  hübsch  aufgezäumte  Rosse  schütteln  ihr  mun- 
teres Schellenbehänge,  selten  wird  gebettelt  und  nirgends  zeigt 
sich  menschliches  Elend  in  neapolitanischer  Verwilderung  —  wohl 
aber  hat  sich  noch  ein  Rest  ^on  malerischer  Tracht  in  den 
Schleiern  erhalten,  womit  Frauen  und  Fräulein  den  Kopf  bedecken, 
sowie  in  den  sandalenartigen  Holzschuhen,  die  auf  deii  Steinplatten 
der  Strassen  lustig  klai^pern. 

Lugano  endlich  bietet  deutschen  Begierden  etwas,  was  ihnen 
fast  überall  anderwärts  auf  der  Halbinsel  vom  Norden  bis  zum 
Süden  versagt  wird,  nämlich  einen  Gang  ins  Freie.  Ein  längerer 
Aufenthalt  am  Comer  See  wird  fast  unerträglich  für  denjenigen, 
der  mit  den  Augen  schwelgen  will,  denn  er  ist  entweder  auf  seinen 
Balcon,  oder  die  Terrasse  seines  Wirthshauses,  oder  auf  Wasser- 
fahrten angewiesen.  Ein  Spaziergang  dagegen  wird  ihm  \erwei- 
gert,  denn  tritt  er  vors  Haus ,  so  hat  er  unter  den  Füssen  eine 
staubige  Strasse,  und  zur  Rechten  wie  zur  Linken  hohe  Mauern, 
über  die  hie  und  da  nur  ein  südeuropäischer  Obstbaum  seine 
Zweige  herabsenkt.  So  ist  es  allenthalben  in  Italien,  wo  eifriger 
Landbau  betrieben  wird.  La  Lugano  dagegen  öffnen  sich  fächer- 
förmig nach  allen  Seiten  Strassen  ohne  Mauern  zu  Spazier- 
gängen, deren  jeder  etwas  neues  und  w^illkommenes  bringt.  Merk- 
würdig reich  ist  die  Umgegend  an  Schlangen,  so  dass  man  wohl 
auf  einer  kurzen  Strecke  deren  drei  begegnen  kann,  und  dann 
gern  glaubt,  dass  malerische  Mauerruinen  auf  der  Strasse  von 
Melide  nach  Lugano  einem  Hause  angehören,  welches  die  Bew^oh- 
ner  räumen  mussten,  weil  sich  allzuviele  Vipern  bei  ihnen  ein- 
fanden. Endlich  sollte  der  Ferienreisende  in  Lugano,  wo  er  zum 
fünftenmal  italienischen  Boden  betrat,  den  ersten  lebenden  Scorpion 


2q6  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

ZU  Gesicht  bekommen,  während  er  bis  dahin  als  ungläubiger  Tho- 
mas das  Vorkommen  dieser  Bestie  mit  dem  Giftdolche  in  ItaHen 
nur  für  eine  Verleumdung  zum  Abschrecken  nervöser  Gemüther 
gehalten  hatte. 

Auch  am  Lago  Maggiore  wird  uns  die  Möglichkeit  des  Spa- 
zierengehens im  Freien  geboten,  nur  ist  dort,  wie  schon  bemerkt 
wurde,  das  südliche  Gepräge  der  Vegetation  nicht  so  auffallend. 
Die  Goldorangen,  die  der  Neuhng  auf  Isola  bella  im  dunklen 
Laube  nicht  glühen  sieht,  müssen  im  Winter  hinter  Glas  geborgen 
werden,  und  doch  gelangen  sie  selbst  dann  nicht  zur  Reife,  son- 
dern höchstens  nur  daneben  die  härteren  Citronen  und  Limonen. 
L'ebrigens  ist  selbst  am  Luganer  See  der  Baum ,  welcher  durch 
seine  Belaubung  die  Abhänge  waldartig  umhüllt,  nur  die  Castanie, 
die  wir  ja  schon  am  Neckar  und  in  der  Rheinpfalz  gedeihen  sehen. 
Freihch  liefert  sie  dort  nur  die  kleinen  dreieckigen  Früchte,  nicht 
die  Marronen,  aber  in  Bezug  auf  das  Laub  gleicht  sie  ganz  der 
ultramontanen  Art  oder  Spielart.  Doch  wird  niemand  die  Ca- 
stanie als  einen  Baum  anerkennen,  der  um  in  eine  fremdartige 
Welt  versetzen  könnte.  Die  Feigen  dagegen  erreichen  bereits  ein 
stattliches  Wachsthum  mit  kuppeiförmiger  Krone.  Doch  ist  auch 
die  Feige  schon  am  Genfer  See  allenthalben  anzutreffen ,  wenn 
auch  in  schwächeren  Stammdurchmessern.  So  bleibt  denn  nur 
die  Cypresse  und  der  Oelbaum  übrig ,  welche  im  Vergleich  zur 
Genfer  Flora  den  Pflanzenwuchs  am  Ceresio-See  um  eine  Terz 
oder  eine  Quinte  (wenn  man  so  messen  darf)  an  südlichem  Ein- 
druck erhöhen.  In  den  Parken  freilich  trifft  man  viel  immergrüne 
Lorbeerarten,  dazu  freistehende  Gebüsche  von  Camellien  und  Rho- 
dodendren. Mit  Vorliebe  werden  auch  Coniferen  und  Araucarien 
gepflegt.  Die  cahfornische  Mammuthkiefer  (Wellingtonia  gigantea) 
muss  viel  zeitiger  Lugano  als  Süddeutschland  erreicht  haben,  denn 
es  steht  dort  ein  Exemplar  von  20  Fuss  Höhe.  Vor  allen  sind 
es  aber  die  beiden  geschwisterlichen  Cedern  vom  Libanon  und 
vom  Himalaya,  vorzüglich  die  letztere ,  die  anmuthige  Deodara, 
das  Sinnbild  einer  Trauer,  für  die  sich  kein  Trostwort  finden 
lässt,  die  mit  Vorliebe  gepflegt  werden.  Es  versteht  sich  dabei 
von  selbst,  dass  es  nirgends  an  Magnolien  fehlt,  sowohl  immer- 
grünen wie  laubwerfenden ,  die  im  Juni  gerade  ihre  schneeigen 
Tulpen  öffneten  und  ihren  überwältigenden  Jasminduft  ausströmen 
Hessen,     Aber  auch  Bäume,  die  in  unserer  Heimath  eifrig  gepflanzt 


Thäler  und  Seen  in  den  Schweizer  Alpen.  207 

werden,  gewinnen  auf  der  sonnigen  Seite  der  Alpen  an  günstiger 
Wirkung.  So  tief  wie  in  der  italienischen  Schweiz  schwärzt  sich 
wohl  nie  die  Laubkuppel  einer  Blutbuche  in  Deutschland,  ja  es 
bedarf  einer  nähern  Prüfung,  um  den  Baum  wieder  zu  erkennen, 
zumal  wenn  durch  eine  kluge  Berechnung  des  Gärtners  der  Far- 
bengegenssatz  dadurch  verschärft  wird ,  dass  sich  hinter  dem 
dunkelnden  Buchenwipfel  eine  Silberlinde  erhebt.  Alle  unsere 
Baumgärten  leiden  an  dem  Uebelstand,  dass  ihre  Belaubung  bis 
an  den  Boden  herabreicht  und  zwischen  und  unter  ihr  dann  nur 
sonnige  Stellen  mit  dumpfig  schwülen  abwechseln.  An  den  ita- 
lienischen Seen  aber  trifft  man  jene  herrlichen  .Platanenhaine,  von 
wenigen  weit  abstehenden  Stämmen  gebildet,  die  ihre  Schäfte  oft 
dreissig  oder  vierzig  Schuh  hoch  erheben,  ehe  die  Astbildung  be- 
ginnt. Ein  grünes  Dämmerlicht  fällt  dann  herab  auf  den  schat- 
tenkühlen Boden,  während  reine  Luft  ungehindert  durch  die  hal- 
lenartigen Baumstämme  streicht. 

Am  Südabhang  der  Alpen  herrschen  krystallinische  Felsarten, 
Gneis  und  Glimmerschiefer  überwiegend  vor,  und  treten  an  man- 
chen Stellen  bis  an  das  Schlemmland  der  Po-Ebene  heran.  An 
ihnen  ruft  die  Verwitterung  und  Zerklüftung  andere  Umrisse  und 
Linien  hervor  als  an  den  geschichteten  Gesteinen,  Uebrigens 
fehlen  auch  solche  und  zwar  aus  der  Lias-  und  Triaszeit  keines- 
wegs dem  Luganer  See,  dessen  landschafthche  Reize  durch  kühne 
Dolomitfelsen  am  Arme  von  Porlezza  nicht  wenig  erhöht  werden, 
während  sein  südliches  Becken  zwischen  Wänden  von  Porphyr 
und  Melaphyr  sich  hinabsenkt.  Ein  solches  nahes  Zusammentreffen 
so  mannichfacher  Felsarten  verschiedenen  Urspi^ngs  und  verschie- 
denen Alters  trägt  nicht  wenig  dazu  bei,  dass  die  Ufer  wiederholt 
ihren  landschafthchen  Ausdruck  wechseln.  Doch  bleibt  die  Haupt- 
zierde des  Ceresio  der  Monte  Salvatore,  welcher,  halbinselartig 
auftretend,  den  See  zwingt  sich  wie  ein  Hufeisen  zu  krümmen. 
Von  jeder  Himmelsgegend  aus  betrachtet  bietet  dieser  Bergrücken 
mit  seinem  aufgesetzten  Kopfe  ein  anderes  Bild,  sieht  man  ihn 
aber  aus  Norden  sein  Haupt  auf  hohem  Genick  emporrecken,  so 
gleicht  er  einigermassen  einer  Vogelgestalt. 

Für  den  Bewohner  einer  deutschen  Ebene ,  der  meilenweit 
wandern  muss,  bis  er  ein  anstehendes  Gestein  trifft,  den  vielleicht 
die  herangewachsenen  Kinder  neugierig  und  sehnsüchtig  fragen, 
wie    wohl    ein    Felsen    in    Wirklichkeit    aussehen    möge,    bleibt  es 


2q8  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

immer  bedeutsam,  wenn  er  sich  wieder  einmal  zwischen  krystal- 
linischen  Felsarten  bewegt.  An  den  italienischen  Seen  und  auf 
beiden  Seiten  der  Gotthardstrasse  findet  er  dann  Gelegenheit  genug, 
sich  an  dem  Anblick  der  merkwürdigen  Gesteine  zu  sättigen.  Vor 
allem  ist  es  die  Spaltbarkeit  von  Glimmerschiefer  und  Gneiss,  die 
ihn  in  Erstaunen  versetzt.  Da  springen  von  den  Wänden  die 
schönsten  Platten  und  Tafeln  herunter.  Die  Blöcke  im  tobenden 
Gebirgsstrom  nähern  sich  stets  der  Würfelform,  oft  wieder  durch 
glatte  Risse  zu  Hälften  geborsten.  Alle  Ecken,  Leisten  und  ein- 
springenden Kanten  sind  wie  nach  dem  Winkelmasse  angefertigt. 
Am  Lago  Maggiore  geht  der  Telegraphendraht  über  obelisken- 
artige, IG  Fuss  hohe  Pfeiler  aus  dem  örtlichen  krystallinischen 
Gestein.  So  leicht  und  so  sicher  muss  sich  dieses  also  spalten 
lassen,  dass  solche  Steinsäulen  in  Betracht  ihrer  Dauerhaftigkeit 
wohlfeiler  zu  stehen  kommen  als  Stangen  aus  Tannenholz.  Ja 
selbst  in  den  Rebgärten  werden  die  Lauben  ebenfalls  durch  solche 
krystaUinische  Monolithen  getragen.  Man  begreift  daher  leicht, 
warum  so  viele  Geologen  schon  diese  Felsarten  als  umgewandelte 
geschichtete  Gesteine  angesehen  haben,  doch  genügt  eine  nähere 
Prüfung  wiederum,  dass  das  Auge  den  Unterschied  zwischen 
Schichtungsebenen  und  Spaltungsflächen  rasch  und  sicher  heraus- 
findet. Wurden  jene  krystallinischen  Felsarten  in  teigartigem  Zu- 
stande, gleichviel  ob  kühl  oder  schmelzflüssig ,  von  unten  nach 
oben  gepresst,  so  bedurfte  es  nur  eines  ausreichenden  seitUchen 
Druckes,  um  auch  bei  ihnen  Schiefer ung  und  mit  der  Schieferung 
die  Spaltbarkeit  hervorzurufen. 

Es  waren  aber  nicht  bloss  die  Porphyre,  Glimmerschiefer, 
Gneisse  und  Protogine,  welche  den  Ferienreisenden  nach  Lugano 
zogen,  sondern  es  bestimmte  ihn  dazu  auch  die  Aussicht,  auf  dem 
Rückweg  die  oft  durchwanderte  Gotthardstrasse  noch  einmal  wieder, 
und  diesesmal  mit  andern  Augen  und  mit  andern  Fragen  auf  dem 
Herzen,  zu  betrachten.  Dazu  nöthigte  ihn  nämlich  ein  unlängst 
erschienenes  Buch  über  ,,Thal-  und  Seebildung",  von  dem  gefei- 
erten Anatomen  L.  Rütimeyer  in  Basel,  der  sich  durch  seine 
classische  Beschreibung  der  Thierwelt  in  den  Schweizer  Pfahl- 
bauten Geologie  und  Alterthumswissenschaft  zum  höchsten  Danke 
verpflichtet  hatte.  Rütimeyer  suchte  in  jener  Schrift  einen  Satz 
zu  vertreten,  der  mit  früher  ausgesprochenen  Ansichten  des  Ver- 
fassers in  Widerspruch  stand,  nämlich  dass  das  Reussthal,  so  weit 


Thäler  und  Seen  in  den  Schweizer  Alpen. 


299 


es  Querthal  ist,  als  eine  ausschliesslich  vom  Wasser  ausgefurchte 
Rinne  betrachtet  werden  müsse.  ,,Was  wir,  lautet  seine  stärkste 
Behauptung,  mit  dem  Namen  Erosion  zu  bezeichnen  pflegen,  kann 
anderweitige  Hilfskräfte  kaum  irgendwo  entbehrlicher  erscheinen 
lassen,  als  in  diesem  mächtigsten  Querthale  der  Alpen."  Es  galt 
also  noch  einmal,  die  Gotthardstrasse  mit  den  Augen  des  Basler 
Anatom.en  anzuschauen,  und  unbefangen  zu  prüfen,  ob  die  Reuss 
die  alleinige  Schöpferin  ihres  Rinnsales  gewesen,  oder  ob  nicht 
auch  andere  Kräfte  ihr  früher  hülfreich  zu^■orgekommen  seien. 

Je  nach  ihrer  Entstehung  werden  bekanntlich  die  Thäler  als 
orographische  oder  als  Erosionsthäler  angesehen,  das  heisst,  man 
denkt  sie  sich  entweder  durch  Aufrichtung  oder  Senkung  von 
Gebirgsmassen  entstanden,  oder  durch  die  Gewalt  eiAes  Wasser- 
gefälles ausgewaschen.  Dass  das  Wasser  nichts  zu  thun  hat,  wo 
Gesteinschichten  muldenartig  aufgebogen,  oder  wo  der  gewölb- 
artige Bau  einer  Falte  im  Längendurchmesser  aufgesprengt  worden 
ist  (Clusen) ,  oder  da ,  wo  sich  am  Fuss  eines  steilen  Schichten- 
absturzes ein  mehr  oder  weniger  sanfter  Abhang  anlehnt  (Comben), 


CJuse 


Mulde 


Combi 


Schema  der  drei  Hauptformen  orographischer  Thäler. 

darüber  hat  nie  Streit  entstehen  können.  Alle  Längenthäler,  also 
solche,  die  auf  eine  sehr  beträchtliche  Entfernung  dem  Streichen 
einer  Gebirgskette  parallel  laufen,  entstanden  mit  dieser  durch 
Hebung  oder  Senkung  und  durch  diese  orographischen  Bewegun- 
gen wurden  dem  Wasser  seine  Abflusswege  vorgezeichnet.  Auch 
herrscht  kein  Zweifel  darüber,  dass  Seiten  thäler,  die  in  Stamm- 
thäler  einmünden,  vollständig  Schöpfungen  des  Wassers  sind.  Nur 
ist  es  leider  unendlich  schwierig,  ja  ohne  geologische  Karten  oft 
rein  unmöglich ,  bestimmt  zu  sagen ,  was  ein  Stammthal  und  ein 
Seitenthal  sei.  Die  Strecke  der  Reuss  von  Gesehenen  bis  Ander- 
matt,    der   Glanzpunkt    der    diesseitigen    Gotthardstrasse    mit   der 


-.QO  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

wilden  Felsenöde,  der  Teufelsbrücke  und  dem  Urner  Loch,  könnte 
als  ein  Stammthal  der  Reuss  betrachtet  werden ,  denn  sie  liegt 
genau  in  der  Verlängerung  des  Hauptrinnsales.  Allein  wie  gerade 
Rütimeyer  vortrefflich  gezeigt  hat,  ist  diese  Strecke  eine  ganz 
junge  Arbeit  des  Wassers,  und  ehe  dort  die  Furche  der  Reuss  bis 
in  das  Urseren-Thal  sich  hineingearbeitet  hatte,  war  das  Wasser 
des  Gesehenen -Thaies  der  Hauptstrom,  und  die  Reuss  bis  zur 
Teufelsbrücke  bildete  sein  Seitenthal. ") 

Jeder,  wer  eine  nur  leidliche  Karte  der  Schweiz  vor  sich  hat, 
wird  sich  von  der  längst  anerkannten  Thatsache  überzeugen,  dass 
die  Nordalpen  (Berner  Oberland,  Titlis-  und  Tödigruppe)  gegen 
Süden  getrennt  und  begränzt  werden  durch  ein  Längenthal,  in 
dem  jetzt  der  Rhone  nach  West,  dann  die  Reuss  im  Urseren-Thal 
gegen  Ost,  und  endlich  ebenfalls  gegen  Osten  der  Vorderrhein  bis 
Chur  fliiesst.  Dieses  Thal  ist  uralt,  es  war  sogar  bereits  vorhan- 
den, ehe  neuere  Erhebungen  der  Alpen  es  wieder  zerstückten. 
Schon  der  hellsehende  Goethe  war  als  junger  Mann  aufs  höchste 
betroffen,  als  er  das  erstemal  aus  der  wilden  Schlucht  der  don- 
nernden Reuss  durch  den  kurzen  Urner  Tunnel  hinausgelangte  in 
das  stille,  zahme,  sonnige,  grüne  Urseren-Thal,  aber  er  ahnte  noch 
nicht,  dass  dieser  plötzhche  Bühnenwechsel  zum  Theil  darauf  be- 
ruhte, dass  er  auf  einer  ganz  jugendlichen  engen  Wasserfurche 
hinübergetreten  war  in  ein  Thal,  vor  dessen  Alter  jeder  geologisch 
Gebildete  Ehrfurcht  empfinden  wird,  welches  Zeiten  gesehen  haben 
muss,  wo  die  Alpen  noch  nicht  den  Alpen  der  Eisenbahnreisenden 
glichen,  wo  sie  vielleicht  noch  Aehnlichkeit  mit  dem  Jura  besassen. 
Ein  BUck  auf  die  geologische  Karte  von  Studer  und  Escher  ge- 
nügt, um  sich  zu  überzeugen,  dass  das  Urseren-Thal  früher  nicht 
der  Reuss  angehört  haben  kann,  sondern  dass  es  vormals  fremden 
Wassern  als  Rinnsal  diente,  entweder  nämlich  hing  es  mit  dem 
Vorderrhein  zusammen,  und  wurde  von  ihm  getrennt  durch  das 
Aufsteigen  von  Massen  unter  dem  Oberalppass,  oder  es  hing  mit 
dem  Rhone  zusammen,  bis  in  der  Gegend  der  Furka  eine  Hebung 
eintrat.  Nachdem  diese  Hebung  erfolgt  war,  und  bevor  die  Reuss 
die  Spalte  bei  der  Teufelsbrücke  tiefer  ausgefurcht  hatte,   wird  das 


i)  Zur  Verständigung  für  solche  Leser,  denen  die  Ausdrücke  der  schwei- 
zerischen Geologen  nicht  geläufig  sein  sollten,  fügen  wir  den  Holzschnitt  (p. 
299)  bei,  der  sich  von  selbst  erklärt. 


Thäler  und  Seen  in  den  Schweizer  Alpen.  ^OT 

Urseren  -  Thal  ein  Becken  ohne  Abfluss  gewesen  sein  müssen, 
wenigstens  gleicht  die  glatte  Thalebene  bei  Andermatt  vollständig 
einem  ehemaligen  Seeboden.  Vorläufig  ist  im  Urseren -Thal  das 
Gefäll  der  Reuss  noch  sehr  massig,  aber  die  Dinge  werden  sich 
rasch  ändern.  In  den  meisten  Gebirgsthälern  mit  fliessendem 
Wasser  wechseln  häufig  Strecken,  wo  die  Ausfurchung  beinahe 
schlummert,  mit  Strecken,  wo  sie  hastig  vorwärts  schreitet.  Die 
Leistungen  der  Erosion  sind  nämlich  genau  das  Product  der 
Wasserfülle  und  ihres  Gefälles,  gemindert  durch  den  Widerstand 
der  Felsarten,  der  nach  der  Beschaffenheit  des  Gesteins  örtlich 
steigt  oder  fällt.')  An  allen  Stellen,  wo  einen  Flusslauf  senkrecht 
oder  unter  irgend  einem  Winkel  eine  härtere  Felsmasse  durch- 
setzt, muss  nothwendig  eine  Stauung  der  Erosion  eintreten,  die 
sich  innerhalb  des  Widerstandsgebietes,  bei  gleichzeitiger  Einschnü- 
rung durch  Stromschnellen  oder  Wasserstürze,  oberhalb  durch  eine 
terrassenartige  Ebnung  der  Thalsohle  bei  gleichzeitiger  Erweiterung 
verräth.  Die  Reuss  zwischen  der  Teufelsbrücke  und  Amstäg  zeigt 
gegenwärtig  dieses  Verhalten  nicht  mehr,  denn  die  Erosion  schrei- 
tet fast  überall  ziemlich  gleichmässig  fort,  und  daher  senkt  sich 
auch  die  Poststrasse  ohne  Unterbrechung  stark  abwärts,  allein  auf 
der  andern  Seite  des  Gotthards  gewährt  der  Tessin  treffliche  Bei- 
spiele von  Thaleinschnürungen  mit  stürmischer  Erosion  und  ter- 
rassenartigen breiten  Thalsohlen  mit  schwächerem  Gefäll.  Ist  aber 
zuletzt  der  harte  Querriegel  vor  dem  Flusslaufe  durchgesägt,  dann, 
geht  auch  die  Erosionspause  für  die  oberhalb  liegende  zahme 
Thalstrecke  zur  Neige,  denn  rasch  schreitet  dann  die  Stromschnelle 
rückwärts  oder  aufwärts  durch  das  weichere  Gestein.  Der  präch- 
tige Reussfall,  der  unter  dem  Bogen  der  Teufelsbrücke  herabdon- 
nert, rückt  unmerklich,  aber  unablässig  wie  alle  "Wasserfälle,  rück- 
wärts, und  muss  in  einer  geologisch  nicht  sehr  fernen  Zeit  das 
Urseren-Thal  in  eine  Schlucht  verwandeln.  Beim  Pfaftensprung 
im  Reussthal  haben  wir  das  Bild  eines  solchen  Hergangs  deutlich 
vor  uns,  denn  die  Poststrasse  führt  über  ein  höher  liegendes  älteres 
Rinnsal  und  überbrückt  den  Gebirgsstrom,  der  dort  in  die  felsige 
Thalstufe  Sein  enges  Bett  hineingetieft  hat.     Was    hier  im  kleinen 

i)  Wenn  E  die  Erosionsleistung,  m  die  Menge  des  Wassers,  f  das  Gefälle. 

und    w    den    Widerstand    oder   die  Härte  der   Felsarten  bedeutet,   so  erhalten 

.     .^  mf 

vnr   E    =  — 


■3  0  2  Zur  mathematischen  und  phy!^ischen  Geographie. 

in  vergleichsweise  ganz  neuerer  Zeit  geschehen  ist,  das  soll  nun, 
behauptet  Rütimeyer,  im  grossen  im  ganzen  Reussthale  von  jeher 
sich  wiederholt  haben.  Vom  Urner  See  angefangen  rückte  die 
Reuss  allmälich  weiter  und  weiter  nach  rückwärts ,  und  schuf 
allein  das  mächtige  Querthal  auf  dem  nördlichen  Abfall  der  Gott- 
hardstrasse.  „Die  Ausfurchung  beginnt  unter  allen  Umständen 
jeweilen  am  Fusse  des  Gebirges,  und  die  Thäler.  so  weit  sie  ein 
Product  des  Wassers  sind,  wachsen  also  von  hier  rückwärts  nach 
dem  Centrum."  Rütimeyer  will  noch  an  den  Felsabstürzen  des 
heutigen  Reussthaies  einzelne  verschonte  Reste  von  ehemals  höhe- 
ren Thalsohlen  erkennen,  wovon  die  höchsten  jetzt  1500'  über  dem 
heutigen  örtlichen  Stromspiegel  sichtbar  wären. 

Nun  wird  niemand  leugnen  wollen,  dass  das  Stammthal  der 
Reuss  und  seine  Nebenarme,  wie  sie  jetzt  vor  uns  liegen,  grossen- 
theils  ein  Werk  der  Reuss  sind.  Befindet  man  sich  im  Thale 
selbst,  so  zeigt  alles  den  Verlauf,  wie  ihn  ein  x\usfurchungshergang 
voraussetzt,  sobald  wir  aber  Fluelen  erreichen,  stehen  wir  an  der 
Grenze  der  Erosion,  es  beginnt  vielmehr  der  Gegensatz,  nämlich 
die  Aufschüttung  von  Geröllmassen  in  den  Vierwaldstätter  See, 
Das  Reussthal  setzt  sich  aber  durch  diesen  fort ,  wenn  auch  nur 
als  Urner  See,  und,  wie  Rütimeyer  uns  überzeugt  hat,  über  die 
Landenge  zwischen  Schwyz  und  Art  nach  dem  Zuger  See ,  dem 
ehemaligen  Ab-  und  Ausfiuss  der  Reuss.  Der  Vierwaldstätter  See 
.ist  nun  gewiss  ein  Thal  wie  das  Reussthal,  aber  das  Fallen  der 
Schichten,  welches  fast  bei  jedem  Bergstock  an  seinen  Ufern  sich 
ändert,  zeigt  deutlich,  dass  dieses  Seebecken  nicht  durch  Erosion, 
sondern  durch  Hebung  und  Senkung  entstand.  Auf  der  italieni- 
schen Seite  der  Alpen  haben  wir  endlich  Seen,  die  sämmtlich  mit 
ihren  Sohlen  unter  den  Meeresspiegel  herabreichen,  die  also  nie 
von  Süssw  asser  ausgefurcht,  sondern  durch  Hebung  aufgespalten 
worden  sind,  ja  diese  Spalten  öffnen  sich  nicht  einmal  sämmtlich 
nach  dem  ehemaligen  lombardischen  Meere,  sondern  der  westliche 
Schenkel  des  Comer  Sees  schliesst  als  blinder  Zipfel  und  ist  durch 
den  Höhenrücken  bei  Camerlata  völlig  von  der  Po-Ebene  ab- 
gedämmt. Freilich  hat  sich  diess  ein  so  gründlich  forschender 
Gelehrter  wie  Rütimeyer  längst  gesagt.  Doch  lässt  er  die  italieni- 
schen Seen  fast  gänzlich  aus  dem  Spiele,  behauptet  aber  dafür, 
dass  die  vormals  vereinigten  Urner  und  Zuger  Seen  zunächst  durch 
Auswaschung  der  Reuss    entstanden   seien.     Dann   lässt    er  durch 


Thäler  und  Seen  in  den  Schweizer  Alpen.  -503 

eine  Senkung  plötzlich  ihre  Sohlen  auf  ihre  heutige  Tiefe  (1200'; 
erniedrigt  werden,  und  verstopft  den  Ausgang  und  den  untern 
Lauf  des  Thaies  wieder  durch  neue  Anschwemmungen  jüngerer 
Bildung.  Eine  Hypothese,  die  eine  andere  und  eine  zweite  Hy- 
pothese zu  Hülfe  rufen  muss,  sollte,  zufolge  einer  bekannten  gol- 
denen Regel,  aber  nie  ausgesprochen  werden. 

Die  andere  Ansicht,  welche  wir  vertreten,  besteht  darin,  dass, 
sowie  sich  durch  Faltung  des  Bodens  an  der  Längsaxe  der  Ge- 
birge die  Längenthäler  bilden,  zugleich  mit  der  Hebung  auch 
Querrisse  eintreten  müssen,  die  den  gehobenen  Boden  in  prisma- 
tische Stücke  zersprengen.  Diese  Querrisse  findet  das  Wasser  vor 
und  auf  ihnen  erfolgt  die  Erosion  mit  ausserordentlicher  Geschwin- 
digkeit, so  dass  die  Querthäler  erster  Ordnung  sämmtlich  mit  die- 
sen Spalten  gegeben  waren ,  während  die  jetzt  noch  vorhandenen 
einzelnen  nicht  gänzHch  zugeschütteten  Seestrecken  als  Urkunden 
zurückgeblieben  sind,  unter  denen  die  italienischen  Seen,  deren 
Sohle  bis  unter  den  heutigen  Meeresspiegel  herabreicht,  unzwei- 
deutig, ja  unwiderlegbar  diesen  Hergang  uns  bezeugen. 

Gestützt  wird  diese  Ansicht  ferner  dadurch ,  dass  wir  in  den 
Alpen  nur  sehr  wenige  Querthäler  erster  Ordnung  (Linth,  Reuss, 
obere  Aare  und  Kander)  aufzählen  können,  unter  denen  die  Reuss 
für  ihre  Thalfurchung  just  die  allerschwierigste,  nämlich  die  aller- 
breiteste  Anschwellung  der  Alpen  sich  ausgesucht  haben  würde. 
In  welcher  Art  die  Erosion  an  einem  Abhang  theoretisch  statt- 
zufinden hat,  lehren  die  Kratermäntel  der  Vulkane,  und  die  Insel 
Tahiti  ist  das  beste  Beispiel  einer  regelrechten  Auswaschung,  da 
in  ihren  ehemahgen  Feuerkegel  speichenförmig  die  Thäler  eingenagt 
worden,  und  nur  noch  als  Zwischenwände  Gerippe  stehen  geblie- 
ben sind.  Wären  die  Thäler  in  den  Alpen  nur  Werke  der  Ero- 
sion, so  müssten  sie  wie  auf  Tahiti  an  den  Abhängen  in  gleichen, 
sehr  kurzen  Zwischenräumen  sich  folgen,  und  alle,  die  das  Centrum 
erreicht  hätten,  an  Mächtigkeit  sich  nahe  kommen.  Sie  müssten 
also  die  Alpen  mit  einer  Mehrzahl  von  schmalen  Querrinnen 
eingefurcht  haben.  Diess  findet  jedoch  nicht  statt,  sondern  wir 
haben  nur  wenige  Stammthäler  und  zwischen  ihnen  ganz  unbe- 
deutende Wasserläufe.  Wohl  zu  beachten  ist  ferner  gerade  bei 
der  Reuss,  dass  dieser  Strom  bis  Amstäg  nur  von  links  mächtige 
Nebengewässer  empfängt.  Dadurch  wird  uns  angedeutet,  dass 
selbst  die  Bildung  der  Seitenthäler  durch  die  orographischen  Ver- 


204  '""•'  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

hältnisse  beherrscht  worden  sei.  So  ist  das  Meyenthal  der  Reuss, 
welches  über  den  Sustenpass  nach  dem  Gadmenthal  des  Aar- 
gebietes sich  fortsetzt,  ganz  sicherlich  ein  Längenthal  der  Alpen, 
da  es  der  Faltungs-  oder  Hebungsaxe  der  Alpen  parallel  läuft. 
Uebrigens  leugnet  Rütimeyer  keineswegs,  dass  die  Richtung  der 
Thäler  abhänge  von  dem  Streichen  der  Gebirgskette,  insofern  die 
Schichtenstellung ,  sowie  die  Zerklüftung  in  Beziehung  stehen 
müssen  zur  Erhebungsaxe,  das  heisst  also  mit  andern  Worten 
doch  nur ,  dass  die  Richtungen ,  welche  die  Erosion  einschlägt, 
immer  schon  gegeben  waren  durch  den  inneren  Gebirgsbau  also 
durch  orographische  Grundzüge. 

Sind  wir  auch  nicht  von  Rütimeyer  zur  Lehre  von  der  Aus- 
furchung  des  Reussthaies  bekehrt  worden,  hat  sich  vielmehr  die 
Ueberzeugung  in  uns  nur  stärker  befestigt,  dasa  die  Querthäler 
ersten  Ranges  in  den  Alpen  mit  der  Hebung  des  Gebirges  ent- 
standen seien ,  so  lasse  sich  doch  desswegen  niemand  abhalten, 
die  treffliche,  auf  jeder  Seite  durch  Neues  belehrende  oder  das  Alte 
neu  bestätigende  Schrift  des  Basler  Anatomen  eifrig  zu  studiren, 
zumal  der  Verfasser  am  Schluss  (S.  in)  bekennt,  dass  er  seine 
Ansicht  ,, keineswegs  für  vollauf  erwiesen"  betrachte ,  sondern 
,,seiiie  Aufstellung  eher  einen  Gesichtspunkt  als  eine  factische 
Erklärung  nennen   möchte." 


11.    Die  Naturgesetze  der  Verbreitung  des 
Goldes  auf  der  Erde. 

(Ausland  1863.     Nr.    9.     25.  Febr.) 

Das  goldene  Zeitalter,  in  welchem  wir  jetzt  leben,  begann  mit 
der  Entdeckung  des  californischen  Goldschuttes  im  Jahre  1847. 
Ausser  in  Californien  ist  seitdem  auf  nicht  weniger  als  sechs  ver- 
schiedenen andern  Gebieten,  und  seltsamerweise  in  lauter  britischen 
Colonien,  Gold  gefunden  worden.  Wir  werden  zeigen,  dass  damit 
die  Reihe  der  golderzeugenden  Länder  noch  nicht  geschlossen  ist, 
dass  man  sogar  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  noch  andere  Punkte 
bezeichnen  kann ,  wo  sich  Gold  finden  muss ,  denn  wir  dürfen 
nicht  vergessen,  dass  die  Wissenschaft  die  Anwesenheit  von  Gold 
in  Australien  vorausverkündigt  hat.  Auf  Sir  Roderik  Murchisons 
Rath  begaben  sich  ja  bekanntlich  cornische  Bergleute  1850  nach 
Australien,  weil  ihnen  der  grosse  Geolog  das  Auffinden  von  Gold- 
schutt dort  verheissen  hatte.  Jene  sechs  neuen  Goldgebiete  sind : 
i)  Neu-Süd-Wales ;  2)  Victoria ;  3)  Queensland  auf  dem  australischen 
Festland,  wozu  auch  noch  Tasmanien  gezählt  werden  kann; 
4)  Neu-Seeland;  5)  Britisch  Columbien ;  6)  Neu-Schottland.  Die 
Goldfelder  dieser  letzteren  Insel  bilden  eine  vereinzelte  Erscheinung 
und  gehören  nicht  in  den  Kreis  unserer  Beobachtungen,  denen  ein 
interessanter  Essay  der  Edinburgh  Review  (Goldfields  and  Gold- 
miners)  zu  Grunde  liegt. 

Nun  ist  offenbar  —  räumlich  schon  —  ein  Zusammenhang 
zwischen  den  Goldfeldern  Queenslands '),  Neu-Süd-Wales,  Victoria's, 


i)  Da,  wo  der  südliche  Wendekreis  das  Festland  schneidet,  liegt  das  Gold- 
feld Canuna,  welches  1857  entdeckt  wurde,  und  bis  jetzt  als  der  nördlichste 
Punkt  der  Verbreitung  des  Goldes    in  Australien  betrachtet  wird. 

Peschel,  Abhandlungen.     II.  20 


-To5  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

Tasmaniens  und  Neu-Seelands  nicht  zu  verkennen,  aber  auch 
die  Goldfelder  Californiens  und  des  benachbarten  Britisch  Colum- 
biens  stehen  nicht  bloss  unter  sich,  sondern  auch  zu  dem  austra- 
lischen Goldstrich  in  gewisser  Beziehung ,  und  nicht  bloss  zu 
diesem,  sondern  zum  ganzen  Bau  der  Erdveste  auf  der  andern 
Halbkugel  der  Erde.  Jeder  Laie  weiss,  dass  die  neue  Welt  von 
einer  fortlaufenden,  selten  unterbrochenen,  einfach,  doppelt,  drei- 
fach und  mehrfach  gegliederten  Bodenanschwellung  vorwaltend  in 
der  Richtung  von  Nord  nach  Süd  durchstrichen  wird,  die  wir  die 
Cordilleren,  in  Südamerika  die  Anden  nennen.  In  und  an  dieser 
Kette  wird  seit  Jahrhunderten ,  in  Chili ,  Bolivia ,  Peru ,  Ecuador, 
Neu-Granada,  Mexico,  CaHfornien,  Oregon,  Washington  bis  Britisch 
Columbia  Gold  gefunden,  Granit  aber  bildet  in  der  ganzen  Längen- 
ausdehnung dieser  Kette  den  Kern  der  Achse.  Sie  setzt  sich 
auch  in  den  Granitinseln  der  patagonischen  Küste  noch  bis  Cap 
Hom,  und  am  andern  Ende  von  der  Vancouver  Insel  bis  zur  See 
von  Kamtschatka  fort.  Bei  gewissen  Flutherscheinungen  wird  an 
die  californischen  Küsten  von  den  Wellen  ein  blauer  Sand  an- 
gespült, welcher  Gold  in  nicht  verächtlichen  Mengen  enthält  und 
durch  die  sogenannten  Strandwäschereien  (beach  diggings)  aus- 
gebeutet wird.  Daraus  darf  man  schliessen,  dass  der  Gold- 
schutt sich  auch  noch  eine  Strecke  weit  in  die  See 
hinein  erstreckt.  Zwischen  den  Küsten  von  Britisch  Colum- 
bien  und  den  Felsengebirgen ,  dem  nördlichen  Gliede  der  Cor- 
dilleren ,  liegt  ein  breiter  Streifen  flachen  Landes ,  gleichsam  das 
Glacis  des  grossen  Gebirgswalles,  und  auf  diesem  Glacis  befinden 
sich  die  reichsten  Goldlager.  Nun  nehmen  die  modernen  Geo- 
logen, und  mit  gutem  Grunde,  an,  dass  auch  dermaleinst  vor  den 
südamerikanischen  Anden  oder  Cordilleren  sich  ein  ähnliches 
Glacis  oder  ein  Küstensaum  in  das  stille  Meer  hinein  erstreckt 
habe.  Besässen  wir  irgend  ein  Mittel ,  die  See  dort  durch  un- 
geheure Wasserbauten  abzuschneiden  und  auszuschöpfen,  so  würde 
dieser  Boden  uns  Goldschuttländer  gewähren  wie  Britisch  Columbien 
oder  Californien. 

Sir  Roderik  Murchison  hat  ferner  bewiesen,  dass  alle  gold- 
führenden Felsarten  aus  dem  silurischen  Zeitalter  stammen.  Nun 
wissen  wir  alle,  dass  die  silurischen  Felsarten  zu  den  paläozoischen 
Gebilden  gehören,  und  zwar  zu  den  ältesten  paläozoischen  Gebilden, 


Die  Naturgesetze  der  Verbreitung  des  Goldes  auf  der  Erde.  ^o? 

ZU  jenen  Steinschichtungen ,  in  welchen  man  die  frühesten  Ver- 
steinerungen organischer  Wesen  antrifift.  Gold  hat  sich  in  keinem 
geschichteten  Gestein  der  secundären  und  der  tertiären  Epoclie 
gefunden,  sondern  nur  in  krystallinischen,  in  paläozoischen  Fels- 
arten und  in  dem  Schutt  solcher  Felsarten,  der  sich  in  dem  plio- 
cenen  Bildungsabschnitt  der  tertiären  Zeiten  ansammelte.  Dess- 
wegen  kann  man  mit  der  grössten  Zuversicht  behaupten,  dass  sich 
Gold  nur  an  sehr  wenigen  bevorzugten  Stellen  der  Erdoberfläche 
finden  wird ,  wo  Felsarten  jener  geologischen  Zeitabschnitte  an- 
getroffen werden.  Nicht  nothwendig  ist  aber,  dass,  wo  man  sie 
antrifift,  Gold  auch  stets  vorhanden  sein  müsse.  Felsarten  gleichen 
Alters,  wie  der  Gneiss  in  Skandinavien  und  Schottland,  der  lauren- 
tianische  und  huronische  des  amerikanischen  Festlandes,  der  cam- 
brische  in  England  enthalten  kein  Gold.  Das  Zeitalter  des  Goldes 
war  eine  der  ältesten ,  wenn  auch  nicht  die  älteste  geologische 
Periode  unseres  Erdballes.  Am  häufigsten  trifft  man  das  Gold 
in  Quarzadern  ,  welche  metamorphische  silurische  Schiefer  und 
gewöhnlich  die  untern  silurischen  Lager  durchziehen :  häufig  gerade 
da,  wo  diese  auf  den  Eruptivgesteinen  aufliegen. 

Die  goldtragenden  Küstengebirge  Austrahens  laufen  eben- 
falls von  Nord  nach  Süd,  von  der  Nordspitze  des  Fest- 
landes bis  zu  seiner  Südspitze,  um  unter  der  Bassstrasse  hindurch- 
zulaufen und  in  Tasmanien  noch  einmal  ans  Licht  zu  treten. 
Gegen  Norden  erstrecken  sie  sich  bis  zur  Spitze  der  Yorkhalb- 
insel,  setzen  dann  als  eine  Inselkette  der  nämlichen  Felsarten  über 
die  Torresstrasse  und  landen  endhch  auf  Neu-Guinea,  wo  sie  für  uns 
in  dieser  terra  incognita  verloren  gehen.  Gilt  irgendwo  eine  Ana- 
logie, wie  sie  sich  durch  Murchisons  Voraussagung  in  Australien 
bewährt  hat,  so  muss  auch  Neu-Guinea  Goldschutt  bergen.  Weit 
im  Norden  von  Neu-Guinea  tauchen  die  Spitzen  dieser  Kette 
abermals  in  den  Ladronen  oder  Marianen  auf,  und  von  diesen 
gelangen  wir  über  die  Jardines-,  Lobos-  und  Boningruppe  nach 
den  japanesischen  Inseln,  die  bekanntlich  sehr  reiche  Goldminen 
besitzen,  so  zwar,  dass  eine  Zeitlang  Silber  in  Japan  an  Werth  dem 
Golde  gleich  geschätzt  wurde.  Die  Kette  setzt  sich  dann  fort 
nach  Kamtscfiatka  und  scheint  durch  den  Kranz  der  Aleuteninseln 
mit  den  nördlichen  Ausläufern  Amerika's  in  Verbindung  zu  stehen. 
Auf  diesem  Gebirgskranz  oder  parallel  mit  ihm,  in  grösserem  oder 

20* 


TQg  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

geringerem  x\bstand,  zieht  sich  an  den  Rändern  der  Südsee  ein 
vulkanischer  Ring  herum,  der  am  Nordpol  durch  die  Aleuten  fest 
zusammengeknüpft  ist  und  dem  wir  bis  an  die  Küsten  des  Süd- 
polarlandes, aber  nicht  weiter  folgen  können.  Sieben  Achtel 
sämmtUcher  bis  jetzt  bekannter  feuerspeiender  Berge  der  Erde 
liegen  auf  diesem  Ring  und  seinen  Abzweigungen  vertheilt.  Nimmt 
man  an,  wie  es  freilich  in  neuerer  Zeit  vielfach  wieder  bezweifelt 
wird,  dass  die  Erde  einen  feuerflüssigen  Kern  mit  einer  erstarrten 
oder  erkalteten  Rinde  besitzt ,  dass  die  Vulkane  die  sichtbaren 
Reactionen  des  heissen  Erdinnern  gegen  seine  Oberfläche  bilden, 
wie  sich  A.  v.  Humboldt  ausdrückt,  dass  diese  Reactionen  nur 
möglich  sind,  wo  Risse  in  der  erkalteten  Erdrinde  entstanden  sind, 
so  haben  wir  uns  in  diesem  Vulkanring  einen  grossen  Spalt  von 
dem  Umfang  beinahe  einer  Erdhälfte  zu  denken.  An  diesem 
Ring  liegen  (von  Neu-Schottland  stets  abgesehen)  alle  modernen 
Goldfelder. 

Hr.  Julian  Woods ,  Verfasser  einer  Geologie  des  südlichen 
Australiens ,  weist  nach ,  dass  sich  vom  Berg  Gambier  an  der 
Ostgränze  der  Colonie  Victoria  bis  nach  Geelong,  262  engl.  Meilen 
lang,  ein  altes  vulkanisches  Gebiet,  ein  ,, ehemaliger  unterseeischer 
Feuersee"  ausgebreitet  habe,  jetzt  noch  kenntlich  an  den  aus- 
gebrochenen Trappfelsen  und  vielen  erloschenen  Kratern.  Unter 
diesen  Trappüberschwemmungen  trifft  man  auf  die  silurischen 
Schiefer,  welche  die  grossen  Goldreichthümer  bergen,  und  die 
silurischen  Gesteine  ruhen  wieder  unmittelbar  auf  den  Graniten. 
Versetzen  wir  uns  nun  in  das  geologische  Zeitalter  des  Goldes 
zurück,  so  haben  wir  uns  die  silurischen  Felsen  als  bereits  gebildet 
zu  denken,  durchzogen  von  mehr  oder  weniger  goldhaltigen  Quarz- 
adern. Diese  silurischen  Felsen  waren,  wie  noch  jetzt  alle  alten 
oder  jungen  Felsen,  den  zerstörenden  Kräften  des  Luftkreises  aus- 
gesetzt. Sie  verwitterten  und  zerbröckelten  samnit  ihren  gold- 
führenden Quarzadern.  Das  Gold  wurde  also  theihveis  befreit  und 
sammt  den  einschliessenden  Felsarten  von  den  silurischen  Bächen, 
Wildwassern  und  Flüssen  hinweggeschwemmt.  Diese  Flüsse 
schnitten,  wie  noch  jetzt  unsere  Flüsse  thun  ,  ihre  Betten  tief  in 
die  Felsen  und  in  das  Erdreich  des  postsilurischeh  Australiens 
hinein,  und  auf  diesen  Betten  breiteten  sie  den  Goldschutt  aus. 
Nach  dieser  Arbeit  der  meteorologischen  Kräfte  erlitten  jene  Gold- 


Die  Naturgesetze  der  Verbreitung  des  Goldes  auf  der  Erde. 


309 


bäche  eine  Ueberschwemmung  von  Trapj^laven,  welche  sie  mehr 
oder  weniger  ausfüllten.  Durch  '  die  Trappschichten  muss  also 
der  Bergmann  hinabsteigen,  bis  er  das  vergrabene  Bett  der  silu- 
rischen Goldbäche  erreicht.  Er  ist  dann  höchlich  erstaunt,  wenn 
er  sich  durch  den  „blauen  Stein"  (Trapp)  hindurchgearbeitet  hat, 
unter  dieser  Felsart  abgerundete  Kiesel  und  selbst  Baumreste  an- 
zutreffen. Sobald  er  auf  sie  stösst,  befindet  er  sich  aber  am  rich- 
tigen Ort;  er  hat  das  Bett  eines  silurischen  Goldbaches  erreicht. 
So  ist  beispielsweise  die  reichste  Goldmine  ganz  Australiens  bei 
Creswicks  Creek  nichts  anderes  als  das  mit  jüngeren  Bildungen 
ausgefüllte  Bett  eines  paläozoischen  Goldbaches. 

Wem  diese  Verhältnisse  klar  sind,  der  wird  auch  verstehen, 
dass  es  in  Australien  vorzüglich  zweierlei  Arten  des  Goldbergbaues 
giebt,  nämlich  entweder  das  Ausbeuten  der  aus  silurischer  Zeit 
noch  unangetasteten  Quarzadem,  oder  das  Verfolgen  der  ehe- 
maligen überschütteten  Goldbäche  der  silurischen  oder  vielmehr 
postsilurischen  Epoche.  Der  Hauptsitz  dieser  letzteren  Art  der 
Goldgewinnung  liegt  in  der  Nähe  von  Ballarat,  einer  Stadt,  die 
erst  in  den  letzten  sechs  bis  sieben  Jahren  aufgewachsen  ist.  Die 
Einwohner  von  Ballarat,  obgleich  nicht  selbst  Bergleute,  sind  doch 
bei  allen  Goldgruben  als  Actionäre  betheiligt,  denn  das  Gold- 
schürfen kann  in  Australien  nur  mit  Hülfe  grosser  Capitalien  be- 
trieben werden. 

Seltene  Fälle  abgerechnet,  gelangt  man  zum  Gold  nur,  wenn 
man  3 — 400  Fuss  tief  gräbt.  Die  Unterlage  der  Goldseifen  bildet 
ein  weicher  Thonschiefer  oder  Pfeifenthon.  Auf  dieser  Flur  findet 
sich  die  goldführende  Schicht  oder  das  Waschgut  ausgebreitet,  und 
zwar  nicht  etwa  fleckenweise,  sondern  in  fortlaufenden  Canälen 
oder  Bächen  (,,leads").  Es  giebt  allerdings  auch  Goldlager,  die 
sehr  seicht  unter  der  Oberfläche  liegen  und  die  man  als  die  Betten 
ehemaliger  goldführenden  Seen  und  Sümpfe  betrachtet;  die  tiefen 
Goldlager  aber  stammen  alle  von  vorweltlichen  Flüssen  her,  deren 
Lauf  sehr  oft  gekrümmt  war,  und  die  namentlich  gern  sich  spal- 
teten, um  sich  später  wieder  zu  vereinigen,  wozu  noch  jetzt  alle 
austraUschen  Flüsse  eine  vorwiegende  Neigung  besitzen.  Ihre 
Betten  wurden,  wie  wir  oben  bemerkten,  von  verschiedenen 
Eruptionsheerden  aus  mit  geschmolzenen  Basalten  ausgefüllt.  Bei 
Ballarat  sind    diese  Lavadecken   gewöhnlich  6  — 10  Fuss    mächtig 


ojQ  Zur  mathematischen  uud  physischen  Geographie. 

und  liegen  bisweilen  nur  ein  paar  Zoll  über  dem  Goldschutt^  bis- 
weilen aber  auch  loo  und  200  Fuss  höher,  indem  sich  zwischen 
die  Goldseifen  und  die  Laven  andere  nicht  goldführende  Schichten 
—  Sand,  Kiesel  und  Felsentrümmer  —  abgelagert  haben.  Als  jene 
flüssigen  Laven  zu  dem  sogenannten  Blausteine  abgekühlt  waren, 
der  in  den  Colonien  als  Baumaterial  sehr  geschätzt  ist,  wurden 
auch  sie  wiederum  von  anderem  Schwemm-  und  Schuttland  über- 
deckt, ja  es  kommt  vor,  dass  man  4 — 6  solcher  Basaltlager  und 
dazwischen  liegende  Schichten  durchbohren  muss,  ehe  man  das 
Gold  erreicht. 

Da  die  Gegenwart  der  unterirdischen  Goldbäche  sich  durch 
nichts  an  der  Oberfläche  verräth,  so  würde  das  Goldsuchen  in 
Australien  zu  den  gewagtesten  Unternehmungen  gehören,  wenn 
nicht  eine  gesetzliche  Anordnung  es  erleichterte,  welche  genau  auf 
die  bergmännische  Erfahrung  und  die  geologischen  Verhältnisse 
gegründet  ist.  Man  bezeichnet  sie  kurzweg  als  das  Frontage- 
System.  Hat  nämlich  irgend  ein  Glücklicher,  gewöhnlich  wohl  an 
einer  seichten  Stelle,  einen  Goldbach  erreicht,  so  muss  er  den 
Fund  bei  dem  Grubenaufseher  sogleich  anzeigen,  wenn  er  nicht 
seinen  Finderlohn  verheren  will,  der  in  Belehnung  mit  einem  er- 
weiterten Ausbeutungsbezirk  —  extended  claim  —  besteht.  Je 
tiefer  nämUch  seine  Schacht  und  je  mehr  Bergleute  bei  seinem 
Unternehmen  beschäftigt  waren,  desto  grösser  wird  der  Bezirk  des 
Fundes  ausgemessen,  d.  h.  er  darf  dem  Goldbach  unter  der  Erde 
so  und  so  viel  Fuss  folgen.  Sogleich  bildet  sich  nun  eine  zweite 
Gesellschaft  und  lässt  sich  mit  dem  Bezirk  (claim)  Nr.  2  belehnen. 
Nach  ihr  kommt  der  Reihe  nach  Nr.  3  und  so  fort,  bis  oft  50, 
ja  IOC  Gesellschaften  „protokollirt"  worden  sind.  Da  wo  die 
Gränzen  der  ersten  Finder  aufhören,  beginnt  der  Bezirk  Nr.  2.^) 
Dieser  erstreckt  sich  je  nach  der  Tiefe  der  Schachte  so  und  so 
viel  Fuss  in  gerader  Linie  von  den  letzten  Gränzen,  er  schneidet 
also  ein  Stück  von  dem  Bache  wieder  ab  ,  breitet  sich  aber  nach 
rechts  und  links  ins  Unbegränzte  aus.  Da  die  Kosten  des  Schacht- 
grabens sehr  bedeutend  sind  und  man  nicht  wissen  kann ,  wohin 
der  Goldbach  seine  Richtung  nimmt,   so  werden   die  jn-otokollirten 


i)   Da  man  oberhalb   und  unterhalb  arbeiten  kann,    so  werden  wahrschein 
lieh  Nr.    2   und  Nr.   3  gleichzeitig  in  Angriff  genonnnen. 


Die  Naturgesetze  der  Verbreitung  des  Goldes  auf  der  Erde.  -^n 

Nachbarn  immer  warten  müssen,  bis  ihre  Vordermänner  Gold  ge- 
funden haben,  welches  diese  sogleich  durch  Aufziehen  einer  Flagge 
über  dem  Mund  des  Schachtes  anzeigen  müssen.  So  folgt  man 
dem  Goldbache  von  Strecke  zu  Strecke,  und  bei  diesem  Verfahren 
werden  Generationen  noch  vergehen,  ehe  die  australische  Gold- 
beute erschöpft  sein  wird.  Hat  der  Vordermann  Gold  gefunden, 
so  geht  die  nächste  Gesellschaft  dann  nicht  blind  an's  Werk.  Man 
sondirt  vielmehr  mit  eisernen  Bolzen,  bis  man  auf  Basaltlager 
stösst.  Hat  man  diese  gefunden,  so  kann  man  mit  ziemlicher 
Sicherheit  vermuthen,  dass  man  sich  über  dem  Bette  eines  post- 
silurischen  Goldbaches  befindet.  So  lange  man  durch  Sand  und 
Kies  zu  graben  hat,  genügt  eine  Schaufel,  ein  Kübel,  ein  Flaschen- 
zug und  ein  Karren,  um  das  ausgehobene  Erdreich  hinwegzufahren. 
Wenn  man  aber  zum  Basalt  kommt,  muss  man  mit  Hammer  und 
Meisel  arbeiten  und  mit  Pulver  sprengen.  Erst  nachdem  man 
aber  etliche  solcher  Basaltschichten  durchstochen  hat,  beginnt  der 
grosse  Geldaufwand.  Es  brechen  nämlich  von  allen  Seiten  Wasser 
in  die  Grube,  welche  von  Maschinen  ausgepumpt  werden  müssen. 
Um  aber  das  fortwährende  Eindringen  des  Wassers  abzuhalten, 
muss  der  Schacht  mit  starken  Dielen  von  blauem  Gummiholz, 
welches  so  schwer  ist  wie  Eisen,  wasserdicht  verkleidet  werden. 
So  dauert  es  drei,  vier,  ja  fünf  Jahre,  ehe  der  Goldschutt  erreicht 
wird,  und  oft  genug  müssen  die  Bergleute,  überwältigt  vom  Wasser, 
ihr  Unternehmen  noch  vorher  aufgeben.  Hat  man  endlich  das 
Bett  des  Goldbaches  erreicht,  dann  werden  nach  allen  Compass- 
richtungen  Gallerien  als  Fühlfäden  eröffnet,  um  zu  erkunden,  welche 
neue  Richtung  etwa  der  Goldbach  einschlage.  Man  sage  sich 
jetzt  selbst,  auf  wie  lange  Zeit  diese  Art  des  Bergbaues  noch  fort- 
gesetzt werden  kann ,  da  viele  dieser  Bäche ,  in  einer  Richtung 
allein,  70 — 80  engl.  Meilen  Länge  besitzen  müssen. 

Ganz  verschieden  davon  ist  eine  andere  Art  der  Goldausbeute, 
wie  sie  in  grossartiger  Weise  bei  Bendigo  (nördhch  von  Ballarat, 
nordwestlich  von  Melbourne)  betrieben  wird.  Bendigo  war  einst 
ein  seichtes  Goldseifenfeld.  Seine  berühmte  Wascherde,  kaum 
3  Fuss  unter  der  Oberfläche,  lieferte  auf  jeden  Eimer  so  und  so 
viel  Pfd.  St.  in  Metall.  Wo  man  aber  diesen  seichten  Goldschutt 
abgeräumt  hatte,  stiess  man  sogleich  auf  harte  Felsarten.  Der 
Goldsumpf  Bendigo's    war   bald    erschöpft,    jenseits   seiner   Ränder 


-7X2  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

aber  neigt  sich  die  felsige  Unterlage  sehr  schräg  abwärts,  und 
dort  beginnt  sich  der  Goldschutt  wieder  in  Goldbäche  zu  theilen, 
die  im  Ballarater  Style  abgebaut  werden.  Nicht  desswegen  aber, 
sondern  wegen  seiner  Quarzmühlen  ist  Bendigo  berühmt.  Der 
Bergmann  greift  hier  nach  dem  noch  unangetasteten  Metall,  er 
sucht  es  in  seiner  uranfänglichen  Lagerstätte  auf,  er  zerstösst  den 
Quarz  zu  Pulver  und  wäscht  ihn  aus.  Diese  Vorarbeiten  haben 
bei  den  verschütteten  Goldbächen  die  Gewässer  der  geologischen 
Vorwelt  bereits  verrichtet.  Sie  leisteten  dem  Menschen  die  Dienste 
der  Quarzmühlen  und  besorgten  auch  theilweise  das  Auswaschen, 
allerdings  mit  Verschwendung  unfasslicher  Zeiträume ,  innerhalb 
welcher  sie  aber  auch  nichts  zu  versäumen  hatten.  Die  silurischen 
Felsen ,  die  Urlagerstätten  des  Goldes ,  denke  man  sich  gespalten 
und  die  Spalten  mit  Quarz  ausgefüllt.  Solche  Quarzadern  oder 
richtiger  Quarzschichten,  senken  sich  gewöhnlich  scheitelrecht  und 
parallel  mit  den  Schichtungen  der  einschliessenden  Schiefer  und 
Sandsteine  abwärts.  Ihre  Mächtigkeit  schwankt  von  etlichen 
Linien  bis  zu  30,  ja  selbst  50  Fuss.  In  senkrechter  Richtung  hat 
man  ihre  Ausdehnung  noch  nie  begränzt  gefunden,  in  horizontaler 
vermuthet  man  sie  so  lang  wie  das  Gebiet  der  goldführenden 
Gebirge,  länger  als  6 — 8  engl.  Meilen  hat  man  jedoch  bis  jetzt 
noch  keine  Quarzschicht  verfolgt.  Ihr  Metallreichdium  ist  höchst 
verschieden.  Bisweilen  liefert  nur  die  obere  Lage  Gold,  bisweilen 
rauss  man  100,  ja  200  Fuss  tief  hinabgehen,  ehe  man  Gold  findet, 
noch  öfters  findet  man  längs  einer  Ader  gar  nichts.  Da  man  in 
Californien  mit  Vortheil  Quarz  ausbeutet,  auch  wenn  er  nur 
V^iooojooo  Gold  enthält,  so  können  auch  die  ärmsten  Quarzadern 
noch  abgebaut  werden.  Die  grosse  Streitfrage  zwischen  Geologen 
und  Bergleuten  in  Australien  besteht  aber  darin,  ob  die  Quarz- 
schicht im  Durchschnitt  mit  wachsender  Tiefe  ärmer  an  Gold  werde 
oder  nicht.  Sir  Roderik  Murchison  hat  lange  geschwankt,  und 
es  scheint  auch  wirklich  sehr  schwierig,  sich  zu  entscheiden. 
Hr.  Selwyn,  der  amtliche  Geolog  Victoria's,  überzeugte  sich  jedoch 
am  Schlüsse  vieljähriger  Erfahrungen,  dass  allerdings  mit  wachsen- 
der Tiefe  der  Grube  die  Aussichten  im  Durchschnitt  geringer  werden. 
Es  fehlt  aber  nicht  an  einzelnen  glänzenden  Widerlegungen.  Bei 
den  Gruben  Mariners  Reef  und  Poverty  Reef  wurde  Gold  erst 
in  200  und  400  Fuss  Tiefe  gefunden.     So  verkaufte  einst  die  Bo- 


Die  Naturgesetze  der  Verbreitung  des  Goldes  auf  der  Erde.  xi^ 

livia  Reef  Company  für  1500  Pfd.  St.  eine  Grube,  welche  12,000 
Pfd.  St.  gekostet  und  bei  150  Fuss  Tiefe  noch  kein  Gold  geliefert 
hatte.  Die  Käuferin ,  Ajax  Mining  Association  geheissen ,  warb 
Bergleute  gegen  Tantiemen  (25  Procent  der  Ausbeute  bei  sehr 
niederm  Arbeitslohn),  und  diese  hatten  nach  zehn  Wochen  schon 
allein  an  Gewinnprocenten  10,000  Pfd.  St.  verdient.  Das  erste 
Gold  war  nämlich  bei  170  Fuss  Tiefe  gefunden  worden  und 
setzte  sich  bis  auf  500  Fuss  Tiefe  fort,  wo  die-  Quarze  noch 
immer  sechs  Unzen  Gold  per  Tonne  (20  Centner)  lieferten. 


12.    Die  Alpenreisen  als  geistiges 
Bildungsmittel. 

(Aus  einem  Vortrag,  gehalten  zur  Eröffnung  der  deutschen  Alpen- 
vereinssection  Augsburg.) 

(Ausland  1869.     Nr.   35.     28.  August.) 

Wenn  unsere  würdigen  Voreltern,  unsere  Urgrossväter  aus 
dem  Jahr  1769,  m  welchem  A.  v.  Humboldt  geboren  werden 
sollte,  welches  den  Dichter  des  Wilhelm  Teil  erst  als  zehnjährigen 
Knaben  und  einen  der  frühesten  Alpenwanderer,  unsern  Goethe 
erst  als  zwanzigjährigen  Jüngling  kannte,  auf  unser  heutiges  ihnen 
räthselhaftes  Thun  und  Treiben  herabschauen  könnten,  so  würden 
die  milder  Denkenden  unter  ihnen  wahrscheinlich  im  stillen  sich 
sagen,  dass  ihre  Enkel  ausserordentlich  viel  überflüssige  Zeit  zu 
verschwenden  hätten.  Die  unendlich  grösste  Mehrzahl  aller 
Alpenwanderer  [treibt  nämlich  nichts  anderes,  als  die  Begierde 
nach  einem  ästhetischen  LGenusse  in  die  Gebirge.  Dass  der 
Wohnort  unseres  Geschlechtes,  nämlich  die  Erde,  und  auf  der 
Erde  gewisse  bevorzugte  Räume  mit  Schönheit  ausgestattet  seien, 
ist  eine  völlig  moderne  Entdeckung,  und  es  sind  noch  nicht  hun- 
dert Jahre  her,  dass  diese  Entdeckung  Popularität  gewonnen  hat. 
Im  Alterthum  war  wenig  Sinn  für  die  Naturreize  vorhanden,  und 
wo  er  sich  regte,  wurde  das  Meer  und  die  Uferlandschaften,  es 
wurden  heitere  sanft  aufgeschlossene  Gefilde,  das  Gefällige,  nicht 
das  Grossartige  gepriesen,  ja  gerade  das  Hochgebirge  als  eine  ab- 
stossende  und  schreckenerregende  Einöde  geschildert  und  gern 
gemieden.  So  blieb  es  auch  im  Mittelalter  und  noch  manche 
Jahrhunderte  später.     Der  wackere  Sebastian  Münster  (erste  Hälfte 


Die  Alpenreisen  als  geistiges  Bildungsmittel.  -j  j  z. 

des  x6.  Jahrhunderts),  der  in  die  deutsche  Schrittsprache  zuerst 
das  Wort  Gletscher  eingeführt  hat,  schildert  eines  der  erhabensten 
schweizerischen  Thäler,  nämlich  die  Taminaschlucht  beim  Bade 
Pfäffers ,  mit  den  Worten:  „sie  sei  von  hohen  und  grausamen 
Felsen  beschlossen",  und  als  er  auf  dem  Gemmipass  steht,  fühlt 
er  sich  „bis  in  die  Knochen  und  das  Herz  erzittern." 

Auch  bei  Johann  Jakob  Scheuchzer  (am  Anfang  des  1 8.  Jahr- 
hunderts), dem  ersten,  der  das  Barometer  zu  Höhenmessungen  in 
die  Schweizer  Gebirge  trug,  freilich  ehe  noch  eine  genügende 
Formel  der  Ableitung  der  Höhen  aus  dem  verminderten  Luftdruck 
vorhanden  war,  suchen  wir  vergebens  nach  Ausbrüchen  der  Be- 
geisterung für  Alpenschönheiten.  Selbst  noch  im  Jahr  1813  zog 
der  berühmte  schwedische  Botaniker  Wahlenberg  Vergleiche  zwi- 
schen der  Schweiz  und  dem  schwedischen  Norden,  die  gegen- 
wärtig für  uns  fast  unverständlich  klingen.  „Wenn  man,  sagt  er, 
von  den  lappländischen  Alpen  herabsteigt,  umfängt  uns  ein  hei- 
terer Birkenwald  mit  freundlich  nickenden  Wipfeln.  Zu  tausenden 
tanzen  und  schwärmen  Mücken  und  Bienen,  hüpfen  gesellige  Ren- 
thiere  im  Lichte  der  nicht  mehr  untertauchenden  Sonne,  die  eine 
unvergleichliche  Lebenslust  verbreitet.  In  der  Schweiz  dagegen 
beschattet  uns  ein  düsterer  Fichtenwald,  der  seine  schwärzlichen 
Pyramiden  hinaufsendet  über  fette  Triften,  wo  die  Alpenrinder 
ihren  Rücken  und  unbeweglichen  Nacken  geduldig  dem  Regen 
und  Hagel  preisgeben,  während  aus  dunkler  Wolke  Blitz  auf  Blitz 
niederschmettert,  und  wo  wir  uns  vergebens  umschauen  nach  ge- 
schäftigen Bienen  und  dem  Reigen  der  Mücken.  Die  Natur  hat 
überall  dort  ein   strengeres  aber  dauerhafteres    Gewand   angelegt". 

Der  Sinn  für  Naturreize  erwachte  erst  in  der  zweiten  Hälfte' 
des  vorigen  Jahrhunderts.  Die  Schilderungen  von  Georg  Forster, 
der  mit  seinem  viel  seltener  genannten  und  doch  wissenschaftlich 
bedeutenderen  Vater  Johann  Reinhold,  den  Entdecker  Cook  auf 
der  zweiten  Erdumsegelung  begleitete,  waren  es,  welche  bei  A.  v. 
Humboldt  die  Sehnsucht  nach  fernen  Weltgegenden  entzündete. 
Gleichzeitig  mit  Georg  Forster  hat  Goethe  unserm  Volke  das 
Auge  für  Grösse  und  Erhabenheit  in  der  Natur  geöffnet.  Das  Thal 
von  Chamounix  war  erst  1741  von  den  Engländern  Windham 
und  Pococke  das  erstemal  zu  wissenschaftlichen  Zwecken  besucht 
worden ,  und  wurde ,  als  es  Goethe  1779  durchwanderte ,  noch, 
ziemlich  selten  berülut.     Das  einmal  erweckte    Entzücken    an  der 


2  1 6  Zur  mathematisehen  und  physischen  Geographie. 

Natur  ergriff  auch  Schiller,  der  in  seinem  Wilhelm  Teil  die  Schweiz 
abgesehen  von  einigen  Missgriffen,  nach  Hörensagen  überraschend 
richtig  geschildert  hat.  Wie  wenig  Verständniss  und  Liebe  für  den 
■ästhetischen  Naturgenuss  noch  vor  loo  Jahren  vorhanden  war, 
lehrt  uns  eine  Musterung  aller  Gallerien.  Die  Meister  früherer 
Jahrhunderte  haben  keine  Landschaften  gehefert,  oder  höchstens 
als  gedämpften  Hintergrund  für  die  Gegenstände  ihrer  Wahl  be- 
nutzt, und  die  ersten  Gemälde,  welche  etwas  anderes  darstellen, 
als  bibhsche  Scenen,  Thaten  des  Alterthums ,  Schlachten  oder 
Stillleben,  sind  Seeuferstücke  oder  Haine.  Ein  Calame  oder  Rott- 
mann hätten  wahrscheinlich  vor  hundert  Jahren  noch  wenig  Käu- 
fer gefunden. 

Jetzt  ist  die  Alpenwelt  ein  veredelndes  Erbauungsbuch  gewor- 
den ,  und  zwar  für  das  gesammte  Volk ,  meistens  zum  Verdruss 
gerade  der  eifrigen  Alpenfreunde,  welche  die  vormalige  Stille  ihrer 
Lieblingsthäler  mit  innerem  Ingrimm  entweiht  glauben  durch  einen 
geschwätzigen  Schwärm  Zerstreuung  suchender  Touristen.  Erwä- 
gen wir  aber  billig,  welches  unschätzbare  Bildungsmittel  uns  selbst 
die  Gebirgsreisen  geworden  sind,  so  können  wir  uns  nur  freuen, 
dass  jeder  Tag  im  Juli,  August  und  September  allein  in  die 
Schweiz  Tausende  von  Fremden  herbeiführt.  Unter  diesen  Tau- 
senden von  Fremden  befinden  sich  zahllose  Bewohner  des  flachen 
Nordens,  die  unter  knappen  Verhältnissen  eine  Reihe  von  Jahren 
Thaler  zu  Thaler  sparen  müssen,  um  den  heissen  Lebenswunsch, 
die  erste  Alpenreise,  erfüllt  zu  sehen.  Bemerken  wir  wohl,  welcher 
grosse  sittliche  Hebel  mit  dem  Erwachen  so  reiner  Begierden  für 
unsere  Nation  gegeben  ist,  und  wie  armselig  uns  die  Geschlechter 
des  vorigen  Jahrhunderts  erscheinen,  die  jenen  Genuss  nicht 
kannten  und  jenen  veredelnden  Antrieben  nicht  folgten. 

Die  höchste  Befriedigung  gewährt  aber  dem  Landschaftkenner 
nur  das  Hochgebirge.  Wenn  auch  nicht  ausschliesslich ,  doch 
immer  vorzugsweise,  sind  die  schroffen  Aufrichtungen  nur  den 
grösseren  und  den  jugendlichen  Gebirgen,  wie  unsern  Alpen,  eigen. 
Von  dieser  Schroffheit  und  von  dem  geologischen  Bau  hängt  der 
prachtvolle  Wechsel  der  Linien  ab ,  die  vielfachen  Verbiegungen 
der  ehemals  horizontalen  Schichten,  und  die  senkrechten  Zerklüf- 
tungen, welche  die  Verwitterungen  der  Kämme,  die  Felsspalten, 
die  Schluchten  und  viele  Thalbildungen  herbeigeführt  haben.  In 
diesem  Sinne  besitzen  die  Alpen   grosse   Vorzüge    vor   den    Pyre- 


Die  Alpenreisen  als  geistiges  Bildungsmittel.  ^IJ 

näen,  denn  die  sogenannte  mittlere  Kammlinie,  die  aus  der  Höhe 
der  Pässe  abgeleitet  wird,  beträgt  bei  den  Pyrenäen  zwar  7500, 
bei  den  Alpen  7200  Fuss,  die  höchsten  Gipfel  dagegen  bei  den 
Pyrenäen  10,212  und  bei  den  Alpen  14,809  Fuss.  Diese  Ziffern, 
welche  A.  v.  Humboldt  eingeführt  hat ,  belehren  uns ,  dass  die 
Pässe  in  den  Alpen  auf  der  halben  Höhe  der  Gipfel,  in  den  Py- 
renäen nur  auf  zwei  Drittel  liegen,  folglich  in  den  Alpen  die 
Umrisse  viel  jäher  auf-  und  absteigen  als  in  den  Pyrenäen.  Eine 
Eigenthümlichkeit  haben  die  Pyrenäen,  die  in  den  Alpen  fehlt  oder 
von  der  bis  jetzt  nur  Anfange  sich  zeigen,  nämlich  die  circusarti- 
gen  Thäler,  die,  als  Halbrund  aufgeschlossen ,  überall  von  jähen 
Wänden  umgeben  sind. 

Der  höchse  Reiz  der  Alpennatur  wird  wohl  immer  darin  ge- 
sucht werden,  dass  sie,  übereinander  als  Stockwerke  geordnet  uns 
gleichzeitig  die  Jahreszeiten  in  Reihenfolge  zeigt,  dass  wir  vom 
sonnigen  Thal  aus  Obstrevieren,  Nussbäumen  und  edlen  Castanien 
nach  den  Höhen  schauen,  die  nur  ein  weicher  Teppich  kurzer 
Alpenkräuter  bedeckt,  und  wo  erst  im  September  die  Erdbeeren 
reifen,  so  dass  der  Cyclus  des  Jahres  nur  im  Winter  und  im  Früh- 
jahr besteht,  wie  im  hohen  Norden  der  Erde,  während  über  ihnen 
höher  ein  ewiger  Winter  herrscht,  der  Winter  in  seiner  anmuthig- 
sten  Form,  als  reines  Schneefeld  die  starren  Höhen  überkleidend, 
oder  rauhe  Abhänge  mit  malerischen  Tupfen  zierend,  oder  als 
Ader  und  Netzwerk  in  Felsenrinnen  bis  zu  den  grünen  Matten 
im  Bergschatten  herabzuckend. 

Ein  Gebirge,  dem  die  Schneehäupter  fehlen,  kann  lieblich 
und  anmuthig  sein,  der  Alpenfreund  wird  aber  immer  den  Stempel 
des  Erhabenen  vermissen.  Prismatisch  reine  Farben  kommen  in 
der  Landschaft  nicht  vor  oder  höchstens  in  den  Lufttönen,  nur 
wenn  der  Schnee  vom  Safranlicht  der  Sonne  erwärmt,  oder  zuletzt 
sanft  geröthet  wird  und  daneben  die  blauen  Schatten  stärker  wir- 
ken, erhalten  wir  auch  ziemhch  unvermischte  Brechungen  des 
Lichtes  in  der  Landschaft.  Die  viel  gepriesenen  schottischen 
Hochlande,  obgleich  einige  Gipfel  wenigstens  in  die  Linie  des  aus- 
dauernden Schnees  hinaufragen,  können  einen  Alpenkenner  dess- 
halb  nicht  lange  fesseln,  mit  Ausnahme  vielleicht  der  Küste  vor 
den  Hebriden.  Alles  sonstige,  wenn  es  auf  unsern  Wegen  nach 
den  mittleren  Ketten  der  Alpen  läge  ,  würde  uns  nicht  zu  einer 
Stunde    Aufenthalt     verlocken ,     sondern    wir     würden ,     begierig 


^  j  8  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

auf  unser  grosses  Ziel,  vorübereilen  wie  durch  unsere  Vor- 
berge. 

In  Europa  ist  es  vornehmlich  Norwegen,  welches  die  Natur- 
freunde von  den  Alpen  dann  und  wann  abzieht.  Die  dortigen 
Fjorde  ersetzen  unsere  Seen,  die  Schneelinie  ist  im  Hintergrunde 
sichtbar,  Gletscher  reichen  herab  bis  zum  Spiegel  der  See ,  und 
an  schäumenden  und  donnernden  Wasserstürzen  hat  Skandinavien 
uns  nicht  zu  beneiden.  Achten  wir  aber  auf  das  Urtheil  eines 
grossen  Kenners  unseres  Gebirges,  Karl  Vogt,  so  weiss  er  vom 
südlichen  Norwegen  nicht  viel  verführerisches  zu  sagen.  Es  ist 
im  Grunde  nichts  anderes,  als  eine  grosse  Felsentafel,  die,  am 
Meer  einseitig  aufgerichtet,  nach  Schweden  zu  sanft  abfällt.  Die 
Risse  oder  Schluchten  in  dieser  Tafel  sind  die  Fjorde ,  welche, 
wie  gesagt,  unsere  Gebirgsseen  vertreten  sollen.  ,,Sie  zeigen  aber 
denselben  monotonen  düsteren  Charakter,  den  zwei  fast  senkrechte 
Felswände  ohne  alle  Modellirung  ihrer  Gehänge  mit  einer  horizon- 
talen Fläche  als  Grundlage  nothwendig  zeigen  müssen."  Sind 
diese  Wände  erstiegen,  so  sieht  man  sich  auf  einer  Terrassenebene, 
wo  Renthierzucht  getrieben  wird.  ,,Man  kann  Tage  lang  dort  zu 
Pferd  und  zu  Fuss  herumirren ,  fährt  Karl  Vogt  fort ,  ohne  das 
Auge  an  einem  charakteristisch  geformten  Gipfel,  an  einer  wahr- 
haft malerischen  Aussicht  weiden  zu  können."  Vogt  vergleicht 
das  südliche  Norwegen,  was  seine  Oberflächenbildung  betrifft,  mit 
dem  Jura  und  der  rauhen  Alp,  die  wir  alle  kennen,  aber  ganz 
sicherlich  nicht  zu  einer  Bergreise  auserwählen  werden.  Grössere 
Reize  soll  das  nördliche  Norwegen  entfalten ,  obgleich  wir  uns 
nicht  erinnern,  dass  bei  den  Beschreibungen  Leopold  v.  Buchs 
oder  Charles  Martins'  in  uns  eine  besondere  Sehnsucht  nach  der 
Umgebung  des  Nordcaps  erwacht  wäre.  Dazu  kommt,  dass  sich 
die  Gebirgsreise  dort  in  eine  Kahnfahrt  verwandelt,  da  die  Küste 
eben  nur  vom  Meer  aus  zugänglich  ist.  Endlich  wäre  auch  noch 
das  Wetter  zu  fürchten,  denn  wenn  man  nach  Karl  Vogts  Erfah- 
rungen in  der  Schweiz  auf  drei  Marschtage  einen  Regentag  in  den 
Kauf  nehmen  muss ,  so  darf  man  in  Norwegen  auf  drei  Tage 
immer  zwei  Regentage  erwarten. 

Im  senkrechten  Bau,  in  der  Ausdehnung  und  der  Breite  der 
Zone  hat  der  Kaukasus  viel  Aehnlichkeit  mit  den  Alpen.  Erst 
im  vergangenen  Jahre  ist  er  das  Ziel  von  Bergwanderern,  und 
seine  beiden  höchsten  Gipfel,    der  Kasbeck  und  der  Elbrus,   letz- 


Die  Alpenreisen  als  geistiges  Bildungsmittel.  310 

terer  17,425  Fuss  (pieds)  hoch,  von  Engländern  bestiegen  worden. 
;Mit  der  Zeit  erst,  wenn  er  öfters  beschrieben  und  verglichen  wor- 
den ist,  wird  sich  das  Urtheil  befestigen  können,  ob  er  an  Schön- 
heiten die  Alpen  übertrifft  und  worin  seine  eigenthümlichen  Vor- 
züge, die  er  gewiss  besitzt,  bestehen  mögen. 

Die  Anden  Südamerika' s  sind  noch  niemals  mit  unsern  Alpen 
verghchen  worden.  Sie  erheben  sich  sowohl  von  der  Südsee  wie 
von  dem  Festlande  aus  sehr  schroff,  auf  der  Westseite  am  Meer 
liegen  trostlose  Wüsten ,  auf  der  Ostseite  ein  dichter  Wald.  Der 
breite  Rücken  des  Gebirges  sind  aber  Hochebenen,  schon  weit 
der  Waldgränze  entrückt,  auf  denen  als  Ränder  die  zwei  oft  drei- 
fachen Ketten  aber  ohne  Baumwuchs  im  Vordergrunde  aufgerich- 
tet sind. 

So  wird  denn  unsern  Alpen  der  höchste  Preis  von  Gebirgs- 
schönheit  allein  vom  Himalaya  bestritten.  Er  vereinigt  vieles, 
was  wir  in  unsern  Bergen  nicht  suchen  dürfen.  Dort  liegt  der 
höchste  Gipfel  der  Erde,  der  Gaurisankar,  29,002  Fuss  (feet)  oder 
37,212  Fuss  (pieds),  so  hoch  beinahe,  als  wenn  man  sich  die 
Jungfrau  auf  den  Montblanc  gesetzt  dächte.  Dort  sind  auch  schon 
Höhen  erstiegen  worden,  wo  das  Quecksilber  im  Barometer  auf 
14  Zoll  (pouces)  sank,  der  Luftdruck  also  nur  eine  halbe  Atmo- 
sphäre betrug.  Am  Fuss  der  Berge  erstreckt  sich  eine  tropische 
Pflanzenwelt:  Elephantengras,  Bambusdickichte  und  wo  es  Wasser 
giebt  auch  Palmenhaine.  Auf  luftigen  Höhen  finden  wir  eine 
Anzahl  der  edelsten  Ziergewächse  aus  der  Familie  der  Rhododen- 
dren, aber  Strauch-  und  fast  baumartig,  so  dass  unsere  Alpenrosen 
nur  kümmerlich  jene  Familie  vertreten.  Dort  ist  die  Heimath  der 
sinnigsten,  den  Eindruck  einer  Persönlichkeit  am  meisten  hervor- 
rufenden,  Baumgestalt  aus  der  Famihe  der  Nadelhölzer,  nämlich 
der  Deodara,  von  einer  Libanonceder  nur  dann  zu  unterscheiden, 
wenn  die  geschwisterlichen  Formen  dicht  neben  einander  stehen. 
AVer  vollends  mit  den  ästhetischen  Genüssen  einer  Bergwanderung 
das  edle  Waidwerk  verknüpft,  wird  dort  die  höchste  Aufregung 
und  den  grössten  Wechsel  vereinigen  können.  Am  Fusse  des 
Gebirges,  im  Dschengellande  oder  Terai  lauern  Bär  und  Panther, 
Tiger  und  Nashorn.  Höher  hinauf  zwischen  den  immergrünen 
Eichen  und  Cedern,  unter  die  sich  die  Rhododendren  mischen, 
mag  er  das  Bergschaf,  die  Gemse  und  andere  Antilopenarten  be- 
schleichen.      Am    oberen   Rande    der   Baumgränze   findet   er   den 


^20  Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 

Ibex  und  noch  höher  das  Schneeschaf,  das  Wildschaf,  das  Riesen- 
schneeschaf,  das  Bergrind  (Yak)  und  das  Kijang  oder  Wildpferd 
meist  in  Familien  oder  Heerden  beisammen.  Das  Revier  dieser 
Thiere  liegt  so  hoch  wie  der  Montblancgipfel,  und  wenn  der  Waid- 
mann rastet,  oder  auf  dem  Anschlag  liegt,  kann  er  sein  Auge  an 
Eisgebirgen  laben,  deren  Hörner  meist  über  20,000  Fuss  messen, 
während  unter  ihm  in  tief  eingeschnittenen  Thälern  aus  gewaltigen 
Gletschern  nicht  als  Bäche,  sondern  als  wasserreiche  Flüsse,  der 
Ganges  oder  die  Dschamna  hervorbrechen.  Die  Einöde  jener 
erhabenen  Alpenthäler  wäre  vollkommen,  wenn  nicht  dem  Hindu 
alle  seine  Ströme  geheihgt  wären,  so  dass  sich  in  der  Nähe  ihres 
Ursprungs  immer  Tempel  und  Wallfahrtsstätten  befänden. 

Mit  indischen  Erhabenheiten  können  sich  freilich  unsere  Alpen 
nicht  messen,  und  es  bliebe  uns  daher  nichts  übrig,  als  uns  ein- 
zugestehen, dass  es  noch  weit  schönere  Gebirgswelten  auf  der  Erde 
gäbe  als  die  unsrige,  die  wir  an  günstigen  Tagen  im  Süden  un- 
serer Hochebene  aufsteigen  sehen ,  wenn  wir  uns  nicht  wieder 
trösten  könnten,  dass  wir  etwas  besitzen,  was  dem  Himalaya  fehlt. 

Er  hat  keine  Seen.  Nur  in  einem  wenig  grossartigen  Theile 
des  Himalaya  liegt  Kaschmir  an  einem  See,  ausserdem  aber  giebt 
es  nur  kleine  Becken,  die  wir  Weiher  nennen  würden,  nichts  was 
sich  mit  unsern  Alpen-Meeren  wie  der  Genfer-  und  der  Bodensee, 
nichts  was  sich  mit  den  italienischen,  was  sich  mit  dem  Vierwald- 
stätter,  dem  Thuner,  dem  Wallenstätter,  dem  Achen-,  dem  Kö- 
nigs- und  dem  Traun-See  vergleichen  könnte.  Von  Valparaiso 
über  Santiago  de  Chile  führt  ein  vielbegangener  Pass  über  die 
Anden  nach  Mendoza,  welches  vor  wenigen  Jahren  ein  Erdbeben 
gänzlich  vernichtete.  Ehe  die  Cumbre  oder  das  Joch  erreicht  wird, 
sieht  man  zur  Linken  in  Schluchtentiefe  einen  kleinen,  blanken, 
schwarzen  See.  Die  Eingebornen  haben  ihn  das  Auge  des  Inca 
genannt.  Und  in  der  That,  die  Seen  sind  die  Augen  der  Gebirgs- 
welt,  und  Alpen  ohne  Seen   sind  uns  blind  wie  Belisar. 

Alpenseen  finden  sich  nur  im  Felsengebirge  Nordamerika' s, 
jedoch  nicht  auf  beiden  Abhängen  wie  bei  uns ,  sondern  nur  am 
Abhänge  nach  dem  stillen  Meer  zu.  Die  Felsengebirge  werden 
jetzt  immer  häufiger  besucht,  tmd  so  weit  man  aus  Beschreibungen 
und  Gemälden  sich  ein  Urtheil  bilden  kann,  haben  sie  ungemein 
viel  landschaftliche  Aehnlichkeit  mit  unserer  Gebirgswelt.  Es  fehlt 
ihnen  nicht    an  Schneegipfeln ,    an    Gletschern ,    an  Wasserstürzen, 


*  Die  Alpenreisen  als  geistiges  Bildungsmittel.  ^  2  i 

sie  sind  die  Heimath  der  höchsten  Bäume  der  Erde,  der  WelUng- 
tonien,  zu  den  Nadelhölzern  zählend,  aber  emer  eigenen  Gattung 
Sequoia  angehörend.  Noch  deckt  aber  die  Höhen  und  die  Thäler 
völlig  geschlossener  Wald,  und  wer  eine  lebendige  Anschauung 
unserer  Alpenwelt  zur  Pfahlbauernzeit  gewinnen  will ,  der  sollte 
rasch  die  Felsengebirge  besuchen,  ehe  die  betriebsamen  Yankee 
allzuviel  Sägemühlen  errichtet  haben  werden. 

Vor  ethchen  Jahren  waren  die  Engländer  eifrig  bemüht,  die 
Frage  zu  lösen,  warum  es  nur  in  den  Alpen,  nicht  in  den  Pyre- 
näen, nicht  im  Kaukasus  und  nicht  im  Himalaya  Gebirgsseen  gäbe. 
Wilde  geologische  Träumereien  wurden  über  den  Ursprung  dieser 
Thalspalten  veröffentlicht,  und  vor  allem  an  die  Eiszeit  und  ihre 
Gletscher  ganz  unbillige  Zumuthungen  gestellt,  nämlich  das  Aus- 
pflügen jener  Becken  verschuldet  zu  haben,  die  auf  italienischem 
Gebiet  mit  ihrer  Sohle  nicht  nur  bis,  sondern  noch  um  1000  und 
mehr  als  1000  Fuss  unter  den  Meeresspiegel  hinabreichen.  Ueber 
den  Bau  dieser  Becken,  die  theilweise  in  hohlen  Terrainfalten  oder 
Muiden,  theils  in  senkrechten  Klüften,  theils  in  den  tiefen  Stellen 
eingesunkener  Felsmassen  liegen,  hat  Desor  uns  den  besten  Auf- 
schluss  gegeben.  Doch  beantwortet  er  nicht  die  Frage,  warum 
in  andern  Gebirgen,  denen  doch  weder  Mulden,  noch  Spalten, 
noch  Comben  fehlen,  keine  Seen  sich  finden.  Und  doch  lässt  sich 
der  Sachverhalt  nicht  schwer  erklären.  Die  Seen,  aus  denen  uns 
das  Spiegelbild  der  Gebirge  entgegentritt,  gehören  zu  seinen  ver- 
gänghchsten  Reizen.  Mögen  sie  völlig  abgeschlossen  liegen  oder 
von  einem  Fluss  durchzogen  werden,  jedes  Wasser,  was  ihnen  zu 
oder  durch  sie  hindurchrinnt,  jedes  Gewitter,  und  jedes  schmel- 
zende Schneefeld  führt  Sand  und  Schutt  in  ihr  Becken,  und  jeden 
Tag  vermindert  sich,  wenn  auch  unmerklich,  der  Rauminhalt  dieser 
Gefässe.  Portus  Valesiae  lag  zur  Römerzeit  noch  am  Genfer  See, 
jetzt  schon  eine  Wegstunde  landeinwärts.  Schritte  die  Ausfüllung 
jenes  Beckens  in  gleichem  Tempo  fort,  so  würde  die  Trocken- 
legung des  Genfer  Sees  in  70,000  Jahren  vollendet  sein.  Ein 
solcher  Zeitraum  erscheint  dem  Laien  freilich  unfasslich  gross, 
allein  die  neuere  Geologie  hat  uns  an  weit  gewaltigere  Ziffern  ge- 
wöhnt. Dass  am  Fusse  der  Alpen  sehr  viele  Seen  in  historischen 
Zeiten  verschwunden  sind,  bezeugen  uns  viele  bairische  Ortsnamen. 
Unsere  Torfstiche  und  Moose  erzählen  uns  ebenfalls  von  frühern 
Zeiten,  wo  sich  noch  weit  mehr  stehende  Wasser  als  gegenwärtig 

Pcschel  Abhandlungen.     II.  21 


322 


Zur  mathematischen  und  physischen  Geographie. 


in  unserer  nächsten  Heimath  ausbreiteten.  Warum  also  die  Alpen 
und  der  westliche  Abhang  der  Felsengebirge  noch  Seen  besitzen, 
und  warum  sie  in  den  Pyrenäen,  im  Kaukasus  und  im  Himalaya 
fehlen,  lässt  sich  nun  leicht  beantworten.  Die  Alpen  und  die 
Felsengebirge  haben  noch  nicht  so  viel  Zeit  gehabt,  um  alle  jene 
Seen  auszufüllen  und  in  glatte  Thalebenen  zu  verwandeln.  Wir 
schliessen  also  daraus,  dass  die  Alpen  später  aufgestiegen  sind 
als  jene  andern  Gebirge,  weil  sie  ihre  Jugendreize  sich  noch  er- 
halten konnten.  Was  den  Himalaya  betrifft,  könnten  wir  noch 
hinzusetzen,  dass  er  ^•ielleicht  rascher  gealtert  sei  als  unsere  Ge- 
birge. Unter  den  Tropen  ist  der  Kreislauf  des  Lebens  im  allge- 
meinen viel  schleuniger.  Auf  eine  frühe  Reife  tritt  ein  frühes 
Welken  ein.  Die  Gewässer  Indiens  aber  werden  gefüllt  von  den 
tropischen  Monsiuiregen,  die  mit  grosser  Heftigkeit  sich  ergiessen 
und  weit  mehr  Schuttland  herabführen,  schon  weil  sie  periodisch 
eintreten.  Selbst  wenn  auch  der  Himalaya  sich  in  dem  gleichen 
Weltalter  wie  unsere  Alpen  aufgerichtet  haben  sollte,  würden  seine 
Gewässer  viel  rascher  die  Thalspalten  ausgefüllt  haben  als  die 
unsrigen.  Geologisch  gesprochen  sind  die  Felsengebirge,  der  Hi- 
malaya und  die  Alpen  jugendliche  Erhebungen  der  Erdoberfläche, 
älter  jedenfalls  als  die  Pyrenäen  und  wahrscheinlich  als  der  Kau- 
kasus. Da  nun  die  Gebirgsseen  in  unsern  östlichen  Alpen  fehlen 
und  am  häufigsten  auftreten  in  der  Schweiz,  so  würde  die  Yer- 
muthung  berechtigt  erscheinen,  dass  die  westlichen  Alpen  eine 
jüngere  Erhebung  als  die  Ostalpen  seien.  Und  wirklich  bestätigt 
auch  die  Geologie  vollständig  diese  Annahme,  denn  die  Hebung 
stand  in  den  Ostalpen  viel  früher  still,  als  in  den  westhchen  Alpen. 
Unmerklich  und  fast  unbeabsichtigt  hat  ims  eine  Zergliederung 
der  Naturreize  auf  das  Gebiet  der  Causalitäten  geführt.  So  mag 
es  und  so  sollte  es  auch  jedem  Alpenwanderer  ergehen!  Wenn 
wir  in  einer  Gebirgseinöde  stehen  und  nichts  gewahren  als  viel- 
leicht die  rauhe  Oberfläche  eines  Gletschers  und  grimmige  Felsen- 
orgeln über  prallen  Wänden,  so  erweckt  der  Anblick  uns  die  trü- 
gerische Vorstellung  einer  ewigen  Erstarrung.  Plötzlich  dröhnt  die 
leere  Bühne  vom  Fall  eines  schweren  Körpers.  Ohne  dass  wir 
es  vielleicht  gesehen  haben ,  wissen  wir ,  dass  ein  Felsenstück 
irgendwo  abgebrochen  ist.  Langsam  aber  sicher  trägt  es  der 
Gletscher  nach  Jahren  ins  Thal  hinab.  Keine  Kraft  ist  in  der 
Natur    vorhanden ,    die    den    Stein    wieder   auflieben ,    welche    die 


Die  Alpenreisen  als  geistiges  Bildungsmittel. 


32: 


Beschädigung  ausbessern  würde,  die  Zerstörung  schreitet  rastlos 
fort,  und  wir  müssen  uns  eingestehen,  dass  das,  was  uns  entzückt, 
ganz  sicherhch  Aergänglich  sei,  wie  ja  nach  dem  Spruche  des 
Dichters  nur  das  VergängUche  schön  geschaffen  wurde.  So  wie 
es  uns  klar  wird,  dass  auch  die  Gebirge  etwas  gewordenes  und 
zeitlich  begrenztes  sind,  treten  sie  uns  menschlich  viel  näher,  und 
es  regt  sich  der  Wissenstrieb  in  uM,  wie  denn  die  Alpen  gewor- 
den sein  mögen,  was  sie  jetzt  sind. 

Selbst  der  flüchtigste  Wanderer  wird  schon  bemerkt  haben, 
dass  die  Felsmassen  einem  Mauerwerk  gleichen,  dass  Schichten 
über  Schichten  liegen  und  zwischen  jeder  Schicht  Fugen  sichtbar 
sind,  die  oft  stundenlang  sich  verfolgen  lassen,  bald  völlig  w-ag- 
recht  verlaufend,  bald  nach  oben  oder  unten  gewölbartig  gebogen, 
bald  geknickt,  ja  bald  zusammengerollt  und  zusammengeschoben 
wie  eine  Schicht  von  Papierblättern.  Mit  wenig  Ausnahmen,  wo 
nämhch  nicht  eine  völHge  Ueberstürzung  stattfand,  wird  die  oberste 
Schicht  vor  Zeiten,  bevor  die  Hebung  eintrat,  ein  Stück  Meeres- 
boden oder  eine  ebene  Landoberfläche  gewesen  sein.  Bedenken 
Sie  nun,  dass  das  tiefste  Bergwerk,  nämlich  das  bei  Kuttenberg 
in  Böhmen,  nur  3545  Fuss  in  die  Tiefe  hinabreicht,  und  durch 
Kunst  also  das  Erdinnere  nur  wenig  aufgeschlossen  ist,  so  werden 
Sie  mit  Freuden  inne  werden,  dass,  wenn  Sie  im  Zermatt  -  Thale 
stehen,  Sie  in  Wahrheit  tief  unten  neben  den  Eingeweiden  des 
Matterhorns  herumwandeln,  welches  vielleicht  um  9000  Fuss  noch 
Ihren  Standort  überragt.  Die  Thäler  erscheinen  in  diesem  Sinne 
als  klaffende  Wunden  in  der  Oberhaut  des  Planeten.  Dringen  wir 
nun  gar  zu  den  Centralketten  vor,  wo  die  Granite  und  Gneisse 
fächerförmig  aufgestiegen  sind  und  die  auf  ihnen  ruhenden  Schich- 
ten wie  Papierhefte  zusammengebogen  oder  überstürzt  haben,  so 
gewahren  wir  noch  mehr  vom  tieferen  Erdinnern,  imd  zugleich 
erkennen  wir  dankbar,  dass  das,  was  uns  so  sehr  entzückt,  die 
Erhabenheit  der  Alpen,  zunächst  diesen  gehobenen  Massen  seinen 
Ursprung  dankt.  Mit  innerer  Genugthuung  werden  wir  uns  dann 
sagen,  dass  die  Alpen  nicht  bloss  etwas  malerisches  sind,  sondern 
dass  sie  neben  frischer  Luft,  neben  Alpenblumen  und  grossen 
meteorologischen  Schauspielen  auch  interessant  werden  können, 
dass  sie  eine  Geschichte  haben,  ihre  Selbstbiographie  uns  erzählen, 
dass  man  in  ihnen  lesen  kann  wie  in  einem  spannenden  Roman, 
und  zwar  in  einem  guten  Roman,  keiner  schalen  Erzählung.  Freilich 

21* 


T2A.  Zur  mathematischen   und  physischen  Geographie. 

ist  der  Roman  geschrieben  mit  hieroglyphischen  Zeichen,  die  lange 
die  Entzifferer  auf  eine  Geduldsprobe  gestellt  haben.  Der  grosse 
Saussure,  dessen  reifere  Jahre  beinahe  völlig  ausgefüllt  wurden  mit 
irgend  einer  Alpenwanderung  oder  der  Vorbereitung  zur  nächsten, 
gestand  am  Schlüsse  seines  grossen  Werkes ,  er  habe  nach  uner- 
müdlichem Suchen  im  Bau  der  Alpen  nichts  beharrliches  gefunden 
als  den  Wechsel,  mit  andern  Worten,  dass  er  den  Schlüssel  nicht 
gefunden  habe.  Seitdem  der  ältere  ChampoUion  auf  ägyptischen 
Denkmälern  die  Namen  Kleopatra  und  Ptolemäus  buchstabiren 
konnte,  schritt  die  Entzifferung  von  Jahr  zu  Jahr  fort,  und  jetzt 
liest  man  hieroglyphische  Texte  mit  grosser  Bequemlichkeil.  Seit 
Saussure's  Zeit  hat  auch  die  Geologie  das  Buchstabiren  erlernt, 
und  prüft  mit  vielem  Behagen  jetzt  die  Urkunden,  welche  ihr  die 
Alpen  erschlossen  haben.  Vielleicht  schreckt  mancher  Laie  zurück 
vor  den  Mühseligkeiten  ebenfalls  das  geologische  ABC  zu  erlernen. 
Allein  nur  das  Unbekannte  erscheint  uns  besonders  schwierig. 
Bei  der  Geologie  kommt  hinzu,  dass  sie  nichts  ist  als  eine  Reihe 
von  Triumphen  des  menschlichen  Scharfsinns,  der  durch  eine  Kette 
strenger  Schlüsse  aus  dem  Bestehenden  dessen  Vergangenheit  er- 
mitteln konnte,  so  dass  wir  im  Lernen  zugleich  ergötzt  werden. 
Die  Alpenvereine ,  insofern  sie  Tausende  von  Wanderern  in 
die  Gebirge  locken,  werden  unter  diesen  Tausenden  manchen  zu 
tieferen  Erforschungen  anregen,  und  der  Geologie  dann  neue  Kräfte 
zuführen.  Von  den  Vereinsmitgliedern  selbst  Averden  aber  mit  der 
Zeit  immer  mehr  und  mehr  solche  Oertlichkeiten  im  Gebirge  auf- 
gesucht werden,  die  neben  dem  ästhetischen  Genuss  auch  die 
Lösung  anziehender  Räthsel  verheissen.  Wem  aber  die  Schweiz 
ein  bevorzugtes  Ziel  der  Wanderung  ist,  der  wird  mit  Eifer  sich 
dem  Studium  von  Studer's,  Desor's  und  Oswald  Heer's  Schriften 
zukehren,  und  dabei  inne  werden ,  welchen  höheren  Werth  der 
Naturgenuss  erhält,  wenn  er  nicht  bloss  schwelgt  in  Umrissen  und 
Farben,  sondern  zugleich  die  Kräfte  verehrt,  welche  das  erhabene 
Bauwerk  aufgerichtet  haben. 


ni, 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


1.    lieber  den  Mann  im  Monde. 

Eine  ethnographische  Musterung. 
(Ausland   1869.     Nr.  45.     6.     November.) 

Es  giebt  wohl  kein  Volk  und  keinen  Völkerstamm  auf  Erden, 
der  nicht  an  die  Flecken  im  Monde  eine  kleine  Erzählung  oder 
Deutung  geknüpft  hätte,  und  wenn  die  nachfolgende  Musterung 
nicht  vollständig  erscheinen  sollte,  so  mögen  besser  Belesene  das 
Fehlende  ergänzen,  Reisende  aber  und  Heidenbekehrer  werden 
vielleicht  durch  das  Gegebene  angeregt,  so  oft  sie  mit  Naturvölkern 
in  Verkehr  kommen,  ihnen  abzulauschen,  was  sie  selbst  über  das 
sogenannte  Mondgesicht  gedacht  haben  oder  was  von  ihren  Vor- 
fahren ihnen  überliefert  worden  sei. 

Ein  Geheimniss  ist  es  noch,  warum  der  Mond  von  verschiedenen 
Völkern  mit  dem  Hasen  in  Beziehung  gesetzt  worden  ist.  Die 
hottentottische  Namaquahorde  verehrt  den  Mann  im  Monde  als 
ein  höheres  Wesen  und  geniesst  zugleich  das  Fleisch  des  Hasen 
nicht,  weil  ihnen  dieses  Thier  geheihgt  erscheint  (Waitz,  Anthro- 
pologie Bd.  2,  S.  342).  „Eines  Tages,"  so  lautet  ihre  Ueber- 
lieferung,  ,,rief  der  Mond  den  Hasen  und  trug  ihm  folgende  Bot- 
schaft an  die  Menschen  auf:  Wie  ich  sterbe  und  wieder  erneuert 
werde,  so  sollt  auch  ihr  sterben  und  wieder  lebendig  werden. 
Der  Hase  eilte  gehorsam  hinweg,  aber  anstatt  der  Worte  „wie 
ich  sterbe  und  wieder  erneuert  werde"  sprach  er:  „wie  ich  sterbe 
und  nicht  wieder  geboren  werde."  Als  ihn  bei  geiner  Rückkehr 
der  Mond  um  die  W^orte  befragte,  die  er  dem  Menschengeschlecht 
überbracht  habe,  und  der  Hase  alles  genau  wiederholte,  rief  das 
liimmlische  Licht :  „Was  ?  Du  hast  dem  Menschen  gesagt ;  wie  ich 
sterbe  und  nicht  wieder  geboren  werde,  so  sollst  auch  du  sterben 


328 


Zur  Länder-  und  ^'ölkerk^l^dc 


und  nicht  wieder  lebendig  werden !"  Und  mit  diesen  Worten 
schleuderte  er  einen  Stecken  nach  dem  Hasen,  der  ihm  die  Lippen 
aufschlitzte,  woher  sich  die  sonderbare  Form  der  Schnauze  jenes 
Thieres  herschreibt.  Der  Hase  ergriff  schleunig  die  Flucht  und 
soll  noch  heutigen  Tages  flüchtig  auf  der  Erde  streifen.  Die  alten 
Namaqua  aber  pflegten  hinzuzusetzen:  ,,Wir  zürnen  noch  immer 
dem  Hasen,  weil  er  uns  eine  so  schlimme  Botschaft  verkündigt 
hat,  und  enthalten  uns  seines  Fleisches"  (Andersson,  Lake  Ngami, 
London  1856.  p.  328).  In  der  13.  Fabel  des  indischen  Hitopadesa 
giebt  sich  ein  Hase  vor  dem  Elephantenkönig  für  den  Botschafter 
des  Mondes  aus,  um  die  Seinigen  vor  den  Tritten  der  Dickhäuter 
zu  retten,  und  beruft  sich  darauf,  dass  der  Mond  in  seiner  Scheibe 
den  Hasen  als  Wappenthier  trage  (Hitopadesa,  ed.  A.  Boltz, 
I^eipzig  1868.  S.  5g),  In  der  That  heisst  in  Indien  der  Mond 
ein  Hasenträger,  auch  wird  der  Mondgott  abgebildet  in  einem 
Wagen ,  von  zwei  Antilopen  gezogen  und  einen  Hasen  in  der 
Hand  haltend.  Wie  die  Hottentotten,  der  Rest  einer  vormals  viel 
weiter  über  Südafrika  verbreiteten  Menschenrace ,  zu  einer  Sagt- 
gelangte,  die  so  viel  gemeinsame  Züge  mit  einer  indischen  besitzt, 
ist  ein  anziehendes,  aber  schwer  zu  lösendes  Räthsel.  Uebrigens 
hat  man  in  Indien  die  Mondflecken  nicht  immer  mit  den  näm- 
lichen Augen  angesehen,  denn  andern  erschienen  sie  wie  die  Gestalt 
eines  Rehes  (Humboldt,  Kosmos,  Bd.  3,  S.  539),  daher  auch  unser 
Trabant  den  Namen  des  Rehträgers  führt.  In  Siam  erblickt  man 
in  dem  Schattenbild  der  Lichtscheibe  bald  einen  Hasen,  bald  ein 
altes  Ehepaar,  einen  Grossvater  und  eine  Grossmutter,  welche  die 
Felder  im  Mond  bestellen  und  eben  einen  Reishaufen  aufschütten 
(Bastian,  Völker  Ostasiens  Bd.  3  S.  242).  Die  dortigen  Buddhisten 
wiederum  erzählen,  dass  ihr  Religionsstifter  sechs  Jahre  lang  um 
die  höchste  Verklärung  gerungen  und  sie  nicht  eher  erreicht  habe, 
als  bis  er  den  Buchstaben  Om  in  der  Mondscheibe  zu  erkennen 
vermochte  (a.  a.  O.  S.  349).  Die  Japanesen  wiederum  wollen  in 
den  schattigen  Umrissen  auf  der  Mondscheibe  ein  Kaninchen  wahr- 
nehmen ,  das  in  einern  Mörser  mit  der  Keule  Reiskörner  .'Jtösst 
(A.  Bastian,  a.  a.   O.  Bd.   5,  S.  480). 

Die  Eskimo,  deren  Sprache  uns  zu  dem  Schluss  berechtigt, 
dass  sie  aus  Asien  nach  der  neuen  Welt  eingewandert  sind  und 
die  wir  zu  den  mongolischen  Racen  zählen  dürfen,  betrachten  den 
Mond  als  jungem  Bruder  der  weiblich  gedachten  Sonne.     Bei  den 


Ueber  den   Mann  im  Monde. 


329 


Verfinsterungen  herzt  und  küsst  die  Schwester  ihren  Liebling,  und 
es  sind  die  Spuren  ihrer  russigen  Hände ,  die  im  Angesicht  des 
Mondes  als  Flecken  zurückgeblieben  sind  (Bastian ,  Ostasiatische 
Völker,  Bd.  4,  S.  120).  Die  mongoHschen  Buräten  deuten  sich 
die  Zeichnungen  ausführlicher.  Es  lebte  einmal ,  so  erzählen  sie, 
ein  Mann  mit  seiner  Frau  im  Walde,  die  ihre  Tochter  zum  Wasser- 
schöpfen ausschickten.  Da  sie  zu  lange  ausblieb,  verwünschte  die 
ärgerhche  Mutter  sie  in  Sonne  und  Mond.  Die  Sonne  ergriff  sie 
zuerst ,  überliess  sie  aber  ihrem  Bruder ,  dem  Monde ,  als  dieser 
geltend  machte,  dass  er  auf  seinen  nächtlichen  Wanderungen  eines 
Wächters  bedürftiger  wäre.  Das  Mädchen  hatte  im  Schrecken, 
als  sie  beide  Himmelskörper  auf  sich  losrücken  sah ,  nach  den 
Zweigen  eines  nahen  Busches  gegriffen,  und  als  der  Mond  sie  mit 
sich  in  die  Höhe  hob,  brach  der  Blätterbüschel  ab,  den  sie  noch 
jetzt  in  der  Hand  hält,  während  sie  in  dem  andern  Arm  den 
Wasserkrug  trägt,    wie  es  im  Mond  zu  sehen  ist     (x\usland   1866, 

^.  535)- 

Wir  begegnen  hier  bei  einem  mongolischen  Völkerstamm  zuerst 
der  Wendung,  dass  die  Flecken  einen  Menschen  vorstellen,  der 
um  irgend  eines  Vergehens  oder  Missgeschicks  willen  in  die  Mond- 
scheibe verbannt  worden  sei,  und  wir  knüpfen  daran  sogleich  eine 
Sage,  die  uns  nach  Polynesien  versetzt.  Auf  Samoa,  der  grössten 
unter  den  Schiflferinseln ,  erzählen  die  Eingeborenen:  „Während 
einer  Hungersnoth  sass  Sina  mit  ihrem  Kind  im  Zwielicht  und 
klopfte  ein  Stück  Rinde  vom  Maulbeerbaum  zu  Tapa  oder  Kleider- 
zeug. Der  Mond  stieg  just  herauf  und  glich  in  ihren  Augen  einer 
geräumigen  Brodfrucht.  ,, Warum,  rief  sie,  ihn  fest  ins  Auge 
fassend,,  warum  kannst  du  nicht  herabkommen  und  meinem  Kind 
einen  Bissen  von  dir  gönnen?"  Der  Mond;  entrüstet  über  die 
Zumuthung  sich  anbeissen  zu  lassen,  eilte  hernieder  und  nahm  sie 
mit  sich  hinauf  sammt  Kind .  Hammer ,  Klopfbrett  und  allem 
Uebrigen.  Daher  heisst  es  noch  jetzt  auf  Samoa:  ,, Schaut  droben 
Sina  und  ihr  Kind,  und  ihren  Hammer  und  ihr  Brett"  (Turner, 
Nineteen  Years  in  Polynesia,  London  1861,  p.  247,  und  Pritchard, 
Polynesian  Reminiscenses ,  London  1866,  p.  402).  Die  Südsee- 
insulaner sind  aber  viel  zu  geschäftige  Mythenschöpfer  und  zu 
reich  begabt  mit  Einbildungskraft,  obendrein  weit  getrennt  von 
einander  und  vereinsamt,  als  dass  sie  nicht  auch  gänzlich  ver- 
schiedene Fabeln  erdacht    haben   sollten.     So    heisst   es    auf  Raro- 


330 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


tonga,  etwas  über  200  deutsche  Meilen  ostsüdöstlich  von  Samoa 
in  der  Cooksgruppe  gelegen:  „Eine  der  Göttinnen  gebar  einen 
Sohn ,  dessen  Vaterschaft  zwei  Götter  beanspruchten ,  und  ihre 
Rechte  darauf  so  triftig  begründeten,  dass'  nach  dem  Urtheilsspruch 
das  Kind  in  zwei  Stücke  zerhauen  und  jedem  eine  Hälfte  gegeben 
werden  musste.  Der  Gott,  welcher  Kopf  und  Schultern  erhalten 
hatte ,  schleuderte  seinen  Antheil  in  den  Himmel  und  es  wurde 
daraus  die  Sonne  ;  der  andere  Gott  aber ,  der  mit  seinem  Stück 
nichts  anzufangen  wusste,  warf  es  in  den  Busch.  Kurz  nachher 
begegnete  ihm  der  Sonnenverfertiger  und  als  er  auf  die  Frage, 
was  aus  seinem  Antheil  geworden  sei,  erfuhr,  dass  er  ihn  weg- 
geworfen habe,  bat  er:  ,,Ueberlasse  ihn  mir."  Als  er  ihm  ab- 
getreten worden  war,  schleuderte  ihn  der  Sonnenverfertiger  eben- 
falls in  den  Himmel,  und  es  entstand  daraus  der  Mond,  So  oft 
nun  dieser  seine  Hörner  zeigt,  belehren  die  Eltern  ihre  Kinder, 
es  seien  die  Beine  des  Knaben,  die  dunklen  Stellen  aber,  die  in 
der  vollen  Scheibe  sichtbar  werden ,  deuten  sie  als  Flecken  der 
Verwesung,  die  das  Fleisch  ergriffen  hatte,  während  es  im  Busche 
lag"  (Sunderland  and  Buzacott,  Mission  Life  in  the  Islands  of 
the  Pacific.  London   1866). 

In  Nordamerika  sahen  die  Potewatami,  nach  denen  noch  jetzt 
eine  Grafschaft  in  Jowa  benannt  wird,  im  Mond  ein  Weib  sitzen 
und  einen  Korb  flechten,  mit  dessen  Vollendung  die  Welt  unter- 
gehen müsse,  wenn  nicht  während  der  Verfinsterungen  ein  Hund 
mit  dem  Weibe  kämpfen  und  den  Korb  beständig  zerreissen 
würde  (Waitz,  Anthropologie,  Bd.  3,  S.  224).  Aehnlich  erblicken 
die  Osseten,  also  ein  indogermanischer  oder  arischer  Volksstamm 
des  Kaukasus,  im  Mond  einen  angeketteten  Dämon,- der  grosse 
Ueberschwemmungen  anrichten  würde,  wenn  er  sich  jemals  los- 
risse (Ausland  1868,  S.  255).  Auf  eine  andere  Art  erklären 
sich  die  Incaperuaner  die  Mondflecken.  ,,Eine  Lustdirne  verliebte 
sich  in  die  Schönheit  des  Mondes,  und  um  ihn  zu  stehlen,  stieg 
sie  in  den  Himmel  hinauf.  Als  sie  aber  Hand  an  den  Mond 
legen  wollte,  schloss  er  sie  in  seine  Arme  und  hält  sie  noch  jetzt 
gefesselt"  (Commentarios  reales  por  el  Ynca  Garcilasso.  Lis- 
boa  1609  II,  23.  tom.  I,  p.  48  verso).  Auch  hier  kehrt  die  Vor- 
stellung wieder,  dass  für  einen  sträflichen  Gedanken  ein  Mensch 
in  die  Mondscheibe  geheftet  worden  sei. 

Diess    führt    uns    zum  wahren    Mann    im   Monde,    zu    jenem 


Ueber  den  Mann  im  Monde.  ^^i 

nämlich,  der  im  „Sommernachtstraum"  mit  einer  Laterne,  einem 
Hund  und  einem  Dornenbusch  auftritt  (Act.  V,  Sc.  i)  oder  für 
den  sich  im  Sturm  (Act.  II,  Sc.  2)  Stephano  ausgiebt,  so  dass 
CaHban  in  die  Worte  ausbricht:  „Ich  habe  dich  im  Monde  ge- 
sehen, meine  Gebieterin  zeigte  dich  mir,  deinen  Hund  und  deinen 
Busch."  Shakespeare  spielt  hier  auf  eine  Sage  an,  die  seine  Zeit- 
genossen von  ihren  Ammen  einsogen,  deren  aber  schon  Alexander 
Nekam  (geb.  11 57),  der  Milchbruder  Richard  Löwenherzens,  ge- 
denkt. „Kennst  du  nicht,  sagt  er  (De  naturis  rerum  libri  duo,  ed. 
Thomas  Wright,  London  1863,  p.  54),  die  Geschichte  von  dem 
Bauern  im  Monde,  der  den  Dornbusch  trägt,  und  auf  den  sich 
der  Vers  bezieht: 

Rusticus  in  luna  quem  sarcina  deprimit  una 
Monstrat  per  spinas,    niilli  prodesse  rapinas. 

Hier  ist  also  der  Büsser  im  Monde  ein  Bauer,  der  Holz  ge- 
stohlen hat,  etwas  später  aber  wtu'de  in  England  dem  Volkswahn 
eine  Beziehung  zum  alten  Testamente  angefrömmelt ,  denn  der 
stille  Dulder  in  der  Lichtscheibe  sollte  jener  biblische  Frevler  sein, 
den  die  Kinder  Israel  auf  frischer  That  ergriffen,  als  er  am  Sab- 
bath  Holz  gelesen  hatte,  und  den  der  Herr  von  der  ganzen  Ge- 
meinde ausserhalb  des  Lagers  steinigen  liess  (Numeri  XV,  32 
bis  35).  Viel  älter  ist  aber  eine  altnordische  Sage,  von  der  sich 
schwache  Spuren  auch  in  England  finden,  und  welche  Baring  Gould 
in  seinen  „Mythen  des  Mittelalters"  erläutert  und  gedeutet  hat: 
,,Mani,  der  Mond,  stahl  zwei  Kinder  von  ihren  Eltern  und  trug 
sie  mit  sich  in  den  Himmel.  Ihre  Namen  waren  Hiuki  und  Bil. 
Sie  hatten  Wasser  geschöpft  von  der  Quelle  Byrgir,  im  Schlauche 
Soegr,  der  an  der  Stange  Simul  hing,  die  sie  auf  ihren  Schultern 
trugen."  Noch  heutigen  Tages  sollen  die  schwedischen  Bauern 
ihren  Kindern  die  Mondflecke  erklären,  als  wäre  ein  Knabe  imd 
ein  Mädchen  sichtbar,  die  einen  Eimer  Wasser  zwischen  sich  tragen 
(Quarterly  Review  1867.  Nr.  244,  p.  443).  Ueberrascht  be- 
merken wir  hier,  dass  das  Wasserschöpfen,  mit  den  Mond- 
gespenstern verknüpft,  in  einer  Sage  germanischer  Stämme  wieder- 
kehrt ,  nachdem  wir  es  vorher  bei  den  burätischen  Mongolen  an- 
getroffen hatten.  Im  europäischen  Mittelalter  waren  übrigens  die 
Deutungen  der  Mondflecken  sehr  verschieden.  Was  sich  bei  Dante 
findet ,    wird  uns  am  Schlüsse  beschäftigen,  aber  Ristoro  d'Arezzo 


332 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


(Composizione  del  mondo ,  lib.  III,  cap.  8i),  der  1282  schrieb, 
findet  wie  die  Verfertiger  unserer  Bauernkalender  noch  heutigen 
Tages,  dass  der  Mond  ein  menschliches  Gesicht  zeige.  Mit  einer 
umständHchen  Darstellung  erfreut  uns  sein  deutscher  Zeitgenosse 
Albert  v.  Bollstädt  (De  Coelo  et  mundo  lib.  II,  tract.  III,  cap.  8 
Lugd.  1651,  pag.  118),  bei  dem  es  von  den  Flecken  im  Monde 
heisst:  ,,Wir  behaupten,  dass  diese  Zeichnung  dem  Monde  selbst 
angehört,  der  seinen  StofiFen  nach  der  Erde  gleicht.  Bei  öfterer 
und  schärferer  Betrachtung  dieser  Schattenstellen  gewahren  wir, 
dass  sie  sich  von  dem  östHchen  nach  dem  untern  Rande  erstrecken 
und  einem  Drachen  gleichen,  der  seinen  Kopf  nach  Westen,  seinen 
Schweif  längs  dem  untern  Mondrande  nach  Osten  richtet.  Der 
Schweif  selbst  endigt  nicht  in  einer  Spitze ,  sondern  in  Gestalt 
eines  Blattes  mit  drei  sich  begränzenden  Bogenlinien.  Auf  dem 
Rücken  des  Drachen  aber  erhebt  sich  das  Bild  eines  Baumes, 
dessen  Zweige  von  der  Mitte  des  Stammes  aus  sich  nach  dem 
untern  und  östHchen  Rande  des  Mondes  senken.  Auf  die  Krüm- 
mung des  Stammes  aber  stützt  sich  mit  Kopf  und  Ellenbogen 
ein  Mensch,  dessen  Schenkel  von  oben  herabreichen  nach  den 
westlichen  Theilen  der  Mondscheibe.  Dieser  Gestalt  schreiben  die 
Astrologen  beherrschende  Einflüsse  zu." 

Verfügten  wir  über  eine  grössere  Anzahl  von  Deutungen  ,  so 
würde  der  Reichthum  an  Trugbildern  um  eben  so  viel  Muster 
vermehrt  werden,  denn  wir  bemerken,  dass  sich  die  verschiedensten 
Völker  und  wahrscheinlich  alle  Völker  durch  jene  geheimnissvolle 
Zeichnung  in  der  Lichtscheibe  zum  Nachdenken  angeregt  gefühlt 
haben.  Und  wie  unser  Geschlecht  mit  teleologischer  Gier  am 
liebsten  das  allnächtliche  Schimmern  und  Funkeln  aus  den  Tiefen 
des  Weltraums  sich  zum  Genuss  bereitet  denken  möchte,  so  hat 
es  auch  die  Lichtscheibe  des  Mondes  gern  in  den  Schauplatz 
eines  menschlichen  Romans  zu  verwandeln  getrachtet,  denn  einer 
Mehrzahl  von  Sagen  lag  der  Gedanke  zu  Grunde,  dass  die  Flecken 
irgend  ein  Geschöpf  unserer  Art  vorstellen  sollten,  und  zugleich 
dachte  man  sich  den  oder  die  Bewohner  des  Trabanten  nicht 
eben  glücklich,  sondern  entweder  geraubt  und  hinaufgetragen  oder 
selbst  hinaufgestiegen  und  dort  festgehalten.  Das  eine  oder  das 
andere  geschieht  aber  in  vielen  Sagen  wegen  irgend  einer  frevel- 
haften Begierde  oder  zur  Strafe  für  irgend  ein  Vergehen.  Eine 
solche  Wendung  empfängt  die  Fabel  in  dem  Munde  von  Völkern, 


Ueber  den  Mann  im  Monde.  ^^^ 

die,  SO  weit  unser  Wissen  oder  unser  Vermuthen  reicht,  nie  einen 
Verkeiir  mit  einander  gehabt  haben,  wie  die  Narnaquahottentotten, 
die  Nordeuropäer,  die  Samoaner  und  die  Incaperuaner.  Der  beste 
Gewinn ,  den  wir  daher  aus  den  Vergleichungen  ziehen ,  ist  wohl 
der,  dass  jene  lichtflecken  im  Monde,  in  denen  man  alles  erdenk- 
liche hinein  zu  deuten  vermocht  hat,  zum  Ausspinnen  einer  kleinen 
Er/ählung  dienen  mussten,  der  ein  sitthcher  Hintergrund  nicht 
fehlte.  Darf  diess,  möchten  wir  fragen,  nicht  unter  die  Reihe 
von  Wahrzeichen  gerechnet  werden,  dass  die  Menschen  mit  blauen 
und  schwarzen  Augen,  mit  straffen  und  mit  wolligen  Haaren,  mit 
durchsichtiger  oder  mit  gefärbter  Haut,  mit  gerade  und  mit  schief- 
gestellten Zähnen ,  doch  so  nahe  Geistesverwandte  sind ,  dass 
sich  ihre  Gedanken  und  Thorheiten  mehr  als  einmal  begegnen 
mussten  r 

Der  Mann  im  Monde  gewährt  aber  auch  die  ernste  Gelegen- 
heit ,  uns  darüber  zu  belehren ,  auf  welchem  Wege  wir  dahin  ge- 
langt sind  ,  die  Spukgestalten  unserer  eigenen  Einbildungskraft  zu 
vertreiben.  Die  Mondflecken  haben  nicht  bloss  ihre  mythologische, 
sondern  auch  ihre  wissenschaftliche  Geschichte.  A'ielfach  hatten 
sich  schon  die  griechischen  Gelehrten  mit  den  nicht  leicht  ver- 
ständlichen Gestaltenwechseln  unseres  Trabanten  beschäftigt  und 
das  Räthselhafte  daran  glücklich  entziffert.  Von  dem  Pythagoräer 
Heraklitus  wurde  der  Mond  als  eine  halbkugelförmige  Schale  be- 
trachtet ,  die  nur  von  ihrer  Aussenseite  das  Licht  zurückwarf  und 
die  sich  beständig  um  eine  Achse  drehte.  Dadurch  wurde  die 
Sichelgestalt,  das  Wachsthum  und  die  Abnahme  des  Lichtes  leidlich 
erklärt.  Sehr  schwierig  blieb  es ,  den  Mond  sich  als  eine  Kugel 
und  als  verkleinerten  Erdball  zu  denken ,  denn  wenn  der  halbe 
Mond  wie  ein  leichtes  Gewölk  am  Tageshimmel  verweilt,  sehen 
wir  nur  Luftbläue  an  der  Stelle  der  unbeleuchteten  Hälfte,  während 
in  jenen  Zeiten  eine  Sichtbarkeit  auch  des  übrigen  Mondkörpers 
als  schwarze  Halbkugel  erwartet  werden  durfte.  Der  beste  Mond- 
kenner des  Alterthums  war  jedoch  unstreitig  Anaxagoras.  Er 
that,  was  in  ihrer  damaligen  Lage  die  Wissenschaft  am  besten 
fördern  konnte,  er  entwarf  Zeichnungen  von  den  Flecken  oder 
Mondkarten,  wenn  n:an  solche  Anfänge  mit  einem  anspruchsvollen 
Namen  belegen  will.  Könnten  solche  Urkunden  spätem  Zeiten 
überliefert  werden,  so  hätte  ein  ferneres  Geschlecht  sich  zu  über- 
zeugen vermocht,    dass  die  Flecken  sich  nicht  verwandeln,  gerade 


•j-24  Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 

SO  wie  man  gegenwärtig  auf  streng  entworfene  Mondkarten  dringt, 
damit  künftige  Beobachter  entscheiden  mögen ,  ob  sich  wirkhch 
etwas  an  der  Mondoberfläche  ändere ,  ob  namentlich  die  Kegel 
in  den  dortigen  Ringgebirgen  noch  Lavabäche  ausbrechen  lassen, 
oder  ob  der  Mond  längst  ein  kalter  Mann  unter  den  Himmels- 
körpern geworden  sei.  Anaxagoras  erblickte  schon  in  den  Flecken 
Höhen  und  Tiefen  der  Mondoberfläche ,  wenn  er  sie  sich  auch 
vorläufig  nur  entstanden  dachte  aus  der  verschiedenen  Dichtigkeit 
der  Trabantenstofte ,  von  denen  die  leichteren  höher  aufgestiegen, 
die  schwereren  dem  Kugelmittelpunkte  näher  geblieben  wären 
(Plut.  de  placitis  philos.  II,  25).  Demokrit  dagegen  spricht  schon 
deutlich  von  Mondbergen  und  Mondthälern,  und  bei  den  späteren 
Gelehrten  erhielten  sogar  schon  einige  der  Flecken  Namen,  wie 
Schlucht  der  Hekate ,  elysäische  Felder ,  Ebene  der  Persei)hone 
(Plut.  de  facie  in  orbe  lunae,   cap,   29). 

Wir  besitzen  sogar  eine  eigene  Schrift  ,,über  das  Gesicht  im 
Monde"  vom  Pseudoplutarch ,  welcher  die  Flecken  in  der  Scheibe, 
unsere  fälschlich  sogenannten  Meere,  als  Schatten  hoher  Mond- 
gebirge erklärt,  eine  Ansicht,  welche  freilich  schon  zu  seiner  Zeit 
nicht  mehr  haltbar  sein  konnte,  sobald  man  nur  zur  Klarheit  über 
die  Verhältnisse  einer  Vollmondbeleuchtung  gelangt  war.  In  jener 
Abhandlung  (cap.  III)  wird  aber  einer  Hypothese  des  Clearchus 
gedacht ,  die  noch  jetzt  als  geistreich  uns  erfreuen  kann.  Der 
Mond  nämlich  wurde  als  eine  glänzende  Spiegelscheibe  und  das 
Fleckenbild  als  eine  landkartenähnliche  Zurückwerfung  des  Erd- 
kreises gedacht,  und  zwar  so,  dass  die  hellen  Stellen  von  den 
pestlanden,  die  schattigen  aber  nur  von  dem  Mittelmeere  herrühren 
sollten.  Dass  der  Mond  wirkhch  von  der  beleuchteten  Erde  Licht 
empfängt,  gewahren  wir  an  dem  aschfarbenen  Schimmer,  durch 
welchen  neben  der  schmalen  Sichel  der  unbeleuchtete  Theil  wie 
eine  abgetuschte  Kugel  sichtbar  wird,  eine  Erscheinung,  die  von 
dem  als  Maler  wie  als  Physiker  gleich  grossen  Leonardo  da  Vinci 
schon  richtig  erklärt  wurde     (Kosmos,  Bd.  3,  S.  499). 

Fühlen  wir  uns  zu  den  alten  Griechen  wegen  ihres  Natur- 
wissens und  ihres  eifrigen  Suchens  nach  der  Wahrheit  stets  mächtig 
angezogen  ,  so  könnte  uns  dagegen  das  Mittelalter  leicht  mit  Ban- 
gigkeit erfüllen,  als  hätte  die  bereits  gewonnene  Erkenntniss.  die 
in  ungelesenen  Pergamenten  schlummerte,  wieder  erlöschen  können. 
Allein   auch    im    Alterthum    fehlte    es   nicht    neben     scharfsinnigen 


Ueber  den  Mann  im  Monde.  225 

^"ermuthungen  am  Spielzeug  einer  jugendlichen  Einbildungskraft, 
und  der  geduldige  Mond  musste  sich  bequemen,  dass  man  in 
seiner  Maske  die  Züge  einer  Sibylle  erkannte  (Clemens  Alexan- 
drinus,  Strom,  lib.  I,  cap.  15).  So  war  auch  damals  das  strenge 
Erforschen  der  Wahrheit  nur  die  Sorge  weniger  Auserwählten. 
Der  bigotte  Pöbel  von  Athen  verfolgte  *  einen  Protagoras  und  warf 
einen  Anaxagoras  in  den  Kerker,  weil  er  die  götthch  verehrte 
Sonne  mit  einem  glühenden  Meteorstein  verglichen  hatte  (Plutarch. 
Nicias,  cap.  23).  Wenn  daher  auch  im  Mittelalter  beim  Volk 
sichtbaren  Erscheinungen  der  Körperwelt  wie  jenem  Flecken  irn 
Monde  Bedeutungen  angedichtet  wurden,  die  durch  ihre  Aben- 
teuerlichkeiten an  die  Stufe  südafrikanischer  oder  polynesischer 
Naturvölker  der  Gegenwart  erinnern,  so  mangelte  es  doch  nicht 
an  geistigen  Grössen ,  welche  mit  gleicher  Freiheit  dachten  wie 
die  begabtesten  Gelehrten  des  Alterthums.  Ein  Alexander  Nekam 
wiederholte  die  Fabel  von  dem  verwünschten  Bewohner  im  Monde 
nur  zur  Ergötzung  an  den  unerwarteten  Sprüngen  der  Phantasie, 
er  selbst  aber  sieht  in  den  Flecken  Erhabenheiten  und  Vertiefun- 
gen in  der  Oberfläche  unseres  Satelliten ').  Auch  Dante,  der  uns 
als  Vertreter  des  besten  Naturwissens  seiner  Zeit  gelten  kann,  der 
eingeweiht  war  in  das  astronomische  und  kosmographische  Wissen 
der  Griechen  wie  der  Araber,  hat  uns  eine  kleine  Abhandlung 
über  die  Mondflecken  hinterlassen.  An  einer  Stelle  zwar  (Inf. 
XX,   124  sq.) 

gia  tiene  '1  confine 

Damenduo  gli  emisperi,  e  tocca  l'onda! 

Solto  Sibilia,  Caino  e  le  spine: 
E  gia  jer  notte  fu  la  luna  tonda. 
wird  der  Mann  mit  dem  Dornenbusch    als   der  bibUsche  Kain  be- 
trachtet ,    doch   hören    wir   an    einem  spätem  Orte    des  Gedichtes 
(Far.  II  49)  diess  nur  als  einen  Volkswahn  bezeichnet: 

Ma  ditemi,   che  son   li  segni  bui 

Di  questo  corpo,   ch^  la  guiso  in  terra 
Fan  di  Cain  favoleggiare  altrui. 

Der  Sänger  fährt  vielmehr  fort,  die  physische  Ursache  jener 
Lichterscheinungen  zu  ergründen.  Zunächst  wird  die  Vermuthung 
jonischer  Philosophen  widerlegt ,  als  könnte  der  Mond  aus  dünneren 


i)  lib.    I   c.  14.     Aliis  visum  est  corpus  luiiae ,    non    esse   rotundum ,    sed 
in  quibusdam  suis  partibus  esse  eminentius,  in  aliis  depressius. 


To5  Zur  Länder-    und  Völkerkunde.' 

lind  dichteren  Stoffen  sich  gestaltet  haben,  denn  wären  die  Mond- 
flecken die  dünneren  Stellen,  so  müsste  bei  einer  gänzlichen  Ver- 
finsterung der  Sonne  das  Licht  durch  sie  hindurchschimmern. 
Auch  dadurch  könne  man  sich  die  Flecken  nicht  erklären ,  dass 
der  Mondkörper  vielleicht  aus  Glas  bestehe,  welches  an  den  hellen 
Stellen  nahe  der  Oberfläche,  an  den  dunkleren  dagegeir  in  tieferen 
Schichten  mit  einem  reflectirenden  Metall  belegt  sei ,  denn  man 
brauche  nur  hinter  sich  ein  Kerzenlicht  aufzustellen  und  vor  sich 
drei  Spiegel  in  verschiedenen  Abständen,  so  werde  man  dessen- 
ungeachtet das  Licht  mit  gleicher  Wirkung  \on  der  entferntesten 
wie  von  der  nächsten  Reflectionsfläche  zurückgeworfen  sehen.  Wir 
bemerken  also ,  dass  der  Dichter  auf  die  sinnliche  Prüfung  sich 
beruft,  um  die  Stichhaltigkeit  der  möglichen  Erklärungen  zu  er- 
gründen. Die  seinige  freilich  wird  uns  jetzt  nicht  mehr  befriedigen, 
denn  wenn  wir  seine  äusserst  dunklen  Worte : 

Virtü   diversa  fa  diversa  lega, 

Col  prezioso  corpo,   ch^  Tawira 

Nel   quäl,   si  come  vita  in   voi,   .si    lega. 

richtig  verstehen ,  dachte  sich  Dante  den  Lichtkegel ,  der  auf  den 
Mond  fiel,  nicht  als  gleichartig  in  allen  seinen  Theilen,  sondern 
örtlich  stärker  und  schwächer.  Freilich  ist  es  sehr  schwierig,  da 
Dante  immer  in  doppelter  Sprache  redet  und  geheime  Neben- 
bedeutungen mit  äusserlichen  Gegenständen  verknüpft,  da  ihm  der 
Mond  nicht  bloss  der  Begleiter  der  Erde  und  das  Licht  nicht  bloss 
wie  uns  jene  Form  der  Bewegung  ist,  die  Sehnerven  erschüttern 
oder  empfindliche  Salze  zersetzen  kann,  seine  Erklärung  der  Mond- 
flecken mit  wissenschaftHcher  Deutlichkeit  festzustellen,  allein  es 
liegt  weniger  daran ,  dass  das  Richtige  ausgesprochen ,  als  dass 
die  Wahrheit  auf  dem  richtigen  Wege  gesucht  worden  sei. 

Wie  in  unseren  Spuk-  und  Geistergeschichten  bald  eine  Be- 
kreuzigung, bald  der  Glockenschlag  der  ersten  Stunde,  bald  ein 
Hahnenschrei  die  Gespenster  in  ihr  Nichts  zurückscheucht,  so  sind 
auch  die  einsamen  Bewohner  des  Mondes ,  die  Hasen ,  Drachen, 
Wasserträger,  Holzdiebe  und  was  sie  sein  mochten,  wie  Nebel 
zerflossen  \ov  einer  nur  fünfzehnfachen  Verschärfung  unserer  Seh- 
kräfte. Kaum  gelangte  zu  Galilei's  Kenntniss  die  Entdeckung  der 
teleskopischen  Wahrnehmung  durch  holländische  Brillenschleifer, 
als  er  sich  selbst  ein  Fernrohr  zusammensetzte.  Zu  den  uner- 
warteten   Offenbarungen,    welche    das     neue    Instrimient   brachte, 


Ueber  den  Mann  im  Monde. 


337 


gehörte  auch  die  Erkenntniss  von  der  Oberfläche  unseres  Trabanten. 
„Am  vierten  oder  fünften  Tage  nach  Neumond,"  schreibt  GaUlei 
im  Astronomicus  nuncius  (Opere,  ed.  Eugen.  Alben,  Firenze  1843, 
tom.  III,  p.  63),  „wenn  der  Mond  uns  mit  glänzenden  Hörnern 
erscheint,  wird  die  beleuchtete  von  der  dunkeln  Oberfläche  des 
Trabanten  nicht  durch  eine  scharfe  eliptische  Linie  begränzt,  wie 
es  bei  einem  vollkommen  kugelförmigen  Körper  stattfinden  müsste, 
sondern  der  Rand  ist  ungleich  rauh  und  ziemlich  zerrissen  .... 
AUe  kleinen  Flecken  stimmen  darin  überein,  dass  der  schattige 
Theil  von  der  Sonne  abgewendet  liegt,  der  Sonne  gegenüber  aber 
helle  Lichtbegrenzungen  sich  zeigen.  Einen  ganz  gleichen  Anblick 
gewährt  uns  die  Erde  nach  Anbruch  des  Tages ,  wenn  in  die 
Thäler  das  Licht  noch  nicht  hineinfällt,  die  Berge  aber,  welche 
der  Sonne  gegenüber  Hegen,  schon  in  Helligkeit  erglänzen.  Und 
wie  beim  Aufsteigen  des  Tagesgestirns  die  Schatten  in  den  irdischen 
Vertiefungen  immer  kürzer  werden,  so  verlieren  auch  jene  kleineren 
Mondflecken  beim  Wachsthum  der  Lichtscheibe  an  Ausdehnung." 
Er  fährt  dann  fort,  die  Ringgebirge  des  Mondes  mit  den  Augen 
im  Schweife  des  Pfauen  zu  vergleichen,  ja  der  grosse  Ring  mitten 
in  der  Mondscheibe  erinnert  ihn  an  die  plastische  Gestalt  des 
Königreichs  Böhmen,  und  zugleich  giebt  er  schon  ein  Verfahren 
an,  wie  man  nach  optischen  Grundsätzen  die  Höhe  etlicher  Berg- 
gipfel im  Monde  ableiten  könne. 

Vorbei  war  es  nun  mit  Gesichten  und  Gesichtern  im  Monde, 
die  Welt  war,  wie  es  immer  geht,  um  eine  Erkenntniss  reicher 
und  um  viele  poetische  Anregungen  ärmer. 


Peschel,  Abhandlungen.    U. 


2.    Ueber  den  Baum-  und  Schlangen- 
dienst. 

(Ausland   1869.     Nr.  51.      18.  December.) 

Herr  James  Fergusson,  der  uns  durch  eine  Geschichte  der 
morgenländischen  Baukunst  bekannt  geworden  ist^,  hatte  den 
Auftrag  erhahen,  die  Vertretung  der  indischen  Architektur  auf  der 
Pariser  Industrie- Ausstellung  des  Jahres  1867  durch  Photographien 
und  Abgüsse  einzelner  Ornamente  zu  überwachen.  Diess  führte 
ihn  dazu ,  die  Topen  oder  Glockenbauten  bei  Amravati  und  die 
älteren  bei  Santschi  näher  zu  prüfen.  Unter  ihren  Sculpturen  sah 
er  Darstellungen  von  Baum-  und  Schlangendienst,  die  ihm  neu 
waren  und  zu  weiteren  Nachforschungen  reizten.  Die  Heilighal- 
tung von  Bäumen,  die  namentlich  den  arischen  Völkern  eigen  ist, 
kann  wohl  nicht  befremden,  denn  manche  Baum  formen  hinterlassen 
auch  auf  den  Hochgebildeten  noch  immer  den  Eindruck  einer 
sinnvollen  Persönlichkeit.  Schwieriger  ist  die  Erklärung  des 
Schlangendienstes,  zumal  die  Schlange  fast  überall  als  Sinnbild 
von  Weisheit  und  Macht  aufgefasst  wurde.  Da  nun  der  Schlan- 
gendienst dem  Geiste  der  Veda  ebenso  wie  dem  der  Bibel  wider- 
sprechen soll,  so  glaubt  Fergusson  sich  zu  dem  Schluss  berechtigt, 
dass  der  Schlangendienst  dem  arischen  und  semitischen  Völker- 
kreise als  ein  fremder  Tropfen  von  einem  ,,turanischen  Volke" 
beigemischt  worden  sei. 

Auch  die  Aegypter  verehrten  neben  andern  Thieren  die 
Schlange,  doch  tritt  der  Schlangendienst  bei  ihnen  in  den  Hinter- 
grund, und  entsprang  wohl   keinem   anderen   tieferen    Bedürfnisse, 


[)  S.  Ausland  1866.     S.   11 75. 


Ueber  den  Baum-  und  Schlangendienst.  330 

als  dass  die  Schlange  als  Lautzeichen  den  Anfangsbuchstaben  im 
Namen  einer  minderen  Gottheit  bildete.  Bei  den  Hebräern  haben 
wir  nicht  bloss  Baumdienst  und  Schlangendienst,  sondern  Baum 
und  Schlange,  geheimnissvoll  vereinigt,  treten  schon  im  Paradiese 
auf.  Der  Baum  auf  dem  Berge  Horeb  war  den  Israeliten  schon 
geheiligt,  bevor  der  Herr  dort  Moses  seine  Botschaft  ertheilte. 
Dass  Aaron  seinen  Stab  vor  dem  Pharao  in  eine  Schlange  ver- 
wandelte, ist  dagegen  wohl  nicht,  wie  Fergusson  meint,  eine  Ver- 
schmelzung von ,  Baum  und  Schlange ,  denn  ein  Stab  ist  kein 
Baum.  Wir  möchten  noch  hinzusetzen,  dass  die  Vereinigung  von 
Baum  und  Schlange  minder  geheimnissvoll  erscheint ,  wenn  man 
sich  erinnert,  dass  unter  den  Tropen  die  walzenförmigen  Stämme 
von  Schlinggewächsen  sich  schlangenartig  um  die  Bäume  winden, 
so  dass  es  der  kindlichen,  durch  Beobachtung  nicht  gezügelten 
Einbildungskraft  leicht  möglich  wird,  an  eine  Verwandlung  der 
Schlangen  in  Kletterstämme  zu  glauben.  Endlich  mag ,  da 
Schlangen  sich  zum  Lieblingssitze  auch  heilige  Bäume  erwählen 
konnten  und,  wenn  sie  öfters  dort  gesehen  worden  waren,  zwischen 
dem  unsichtbaren  Geist  im  Wipfel  und  dem  sichtbaren  Bewohner, 
der  Stamm  oder  Aeste  zu  umarmen  pflegte,  irgendein  geheimniss- 
voller Verkehr  geahnt  worden  sein.  Moses  selbst  huldigte  dem 
Schlangendienst,  denn  die  eherne  Schlange,  die  er  anfertigen  liess, 
wurde  600  Jahre  im  Tempel  aufbewahrt,  bis  König  Hezekiah 
ihren  Dienst  einstellte  und  sie  zerbrach.  Zu  den  Zeiten  der  Kö- 
nige, heisst  es  in  der  Bibel,  bauten  die  Juden  Bilder  und  Haine 
auf  jeden  Berggipfel  und  dienten  unter  jedem  grünen  Baume. 
Diess  darf  man  jedoch  nur  als  vorübergehende  ketzerische  Rück- 
fälle in  das  Heidenthum  syrischer  Nachbarn  betrachten.  Seit  He- 
zekiahs  Zeiten  verschwindet  Baum  und  Schlangendienst  bis  auf 
das  christhche  Zeitalter,  wo  der  letztere  bei  den  Secten  der  Niko- 
laiten,  Gnostiker  und  Ophiten  ausbrach.  Die  letzteren  setzten  die 
Schlange  höher  als  Christus,  weil  sie  die  Erkenntniss  des  Guten 
und  Bösen  in  die  Welt  gebracht  habe. 

Spuren  vom  Baum-  und  Schlangendienst  bei  Phöniciern  be- 
schränken sich  darauf,  dass  tyrische  Münzen  vorkommen  mit  einer 
Schlange,  die  sich  um  den  Baum  ringelt.  Aus  Babylonien  hat  man 
noch  nichts  derartiges  ermittelt,  dagegen  bildete  der  Baumdienst 
eine  sehr  gewöhnliche  Form  der  Anbetung  in  Assyrien.  Andeu- 
tungen von  Schlangendienst  (!)  darin  zu  erblicken,  dass  hellenische 


340 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


Götter  und  Heroen  Schlangen  ausrotten  und  zerdrücken,  klingt, 
zum  mindesten  gesagt,  seltsam.  Wohl  aber  begegnen  wir  einem 
leibhaftigen  Schlangendienst  beim  Orakel  in  Delphi,  sowie  in  den 
Höhlen  des  Trophonius.  Ferner  wurden  in  Epidaurus  heihge 
Schlangen  gehütet  und  gefüttert  noch  bis  zu  den  Zeiten  des  Pau- 
sanias.  Endlich  brachte  die  Botschaft  des  Quintus  Ogulnius  im 
Jahre  462  u.  c.  aus  Griechenland  heilige  Schlangen  nach  Rom,, 
wo  seitdem  der  Schlangendienst  nicht  mehr  ausstarb.  Hadrian 
räumte  einer  Schlange  aus  Indien  eine  Wohnstätte  im  Tempel  des 
olympischen  Jupiter  ein,  nachdem  er  ihn  wieder  aufgebaut  hatte. 
Die  Heilighaltung  der  Schlangen  wird  ausserdem  durch  römische 
Münzen  mit  Schlangenbildern  bestätigt.  Was  den  Baumdienst  der 
alten  Hellenen  betrifft,  so  braucht  nur  an  den  heiHgen  Hain  von 
Dodona  erinnert  zu  werden.  *  Agamemnon  brachte  sein  feierliches 
Opfer  in  Aulis  unter  einer  heiligen  Platane  dar,  deren  Stamm 
nach  Pausanias  noch  im  zweiten  Jahrhundert  n.  Chr.  als  heilige 
Reliquie  in  dem  dortigen  Dianatempel  aufbewahrt  wurde.  Dass 
unsere  deutschen  Vorväter  Bäume  als  Heiligthümer  verehrten, 
namenthch  Eichen,  wissen  wir  alle,  ja  einen  Baumdienst  der 
freundhchsten  Art,  den  Christbaumdienst ,  haben  wir  .bis  auf  den 
heutigen  Tag  beibehalten. 

Einen  ächten,  vollblutigen  Schlangendienst  treffen  wir  jetzt 
wohl  nur  noch  bei  den  Guinea-Negern.  In  Amerika  ist  manchen 
Stämmen  diese  und  jene  Schlangenart  heihg,  allein  ein  wahrer 
Schlangencultus  findet  sich  bei  Rothhäuten  nicht.  Schlangen  treten 
allerdings  in  dem  alten  Naturdienst  der  Azteken  auf,  jedoch  wohl 
nur  als  Sinnbilder,  und  zwar  als  Sinnbilder  der  Fruchtbarkeit. 
Ein  Adler,  der  eine  Schlange  im  Schnabel  fasst,  ist  bis  auf  den 
heutigen  Tag  das  Stadtwappen  Mexico's,  aber  nur  einer  alten 
Prophezeihung  zufolge,  dass  die  Azteken  dort  eine  Stadt  erbauen 
sollten,  wo  sie  einen  Adler  auf  eine  Schlange  an  einem  Cochenille- 
Cactus  stossen  sehen  würden. 

Schlangendienst  ist  besonders  häufig  südlich  von  den  grossen 
Gebirgen  Inner-Asiens,  vom  Hindukuh,  Himalaya  und  ihren  Ver- 
längerungen. In  Kaschmir  gab  es  schon  in  uralten  Zeiten  Schlan- 
genverehrer oder  Nagas.  Der  chinesische  Buddhistenpilger  Hiuen- 
thsang  fand  um  622  n.  Chr.  Schlangendienst  in  Kabul  und  in 
Kaschmir.  Wäre  Herr  Fergusson  mit  Bastians  Schriften  bekannt, 
so  würde  er  das  Nagathum  verfolgt   haben    können    bei    allen    so- 


Ueber  den  Baum-  und  Schlangendienst.  ^41 

genannten  Indo-Chinesen.  So  behauptet  er  nur,  dass  der  berühmte 
Tempel  von  Nakhon  Vat  in  Cambodscha  ausschliesslich  (!)  dem 
Dienst  der  siebenköpfigen  Schlange  geweiht  gewesen  war.  Naga- 
könige,  d.  h.  Fürsten,  die  dem  Schlangendienst  huldigten,  herrsch- 
ten auf  Ceylon  um  250  n.  Chr.  Nach  dem  Mahabharata  waren 
überhaupt  die  indischen  Eingeborenen  Schlangendiener  oder  Nagas. 

Nun  kommt  aber  Fergusson  mit  einer  ganz  unglücklichen  Hy- 
pothese. Er  unterscheidet  nämlich  drei  Bevölkerungen  in  Indien, 
Eingeborne  (Dschengelstämme),  Dravidas  oder  Turanier  (!)  und 
arische  Einwanderer.  Da  nun  durchaus  der  Schlangencultus  tura- 
nisch  sein  muss,  so  werden  die  Dravidas  in  Turanier  verwandelt. 
Diess  ist  ein  muthwilliger  Wirrwarr,  der  angestiftet  wird  in  dem 
ohnehm  schon  schwierig  zu  erklärenden  Völkergetümmel  Indiens, 
einzig  nur  um  einen  hypothetischen  Ursprung  der  Sculpturen  an 
ein  paar  buddhistischen  Topen  zu  rechtfertigen. 

Fergusson  ist  durchaus  kein  Sprachforscher,  er  ist  nur  Histo- 
riker der  Baukunst.  Nun  ist  bekanntlich  früher  wiederholt  ver- 
sucht worden,  die  Dravidas  oder  die  nichtarischen  Indier  in  die 
turanische  Sprachfamilie  hineinzufassen,  d.  h.  in  den  Sprachenkreis 
der  mittelasiatischen  Türken.  Ob  diess  gelungen  sei  oder  gelingen 
werde,  darauf  kommt  hier  nichts  an.  Verwerflich  ist  nur  die 
Spaltung  der  dravidischen  Indier  in  eingewanderte  Turanier  und 
altangesessene  Eingeborene.  Bisher  hat  man  die  Dschengelstämme 
als  blutsverwandt  mit  den  Tamulen  und  andern  südindischen  Völ- 
kern gehalten.  Als  die  Arier  nach  Indien  kamen  und  die  dravi- 
dischen Eingebornen  unterjochten,  wurde  ihre  reinere  vedische 
Religion  durch  den  rohen  Fetisch-  und  Götzendienst  der  Eingebor- 
nen beschmutzt,  mit  denen  Blutsvermischungen,  bevor  die  strenge 
Kastenordnung  eintrat,  häufig  vorgekommen  sein  müssen.  Von 
den  Eingeborenen  stammt  daher  auch  der  Schlangendienst,  und 
wir  wundern  uns  also  nicht  mehr,  dass  in  Mittel-  und  Südindien 
fast  bei  jedem  Tempel  auch  eine  fünf-  oder  siebenköpfige  Schlange 
als  Bild  mit  vorkommt,  ferner,  dass  an  dem  Nag-Panschmi-Feste 
Brillenschlangen  oder  Cobras  öffentlich  in  Indien  selbst  von  Brah- 
minen  verehrt  werden.  In  allen  Tempeln  südlich  vom  Bindya- 
gebirge  mögen  sie  den  Brahmanen  angehören  oder  der  Dschain- 
Secte,  wenn  sie  aus  der  Zeit  vom  9.  bis  13.  Jahrhundert  stam- 
men, findet  man  die  siebenköpfige  Schlange  am  häufigsten.  Ueber 
den    Baumdienst    der    brahmanischen    Indier    brauchen  nicht   viel 


342 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


Worte  verloren  zu  werden,  denn  es  ist  ja  hinlänglich  bekannt, 
dass  der  Pipal  (Ficus  religiosa)  den  brahmanischen  Hindu  geheihgt 
war  und  ist,  sowie,  dass  seine  Vermählung  mit  dem  Nim  (Melia 
azadirachta)  als  eine  verdienstliche  Handlung  unter  grossem  Ge- 
pränge gefeiert  wurde.  Die  Buddhisten  dagegen  pflanzten  den 
Bananenbaum  oder  den  Bo  (Ficus  indica).  Vereinigt  nun  wird 
der  Baum-  und  Schlangendienst  dargestellt  auf  den  Topen  von 
Santschi  und  Amravati. 

Im  alten  Indien  kannte  man  Steinbauten  nicht,  nur  Holz- 
bauten. Der  Grottentempel  von  Karli  wurde  erbaut  vom  Kaiser 
Devabhuti  im  Jahre  70  v.  Chr.,  und  einer  von  Dr.  Stefenson  ent- 
zifferten Inschrift  zufolge  war  der  Erbauer  ein  Grieche,  Namens 
Xenokrates.  Die  Decke  der  Höhle  selbst  wurde  damals  noch 
nicht  durch  Steinsäulen  gestützt,  sondern  mit  hölzernen  Pfeilern, 
von  denen  jetzt  noch  etliche  sich  ganz  gesund  erhalten  haben. 
Ferner  ist  zu  bemerken ,  dass  sämmtliche  Höhlentempel ,  unter 
andern  die  von  Adschunta  und  EUora,  welche  in  das  erste  bis 
vierte  christliche  Jahrhundert  fallen,  ausschliesslich  den  Buddhisten 
angehören.  Steinbauten  in  freier  Luft  begannen  nicht  früher  als 
unter  König  Asoka,  dem  „buddhistischen  Constantin",  um  250 
V.  Chr.  Diesem  schreibt  Fergusson  auch  den  ursprünglichen  Bau 
der  Tope  von  Santschi  zu,  da  er  überhaupt  84,000  solcher  Kup- 
peln in  Indien  errichtet  haben  soll.  Allein  ihm  gehört  nur  der 
Kern  des  dortigen  Gebäudes ,  denn  die  äussere  Umfassung  mit 
100  Pfeilern,  deren  Zwischenräume  mit  Sculpturen  gefüllt  wurden, 
entstand  erst  nach  und  nach  in  langen  Zeiträumen,  die  Thore 
erst  nach  der  christlichen  Zeitrechnung.  Viel  jünger  ist  die  Tope 
von  Amravati,  deren  Ursprung  Fergusson  in  das  vierte  christliche 
Jahrhundert  setzt.  Sie  besass  in  unzerstörtem  Zustande  112 — 120 
Pfeiler.  Auf  dem  Fries  sowie  an  den  Pfeilern  selbst  waren  12  bis 
14,000  Figuren  in  Stein  gehauen.  Da  ferner  Marmorbrüche  nur 
in  Ratschputana  bekannt  sind,  so  musste  der  Stein  zu  den  Bild- 
arbeiten 120  deutsche  Meilen  weit  nach  Amravati  geführt  worden 
sein.  Doch  ist  es  recht  gut  denkbar,  dass  in  Indien  noch  Mar- 
morbrüche entdeckt  werden,  die  jenem  Tempel  näher  lagen.  Auf 
den  Sculpturen  der  Santschi  -  Tope  sind  deutlich  unter  den  Figuren 
zwei  Bevölkerungen  zu  unterscheiden,  nämlich  eine,  welche  bud- 
dhistische Sinnbilder  verehrt,  und  eine,  welche  dem  Baum-  und 
Schlangendienst   huldigt.     Es    mischen    sich    durcheinander   Anbe- 


lieber  den  Baum-  und  Schlangendienst.  ^4-» 

tungen  der  siebenköpfigen  Schlange  und  heiliger  Bäume,  mit  häus- 
lichen Begebenheiten  aus  dem  Leben  Sakyamuni's  (Buddha's), 
Liebesscenen  und  Darstellungen  geschichtlicher  Vorgänge.  Die 
Figtiren  selbst  sind  nicht  alle  bekleidet,  an  den  Männern  aber 
sind  theils  das  heutige  Dhoti,  oder  der  Hüftschurz,  bei  den  Frauen 
das  Sari  oder  die  Schärpe  zu  erkennen.  Dagegen  sind  die  übri- 
gen, und  zwar  die  meisten  Frauengestalten,  völlig  nackt,  nur  um 
die  Hüfte  mit  einer  Perlenschnur  geziert,  von  der  vornen  Fransen 
herabhängen.  Eine  fast  gänzliche  Entblössung  der  Frauen  scheint 
also  damals  noch  geherrscht  zu  haben.  Wer  aber  waren  die 
Baumeister  jener  ältesten  Steinbauten? 

Es  waren  nach  Fergusson  Griechen  und  zwar  Griechen  des 
baktrischen  Reiches,  die  Yavana  der  alten  Quellen,  dieselben 
Griechen ,  welche  die  Stempel  der  ältesten  indischen  Münzen 
schnitten  und  die  im  vierten  Jahrhundert  das  Herrscherhaus  in 
Orissa  vertrieben,  um  dort  146  Jahre  zu  herrschen.  Glaubhaft 
wird  diese  Vermuthung  durch  den  Umstand,  dass  gerade  die  Um- 
gebung von  Amravati  ausserordentlich  reich  an  Funden  indobak- 
trischer  Münzen  sich  erwiesen  hat.  Soweit  ist  alles  annehmbar 
und  lässt  sich  geschichtlich  rechtfertigen.  Nun  kommt  aber  die 
turanische  Hypothese.  Jene  Baumeister  sollen  nämhch  nicht  bloss 
ihre  Kunst  nach  Indien  gebracht  haben,  sondern  auch  ihren  Baum- 
und Schlangendienst.  Sie  kamen  aus  Baktrien,  also  aus  Turan, 
waren  selbst  arisch  turanische  Mischlinge,  ,, folglich"  Baum-  und 
Schlangenanbeter.  Diese  Hypothese  trifft  der  schHmmste  Vorwurf, 
der  eine  Hypothese  treffen  kann :  sie  ist  ganz  unnütz ,  und  die 
einfachste  Annahme  ist  die,  dass  die  heutigen  Dschengelvölker  und 
die  gebildeten  Dravidas  derselben  Race  angehören,  in  Indien  alt- 
angesessen sind,  von  jeher  Bäume  und  Schlangen  verehrten,  und 
dieser  Cultus  mit  dem  Buddhismus  sich  mischte ,  zur  Zeit,  wo  die 
ersten  Steinbauten  entstanden. 


3.    Die  australischen  Goldfelder. 

(Ausland  l86o.     Nr.    i6.      15.  April.) 

Wer  hätte  gewagt,  vor  zehn  Jahren  daran  zu  glauben,  dass 
nicht  allein  die  californische  Golderzeugung  zu  50  Mill.  Dollars 
im  Jahr  steigen  und  zehn  Jahre  sich  in  dieser  Höhe  behaupten 
könne,  sondern,  dass  zu  der  californischen  noch  die  australische 
Erzeugung  sich  gesellen  würde  und  ihre  vereinigten  Wirkungen 
dennoch  nicht  den  Goldcurs  beträchtlich  erschüttern  sollten?  Zwar 
die  californischen  Erträgnisse  scheinen  bereits  den  Gipfel  über- 
schritten zu  haben,  die  australischen  dagegen  sind  noch  in  der 
Entwicklung  begriffen,  und  nach  dem,  was  wir  aus  einer  interes- 
santen Arbeit  des  Quarterly  Review  erfahren ,  ist  gar  nicht  abzu- 
sehen, wann  die  Zeiten  einer  Erschöpfung  eintreten  sollen.  Einen 
Zuwachs,  wenn  auch  von  bescheidener  Ausdehnung,  hat  Dr,  Hoch- 
stetter  in  Neu-Seeland  entdeckt,  als  sollten  sich  alle  unbekannten 
Räume,  kaum  dass  sie  von  dem  Finger  der  Sachkundigen  berührt 
werden,  in  goldtragendes  Land  verwandeln.  Das  Gold  selbst  ist 
eine  noch  minder  werthvoUe  Erscheinung  als  wie  das  zauberhafte 
Aufgehen  neuer  Staaten.  Im  Jahre  1792  gab  es  in  Neu-Süd- Wales 
nur  67  freiwillige  Ansiedler,  die  3400  Acres  Land  inne,  davon 
aber  nur  400  wirklich  angebaut  und  100  erst  ,, geklärt"  hatten. 
Lange  Zeit  gab  es  in  den  kleinen  Städten  nichts  als  sehr  bildungs- 
lose Bewohner ,  keine  würdige  Kirche ,  Schulen  bloss  für  reiche 
Kinder,  und  nur  Sträflinge  als  Schullehrer.  Lii  Jahr  1830  erschien 
ein  ,, Schreiben  aus  Sydney"  von  einer  heutigen  Berühmtheit  der 
Colonie ,  Herrn  Edward  Gibbon  Wakefield ,  worin  der  Verfasser 
die  Enttäuschungen  eines  Ansiedlers  aus  Liebhaberei  uns  schildert. 
Er  hatte  20,000  Acres  um  einen  Spottpreis  erworben,  und  bildete 


Die  australischen  Goldfelder, 


345 


sich  ein,  eine  Grafschaft  gekauft  zu  haben.  Die  Bäume  allein  auf 
diesem  Gebiet  wären  in  England  150,000  Pfd.  St.  (1,800,000  fl.) 
werth  gewesen.  In  Australien  aber  hätte  man  sie  ausroden  sollen, 
wenn  nicht  das  Zerstören  allein  15,000  Pfd.  St.  gekostet  haben 
würde.  Der  ,,Colonist"  war  ein  reicher  Mann,  Er  hatte  sich 
vorgenommen,  den  hübschen  Theil  seiner  Besitzungen  für  sich  zur 
Anlage  von  Parks,  Landhäusern  und  als  Jagdgrund  zu  behalten, 
den  übrigen  Theil  aber  zu  verpachten.  Allein  zu  dem  Traum 
fehlte  das  Beste,  nämlich  Pächter  um  den  Pachtschilling  zu  be- 
zahlen, ja  der  einzige  Diener,  den  der  Verfasser  mitgebracht  hatte, 
verliess  ihn  kurz  nachher,  um  mit  seinen  Lohnersparnissen  sich 
selbst  Güter  anzukaufen.  Weit  besser  ging  es  einem  schottischen 
Ansiedler  aus  alter  Familie.  Dieser  brachte  das  beste  Capital  mit, 
nämlich  12  Kinder,  wenn  auch  nur  die  Hälfte  davon  erwachsen 
war.  Anfangs  freilich  lebte  die  Familie  unter  einem  Zelt  von  ein 
paar  Fässern  Hafermehl  und  etwas  Zwieback,  Bevor  aber  diese 
Vorräthe  verzehrt  waren,  gab  es  Hühner vieh  und  Kartoffeln  in 
Fülle.  Die  Arbeit  kostete  nichts,  das  Holz  nichts,  die  Rente 
nichts  und  die  Anstandsbedürfnisse  nichts.  Zuerst  wurden  ein 
paar  Geissen,  dann  eine  Kuh  erworben.  Bald  sah  man  eine 
Heerde  um  sich,  Butter  und  Gemüse  wurden  in  die  nächste  Stadt 
verkauft,  die  Söhne  wurden,  wie  sie  herangewachsen  waren,  un- 
abhängige Herren  ,  und  die  Töchter  machten  die  besten  Partien. 
So  ist  die  Moral  aller  Colonisation :  das  erste  Geschlecht  darbt 
und  arbeitet  hart,  das  nachfolgende  aber  hat  es  um  desto  besser. 
Erst  mit  der  Entdeckung  der  Goldfelder  kam  aber  eine  selbst- 
zahlende Einwanderung  nach  Australien.  Man  sagt,  dass  jeder 
Goldgräber  mindestens  drei  Menschen  Beschäftigung  gebe,  die  ihn 
nähren  und  bekleiden.  Im  Jahre  1788  wurde  die  erste  britische 
Flagge  bei  Sydney  aufgezogen,  und  die  ursprüngliche  Colonie  be- 
stand nur  aus  1030  Köpfen.  Jetzt  beträgt  sie  310,000.  Nach 
den  letzten  statistischen  Erhebungen  giebt  es  in  Neu  -  Süd  -  Wales 
nicht  weniger  als  168,929  Pferde,  2,023,418  Stück  Hornvieh, 
7>736,323  Schafe  und  105,998  Schweine.  Seit  1848  haben  sich 
die  Einfuhren  nach  Sydney  von  1,2  Mill.  auf  6,7  Mill.,  die  Aus- 
fuhren von  1,2  auf  4  Mill.  gehoben.  Neu-Süd- Wales  ist  aber 
längst  in  Schatten  gesunken,  seit  das  goldene  Zeitalter  für  Victoria 
aufgegangen  ist.  Im  Jahre  1835  war  Melbourne  nur  noch  ein  La- 
gerplatz,    und   selbst   bis    zum   Jahr    1851  noch    so    unbedeutend. 


346 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


dass  der  Name  der  Niederlassung  in  Europa  kaum  gekannt  war. 
Schon  im  Jahre  1804  wurde  dort  Gold  gesehen.  Das  Kriegs- 
schiff „Calcutta"  hielt  sich  nämlich  im  Port  Philipp  als  Station 
auf,  und  Lieutenant  Tucker,  der  die  Reise- Erlebnisse  beschrieb, 
erzählt  uns,  dass,  als  die  Schiffsmannschaft  bei  einem  Besuch  am 
Land  einen  Strom  entdeckte,  die  Matrosen  in  grosse  Aufregung 
geriethen,  als  sie  im  Sand  glänzende^^Körnchen  sahen,  die  sie  für 
Gold  hielten,  „welche  aber  natürlich,  fügt  der  kritische  Ver- 
fasser hinzu,  nur  aus  Ghmmer  bestanden."  Schon  im  Jahr  185 1 
stieg  die  Bevölkerung  der  Colonie  auf  77,345  Köpfe,  wovon 
28,143  ii^  Melbourne  sich  aufhielten.  Im  März  1857  waren  diese 
Ziffern  auf  410,766  und  99,345  angewachsen,  im  Juni  1858  die 
Bevölkerung  der  Colonie  auf  477,345  gestiegen,  und  jetzt  hat  sie 
längst  die  halbe  Million  überschritten.  So  schnell  reiten  mitunter 
auch  die  Lebendigen.  Im  Jahr  1851  hatten  die  Einfuhren  nur 
eine  Million,  1857  schon  17V4  Millionen  und  in  den  sieben  Jahren 
von  1851  — 1857  zusammen  an  82^2  Millionen  Pfd.  St.  betragen. 
Diese  Colonie  liefert  jährhch  mehr  als  10  Millionen  Pfd.  St.  Gold  für 
die  Märkte  Europa's,  und  diese  Sendungen  haben  dem  Gewerb- 
fleiss  der  alten  Welt  einen  solchen  Antrieb  gegeben,  wie  er  histo- 
risch seit  der  Entdeckung  Amerika' s  und  des  Seewegs  nach  Indien 
gar  nicht  dagewesen  ist. 

Lange  Zeit  galt,  in  der  Wissenschaft  Australien  als  der  jüngste 
Erdtheil,  bei  näherer  Untersuchung  aber  fand  sich,  dass  gerade 
Australien  das  älteste  Stück  trocknen  Erdbodens  sei.  Die  Gold- 
lager Australiens  liegen  in  einem  Gürtel  grosser  granitischer,  por- 
phyrischer und  metaphorischer  Gebirge ,  die  an  manchen  Stellen 
nadeiförmig  aufsteigen  und  dort  der  Landschaft  den  Ausdruck  der 
Wildheit  geben,  wie  sie  andererseits  schwer  zu  überschreiten  sind. 
Von  Mount  Kosciusko,  dem  höchsten  Punkte  der  australischen 
Alpen,  überschaut  man  eine  Fläche  von  300  geogr.  Quadratmeilen, 
und  das  ganze  innere  Flachland  war  sicherlich  ehemals  nur  Mee- 
resboden, umgeben  von  einem  Archipel,  bis  sich  allmählich  das 
Land  hob,  der  innere  Continent  entstand  und  aus  den  Inseln 
Berggipfel  wurden.  Der  Goldschutt  Victoria's  besteht  aus  min- 
destens drei  verschiedenen  Goldschichtungen,  die  sich  in  Folge 
dreimaliger  Hebung  und  Depression  gebildet  haben.  So  findet  der 
Goldgräber  eine  erste,  zweite  und  dritte  Schicht  in  der  Tiefenfolge, 
die  letzte  auf  dem  noch  unangetasteten  paläozoischen  Gestein, 
von  welchem  alles  Gold  stammt.     Der  Reichthum  einzelner  Stellen 


Die  australischen  Goldfelder. 


347 


auf  diesem  Goldland  übersteigt  alle  Begriffe.  Eine  berühmte  Grube 
dieser  Art  hat  mit  Recht  den  Namen  ,, Goldschmieds  Laden" 
empfangen.  Anfangs  war  sie  bekannt  alfe  des  ,, Grobschmieds 
Antheil",  da  ein  solcher  Handwerker  sie  begann.  Der  Grob- 
schmied arbeitete  mit  acht  Personen,  die  sämmtlich  vom  Bergbau 
nichts  verstanden.  Der  Schacht,  den  sie  anlegten,  war  höchst 
mangelhaft  und  lebensgefährlich.  Als  sie  unten  den  Felsen  erreicht 
hatten,  theilten  sie  12,800  Pfd.  St.  (153,600  fl.)  oder  1600  Pfd. 
St.  per  Kopf  und  boten  den  ,, Antheil"  zum  Verkauf  aus,  weil 
sie  nicht  verstanden,  einen  Stollen  zu  treiben.  EndUch  fand  sich 
eine  Partei ,  die  für  Grube  und  Geräth  7  7  Pfd.  St.  zahlte.  Sie 
begann  ihre  Arbeit  an  einem  Samstag  und  vertheilte  noch  am 
nämlichen  Abend  200  Pfd.  Sterling  auf  den  Kopf,  zusammen  2000 
Pfd.  St.  Sie  setzte  die  Arbeit  abtheilungsweise  Tag  und  Nacht 
fort,  bis  sie  am  Montag  eine  Dividende  von  800  Pfd.  St.  oder 
14000  Pfd.  St.  im  Ganzen  vertheüen  konnte.  Hierauf  verkaufte 
sie  die  Grube  für  eine  Woche,  nach  Ablauf  welcher  sie  wieder 
in  den  Besitz  treten  wollte.  Das  Hinabsteigen  in  die  Grube  er- 
forderte etlichen  Muth.  Sand  und  Steine  rollten  nach  und  plät- 
scherten unten  im  Wasser.  Die  Miether  für  eine  Woche  gewan- 
nen in  den  ersten  drei  Tagen  schon  12&0  Pfd.  St.  per  Kopf  oder 
—  es  waren  12 — 14,400  Pfd.  St.  zusammen.  Dann  kam  die 
frühere  Partei  wieder  an  die  Reihe,  und  nachdem  sie  in  einer 
Woche  durch  einfache  Tagesarbeit  abermals  900  Pfd.  St.  per  Kopf, 
9000  zusammen,  gewonnen  hatte,  verkaufte  sie  die  Grube  um  100 
Pfd.  St.  an  einen  Marketender.  Dieser  schickte  eine  Bande  Gold- 
jäger unter  Prämienbedingung  in  die  Grube,  die  nach  14  Tagen 
500  Pfd.  St.  per  Kopf,  zusammen  5000  Pfd.  St.  vertheilen  konn- 
ten. Unter  diesen  Arbeitern  befand  sich  aber  ein  alter  Fuchs, 
welcher  am  Feierabend  des  Samstags  in  den  Seitengallerien  die 
Stützen  wegzog.  Als  der  Montag  kam,  war  altes  eingesunken. 
Der  Schlaue  aber  hatte  eilig  in  der  Oberfläche,  wo  er  durch  das 
Einsinken  die  richtige  Stelle  erkennen  konnte,  einen  ,, Claim",  das 
heisst  einen  Grubentheil  abgesteckt  und  die  Licenz  gelöst,  worauf 
er  schleunigst  von  dort  wieder  in  die  Tiefe  hinabging.  Aus  den 
ersten  vier  Eimern  Erde,  die  heraufkamen,  sollen  nicht  weniger 
als  40  Pfund  Gewicht  Gold  in  groben  Körnern  gewaschen  wor- 
den sein,  acht  andere  Eimer  gaben  noch  20  Pfund,  so  wurden 
aus    diesem    neuen    Schacht    nach    und    nach    55,200    Pfd.     St. 


348 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


(660,000  fl.)  gewonnen  und  zwar  von  einer  Grundfläche,  die  nur 
24  Fuss  ins  Gevierte  hielte,  ein  Glücksfall,  der  vor  wie  nach  nicht 
seines  Gleichen  gesucht  hat. 

Aus  dieser  Schilderung  schon  kann  man  sehen,  dass  zwischen 
den  Goldablagerungen  AustraHens  und  Californiens  ein  grosser 
geologischer  Unterschied  besteht.  Das  californische  Gold  liegt 
mitten  in  den  Gebirgen  zwischen  spitzen  Gipfeln,  rauhen  Kämmen, 
aufgeblähten  und  beunruhigten  Schichtungen,  also  über  einer  sehr 
bewegten  Stelle  des  Erdballes,  hat  aber  nicht  als  Ruhepunkt  die 
sanften  Ebenen  oder  schrägen  Seiten  der  Berge  gewählt,  sondern 
sich,  von  den  Wildwassern  zu  immer  feinerem  Pulver  zerrieben, 
in  Staubflocken  längs  der  Bänke  oder  im  Bett  der  grossen  Flüsse 
angesetzt.  Die  californischen  Goldgräber  brauchen  also  nicht  wie 
die  australischen  unter  die  Erde  zu  steigen,  sondern  finden  die 
goldenen  Schichten  im  Untergrunde  unmittelbar  unter  der  Ober- 
fläche, mit  dem  Untergrund  vermischt  oder  in  den  Löchern  und 
,, Taschen"  der  ausgewaschenen  Felsen.  Selten  gehen  sie  tiefer 
als  ein  paar  Fuss,  und  stets  bleiben  sie  am  Rande  der  Gewässer, 
während  bei  Ballarad  und  den  andern  grossen  Goldfeldern 
Australiens  das  Metall  auf  den  Pfeifenthonschichten  über  das 
Flachland  sich  ausbreitet  oder  angehäuft  in  Höhlungen  tief  unter 
den  Hügelwellen  ruht,  zu  denen  der  Bergmann  nur  gelangt,  wenn 
er  seinen  Schacht  50  und  300  Fuss  tief  getrieben  hat.  Daraus 
darf  man  schliessen,  dass  der  australische  Schutt  aus  viel  früheren 
Zeiten,  der  californische  dagegen  aus  den  jetzt  sichtbaren  Gebirgs- 
ketten, demnach  viel  später,  gebildet  worden  ist,  also  auch  viel 
früher  sich  erschöpfen  wird.  Das  Waschgold  Victoria's  und  von 
Neu-Süd- Wales  ist  aber  nicht  bloss  auf  einzelne  Schichtenstreifen 
beschränkt,  sondern  auf  Hunderten,  vieleicht  Tausenden  (englischer) 
Quadratmeilen  ist  Sand,  Lehm  und  Erde  mit''Gold  gefüllt,  welches 
sich  ohne  Ausnahme  mit  Nutzen  waschen  lässt.  In  dem  Bezirk 
von  Goulbourne  allein  liegt  eine  Goldfläche  von  solcher  Ausdeh- 
nung, dass  sie  nicht  in  einem  halben  Jahrhundert  durchgewaschen 
werden  kann.  In  den  Goldfeldern  des  Turonthales  soll  das  Gold, 
wenn  auch  nicht  besonders  reich ,  doch  so  regelmässig  vertheilt 
sein,  dass  ein  Arbeiter  so  sicher  ist..  10  Schilling  im  Tage  mit 
Goldwaschen  zu  verdienen ,  wie  wenn  er  sich  um  diesen  Lolin 
verdungen  hätte,  und  zwar  würden  5000  Goldgräber  im  Vergleich 


Die  australischen  Goldfelder. 


349 


zur  Flächenausdehnung  des  Feldes  gar  wenig  zur  Bewältigung  der 
Schätze  ausrichten. 

Früher  herrschte  die  irrige  wissenschaftliche  Ansicht,  dass  die 
Goldadern  im  Quarzgestein  nur  bis  zu  gewisser  Tiefe  reichten  und 
mit  der  Tiefe  der  Goldgehalt  abnehme.  Die  australischen  Erfah- 
rungen haben  diesen  Irrthum  völlig  beseitigt.  Die  Glücksfälle 
beim  Quarzbohren  sind  womöglich  noch  grösser  als  beim  Aus- 
waschen von  Schuttland.  So  ging  es  unter  andern  beim  „Johnson 
Reef",  einer  Quarzgrube,  die  nach  ihrem  ursprünglichen  Besitzer 
hiess.  Dieser  hatte  120  Fuss  tief  gebohrt,  ohne  Aussicht  Metall 
zu  finden  und  dann  den  Schacht  verlassen.  Da  kam  ein  Fleischer, 
Namens  Dawborn ,  welcher  seine  Ersparnisse  daran  setzte ,  um 
noch  einmal  in  der  Grube  sein  Glück  zu  suchen.  Er  bildete  eine 
kleine  Gesellschaft,  der  er  die  nöthigen  Fonds  vorstreckte;  als 
man  aber  145  Fuss  Tiefe  erreicht  hatte  ohne  ein  Kömchen  Gold 
zu  finden ,  da  beschloss  man ,  den  Schacht  wieder  zu  verlassen. 
Die  Quarzbergleute  pflegen  in  Australien  jeden  Abend  ihre  Minen 
abzufeuern ,  damit  der  Pulverdampf  über  Nacht  sich  zerstreuen 
kann ,  während  er  am  Tag  die  Leute  von  der  Arbeit  vertreiben 
würde.  Am  letzten  Abend  wurden  denn  auch  als  Abschiedssalve 
die  Minen  abgebrannt.  Dawborn  begab  sich  darauf  in  ein  Wirths- 
haus  und  bot  seinen  Viertelsantheil  an  der  Grube  um  15  Pfd.  St. 
feil,  wurde  aber  nur  mit  einem  Gelächter  verhöhnt.  Am  andern 
Morgen  fuhr  er  allein  in  den  Schacht,  um  die  zurückgelassenen 
Geräthe  zu  holen  und  einen  letzten  Blick  auf  das  Grab  seiner 
Habe  zu  werfen.  Aber  ein  entzückender  Anblick  harrte  seiner. 
Die  erste  Stampfprobe  von  6  Tonnen  (120  Centner)  Quarz  lieferte 
370  Unzen  (ä  450  fl.  circa)  oder  1480  Pfd.  St.,  und  seitdem 
mehrte  sich  die  Ausbeute  so  rasch,  dass  bald  der  Viertelsantheil, 
10,000  statt  15  Pfd.  St,  werth  war. 

Dicht  neben  Dawborn  wurde  auch  gebohrt  und  mit  noch 
grösserem  Erfolg.  Einer  der  Besitzer  bot  seinen  Zwölftelsantheil 
thöricht  genug  um  500  Pfd.  St.  feil,  aber  schon  die  nächsten  drei 
Quarzvermahlungen  machten  den  Käufer  der  Actie  vollständig  für 
die  Auslagen  bezahlt.  Auch  die  grösste  und  reichste  Grube  in 
der  Bendigo-Niederung  gab  erst  Metall,  als  der  Schacht  längst 
das  wissenschaftliche  Maximum  überschritten  hatte.  Der  arme 
Tropf,  welcher  die  Grube  gemuthet  hatte,  verlor  den  Verstand, 
als    er    am    Morgen   nach    dem  erfolgreichen  Minenschuss    in  den 


35° 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


Schacht  fuhr,  und  ihm  unten  allenthalben  die  Goldstufen  entgegen- 
starrten. Bei  Tarrengower  soll  ein  Deutscher,  Namens  Weisen- 
haaren, bei  einer  Tiefe  von  300  Fuss,  aus  seiner  Grube  im  Laufe 
einer  Woche  4  Cntr.  —  vier  Centner  Gewicht !  —  an  Gold,  mehr 
als  200,000  fl. !  gewonnen  haben.  Das  plötzliche  Reichwerden 
einzelner  Personen  aus  den  niedersten  Ständen  führte  zu  den  selt- 
samsten Erscheinungen.  Einen  der  merkwürdigsten  Fälle  dieser 
Art  erlebte  Herr  William  Kelly,  Verfasser  des  Life  in  Victoria, 
welcher  Besitzer  einer  Quarzmühle  zur  Zeit  des  Goldfiebers  gewesen 
war.  Eines  Tages  erschienen  ein  paar  Buben  mit  Säcken  auf  dem 
Rücken,  die  um  sein  Zelt  schlichen,  nicht  aus  Neugierde,  sondern 
in  der  Absicht,  um  bemerkt  zu  werden.  Als  sie  Kelly  nach  ihren 
Wünschen  frug,  baten  sie  darum,  einen  der  Mörser  und  Mörser- 
keulen, wie  man  sie  zu  Quarzproben  braucht,  benutzen  zu  dürfen. 
Obgleich  ihnen  die  Erlaubniss  ertheilt  wurde,  machten  sie  doch 
vorläufig  keinen  Gebrauch,  sondern  warteten  erst,  bis  die  Arbeiter 
sich  um  die  Essensstunde  hinwegbegeben  hatten.  Jetzt  machten 
sie  sich  an  die  Arbeit,  und  als  die  Quarzsteine,  die  sie  in  ihren 
Säcken  mitgebracht  hatten,  sich  reichhaltig  erwiesen,  gestanden 
sie  dem  Quarzmüller,  dass  sie  gestern  beim  Spielen  eine  kleine 
Quarzader  mit  Gold  entdeckt  hätten  und  sie  jetzt  prüfen  wollten. 
Damit  ihre  Eltern  aber  nichts  merken  möchten,  hatten  sie  ihren 
Weg  durch  einen  Bach  genommen,  so  dass  man  ihre  Fusstapfen 
nicht  verfolgen  könne.  Beide  Knaben  hatten  in  ihren  Säcken 
etwas  über  zwanzig,  sicherlich  nicht  ganz  dreissig  Pfund  Quarz. 
Als  aber  das  Pulver  gewaschen  wurde,  ergab  sich  eine  Beute  von 
13  Pfund  (Gewicht)  reines  Gold,  so  dass  die  beiden  Buben  ein 
Vermögen  von  624  Pfd.  St.  (7500  fl.)  mit  heim  nahmen.  Zehn 
Tage  verstrichen,  ohne  dass  sich  das  Paar  wieder  sehen  Hess. 
Endlich  kamen  sie  begleitet  von  einem  altern  Burschen  und  mit 
einem  Wägelchen  voll  Quarz.  Als  sie  ihre  Säcke  öffneten,  rissen 
alle  Anwesenden  die  Augen  auf,  denn  der  Inhalt  sah  aus  wie 
goldener  Honig,  durchwachsen  mit  Quarz  und  Eisentheilen.  Ein 
reicher  Quarzbergmann  aus  Sandhurst,  ein  Kenner  wie  irgend 
einer,  bot  den  Dreien  eine  Anweisung  von  1200  Pfd.  St.  für  ihren 
Quarz  an,  und  er  war  ein  Mann,  der  viel  lieber  zu  wenig  als  zu 
viel  gab.  So  verstrichen  wieder  etUche  Wochen,  als  die  Buben 
erschienen  und  bei  dem  Quarzmüller  einen  bestimmten  Vertrag 
über  die  Pulverisirung  von  sieben  Tonnen  (140  Ctnr.)  Quarz,  die 


K 


Die  australischen  Goldfelder.  ^ql 

sie  nach  und  nach  zu  bringen  gedachten,  einzugehen  suchten. 
Das  Gestein,  welches  sie  brachten,  sah  aber  nicht  sehr  preiswür- 
dig aus,  und  als  die  Vermahlung  begann,  rieth  einer  der  Arbeiter 
Herrn  Kelly,  nicht  eher  fortfahren  zu  lassen,  als  bis  die  Buben  den 
Mahlschatz  gezahlt  hätten,  der  8  Pfd.  St.  per  Tonne  betrug. 
Doch  ergab  sich  schliesslich  beim  Aussuchen  der  Rückstände  und 
beim  Verwaschen  ein  Ertrag  von  17  Pfund  und  etlichen  Unzen 
Gold.  ,, Diese  Erfahrung",  sagt  unser  Quarzmüller,  machte  mich 
für  die  Zukunft  vorsichtig  gegen  oberflächliche  Besichtigung  von 
Quarzgesteinen,  denn  bei  jenen  Mustern  war  äusserlich  nicht  ein 
Kömchen  Gold  im  Quarz  zu  erkennen,  und  wie  viel  goldhaltiger 
Quarz  mag  nicht  schon  aus  ähnlichem  Irrthum  zum  Chausseebau 
weggeworfen  worden  sein,  dass  man  wirkHch  sagen  kann,  die 
Landstrassen  Victoria's  seien  mit  Gold  gepflastert  worden."  Da 
bei  den  jetzigen  Vorrichtungen,  wie  wir  eben  hörten,  8  Pfd.  St. 
die  Vermahlung  des  Quarzes  kostet,  so  muss  das  Gestein  schon 
mehr  als  zwei  Unzen  Gold  in  der  Tonne  enthalten ,  wenn  sich 
nur  die  Vermahlung  und  das  dabei  stattfindende  Wagniss  bezahlen 
soll.  Beim  Reed  Creek,  etwa  11  deutsche  Meilen  von  Melbourne 
werden  reiche  Quarzadern  bearbeitet,  die  16,  ja  sogar  bis  31 
Unzen  in  der  Tonne  liefern.  Dort  hat  man  auch  Snen  Gold- 
klumpen von  730,  und  später  noch  einen  von  1230  Unzen  ge- 
funden, das  grösste  compacte  Stück  Gold,  welches  Australien  bis 
jetzt  geliefert  hat,  das  aber  immer  noch  keinen  Vergleich  zu  den 
grössten  sibirischen  Goldklumpen  verträgt.  Auch  dort  wird  Quarz, 
Melcher  nur  1^2  Unzen  in  der  Tonne  liefert,  weggeworfen  und 
zum  Bau  von  Strassen  verwendet.  So  haben  denn  die  Räder  der 
Wagen  bisweilen  durch  Zermalmen  der  Kieselsteine  mauche  Gold- 
stufe schon  zu  Licht  gebracht,  namentlich  zwischen  Castelmaine 
und  Sandhurst,  wo  die  Strasse  aus  goldführendem  Quarz  erbaut 
worden  ist. 

Uebrigens  ist  die  Bearbeitung  des  Quarzes  ein  Merkmal,  dass 
die  leicht  erreichbaren  Schätze  Australiens  bereits  ausgebeutet 
worden  sind,  weil  man  sonst  unmöglich  den  mühsameren  und 
kostspieligeren  Weg  betreten  würde.  Das  Erträgniss  dieses  Jahres 
ist  uns  noch  nicht  bekannt  geworden.  Der  Economist  vom  10. 
März  (p.  259)  giebt  freilich  folgende  Ziffern  an:  1857:  148,126 
Unzen;  1858:  255,535  Unzen j  1859:  293,574  Unzen;  —  allein 
er   hat    offenbar    etwas   verwechselt,    nämlich    entweder   ist  jener 


352 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


Ertrag  nur  derjenige  der  Decembermonate,  oder  der  von  Neu- 
Süd- Wales,  nicht  der  von  Victoria,  welcher  letztere  allein  nach  dem 
Quarterly  Review  betrug: 


I85I 

145,137 

Unzen 

438,777  Pfd.  St 

1852 

1,998,526 

6,i35-,728  „   „ 

1853 

2,497,723 

8,644,529  „   „ 

1854 

2,144,699 

8,255,550  „   ., 

1855 

2,751.535 

10,904,150  ,,   „ 

1856 

2,985,991 

11,943,458  „   „ 

1857 

2,762,460 

10,987,591  „   „ 

1858 

bis  30. 

Juni 

1,279,767 

5,119,069  „   „ 

Eine  andere  Zusammenstellung  des  Goldertrags  der  beiden 
Provinzen  Victoria  und  Neu-Süd-Wales  wiederholen  wir  hier  nach 
dem  Ausland  (1859  S.  369).  Dort  wurde  die  Goldausbeute  an- 
gegeben mit: 


I85I 

126,000 

Unzen 

1852 

1,750,000 

,, 

X853 

2,475,000 

,, 

1854 

2,360,000 

,, 

1855 

3,230,000 

,, 

1856 

3,613,000 

,, 

1857 

3,033,000 

,, 

1858 

2,81 1,000 

„ 

19,398,000  Unzen. 
Die  Widersprüche,  namentlich  stark  in  den  Anfangsjahren, 
rühren  daher,  dass  bei  der  spätem  Angabe  nur  die  declarirten 
Verschiffungen  mit  Zuschlag  von  10  Proc.  zur  Ausgleichung  für 
die  nichtdeclarirten  Verschiffungen  und  für  die  zurückgebliebenen 
Werthe  als  Gesammtertrag  angenommen  wurden.  Nach  dem 
Quarterly  Review  sind  17,023,413  Unzen  oder  64,122,360  Pfd. 
St.  von  1851  bis  Ende  1857  verschifft  worden,  was  mit  unsern 
eigenen  Angaben  übereinstimmt.  Nimmt  man  an,  dass  im  Jahre 
1859  wieder  12  Millionen  Pfd.  St.  und  in  Californien  50  Mill. 
Dollars  oder  10  Mill.  Pfd.  St.  erbeutet  worden  sind,  so  würde 
also  seit  1848  und  respective  185 1  bis  Ende  1859  die  Ausbeute 
Californiens  genau  100  Mill.,  die  Australiens  86  Mill.  Pfd.  St., 
zusammen  also  186  Mill.  Pfd.  St.,  oder  2232  Mill.  Gulden  oder 
4650  Mill.  Eres,  betragen  haben.  Dennoch  wie  gesagt,  hat  bis 
jetzt  ein  beträchtliches  Sinken  des  Goldwerthes  iii  Beziehung  zum 


Die  australischen  Goldfelder. 


353 


Werthe  des  Silbers  sich  nicht  erkennen  lassen.  Man  erklärt  diese 
Erscheinung  damit,  dass  das  Gold  der  pacifischen  Länder  in 
Amerika  und  in  Frankreich  die  alte  Silbercirculation  verdrängt  und 
diese  ausgestossenen  Zahlungsmittel  nach  Südasien,  das  heisst  nach 
Indien  und  China  zur  Ausgleichung  ungünstiger  Handelsbilanzen 
verschifft  worden  seien.  Diess  halten  wir  auch  für  völlig  richtig, 
doch  ist  dieser  Abfluss  des  edlen  Metalles  den  höchsten  Schwan- 
kungen unterworfen.  So  betrugen  nach  dem  Economist  (1860, 
Xr.    863)   die   Sendungen    edler   Metalle  nach  dem  Morgenlande : 


Aus  britischen 

Aus  Mittel 

meerhäfen 

Gold. 

Silber. 

Gold. 

Silber. 

Pfd.  St. 

Pfd.    St. 

Pfd.  St. 

Pfd.   St. 

I85I 

102,280 

1,716,100 

— 

— 

1852 

921,739 

2,630,238 

— 

— 

I853 

880,202 

4,710,665 

93,528 

848,362 

1854 

1,174,299 

3,132,003 

48,456 

1,451,014 

1855 

948,272 

6,409,889 

243,239 

1,524,240 

1856 

404,749 

12,118,985 

74,039 

1,989,916 

1857 

269,275 

16,795,235 

259,986 

3,350,689 

1858 

166,246 

4,415,315 

165,230 

911,043 

4,867,062 

51,928,427 

884,478 

10,075,264 

Zusammen  67,755,231   Pfd.  St. 

Im  Jahre  1858  also,  wo  22  Mill.  Pfd.  St.  an  Gold  allein  in 
Australien  und  Californien  gewonnen  wurden,  gingen  in  Folge  der 
nachwirkenden  Handelskrisis  und  der  chinesischen  Feindseligkeiten 
nur  6  Mill.  nach  dem  Morgenlande,  während  der  Rest  von  16 
MiU.  die  Zahlungsmittel  in  den  christlichen  Staaten  der  Welt  ver- 
mehrte. Lange  darf  die  Ausbeute  in  gleicher  Stärke  nicht  mehr 
fortdauern,  ohne  zuletzt  eine  Minderung  im  Werthe  der  edlen 
oder  eines  der  edlen  Metalle  fühlbar  zu  machen. 

Wir  haben  eine  Reihe  merkwürdiger  Glücksfälle  im  austra- 
lischen Bergbauleben  angeführt,  darum  ist  es  auch  billig,  dass  wir 
der  Unglücksfälle  gedenken,  die  freiUch  ganz  besonders  charakte- 
ristisch sein  müssen,  um  nicht  vergessen  zu  werden.  So  zeigt 
man  in  den  Minen  von  Victoria  ein  Grab,  welches  von  allen 
Goldgräbern  mit  religiöser  Scheu  betrachtet  wird.  Der  unglück- 
liche Todte  war  nämlich  mit  Freunden  und  Schulkameraden  aus 
sehr  guten  Famihen  nach  Austrahen  gekommen  und  die  Brüder- 
schaft hatte  zusammen  auf  Gold  gegraben.     Ihre  Glücksaussichten 

Peschel,  Abhandlungen.     II.  23 


354 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


waren  sehr  gering,  dennoch  zeigten  sie  immer  unverdrossene  Ge- 
sichter. Als  ihre  Baarschaft  aufgezehrt  war,  verkauften  sie,  was 
sie  noch  an  werthvollem  Schmuck  und  Kleinodien  mitgebracht 
hatten.  An  einem  Tage  nun,  wo  der  Unglückliche  in  der  Grube 
arbeitete,  seine  Genossen  aber  oben  die  Wascherde  heraufzogen, 
rief  er  hinauf:  , .Zieht,  zieht!  meine  Bursche,  die  Stunde  hat  end- 
lich geschlagen !"  Die  Kameraden  zogen  kräftig,  obgleich  die  Last 
ziemlich  schwer  war,  aber  Entsetzen  erfasste  sie,  als  statt  des 
Erdeimers  die  Leiche  ihres  Freundes  am  Strick  in  die  Höhe  kam. 
Der  Unglückliche  hatte  nämlich,  wie  sich  später  ergab,  unten  in 
der  Grube  den  harten  Felsen  erreicht,  wo  alle  Hoffnungen  auf- 
hören mussten,  und  dann  aus  Verzweiflung  die  Schlinge  des  Stricks 
sich  um  den  Hals  gelegt,  um  seinem  Leben  ein  Ende  zu  machen. 
Die  Brüderschaft  stand  wegen  ihrer  Massigkeit  und  ihres  Fleisses 
bei  allen  Goldgräbern  in  höchster  Achtung ,  so  dass ,  wenn  sie 
nicht  zu  stolz  gewesen  wären,  ihr  Missgeschick  einzugestehen, 
augenblicklich  Summen  aufgebracht  worden  wären,  dass  sie  ihr 
Glück  hätten  von  neuem  versuchen  können.  Nach  dem  tragischen 
Vorfall  verschwanden  die  Kameraden  und  wurden  bei  den  Minen 
nicht  vi^ieder  gesehen. 

Besser  ging  es  zwei  conaischen  Bergleuten ,  die  der  obener- 
wähnte Kelly  kennen  lernte.  Sie  hatten  einen  eigenen  ,, Claim" 
erworben,  und  ihre  erste  Quarzprobe  lieferte  ihnen  30  Pfund  Gold 
auf  die  Tonne  (also  Yee)«  Kelly  wollte  anfangs  diesen  Angaben 
nicht  trauen,  aber  die  offenherzigen  Bergleute  führten  ihn  in  das 
Zelt,  wo  die  junge  Frau  des  einen  gastlich  für  ein  Frühstück 
sorgte,  und  dort  zog  der  Ehemann  unter  seinem  Bett  einen  Gold- 
kuchen nach  dem  andern  hervor,  so  dass  Kelly  anfangs  meinte, 
er  werde  durch  ein  Taschenspielerstückchen  geneckt.  Kelly  fand 
es  sehr  unvorsichtig,  solche  Schätze  so  schlecht  zu  hüten,  aber 
der  Bergmann  war  unbesorgt,  denn  noch  war  ihm  nichts  schlim- 
mes widerfahren.  Dass  die  Goldgräber  aus  höchst  gefährlichen 
Elementen  bestehen  und  Verbrechen  nicht  zu  den  Seltenheiten  ge- 
hörten, kann  man  nicht  anders  erwarten  bei  einem  Gemisch  von 
Abenteurern  aller  Nationen:  Briten,  Iren,  Franzosen,  Deutschen  — 
und  die  schlimmsten  aller  Schlimmen,  von  Californiern.  Dennoch 
sind  die  Zustände  Australiens  im  Vergleich  zu  den  californischen 
ziemlich  ehrbar  gewesen,  woran  wohl  der  Colonialpolizei  das  meiste 
Verdienst  gebührt.     Das  nützlichste    und  friedlichste    Element    der 


Die  australischen  Goldfelder.  ^cc 

Einwanderung  waren  jedenfalls  die  Chinesen,  deren  Zahl  sich  nach 
der  letzten  Ermittelung  auf  50,000  Köpfe  belief.  Gegen  diesen 
Zudrang  aus  dem  himmlischen  Reich  machten  aber  aus  Brodneid 
die  anderen  Einwanderer  Front,  obgleich  die  Chinesen  nicht  daran 
denken,  zu  bleiben,  da  sie  bekanntlich  ihre  Frauen  in  der  Hei- 
math lassen  müssen.  Doch  soll  es  ihnen  gelingen,  bei  irischen 
Weibern  ihr  Glück  zu  machen.  Offenbar  sind  die  Australier  un- 
gerecht gegen  die  Chinesen,  da  sie  ihnen  den  grössten  Goldfund 
der  neuesten  Zeit  verdanken.  Chinesen  nämlich  waren  es,  die, 
um  der  Einwanderungstaxe  zu  entgehen ,  in  der  Gurchen-Bay 
(SüdaustraUen)  landeten,  dann  über  die  Grampian  -  Gebirge  gingen 
und  dort  erst  die  Gränze  von  Victoria  betraten.  Auf  diesem  Weg 
nun  beim  Berg  Ararat  stiessen  sie  auf  wunderbare  Reichthümer 
in  dem  berühmt  gewordenen  ,, Chinesenloch",  wo  die  erste  Arbeit 
in  wenigen  Stunden  3000  Unzen  lieferte.  Diess  bewirkte  den 
grössten  „Rutsch"  in  der  Geschichte  Victoria's.  Nachrichten  von 
ungewöhnHchen  Entdeckungen  verbreiteten  sich  wie  ein  Lauffeuer, 
und  dann  konnte  es  geschehen,  dass  20  und  30,000  Goldgräber 
wie  auf  ein  Signal  aufbrachen,  neue,  bisher  öde  Räume  bevölker- 
ten und  eben  erst  bevölkerte  veröden  Hessen.  In  wenigen  Wochen 
lagerten  beim  Ararat  60,000  Personen.  Eine  ungeheure  Stadt 
wurde  systematisch  abgesteckt.  Magazine,  Gasthäuser  und  Schen- 
ken wuchsen  wie  auf  magisches  Geheiss  aus  dem  Boden,  es  gab 
Billardzimmer,  eine  tägliche  Postverbindung  und  eine  täglich  er- 
scheinende Zeitung. 

Merkwürdig  ist  es,  dass  Victoria  auch  als  kornerzeugendes 
Land  nicht  bloss  Süd-Australien  und  Neu-Süd-Wales,  sondern  selbst 
CaUfornien  übertrifft,  wie  uns  folgende  Tabelle  zeigt.  Es  wurden 
nämlich  geerntet: 


Buscheis  per  Acre. 

Weizen 

Gerste 

Hafer 

Victoria   1855 — 1857 

23.1 

20.3 

29.3 

Tasmania   1850 

16.5 

24.2 

23-7 

Süd-Australien   1857 

12.0 

22.0 

25.0 

Neu-Süd-Wales,  Durchschnitt 

von 

drei  Jahren 

15-4 

J6.7 

16.7 

New-York 

14.0 

16.0 

26.0 

Californien 

20.0 

31-5 

20.2 

356 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde, 


Nicht  wenig  überraschend  ist  es,  dass  Neu-Süd-Wales  bereits 
1128  Acres  Land  mit  Wein-Cultur  besitzt  und  etwa  11  o  bis  130,000 
Gallonen  Wein  im  Jahre  erzeugt.  Proben  dieses  Gewächses,, 
welche  zur  Pariser  Ausstellung  gesendet  wurden,  sollen  von  den 
Preisrichtern  für  vorzüglicher  als  irgend  ein  Muster  von  Rheinwein 
erklärt  worden  sein.  Die  australischen  Reben  jedoch,  auf  welche 
man  die  grössten  Hoffnungen  setzt,  liefern  einen  Wein,  der  weit 
mehr  dem  spanischen  als  dem  deutschen  gleicht.  Die  anfänglich 
unfassHch  hohen  Preise  für  Nahrungsmittel  haben  den  Ackerbau 
so  rasch  auf  seine  jetzige  Höhe  gebracht.  Es  wurde  aber  auch 
in  der  schlimmsten  Zeit  die  Tonne  Heu  mit  50  Pfd.  St.,  der 
Centner  also  mit  30  Gulden  bezahlt,  so  dass  damals  die  jährlichen 
Unterhaltungskosten  eines  Pferdes  auf  415  Pfd.  St.  (5000  Gulden) 
sich  beliefen,  wovon  die  Hälfte  auf  Heu,  Hafer  und  Stroh  traf! 
Dass  sich  der  Viehbestand  der  Colonie  so  rasch  heben  konnte, 
darf  uns  nicht  wundern.  Man  rechnet,  dass  sich  eine  Heerde  in 
zwei  Jahren  verdoppelt,  in  vier  Jahren  vervierfacht,  in  sechs  Jah- 
ren verachtfacht,  in  acht  Jahren  versechzehnfacht  u.  s.  f.  Das 
Hirtengeschäft  war  und  4st  wohl  noch  ein  Gegenstand  vielseitiger 
Bewerbung.  Oftmals  aber  drängen  sich  Leute  herbei ,  die  keine 
Ahnung  von  ihrer  Aufgabe  haben.  Ein  Unternehmer,  der  ge- 
schwind reich  werden  wollte,  kaufte  10,000  Schafe,  vergass  aber 
zugleich  einen  Hund  sich  zu  verschaffen,  und  musste  seine  Heerde 
sogleich  mit  ungeheurem  Verlust  wieder  losschlagen.  Besser  ging 
es  einem  Baccalaureus,  der,  durch  Familienmissgeschick  genöthigt, 
nach  Australien  wanderte,  nach  und  nach  aber  eine  Heerde  von 
3000  Schafen  um  sich  sammelte.  Er  schlachtet  und  kocht  sich 
sein  Hammelfleisch  selbst,  und  liest  bei  einer  Unschlittkerze  die 
alten  Classiker,  oder  Briefe  und  Zeitungen,  welche  ihm  dann  und 
wann  die  Post  bringt.  Das  sogenannte  „Ueberländergeschäft", 
welches  darin  bestand,  von  den  Weideplätzen  im  Innern  die  Heer- 
den  nach  der  Küste  zu  treiben,  überhaupt  neue  bequeme  Wege 
für  den  Viehtransport  auszufinden,  hat  gar  manches  Kind  aus 
guter  Familie  und  manchen  jungen  Gelehrten  gefesselt.  Dieses  Leben 
soll  für  abenteuersüchtige  Gemüther  die  höchsten  Reize  haben,  wozu 
sich  noch  der  Umstand  gesellt,  dass  dabei  alles  gewonnen  oder 
alles  verloren  werden  kann,  denn  oft  wandern  Heerden  von  Scha- 
fen, Hornvieh  und  Pferden  im  Werth  von  20,000  Pfd.  St.  monate- 
lang   in    pfadlosen    Einöden    umher,    unsicher    von   Tag  zu    Tag 


Die  australischen  Goldfelder. 


357 


Nahrung  und  Wasser  zu  finden.  Wurde  aber  das  Reiseziel  einmal 
erreicht,  so  ist  der  Gewinn  enorm,  und  der  kühne  „Ueberländer" 
mit  seiner  Heerde  wird  von  der  Bevölkerung  empfangen  wie  ein 
Messias  an  Palmarum. 

Süd-Australien  ist  zwar  vorzugsweise  ein  ackerbautreibendes 
Land,  hat  aber  \'on  der  Natur  als  Mitgift  in  Metall  reiche  Kupfer- 
erze empfangen.  Die  Burraburragruben  sind  wegen  ihrer  Ergiebig- 
keit so  viel  werth  wie  der  Goldquarz  Victoria's,  und  alle  nörd- 
lichsten Districte  der  Colonie  strotzen  auf  hunderte  englischer 
Meilen  von  Kupfer  in  höchster  Reinheit,  so  dass  es  nur  an  Hän- 
den und  Capital  fehlt,  um  ein  halbes  Dutzend  neuer  Burra-Burra's 
zu  öffnen.  Würde  sich  die  Bevölkerung  auch  verzehnfachen,  es 
gäbe  noch  für  alle  Hände  zu  thun,  um  diese  Schätze  zu  heben. 
Bereits  sind  in  Australien  die  bewohnten  Gebiete  zu  einem 
Flächenraum  aufgeschwollen  wie  Grossbritannien ,  Irland  und 
Frankreich  zusammen  genommen.  Im  Süden ,  also  im  volkreich- 
sten Theil,  herrscht  ein  ebenmässiges  Klima  wie  in  Süd -Europa, 
und  seit  in  den  Umgebungen  der  Städte  die  Einöden  und  Sand- 
flächen cultivirt  werden,  haben  auch  die  heissen  Winde  und  Sand- 
wirbel von  Jahr  zu  Jahr  abgenommen.  Auch  die  landschaftliche 
Natur  bekommt  seit  der  Besiedelung  einen  freundlicheren,  man 
möchte  sagen  einen  menschlicheren  Anblick.  Die  meisten  austra- 
lischen Bäume  sind  hässlich  an  Gestalt ,  eintönig  und  zottig  was 
Form  und  Farbe  des  Laubwerkes  betrifft,  während  alle  die  herr- 
lichen Gewächse  der  alten  Welt  lustig  gedeihen. 

Zu  dem  colonialen  Sittengemälde  gehört  auch  die  grosse  An- 
zahl der  Bankerotte,  In  Victoria  zählte  man  von  1854  bis  1857 
durchschnittlich  200  solcher  Fälle,  und  in  den  drei  ersten  Quar- 
talen von  1858  sogar  434.  Die  Gesammtsumme  der  Schuldmassen 
betrug  durchschnittlich  im  Jahre  ^/^  Millionen  Pfd,  St.,  wovon  nur 
etwa  %  gedeckt  werden  konnten.  Schon  im  Jahre  181 6  gab  es 
in  Sydney  eine  Bank  mit  einem  Vermögen  von  20,000  Pfd.  St., 
jetzt  aber  zählt  man  in  Australien  nicht  weniger  als  neun  Banken 
mit  einem  Actiencapital  von  5,898,835  Pfd.  St.  In  der  Provinz 
Victoria  sind  die  Depositeneinlagen  so  gewaltig,  dass  sich  durch- 
schnittlich auf  den  Kopf  12^/^  Pfd.  St.  (147  fl.)  berechnen,  so  dass 
in  gleicheni  Verhältnisse  das  Königreich  Baiern  z.  B.  600  Mill. 
Gulden  baar  hinterlegte  Depositengelder  besitzen  müsste.  Ver- 
schiedene   dieser    Banken    zahlen    20    Proc,    Dividende,    manche 


358 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


brachten  es  bis  auf  40  Proc.  Es  geschah  diess  zur  Zeit,  wo  man 
den  Goldgräbern  für  die  Unze  Goldstaub  nur  2  Pfd.  St.  bezahlte, 
obgleich  diese  Unze  ein  paar  Monat  später  bei  der  englischen 
Bank  um  3  Pfd.  St.  17  Sh.  6  P.  verkauft  wurde.  Jetzt  aber  be- 
zahlt man  die  Unze  Goldstaub  nicht  bloss  mit  3  Pfd.  St.  17  Sh. 
6  P.,  sondern  man  giebt  auch  noch  2  Sh.  Agio.  Wie  die  Banken 
ein  solches  Geschenk  machen  können,  ist  noch  ein  Räthsel,  man 
vermuthet  indessen ,  dass  die  Banken  alles  Gold  desswegen  so 
hoch  aufkaufen,  damit  die  Importeure  genöthigt  sind,  Rimessen  zu 
kaufen,  deren  Preis  dann  in  Folge  gegenseitigen  Uebereinkommens 
um  so  höher  gestellt  wird.  Was  die  Australier  sonst  nicht  vor- 
theilhaft  auszeichnet,  ist  ihr  Brodneid  und  ihre  Monopolsucht. 
Am  liebsten  sperrten  sie  die  Thüre  ganz  zu  und  Hessen  keinen 
Einwanderer  mehr  ins  Land.  Die  Arbeiter  haben  durch  Strikes 
ihre  Arbeitszeit  auf  acht  Stunden  herabgesetzt,  unter  dem  Vor- 
wande,  dass  längere  Anstrengungen  sich  mit  dem  Klima  nicht 
vertrügen.  Acht  Stunden  Arbeit,  acht  Stunden  Schlaf  und  acht 
Stunden  Erholung  ist  ein  beliebtes  Demagogenschlagwort.  Gleich- 
zeitig haben  die  Arbeiter  eine  Petition  abgefasst,  dass  alle  für  Ein- 
wanderungszwecke bewilligten  Gelder  eine  andere  Bestimmung 
erhalten  sollten,  weil  sonst  aus  England  alles  Proletariat  und  alle 
arbeitslosen  Handwerker  wie  Heuschrecken  in  das  gelobte  Land 
fallen  möchten. 

Im  Jahr  1850  wurde  bekanntlich  Victoria  als  selbstständige 
Colonie  von  Neu-Süd-Wales  abgetrennt,  mit  einer  Verfassung  be- 
schenkt, und  1857  sogar  das  allgemeine  Stimmrecht  (manhood 
suffrage)  eingeführt,  mit  einzigem  Ausschluss  der  analphabeten 
Personen,  solcher,  die  nicht  lesen  und  schreiben  können,  so  dass 
von  512,000  Bewohnern  nicht  weniger  als  160,000  auf  die  Stimm- 
hsten  eingetragen  wurden.  Die  Abstimmung  ist  geheim,  so  dass 
Victoria  also  die  am  meisten  demokratische  Verfassung  hier  unter 
dem  wechselnden  Monde  besitzt.  Sehr  ermunternd  sind  vorläufig 
die  constitutionellen  Experimente  Victoria's  noch  nicht.  In  Zeit 
von  drei  Monaten  folgten  sich  vier  Cabinette  auf  einander,  und 
das  einzige,  was  sich  zu  Gunsten  der  Colonie  sagen  lässt,  besteht 
darin,  dass  in  Süd- Australien  die  Dinge  noch  schlimmer  gehen. 
Als  dort  die  neue  Verfassung  ertheilt  wurde,  blieb  die  alte  Ver- 
waltung am  Platz.  Nach  Eröffnung  der  ersten  Versammlung 
stürzte  aber  die  Opposition  das  Cabinet,  und  am  2 1 .  August  wurde 


Die  australischen  Goldfelder. 


59 


den  Siegern  die  Bildung  einer  neuen  Regierung  übertragen.  Am 
25.  August  nahmen  die  neuen  Minister  ihre  Plätze  ein,  erhielten 
aber  schon  in  den  ersten  Stunden  ein  Misstrauensvotum,  und  im 
Lauf  von  24  Stunden  waren  sie  genöthigt  abzutreten.  Jetzt  wurde 
die  alte  Verwaltung  wieder  berufen  und  am  i .  September  beeidigt. 
Aber  auch  dieser  Versuch  hatte  keine  Dauer  und  eine  neue  Op- 
position stürzte  diese  Verwaltung.  Das  nachfolgende  Ministerium 
versprach  eine  längere  Lebensfrist,  doch  sind  wir  über  seine 
Schicksale  nicht  unterrichtet.  Es  ist  zu  hoffen,  dass  die  Bevöl- 
kerung an  diesen  constitutionellen  Possen  keinen  Geschmack  fin- 
det, und  der  Ekel  zuletzt  eine  Reaction  herbeiführt.  Die  Briten 
preisen  es  als  Zeichen  der  loyalen  Gesinnung  ihrer  Colonien,  dass 
die  Sammlungen  für  Stiftungen  zu  Gunsten  der  InvaHden  des 
Krimfeldzuges  so  glänzend  ausfielen,  allein  ähnliche  Zeichen  von 
Anhänglichkeit  gaben  auch  die  Vereinigten  Staaten  noch  kurz  vor 
der  Unabhängigkeitserklärung.  Auffallend  ist  uns  gewesen,  schon 
hie  und  da  auf  laute  Regungen  australischen  Heimathsgefühles  zu 
stossen,  so  dass  früher  oder  später  auch  bei  den  Antipoden  der 
Gedanke  völliger  Selbstständigkeit  zur  Reife  kommen  wird. 


4.    Der  Werth  Indiens  für  England. 

(Ausland  1866.     Nr.   38.     18.  September.) 

Vor  dem  Jahre  1859  wurde  bei  jeder  Verwicklung  auf  unserm 
Festlande  gefragt:  welche  Partei  wird  die  britische  Regierung  er- 
greifen ?  wie  wird  sich  das  Parlament  entscheiden  ?  Jetzt  fragt  kein 
Mensch  mehr  nach  dem  Hass  und  nach  der  Liebe  des  britischen 
Volkes.  Das  letzte  Mal,  wo  es  eine  europäische  Rolle  spielte, 
war  der  Krieg  in  der  Krim,  an  dem  es  anfangs  mit  30,  später 
mit  50,000  Mann  Theil  nahm.  Seitdem  weiss  man  nicht  mehr, 
dass  England  eine  europäische  Kriegsmacht  sei.  Man  hat  sie 
nicht  gesehen  1859  in  ItaHen,  1864  auf  der  cimbrischen  Halbinsel, 
1866  in  Deutschland.  Wenn  die  Franzosen  Belgien  sich  aneig- 
neten oder  das  linksrheinische  Deutschland  bedrohten,  wir  würden 
uns  vergebens  umsehen  nach  den  Waffengefährten  bei  Waterloo. 
Zwischen  1854  und  1859  fällt  der  indische  Sipahiaufstand  und 
mit  ihm  dankte  Grossbritannien  ab  für  eine  europäische  Rolle. 
Grossbritannien  hat  nämlich  keine  Soldaten  und  wird  keine  für 
eine  europäische  Rolle  haben,  so  lange  es  mit  geworbenen  Truj)- 
pen  ficht. 

Seine  gesammte  Hausmacht  besteht  alles  in  allem  aus  150,000 
Mann,  seine  indische  Armee  aus  etwa  75,000  Mann.  Von  seiner 
Hausraacht  muss  man  reichlich  abrechnen  50,000  Mann,  die  es 
zur  Bewachung  von  Gibraltar  und  Malta  in  Europa,  von  Canada, 
Jamaica  und  den  Antillen  in  Amerika,  von  Australien  und  Neu- 
seeland im  stillen  Ocean,  von  Singapur  und  seinen  chinesischen 
Häfen  in  Asien  braucht.  Es  bleiben  also  daheim,  einschliesslich 
der  Depots  für  die  indischen  Regimenter,  100,000  Mann  für  Gar- 
nisons-  und  Festungsdienste  sowie  zur  Bewachung  Irlands.     Es  ist 


Der  Weith  Indiens  für  Ensfland. 


361 


wahr,  England  könnte  bei  Beginn  eines  Krieges  Truppen  anwer- 
ben, sie  einüben  und  seinen  Feinden  damit  zusetzen.  Nimmt  der 
Krieg  die  Gestalt  einer  grossartigen  Belagerung  an,  wie  die  Seba- 
stopols  war,  und  zieht  er  sich  durch  zwei  Jahre  hin,  so  wird 
England  zum  Schluss  mit  einiger  Stärke  auftreten  können.  Dauert 
der  Krieg  aber  drei  Monate,  wie  der  italienische  1859,  oder  , .sie- 
ben Tage",  wie  der  böhmische  Feldzug  1866,  so  kommt  England 
jedenfalls  zu  spät. 

Vor  dem  Jahr  1857  war  die  Lage  eine  andere.  Damals  gab 
es  noch  eine  Armee  der  ostindischen  Compagnie,  und  die  Ziffer 
der  europäischen  Truppen  in  Ostindien  blieb  beständig  unter 
30,000  Mann.  Jetzt  bedarf  man  70,000  Mann,  um  die  Hindu  im 
Zaume  zu  halten.  Wären  die  alten  Verhältnisse  1864  noch  ge- 
wesen wie  vor  1857,  so  hätte  England  leicht  den  Dänen  60,000 
Mann  zu  Hülfe  schicken  können,  während  es  in  Wahrheit  höch- 
stens 20,000  Mann  zu  solchen  Zwecken  verfügbar  gehabt  hätte. 
Man  sieht  also,  es  besteht  ein  deutlicher  Zusammenhang  zwischen 
dem  Sipahiaufstande  und  dem  europäischen  Nihilismus  des  Lon- 
doner Cabinets.  In  britischen  Köpfen  macht  sich  daher  die  Nei- 
gung geltend,  zu  untersuchen,  ob  denn  der  Besitz  Indiens  seine 
Opfer  werth  sei.  Es  giebt  wohl  heutigen  Tages  keinen  Engländer 
mehr,  der  nicht  in  dem  Abfall  der  Vereinigten  Staaten  von  dem 
Mutterlande  eine  Wohlthat  für  seine  Heimath  erblickte.  Neu  ist 
es  aber,  dass  man  auch  ein  Aufgeben  Indiens  für  einen  weisen 
Entschluss  anzusehen  beginnt,  und  dass  gegen  das  Westminster 
Review  das  torystische  Quarterly  aufgetreten  ist,  um  zu  beweisen, 
dass  Indien  noch  einen  Werth  für  England  besitze  und  seine 
70,000  Mann  Besatzung  werth  sei. 

Zunächst  ist  es  überhaupt  schwierig,  etwas  aufzugeben.  Oester- 
reich  hat  sich  sicherlich  verstärkt  durch  den  Verlust  seiner  italie- 
nischen Gebiete.  Aber  auf  die  Lombardei,  auf  Venedig  verzich- 
ten, ohne  gefochten  zu  haben,  wer  hätte  Oesterreich  das  ernsthaft 
zumuthen  wollen?  Hat  es  an  innerer  Kraft  auch  nicht  eingebüsst, 
an  äusserem  Glänze  hat  es  jedenfalls  verloren.  England  wäre  als 
Kriegsmacht  viel  stärker,  wenn  es  Indien  aufgäbe,  aber  an 
irdischem  und  historischem  Glanz  würde  es  um  so  viel  ärmer, 
das  Hochgefühl  der  Nation  würde  herabgesetzt,  sie  träte  eine 
Rangstufe  tiefer,  und  sie  wird  daher  lieber  auf  eine  europäische, 
als  auf  ihre  asiatische  Rolle  verzichten.     Ausserdem  ist  Indien  für 


362 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


England  das  nämliche  wie  Algerien  für    Frankreich,    eine    Kriegs- 
schule für  Truppen  und  Feldherren. 

Man  täuscht  sich  auch,  wenn  man  glaubt,  ein  Aufgeben  In- 
diens würde  für  Grossbritannien  die  nämlichen  günstigen  Folgen 
haben  wie  der  Abfall  der  Vereinigten  Staaten.  Die  Vereinigten 
Staaten  waren  nämUch  eine  Colonie  Englands ,  besiedelt  von  der 
gleichen  Race,  reif  zur  Selbstregierung,  als  sie  sich  losrissen ,  sie 
waren  vor  allen  Dingen  eine  consumtionsfähige  Gesellschaft,  der 
europäischen  Zufuhren  bedürftig  und  zur  Leistung  der  nöthigen 
Rimessen  befähigt.  Indien  dagegen  ist  keine  Colonie  Englands, 
der  Hindu  nennt  die  britischen  Inseln  nicht  sein  Mutterland.  In- 
dien ist  daher  eine  britische  Eroberung  und  eine  Domäne  der 
vereinigten  Königreiche.  Der  britische  Handel  nach  Indien  setzt 
eine  britische  Herrschaft  in  Indien  voraus.  Wollten  die  Engländer 
sich  begnügen,  nur  einzelne  grosse  Hafenstädte,  wie  Karratschi 
am  Indus,  Bombay,  Madras  und  Calcutta  mit  wenig  zahlreichen 
Garnisonen  festzuhalten,  so  würde  allerdings  ein  Theil  ihres  Han- 
dels mit  Indien  sich  retten  lassen ,  aber  die  Werthzififern  müssten 
bedeutend  sinken,  denn  es  ist  nur  die  europäische  Herrschaft, 
welche  den  Hindu  befähigt,  in  grossem  Massstab  zu  erzeugen  und 
in  gleichem  Massstabe  zu  verbrauchen.  Zögen  die  Engländer  aus 
Indien  ab,  so  gäbe  es  wieder,  wie  zuvor,  innere  Kriege,  es  wür- 
den die  künstlichen  Bewässerungen  verfallen,  die  Landwirthschaft 
machte  Rückschritte  unter  asiatischer  Willkürherrschaft,  und  mit 
dem  Sinken  der  Production  ginge  auch  die  Consumtionsfähigkeit 
verloren.  Der  indische  Handel  hat  aber  ganz  gewaltige  Grössen- 
verhältnisse  gewonnen.  Die  Werthe  der  Ein-  und  Ausfuhr  be- 
trugen 

1S34— 35      14,342,000  Pfd.  St. 

1860 — 61  89,074,000  ,,  „ 
Im  letzten  Jahre  (1861)  betrug  die  ausgeführte  Baumwolle  369 
Mill.  Pfd.  im  Werthe  von  9  Mill.  Pfd.  St.,  und  sie  hatte  sich 
1864  in  Folge  des  amerikanischen  Bürgerkrieges  auf  502  Mill. 
Pfd.  an  Gewicht  gehoben.  Hätte  Indien  die  Lücke,  welche  das 
Ausbleiben  der  amerikanischen  Baumwolle  Hess,  nicht  einigermassen 
ausgefüllt,  so  würde  das  Elend  der  Spinner-  und  Weberbevölkerung 
in  England  noch  unendlich  grösser  gewesen  sein.  Ganz  ähnlich 
erging    es,    als    während   des    Krieges    in    der  Krim    die  Zufuhren 


Der  Werth  Indiens  für  England.  ^63 

russischen  Hanfes  ausblieben.  Damals  brachen  sich  indische 
Pflanzenfasern  als  Surrogate  Bahn ,  und  die  aufblühende  Ausfuhr 
von  Jute  hob  sich  von  409,243  Pfd.  St.  im  Jahr  1860  auf  einen 
Werth  von  1,598,084  Pfd.  St.  im  Jahr  1863.  Indien  verspricht 
auch  neuerdings  England  einigermassen  die  Unabhängigkeit  von 
chinesischen  Märkten  durch  seine  Theepflanzungen ,  wenn  auch 
die  Werthe  der  Theeausfuhren  sich  nur  langsam  in  der  Zeit  von 
1860 — 1863  von  101,693  Pfd.  St.  auf  einen  Werth  von  222,035 
Pfd.  St.  hoben. 

Wenn  England  Indien  aufgeben  wollte,  so  Hesse  es  dort  an- 
sehnliche Capitalanlagen  im  Stiche.  Eine  parlamentarische  Un- 
tersuchung hat  ergeben ,  dass  von  indischen  Staatseinnahmen  in 
England  bezahlt  werden,  an 

Zinsen  für  Actien  der  alten  ostindischen 

Compagnie  629,970  Pfd.  St. 

Zinsen  für  engHsche  Darlehen  an  Indien  1,372,599  „  „ 

Pensionen  für  Civilbeamte  246,918  „  ,, 

„           ,,    Militärbeamte  1,165,043  „  ,, 

,,           ,,    Marinebeamte  53>95i  »  " 

Zinsengarantien  für  Eisenbahnen  1,669,283  „  ,, 

5,137,764  Pf.  St. 

Capitalisirt  man  diese  Rente  zu  3  Proc,  so  gelangt  man  zu  einer 
Summe  von  173  MiUionen,  und  schlägt  man  dazu  noch  die  capi- 
talisirten  Zinsen  für  Eisenbahnen,  die  mit  englischem  Geld  in  In- 
dien erbaut  worden  sind,  so  erhöht  sich  das  Capital  auf  200  MilL, 
will  sagen  auf  eine  Summe,  die  dem  vierten  Theil  der  englischen 
Nationalschuld  gleich  kommt.  Gar  nicht  berechnen  lassen  sich 
ferner  die  Summen,  welche  britische  Officiere  und  Beamte  an 
Ersparnissen  von  ihren  Gehalten  nach  Hause  senden ,  obgleich 
sie  in  neuerer  Zeit  wegen  der  Lebensvertheuerung  in  Indien  sehr 
knapp  geworden  sind.  Darin  hauptsächlich  besteht  der  materielle 
Genuss  des  britischen  Volkes ,  dass  in  Indien  eine  Legion  von 
Beamten  und  Officieren  Anstellungen  finden,  die  sehr  viele  von 
ihnen  befähigen,  einen  fürstlichen  Haushalt  zu  führen. 

Mit  dem  indischen  Handel  fiele  auch  die  Schifffahrt  nach 
Indien.  Zur  Vermittelung  des  Verkehrs  dorthin  dient  eine 
Dampferflotte,  welche  grösser  ist,  als  die  einer  andern  europäischen 


364 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


Seemacht,  Frankreich  und  Russland  ausgenommen.  Die  Flotte 
der  Peninsular  and  Oriental  Company  zählt  64  Dampfer  von 
90,545  Tonnen  Register  und  18,649  Pferdekräften,  die  in  Kriegs- 
zeiten von  England  zur  Verstärkung  seiner  Seekräfte  beigezogen 
werden  können.  An  Eisenbahnen  hat  England  in  Indien  Capita- 
lien  von  58  Mill.  Pfd.  St.  angelegt,  sie  befinden  sich  in  den 
Händen  von  36,533  Actionären,  die  sämmtlich  bis  auf  777  ihre 
Wohnsitze  in  England  haben.  Es  giebt,  wenn  man  die  Pensionäre 
und  Actionäre,  welche  von  indischen  Einkünften  in  England  leben 
zusammenzählt,  126,000  Personen,  deren  Rente  vertreten  wird  im 
Durchschnitt  durch  ein  Capital  von  1600  Pfd.  St.  Alle  diese 
Leute  verlören  ihren  Zinsengenuss,  wenn  jemals  Indien  der  Herr- 
schaft der  Briten  entschlüpfte. 

Vor  dem  Sipahiaufstande  bot  das  indische  Budget  den 
traurigen  Anblick  der  fortgesetzten,  wenn  auch  massigen  Deficite. 
Der  Sipahiaufstand  schwellte  die  indische  Schuld  noch  beträcht- 
lich auf,  die  Vermehrung  der  europäischen  Truppen  steigerte  den 
Aufwand  für  den  Krieg,  und  die  Herstellung  eines  Gleichgewichts 
zwischen  Einnahmen  und  Ausgaben  erschien  ganz  hoffnungslos. 
Es  hat  sich  aber  alles  unerwartet  gestaltet.  Vor  dem  Sipahiauf- 
stand betrug  in  den  drei  Jahren  1854 — 57  die  durchschnitthche 
Jahreseinnahme  des  indischen  Schatzes  31,980,000  Pfd.  St.,  1861 
war  sie  auf  43  IVIill.  und  1863  auf  44  Mill.  gestiegen.  Von 
dieser  Mehreinnahme  von  12  MilUonen  sind  nur  vier  Millionen 
auf  neu  erschaffene  Steuern  zu  rechnen,  der  Rest  von  8  MiUionen 
besteht  aus  dem  Mehrertrag  alter  Steuern.  Gegenwärtig  besteht 
die  Roheinnahme  aus  46,547,483  Pfd.  St.,  von  denen  nach  Abzug 
örtlicher  Lasten  36,895,318  Pfd.  St.  übrig  bleiben.  Die  Kosten 
der  gesammten  Verwaltung  sowie  der  Zinsen  für  die  indische 
Schuld  belaufen  sich  nur  auf  29,814,211  Pfd.  St.  Es  bleibt  also 
eine  Reineinnahme  von  7  Millionen  Pfd.  St.  zurück.  Von  diesen 
mussten  allerdings  wieder  1,395,285  Pfd.  St.  an  garantirten 
Zinsen  für  Eisenbahnen  abgezogen  werden.  Der  Rest  aber  und 
ein  kleines  Deficit  von  263,377  Pfd.  St.  diente  zur  Bestreitung 
öffenthcher  Arbeiten  im  Kostenbetrage  von  5,685,817  Pfd..  St. 
Letztere  Summe  ist  ein  angelegtes  Capital,  ein  Zuwachs  des  fisca- 
lischen  Vermögens.  Als  ein  solches  sind  namentlich  die  Bewäs- 
serungsbauten von  handgreiflichem  Nutzen.  Trotz  seiner  dichten 
Bevölkerung    liegen  in  Indien   noch    unermessliche   Flächen   unbe- 


Der  Werth  Indiens  für  England.  -165 

baut,  weil  sie  nicht  bewässert  sind,  denn  wo  sich  Wasser  herbei- 
schaffen lässt,  ist  der  indische  Boden  fruchtbar.  In  der  Präsident- 
schaft Madras  allein  sind  in  den  fünf  Jahren  1860 — 64,  je  500,000 
Acres  Land  durchschnittlich  in  einem  Jahre  der  Cultur  gewonnen 
worden. 

Unter  solchen  Verhältnissen  wird  England  gern  auf  allen 
europäischen  Glanz  verzichten,  um  sich  die  fette  Milchkuh  im 
Lande  wo  der  Pfeffer  wächst  zu  erhalten. 


5.    Süd  und  Nord  in  Deutschland. 

(Ausland  1866.     Nr.  7.     13.   Februar.) 

Leopold  V.  Buch  pflegte  scherzhaft  zu  äussern :  Süddeutsch- 
land beginne  dort,  wo  man  den  Wein  nicht  mehr  aus  Kelch-, 
sondern  aus  Schoppengläsern  trinke.  Er  wollte  damit  sagen,  dass 
es  keine  Naturgränze  gebe,  die  eine  Zerstückung  des  Reiches  be- 
günstigen könne.  Zwar  giebt  es  in  Deutschland  selbst  eine  Natur- 
gränze, aber  nicht  zwischen  Nord  und  Süd,  sondern  zwischen 
dem  tiefen  und  hohen ,  zwischen  Nieder-  und  Oberdeutschland, 
zwischen  den  Räumen,  die  sich  nirgends  bis  zu  tausend  Fuss 
erheben ,  und  solchen ,  die  über  tausend  Fuss  liegen.  Mit  dieser 
Gränze,  welche  Mitteldeutschland  trennt  von  den  Küstennieder- 
ungen, fällt  so  ziemhch  auch  der  Unterschied  der  Sprachen  des 
Hochdeutschen  und  des  Plattdeutschen  zusammen.  Unendlich 
viele  Norddeutsche  verstehen  unter  Hochdeutsch  eine  Sprache  der 
Gebildeten  im  Gegensatz  zu  einer  Art  von  Pöbelsprache,  und 
selbst  in  Süddeutschland  giebt  es  noch  viele  gläubige  Köhler, 
welche  sich  einbilden,  Kinder  könnten  nur  eine  „reine"  Aussprache 
sich  aneignen  im  Dunstkreise  einer  hannoverischen  Bonne.  Sie 
fürchten  einen  Fehler  zu  begehen  oder  bäuerisch  zu  reden,  wenn 
sie  ein  Wort,  welches  Stein  und  Spiel  geschrieben  wird,  Schtein 
und  Schpiel  aussprechen,  während  doch  das  Richtige  wäre,  dass 
die  Hannoveraner  eher  süddeutsche  Bonnen  anwerben  sollten, 
damit  ihre  Kinder  Schtein  und  Schpiel  sprechen  lernen.  Ueberall 
wo  das  Hochdeutsch  die  Volkssprache  ist,  also  in  Süd-  und  Mit- 
teldeutschland, herrscht  jener  Brauch  der  Aussprache.  Das  Hoch- 
deutsch in  Norddeutschland  ist  dagegen  eine  fremde  importirte 
Sprache  ,  deren  Worte  dort  nach  den  Regeln  gesprochen  werden, 
die  im  Plattdeutschen  gelten.     Dass  das  Hochdeutsch  kein  Gegen- 


Süd  und  Nord  in  Deutschland. 


367 


satz  zu  einer  Vulgärsprache  ist,  lässt  sich  leicht  nachweisen.  Ein 
hochdeutsch  sprechender  Pfarrer  aus  Norddeutschland  kann,  wenn 
er  das  rasche  Tempo  seines  Redeflusses  mässigt,  getrost  irgend 
eine  Dorf  kanzel  in  Süddeutschland  besteigen,  und  seine  Gemeinde 
wird  ihn  verstehen  bis  nach  Tirol  und  an  die  Gränzen  von  Italien ; 
ein  Süddeutscher  dagegen,  wenn  er  auch  alle  Eigenheiten  seiner 
heimathlichen  Mundart  völlig  abgelegt  hätte ,  wird  von  einer  nur 
plattdeutsch  sprechenden  Gemeinde  nicht  verstanden  werden. 

Und  doch  giebt  es  auch  keine  reinen  Naturgränzen  für  das 
platte  und  das  hohe  Deutsch,  unter  welchem  letztern  wir  die 
Mundarten  von  Mittel-  und  Süddeutschland  zusammenfassen.  Wenn 
man  von  Bonn  aus  eine  gerade  Linie  nach  den  Gränzen  zwischen 
West-  und  Ostpreussen  und  Polen  zieht,  so  schneidet  man  genau 
das  plattdeutsche  von  dem  hochdeutschen  Gebiet  ab.  Aber  diese 
Linie  führt  uns  mitten  durch  die  hohen  Länder  östlich  vom  Rhein. 
Also  auch  nicht  Höhe  oder  Niederung  scheidet  die  Sprachen, 
denn  im  Harz  wird  noch  plattdeutsch,  und  in  der  tiefen  Rhein- 
ebene von  Bingen  bis  Basel  wird  hochdeutsch  gesprochen.  An 
einzelnen  Stellen  jedoch  bilden  wichtige  Abschnitte  im  Bau  der 
Stromgebiete  Sprachgränzen.  So  beginnt  das  platte  Sprachgebiet 
genau  bei  der  Einmündung  der  Sieg  in  den  Rhein,  bei  der  Ver- 
einigung der  Fulda  und  Werra  zur  Weser ,  bei  dem  Zusammen- 
fluss  der  Saale  in  die  Elbe,  wie  auch  die  Oder  zwischen  den 
Mündungen  der  Neisse  und  Bober  die  Sprachgränze  bildet.  Nicht 
leicht  trennt  irgendwo  ein  Gewässer  die  Mundarten  schärfer,  als 
der  Lech.  Am  linken  Ufer  ist  alles  schwäbisch,  am  rechten  alles 
bayerisch,  so  dass  man  auf  der  Westseite  des  Lechs  sagt :  es  wird 
gutes  Wetter,  denn  wir  haben  bayerischen  Wind  bekommen.  Der 
Ostwind  wird  hier  ein  bayerischer  Wind,  wie  bei  den  ItaHenern 
der  Nordostwind  il  Greco  hiess,  bei  den  Römern  Africus  der 
Südwest. 

Lässt  sich  eine  geographische  Gränze  zwischen  Mittel-  und 
Norddeutschland  nur  schwierig  ziehen,  so  verfällt  jeder  Karten- 
zeichner völliger  Willkür,  wenn  er  Gränzen  zwischen  Mittel-  und 
Süddeutschland  feststellen  soll.  Wollte  man  sagen,  Süddeutschland 
sei  das  Gulden-,  Mittel-  und  Norddeutschland  das  Thalerland,  so 
würde  ein  dualistischer  Keil  zwischen  Sachsen-Coburg-Gotha  hin- 
eingetrieben, denn  am  Coburger  Bahnhof  werden  die  Fahrbillete 
in   Kreuzern,    in   Gotha   nach    Groschen  berechnet.     Man  könnte 


368 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


dann  im  Ton  von  Leopold  v.  Buch  auch  sagen :  Süddeutschland 
beginne  da,  wo  der  Sechser  zwei  Groschen,  Mittel-  und  Nord- 
deutschland da ,  wo  der  Groschen  zwei  Sechser  habe.  Wer  im 
Norden  den  Süden,  oder  wer  den  Süden  im  Norden  nicht  kennt, 
wird  diese  Rechnung  gar  nicht  verstehen.  Im  Süden  nennt  man 
einen  Sechser  ein  Sechskreuzer-  und  einen  Groschen  ein  Drei- 
kreuzerstück, im  Norden  einen  Groschen  ein  Zwölf-Pfennig-  und 
einen  Sechser  ein  Sechspfennigstück;  aber  auch  diese  Unterschei- 
dung schwindet  täglich,  seitdem  man  im  Süden  und  selbst  in 
Oesterreich  Thaler  prägt,  und  im  Norden  theilweis  die  Zwölftel- 
theilung des  Groschens  einer  Decimaltheilung  hat  weichen  müssen. 

Doch  giebt  es  immerhin  noch  Unterschiede  zwischen  dem 
Hochdeutschen  im  südlichen  und  im  mittleren  Deutschland,  wenn 
auch  nicht  in  der  Schrift-,  doch  in  der  Verkehrssprache,  und  nicht 
bloss  in  der  Sprache,  sondern  selbst  in  der  Küche.  Der  Norden 
salzt  die  Butter,  oder  wie  man  auch  bisweilen  im  Süden  sagt, 
den  Butter,  der  Süden  dagegen  isst  süsse  Buter  und  bereitet  die 
Speisen  mit  Schmalz  (geschmolzener  Butter),  ein  Ding  und  ein 
Ausdruck,  der  in  denjenigen  Theilen  Mitteldeutschlands,  die  wir 
kennen,  völlig  urgewöhnhch  ist.  Nur  in  Süddeutschland  legen  die 
Hasen  Eier,  freilich  nur  in  der  Fastenzeit  bis  Ostern.  Aber  wie 
das  Weihnachtsfest  mit  seinem  Lichterbaum,  eine  altheidnische 
Feier  der  Wintersonnenwende  und  ein  Gegenstück  zu  den  Berg- 
feuern der  Johannisnächte,  allmählich  aus  Mitteldeutschland  nach 
Süden  vorgedrungen  ist,  so  wird  umgekehrt  der  Osterhase  und  die 
Ostereier,  die  übrigens  auch  in  Paris  ihre  Rolle  spielen,  nach  und 
nach  den  Norden  heimsuchen.  Beim  Weihnachtsfest  scheiden  sich 
nord-  und  süddeutsche  Gebräuche  durch  eine  katholisirende  Nuance 
der  letzteren.  Ein  Weihnachtsbaum  in  Süddeutschland,  gleichviel 
ob  er  ein  protestantisches  oder  katholisches  Haus  ziere,  wäre  kein 
rechter  Christbaum,  er  trüge  denn  unter  den  grünen  Zweigen  ein 
Engel  Wachsbild  mit  goldenen  Flügeln,  das  Christkind  (ausge- 
sprochen Christkindl) ,  welches  den  ikonoklastischen  Tendenzen 
eines  rein  gewaschenen  Protestantismus  doch  höchst  anstössig  und 
höchst  verderblich  erscheinen  müsste. 

Kleine  Schattirungen  in  der  Umgangssprache  finden  sich  un- 
zählige, und  wer  von  Nord  nach  Süd  oder  von  Süd  nach  Nord 
versetzt  wird,  hat  manches  zu  vergessen  und  manches  zu  erlernen. 
Hat  mein  Freund  das  zweite  Stockwerk   eines   Hauses   in    Leipzig 


Süd   und  Nord  in  Deutschland.  2 60 

inne,  so  besuche  ich  ihn  dort  „über  zwei  Treppen",  in  München 
„über  zwei  Stiegen."  Besuche  ich  in  Leipzig  meinen  Freund  über 
zwei  Treppen,  so  muss  ich  an  seiner  ,,Vorhausthüre"  klingeln, 
in  München  dagegen  schelle  ich  an  seiner  ,,Hausthüre".  In 
einem  von  Heinrich  Laube's  Stücken  kommt  ein  Bedienter  herein- 
geschlichen und  meldet  seiner  Herrschaft:  es  habe  geklingelt.  Aus 
dem  Gebrauch  dieses  Zeitwortes  kann  man  schliessen,  dass  Hein- 
rich Laube  entweder  von  Geburt  ein  Norddeutscher  ist,  oder  doch 
zur  Zeit,  wo  er  das  Stück  schrieb,  in  Norddeutschland  gelebt  hat. 
Was  würde  ein  norddeutscher  Familienvater  sagen,  wenn  ein 
eilfj ähriges  Töchterchen  vom  Buche  aufschauend  an  ihn  die  Frage 
richtete :  Papa,  was  für  ein  Thier  ist  denn  eigentlich  ein  Sperling  ? 
Dieser  absonderliche  Fall  hat  sich  wirkHch  zugetragen  und  ist  ganz 
natürlich,  denn  in  Süddeutschland  führt  die  Spatzenschaft  nur  einen 
einsylbigen  Namen.  Der  Verfasser  erinnert  sich  aber  sehr  deut- 
lich, dass  er  etwa  so  alt  wurde  wie  jenes  sperlingsunkundige  Ge- 
müth,  als  ihm  plötzlich  die  Schuppen  von  den  Augen  fielen,  dass 
der  Gockel  und  der  Haushahn  eine  und  dieselbe  Anstandsperson 
sei.  Ein  Norddeutscher  wird  wissen,  dass  Ross  und  Gaul  syno- 
nym sind  mit  Pferd,  aber  Ross  und  Gaul  findet  er  nur  in  der 
Dichtersprache.  Wollte  er  sagen :  ich  habe  ein  Ross  gekauft,  so 
würde  man  ihm  das  als  Affeetation  übel  nehmen,  und  nie  wird 
er  es  über  die  Lippen  bringen,  zu  seinem  Stallknecht  zu  sagen: 
„Sattle  mn-  meinen  Gaul",  denn  Gäule  in  der  norddeutschen  Um- 
gangssprache spannt  nur  ein  Fuhrmann  vor  den  Frachtwagen. 
Das  Thier,  welches  im  Linne'schen  System  Capra  domestica  heisst, 
wird  in  Mittel-  und  Norddeutschland  Ziege,  in  Süddeutschland 
Gais  genannt,  und  obgleich  man  in  Süd  und  Nord  beide  Aus- 
drücke versteht,  so  ist  doch  nur  der  eine  gebräuchlich.  In  Süd- 
und  Norddeutschland  sagt  man  ein  Rehbock,  aber  nur  in  Süd- 
deutschland spricht  man  von  Reh-  und  Hirschgaisen.  Im  Norden 
ist  die  Gemahlin  des  Hirsches  eine  Kuh,  wie  man  sich  aber  cor- 
rect  ausdrückt,  wenn  man  ein  weibHches  Reh  erlegt  und  „einen 
Bock  schiesst",  indem  man  eine  Gais  trifft,  vermag  der  Verfasser 
leider  nicht  zu  sagen.  Was  die  Sprache  der  Speisezettel  betrifft, 
so  kommen  schon  Unterschiede  zwischen  dem  eigentlichen  Süd- 
deutschland und  Oesterreich  vor,  und  ein  Münchner  befindet  sich 
in  der  nämlichen  Verlegenheit  wie  ein  correcter  Berliner,  wenn  er 
auf  der  Karte  eines  Wiener  Gasthofes  einen  Esterhazy-  und  einen 

Peschel,  Abhandlungen.  II.  24 


370 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


LungeRbraten  findet.  Ein  Nordländer  wird  sehr  weit  fehl  greifen, 
wenn  er  sich  in  München  ein  Gans-  oder  ein  Hasenj  ung  bestellt, 
in  der  Meinung,  eine  junge  Gans  oder  einen  jungen  Hasen  vor- 
gesetzt zu  bekommen.  Erscheint  die  Schüssel,  so  wird  er  sich 
einem  Gans-  oder  Hasenklein  gegenüber  befinden.  Das  edle 
Erzeugniss  der  Milchwirthschaft,  welches  der  Süddeutsche  Topfen 
nennt,  und  welches  er  zur  höchsten  Verklärung  iia  einen  Topfen- 
kuchen verwandelt^  ist  dem  Norddeutschen  so  unbekannt  wie 
,, böhmische  Dörfer",  denn  er  bezeichnet  das  Product  respects- 
widrig  als  Quark  und  isst  auch  ohne  zu  erröthen  seinen  Quark- 
kuchen. 

Eine  Anzahl  Ausdrücke,  die  in  Süddeutschland  in  der  arg- 
losesten Unterhaltung  wiederkehren ,  lernt  der  Norddeutsche  nur 
aus  der  Sprache  der  gebundenen  Rede.  Ein  Gutsbesitzer  im 
Norden  wird  niemals  zu  seines  Gleichen  sagen:  ,,ich  habe  meinen 
Weiher  verpachtet",  wenn  er  von  seinen  Karpfenteichen  reden 
will.  Das  Wort  Au  ist  gänzhch  aus  der  Sprache  des  Nordens 
verschwunden,  in  München  heisst  der  Stadttheil  zur  Linken  der 
Isar,  oder  links  der  Isar,  wie  man  in  München  selbst  sagt, 
die  Au,  und  wer  da  die  Schönheiten  des  englischen  Gartens  zu 
würdigen  versteht,  war  nicht  schon  eingekehrt  beim  Aumeister? 

Den  meisten  Unterschieden  begegnet  man  aber  bei  den  häus- 
lichen Geräthen  und  bei  den  Handwerksnamen,  und  zwar  wieder- 
holt sich  auch  dort  wieder  die  Erscheinung,  dass  Ausdrücke,  die 
man  in  Mitteldeutschland  nur  noch  in  der  Dichtersprache  wieder- 
findet, im  Süden  noch  im  Mund  des  Volkes  leben.  Das  Wort 
Truhe  für  einen  Kasten  mit  einer  Klappe  ist  noch  völlig  vulgär 
im  Süden,  Ginge  jemand  in  Berlin  zu  einem  Tischler  oder 
vielmehr  Tischlähr,  wie  man  dort  das  Wort  ausspricht,  so  würde 
er  nicht  verstanden  werden ,  wenn  er  eine  Truhe  sich  bestellte. 
Tischler  giebt  es  nur  nördlich  vom  Main,  südwärts  heissen  sie 
Schreiner,  obgleich  der  edle  Ausdruck  Schrein  auch  dort  mehr 
und  mehr  verschwindet.  Was  ein  Topf  ist,  weiss  jedermann 
im  Süden,  denn  er  kennt  das  Ding  aus  der  Bibelübersetzung  durch 
die  Fleischtöpfe  Aegyptens,  aber  das  Wort  selbst  ist  nicht  im 
Verkehr  gebräuchlich.  In  Mitteldeutschland  dagegen  ist  der  Aus- 
druck Hafen  völlig  fremd  und  wird  auch  nicht  verstanden. 
Niemand ,  wer  es  nicht  wüsste ,  ahnt  dort ,  dass  ein  Hafner  und 
Töpfer  in  der    menschUchen    Gesellschaft   dieselben  Verrichtungen 


Süd  und  Nord  in  Deutschland. 


371 


ausüben.  Kommt  jemand  aus  Mitteldeutschland  nach  dem  Süden 
und  sieht  er  am  Ladenschild  den  Namen  eines  Spenglermeisters, 
so  muss  er  erst  hinein  durch  die  Fenster  schauen,  um  zu  merken, 
dass  er  es  mit  einem  Klempner  zu  thun  hat.  In  ganz  Deutsch- 
land weiss  man,  dass  Metzger  und  Fleischer  synonym  sind,  allein 
Metzger  ist  ausschliesslich  im  Süden,  Fleischer  ausschliesslich  in 
Mittel-  und  Norddeutschland  gebräuchlich.  Diess  erstreckt  sich 
auch  auf  die  Familiennamen.  Es  wird  ebenso  viel  Mühe  kosten, 
im  Süden  jemand  anzutreffen,  der  Fleischer,  als  im  Norden  je- 
manden, der  Metzger  heisst.  Ein  Geschäftsmann,  der  mit  noch 
weiterhin  benutzbaren  Alterthümern  an  Kleidern  und  Hausgeräthen 
handelt,  heisst  in  Mittel-  und  Norddeutschland  ein  Trödler 
(welches  Wort  genealogisch  zusammenhängt  mit  dem  englischen 
to  trade),  im  Süden  ein  Käufler,  in  Deutsch-Oesterreich  ein 
Tandler.  Ein  Bottig  ist  ein  ungekanntes  Hausgeräth  im 
Süden,  daher  kennt  man  dort  keine  Böttiger  und  keine  Fami- 
lien, die  diesen  Namen  führen ,  sie  wären  denn  eingewandert ; 
dafür  hat  man  dort  das  Schaff  und  die  Schäffler,  ein  Aus- 
druck, den  man  jetzt,  seit  die  illustrirten  Blätter  das  deutsche 
Publicum  mit  dem  Schäfflertanz  in  München  bekannt  gemacht 
haben,  auch  im  Norden  verstehen  wird.  Ein  Säckler  heisst  in 
der  süddeutschen  Ladenschildsprache,  was  in  der  norddeutschen 
Beutler  ist.  Zu  den  Fabrikaten,  die  aus  Leder  verfertigt  werden, 
gehören  auch  die  Peitschen,  eine  Bezeichnung,  die  von  keinem 
Deutschen  missverstanden  wird;  dafür  hält  m.an  aber  im  Süden 
immer  noch  das  viel  edlere  Wort  Geis  sei  fest,  welches  völlig  in 
der  Verkehrssprache  des  Norden  fehlt.  Leser  im  mittleren  und 
nördlichen  Deutschland  werden  erstaunen,  dass  der  Süden  von 
Bindfaden  nichts  wissen  will  und,  dass  statt  dessen  ein  Fremd- 
wort aus  dem  Italienischen ,  Spagat,  im  Umlauf  sich  befindet. 
Nicht  minder  überrascht,  um  nicht  zu  sagen  empört,  werden  sie 
sein,  dass  man  im  Süden  nicht  weiss,  was  eine  Feueresse, 
folglich,  auch  nicht,  was  ein  Feueressenkehrer  sei,  da  man  sich 
dort  den  Schornstein-  oder  Kaminfeger  zum  Reinigen  der  Schorn- 
steine und  Kamine  bedient.  Für  Räumlichkeiten  im  Hause  giebt 
es  auch  besondere  Bezeichnungen.  Der  Ort,  wo  die  Wäsche  ge- 
reinigt wird,  heisst  in  Mitteldeutschland  ein  Waschhaus,  auch  dann, 
wo  es  nur  im  Hause  liegt;  der  Süden  hat  dafür  den  guten  Aus- 
druck  Waschküche.      Bei   Anzeigen   von  Wohnungsvermiethungen 

24* 


■}'j2  Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 

in  südlichen  Tageblätttern  lauten  die  technischen  Ausdrücke  etwa 
so:  ,,Eine  Wohnung  mit  4  Zimmern,  Küche,  Speise-  und  son- 
stigem Zubehör  ist  sofort  zu  beziehen."  Hier  ist  wohl  der  nörd- 
liche Sprachgebrauch  zwar  langweiliger  aber  richtiger,  wenn  er 
den  Raum  zur  Aufbewahrung  von  Speisevorräthen  eine  Speise- 
kammer nennt.  Das  Wort  Wasen  für  ein  mit  Gramineen  be- 
decktes Stück  Land  ist  wohl  nicht  in  unsere  Schriftsprache  auf- 
genommen, wenigstens  findet  man  in  den  Abdrücken  unserer  als 
classisch  geltenden  Prosaiker  stets  dafür  Rasen.  Was  aber  ein 
Wasenmeister  sei,  wird  niemand  ausserhalb  Süddeutschland, 
wenn  er  es  nicht  schon  weiss,  aus  dem  Wort  errathen ,  denn  ob- 
gleich dort  die  allgemein  gültigen  Ausdrücke  Schinder  und 
Abdecker  recht  gut  bekannt  sind,  so  hält  man  doch,  um  den 
Reichthum  der  Sprache  nicht  zu  verringern,  mit  Vorliebe  an  dem 
dritten  Synonym  fest.  Wenn  ein  Hamburger  oder  Berliner  Kind 
in  München  sich  verirrt,  kann  es  an  einem  Schilde  lesen,  dass  ein 
Frauenzimmer  ihre  Dienste  als  Hofseelen-Nonne  dem  Publi- 
cum anbietet.  Was  eine  Hofseelen-Nonne  sei,  wird  niemand  nörd- 
lich vom  Main  errathen,  obgleich  auch  dort  Mitglieder  jenes  weib- 
lichen Ordens  nicht  fehlen.  Es  handelt  sich  nämlich  um  eine 
Leichen  Wäscherin,  und  die  Vorsatzsylbe  Hof-  ist  nur  ein 
praefixum  majestatis.  Ob  es  auch  Hofleichenwäscherinnen  im 
Norden  giebt ,  wissen  wir  nicht  aus  eigener  Erfahrung ,  zweifeln 
aber  keinen  Augenblick  daran,  da  die  nördlichen  Handwerksleute 
viel  mehr  als  die  südlichen  zur  Nobihtirung  ihrer  Ladenschilder 
sich  Titelzusätze  erkaufen.  Eine  Geheime-Ober-Hof-Buchdruckerei, 
mit  welchem  Titel  sich  eine  Berliner  Firma  hat  behaften  lassen, 
wäre  geradezu  in  München  ein  Ding  der  Unmöglichkeit,  denn  sie 
verfiele  dem  grausamsten  Volksspott.  Was  die  Prädicate  betrifft, 
so  wird  überhaupt  der  Norden  Deutschlands  von  keinem  Volke, 
selbst  von  den  Spaniern  nicht,  an  Mandarinenstyl  überboten. 
Frauen  den  Beamtentitel  ihres  Mannes  zu  geben,  ist  zwar  im  Sü- 
den nicht  ungebräuchlich,  aber  weit  seltener  als  im  Norden.  Wer 
daher  sammt  seiner  Ehehälfte  einen  sauer  erkauften  Geheimen 
Raths-Titel  gemessen  will,  bleibe  auf  der  kalten  Seite  vom  50. 
Breitengrade.  Im  Norden  gebührt  der  Titel  Professor  nur  dem 
Lehrer  an  einer  Hochschule,  und  wem  er  sonst  gegeben  werden 
sollte,  der  verdankt  ihn  nur  der  Courtoisie  oder  dem  Missbrauch. 
Im    Süden    ist   beinahe   jeder   Lehrer   an    einer  Schule,  die  höher 


Süd  und  Nord  in  Deutschland. 


373 


steht  als  die  Volksschule  ein  Professor,  daher  die  Lehrer  an  den 
Hochschulen,  welche  Werth  auf  den  Genuss  ihres  Titels  legen,  an 
ihren  Thürschildem  als  Universitätsprofessoren  sich  ankündigen 
und  auch  das  D.  vor  den  Namen  beifügen.  Im  Norden  ist  ein 
Student  nur  derjenige,  welcher  an  einer  Universit-ät  immatriculirt 
ist,  im  Süden  nennt  man  im  laxeren  Sprachgebrauch  alle  Gymna- 
sialschüler Studenten.  Bei  Einführung  der  neuen  Hülfsmannschaft 
an  den  Strassenecken  trennte  sich  sogleich  der  Sprachgebrauch 
im  Norden  und  im  Süden;  dort  heissen  sie  Dienstmänner,  hier 
Packträger,  doch  wird  der  letztere  Ausdruck  jetzt  bereits  verdrängt 
durch  den  andern,  der  den  damit  Behafteten  süsser  zu  klingen 
scheint,  wie  etwa  auch  der  Titel  eines  Geheimen  Oberhofbuch- 
druckers das  Bewusstsein  einer  viel  höheren  Menschenwürde  ein- 
schliessen  mag  als  der  eines  geheimnisslosen  Untervolks -Buch- 
druckers. 

Diess  ist  unser  ganzer  Vorrath  von  örtlichen  Unterschieden 
in  der  hochdeutschen  Umgangssprache,  und  wir  haben  Jahre  ge- 
braucht, ehe  wir  dieses  Verzeichniss  uns  sammelten.  Ohne  Zweifel 
werden  gebildete  Philologen  und  Germanisten  diesen  Vorrath  be- 
trächtlich vermehren,  ja  vielleicht  ein  Wörterbuch  anfertigen  kön- 
nen für  die  Ausdrücke,  welche  nur  in  der  einen  oder  andern 
Hälfte  gebräuchlich  sind.  Von  häufiger  wiederkehrenden  Wörtern 
sind  aber  obige  Beispiele,  die  vornehmsten,  und  wir  wollten  nur 
beweisen,  dass  die  Unterschiede  sehr  spärliche  sind,  dass  sie  kei- 
nesfalls viel  zahlreicher  sein  können,  wenn  man  sich  von  Nord 
nach  Süd,  als  wenn  man  um  ein  gleiches  Stück  sich  von  Ost  nach 
West,  beispielsweise  aus  Schlesien  nach  der  Rheinpfalz  bewegen 
würde. 

Obgleich  das  folgende  nicht  recht  zum  vorigen  passt ,  möch- 
ten wir  doch  auf  einen  falschen  Sprachgebrauch  in  Mittel-  und 
Norddeutschland  aufmerksam  machen,  der,  so  oft  er  auch  schon 
gehört  worden  ist,  im  Süden  immer  stille  Heiterkeit  zu  erwecken 
pflegt.  Jenseits  des  50.  Breitegrades  etwa  sagt  Männlein  und  Weib- 
lein: das  Bier  oder  der  Wein  schmeckt  schön.  Ein  geistes- 
gesunder Berliner  ist  sogar  im  Stande  zu  sagen :  die  Torte  schmeckt 
reizend,  ohne  bei  Standesgenossen  dadurch  lächerlich  oder  auf- 
fällig zu  werden.  Das  Wort  schön  wird  im  Süden  nur  angewen- 
det, um  eine  ästhetische  Befriedigung  über  eine  Form,  Farbe  oder 
einen  Ton  auszudrücken.     Was  man  sieht  oder  hört,   kann  schön 


■yn.  Zur  Länder-  und  Völkerkunde, 

sein.  Die  Glocke  hat  einen  schönen  Klang,  das  Meer  eine  schöne 
Farbe  und  der  Mensch  eine  schöne  Gestalt.  Was  wir  aber  mit 
der  Nase  und  der  Zunge  abschätzen,  hat  nur  einen  guten  Geruch 
und  einen  guten  Geschmack.  Daher  sagt  man  im  Süden,  ein 
Gericht  schmecke  gut,  eine  Cigarre  rieche  schlecht.  Denn  der 
Gegensatz  von  schön  ist  hässlich.  Kann  man  von  einer  Limo- 
nade sagen,  selbst  wenn  es  die  berühmte  aus  Kabale  und  Liebe 
wäre,  sie  schmecke  hässlich? 


( 


Wanderziele  der  Deutschen. 

(Deutsche  Vierteljahrsschrift   1861.     Heft  IV.     Nr.  96.) 


Der  Bürgerkrieg  in  den  Vereinigten  Staaten  wird  wohl  manchen 
Auswanderer  in  der  Heimath  zurückgehalten  oder  andere ,  die 
bereits  ihr  Bündel  geschnürt  und  der  alten  Welt  die  Liebe  aufge- 
kündigt hatten,  genöthigt  haben,  sich  nach  andern  Wanderzielen 
der  westlichen  oder  östlichen,  der  südlichen  oder  der  nördlichen 
Hemisphäre  umzuschauen.  Mit  solchen  Leuten,  die  bereits  unter 
der  Thür  stehen,  und  dem  Vaterlande  unter  allen  Umständen  ver- 
loren sind,  wollen  wir  jetzt  überlegen,  wohin  überhaupt  sie  bedacht- 
samerweise ihre  Schritte  lenken  können;  wir  wollen  mit  ihnen 
mustern,  was  die  fernen  Räume  den  Auswanderern  gewähren  oder 
versagen,  und  wollen  schliesslich  noch  erwägen,  ob  es  und  unter 
welchen  Verhältnissen  es  noch  immer  das  Klügste  wäre,  sich  trotz 
allem  Bürgerkrieg  unter  das  Sternenbanner  zu  flüchten.  Wir 
sprechen  aber  hauptsächlich  nur  mit  solchen  Auswanderern,  denen 
es  im  Sinne  liegt,  Grundbesitz  zu  erwerben  und  Landwirthschaft 
zu  treiben.  Diejenigen  nämlich,  welche  gelehrte  Berufe  verfolgen, 
Aerzte ,  die  irgend  anderswo  Praxis ,  Advocaten ,  die  Processe 
suchen,  schiffbrüchige  Politiker,  welche  der  Ansicht  sind,  dass  es 
noch  zu  wenig  Zeitungen  in  der  Welt  gäbe  und  die  den  Beruf 
fühlen ,  diesem  Bedürfniss  bei  den  Antipoden  abzuhelfen ,  Theo- 
logen, die  ein  eigenes  ReUgiönchen  erfunden  haben  und  Anhänger 
für  eine  neue  Spaltung  brauchen,  bedürfen  unserer  Erörterungen 
nicht,  denn  es  bleibt  ihnen  ohnehin  keine  andere  Wahl,  als  der 
städtereiche  Osten  der  Vereinigten  Staaten,  wo  sie  im  Grunde 
nur  die  einheimische  europäische  mit  der  fremden  überseeischen 
Stadtluft  vertauschen. 


376 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


Der  Entfernung  nach  das  nächste  Ziel  für  einen  deutschen 
Auswanderer  ist  Ungarn ,  und  es  giebt  noch  immer  sehr  viele 
wohlmeinende  Patrioten,  die  in  einer  Ablenkung  des  Auswanderer- 
stromes donauabwärts  das  Wachsthum  des  Vaterlandes  und  die 
Erfüllung  unseres  nationalen  Berufes  erblicken.  Zu  Gunsten  Un- 
garns lässt  sich  nur  anführen,  dass  der  Colonist,  wenn  er  seinen 
Entschluss  bereut,  leichter  wieder  in  die  Heimath  zurückgelangt, 
dass  er  von  dieser  überhaupt  nicht  vöUig  losgerissen  wird.  Vor 
dem  Jahre  1859  konnte  man  noch  anführen,  dass  der  Auswan- 
derer in  Ungarn  den  Schutz  von  Gesetzen  und  Obrigkeiten  fand, 
wie  er  sie  in  der  Heimath  gewöhnt  war.  Wer  aber  heutigen 
Tages  noch  zu  Auswanderungen  nach  Ungarn  rathet,  der  weiss 
nicht,  was  er  anstiftet.  Es  ist  bekannt,  dass  wenn  dort  sich  ein 
Einzelner  niederlässt  —  es  sei  denn  in  den  deutschen  Gemeinden 
des  Banates  und  Siebenbürgens  —  er  sicherlich  in  kurzer  Zeit  an 
Körper  und  Vermögen  zu  Grunde  gerichtet  wird.  Als  im  Anfange 
der  5or  Jahre  unsere  ungestümen  Patrioten  halb  Ungarn  mit 
deutschen  Auswanderern  anfüllen  wollten ,  erging  von  Seite  der 
kaiserlichen  Regierung  selbst  eine  öffentliche  Warnung.  Ansiede- 
lungen in  Ungarn ,  hiess  es  darin,  können  nur  gelingen,  wenn  sie 
im  Grossen  und  gemeindenweise  (wie  unter  Maria  Theresia)  aus- 
geführt werden.  Solche  Ansiedelungen  aber  könne  nur  die  Re- 
gierung selbst  veranstalten,  und  bevor  sie  dergleichen  Versuche 
nicht  in  die  Hand  nehme,  möge  jeder  gewarnt  sein,  nach  Ungarn 
zu  wandern.  Nie  ist  es  seitdem  der  Regierung  eingefallen,  solche 
Ansiedelungen  zu  begünstigen  oder  ihre  Leitung  zu  übernehmen, 
obgleich  jetzt  durch  die  Regulirung  der  Theiss  Sumpfland  von 
der  Ausdehnung  eines  deutschen  Herzogthums  in  Nutzgründe  ver- 
wandelt und  gesund  gemacht  worden  ist.  So  lange  also  die  Re- 
gierung nicht  ruft,  lasse  sich  niemand  locken.  Die  Regierung 
allein  kann  dem  Ansiedler  oder  seinen  Nachkommen  eine  Ent- 
schädigung für  das  gewähren,  was  er  in  den  überseeischen  Ge- 
bieten voll  geniesst,  nämlich  Freiheit  vom  Militärdienst  und  von 
den  meisten  directen  Abgaben  seiner  europäischen  Heimath.  Und 
selbst  wenn  die  Regierung  in  beiden  Stücken  Opfer  biingen 
würde ,  so  findet  sich  doch  in  Ungarn  für  den  echten  Colonisten 
nicht  das  höchste  Gut ,  wegen  dessen  allein  er  die  Heimath  ver- 
lässt,  nämlich  wohlfeiler  Grundbesitz.  Seit  der  Vollendung 
der  Eisenbahnen  sind  in  Ungarn  die  Güter  um  das  Doppelte  odei 


Wanderziele  der  Deutschen. 


377 


Dreifache  gestiegen,  so  dass  das  ehemalige  herrschafthche  Eigen- 
thum,  obgleich  es  durch  Aufhebung  der  Frohnden  gegen  eine 
sehr  geringe  Entschädigung  die  grössten  Verluste  erlitt,  dennoch 
in  der  robotlosen  Zeit  mehr  werth  geworden  ist,  als  vordem. 
Den  Germanisirungsschwindlern  aber  geben  wir  zu  bedenken,  dass 
alle  Einfuhr  deutschen  Blutes  in  Ungarn  —  mit  einziger  Aus- 
nahme Siebenbürgens  —  die  Zahl  der  Nationalitätsnarren  auf 
magyarischer  Seite  nur  vermehrt  hat.  Ein  grosser  Theil  der 
Hauptschreier  in  den  Comitaten  und  bei  den  Tafeln  sind  mas- 
kirte  Ungarn,  eingewanderte  Deutsche,  welche  ihren  ehrlichen 
Elternnamen  übersetzt  haben.  Wir  berufen  uns  auch  auf  die  Ge- 
schichte der  Jahre  1848  und  1849,  wo  —  immer  mit  Ausnahme 
Siebenbürgens  —  die  Deutschen  in  Ungarn  Partei  nahmen  für 
die  Magyaren  und  mit  ihnen  verbündet  den  Rassenkampf  gegen 
die  getreuen  slavischen  Stämme  führten.  Hat  man  diese  Begeben- 
heiten im  Auge,  so  muss  man  ernstUch  fragen,  ist  es  politisch, 
einem  Volke ,  wie  den  Ungarn ,  die  allem  deutschen  Wesen  den 
Krieg  erklären,  Ueberläufer  anzuwerben? 

Das  nächste  Ziel,  wohin  sich  von  Alters  her  die  deutsche 
Auswanderung  gewendet  hat,  ist  Russland.  Deutsche  Colonien 
und  zwar  echte  Colonien  aus  Landwirthen  und  Handwerkern  ge- 
bildet, finden  sich  sporadisch  im  ganzen  Süden  Russlands  bis  zur 
Wolga  und  bis  nach  Tiflis,  compact  dagegen  in  Neurussland,  wo 
ihre  Anzahl  (einschliesslich  der  deutschen  Juden,  die  etwa  ein 
Achtel  der  Masse  bilden)  im  Jahre  1858  auf  211,836  Köpfe  sich 
beUef.  Zusammen  besassen  sie  1,820,976  Dessjätinen  Grund  und 
Boden  oder  etwa  20  Morgen  auf  den  Kopf,  ein  reichhches  Mass 
für  eine  neben  der  Viehzucht  auch  Ackerbau  treibende  Bevölkerung. 
Auswanderer,  die  sich  dort  ansiedeln  w^ ollen,  werden  sich  rascher 
als  anderwärts  heimisch  fühlen,  denn  die  altern  Auswanderer,  meist 
aus  Baden  und  Würtemberg  stammend,  haben  die  deutsche  Sprache, 
ja  sogar  den  Dialekt,  sowie  die  deutschen  Trachten  treu  erhalten. 
Mit  geringen  Ausnahmen  sprechen  die  Colonisten  aber  auch  ein 
schlechtes  Russisch.  Alle  ihre  Ortschaften  führen  deutsche  Namen, 
wie  Heidelberg,  Mannheim,  Stuttgart ,  Teplitz  u.  s.  w.,  oder  man 
hat  auch  neue  sentimentale  Namen ,  wie  Rosenthal ,  Liebenthal, 
Lustdorf,  geschafifen.  Im  Allgemeinen  herrscht  überall  in  diesen 
Dörfern  Wohlstand ,  und  einzelne  Sonntagskinder  haben  sich ,  wie 
der  Millionär  Corniess,  grosses  Vermögen  oder  wie  Friedrich  Fein 


378 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde, 


aus  Chemnitz  in  Sachsen,  Landbesitz  von  der  Grösse  eines 
deutschen  Fürstenthums  mit  Heerden  bis  zu  300,000  Häuptern 
erworben.  Von  Seiten  der  russischen  Regierung  wurden  die 
deutschen  Einwanderer  bevorzugt,  weil  man  hoffte,  sie  würden  in 
Neurussland  Muster  verbesserter  Landwirthschaft  einführen.  So 
haben,  vor  allem  die  Mennoniten,  diese  Aufgabe  gut  gelöst,  zuerst 
nach  einem  Dreifelder-  und  in  neuer  Zeit  einem  Vierfeldersystem 
gewirthschaftet  und  auch  den  Weinbau  (Bessarabien)  verbreitet, 
wogegen  die  Natur  der  südrussischen  Steppe  weder  Obstbau  noch 
Forstcultur  sich  aufzwingen  Hess.  Somit  hat  die  russische  Re- 
gierung alle  ihre  Zwecke  erreicht,  welche  sie  im  Auge  hatte,  als 
sie  diese  fremden  Elemente  in  ihr  Reich  rief. 

Wenn  wir  aber  nachforschen,  zu  welcher  Zeit  und  aus  welchen 
Motiven  Deutsche  nach  Russland  auswanderten,  so  erfahren  wir, 
dass  die  ältesten  Ansiedelungen  aus  dem  Jahre  1787  stammen. 
Der  Einwanderung  besonders  günstig  waren  aber  die  Jahre  1804, 
1809,  181 5,  1816  und  1817  ,  also  zum  Theil  Kriegsjahre  oder 
Jahre  nach  verheerenden  Kriegen.  Neue  Ansiedelungen  sind  aller- 
dings selbst  im  Jahre  1855  noch  entstanden,  es  waren  aber  Töchter- 
ansiedelungen, die  von  älteren  Auswanderern  gestiftet  wurden. 
Die  Beweggründe  endlich  sind  meistens  religiöse  gewesen,  denn 
es  waren  deutsche  Secten,  die  unter  dem  Schutze  der  kaiserlichen 
Regierung  Ungestörtheit  in  der  Ausübung  ihres  abgesonderten 
Cultus  suchten.  So  bestehen  die  Colonisten  Neurusslands  abge- 
sehen von  den  Katholiken ,  Protestanten  und  Reformirten ,  aus 
einer  ansehnlichen  Zahl  Mennoniten,  Hutter'schen  Brüdern,  Sepa- 
ratisten, Zioniten  u.  s.  w.  Die  Auswanderung  nach  Neurussland 
ist  übrigens  jetzt  so  gut  wie  erloschen  und  könnte  neuerdings  nur 
stattfinden,  wenn  die  kaiserUche  Regierung  einen  Ruf  erliesse. 
Auch  in  Russland  findet  der  Ansiedler  nicht  die  Aussicht,  für 
sich  und  seine  Nachkommen  vom  Militärdienst  und  von  drücken- 
den Steuern   und  Abgaben    auf  längere  Zeit   befreit  zu    bleiben'). 

Wenn  wir  uns  weiter  in  der  alten  Welt  umschauen,  so  wird 
der  Unterrichtete  auf  den  ersten  Blick  erkennen,  dass  Asien 
nirgends  Raum    für   deutsche  Auswanderer    hat.     Die    Geschichte, 


i)  Nähere  Nachweise  bei  Freiherrn  von  Haxthausen ,  Studien  über  Russ- 
land Bd.  2,  S.  172  S.  277,  und  „Ausland"  Jahrgang  1860;  Die  deutschen 
Colonien  in  Neurussland  Nr.  14  u.    15. 


Wanderziele  der  Deutschen.  379 

sagt  inan  ja  jetzt  sprichwörtlich,  bewegt  sich  westwärts.  Das  ein- 
zige Feld  in  Asien,  wo  neue  Ansiedelungen  sich  ausdehnen  und 
wo  die  Geschichte  auch  ostwärts  rückt,  sind  die  sibirischen  Steppen 
bis  zum  Fusse  der  centralasiatischen  Alpen.  Diese  mächtigen 
Räume,  deren  nördliche  Ränder  bis  an  das  ewige  Eis  reichen, 
mit  einem  kurzen,  aber  heissen  Sommer,  welcher  die  Halme  auf 
der  Weide  versengt,  und  einem  langen  und  strengen  Winter  ist 
schon  längst  in  das  Eigenthum  einer  sehr  begabten  und  abenteuer- 
lustigen Nation,  in  die  Hände  der  Kosaken  gefallen,  die  jetzt 
wieder,  wie  zu  den  Zeiten  ihres  höchsten  Glanzes,  die  nördlichen 
Ufer  des  Amur  beherrschen,  und  andererseits  wieder  über  die 
Steppen  der  kirgisischen  Horden  ihre  Herrschaft  ausgedehnt  haben 
und  bereits  ihre  bewaffneten  Posten  an  die  Thore  nach  dem 
warmen  chinesischen  Kaschgarien  ausstellen.  In  jene  Räume, 
wohin  der  russische  Staat  seine  gefährHchen  Säfte,  politische  wie 
gemeine  Verbrecher,  als  Verbannte  oder,  wie  die  Sibirier  sympa- 
thisch sich  ausdrücken,  als  „Unglückliche"  absetzt,  sind  deutsche 
Auswanderer  freiwillig  noch  nicht  gedrungen,  auch  müsste  man  sie 
zuvor  rufen,  ehe  sie  kommen  dürften.  Mit  Ausnahme  aber  der 
nördhchen  Steppen  giebt  es  in  Asien  südlich  von  den  grossen 
Centralketten  keinen  Winkel  dankbaren  Landes,  den  nicht  bereits 
ein  Culturvolk  sich  angeeignet  hätte.  Man  kann  nicht  einmal 
Indien  eine  enghsche,  die  Sundainseln  niederländische  Colonien 
nennen,  wenn  man  unter  einer  Colonie  die  sesshafte  Besitznahme 
fremden  Landes  versteht.  Die  Engländer  sind  in  Indien,  was  sie 
noch  unter  Warren  Hastings  waren,  Eroberer  und  Kaufleute,  die 
nur  kommen  um  wieder  zu  gehen ,  nie  in  den  eroberten  Reichen 
eine  neue  Heimath  sehen,  sondern  nur  eine  Station  zum  Geld- 
erwerb. Und  das  Gleiche  gilt  von  den  Holländern  im  östlichen 
Archipel.  Sie  gehen  nur  dorthin ,  um  ein  Vermögen  zu  suchen 
oder  das  Grab.  Für  Deutsche  als  Colonisten  ist  dort  gar  nichts 
zu  suchen,  höchstens  dass  sie  sich  den  Holländern  zum  Kriegs- 
dienste verdingen. 

Weit  bessere  Gelegenheit  bietet  Afrika,  und  zwar  zunächst  in 
Nordafrika  Algerien.  Einen  Vortheil  geniesst  der  Auswanderer 
dort  jedenfalls:  wenn  ihm  das  Heimweh  keine  Ruhe  mehr  lässt» 
kann  er  in  wenig  Tagen  wieder  die  Kirchthürme  seiner  Sehnsucht 
erbhcken.  Dann  ist  das  Land  selbst  einer  der  gesundesten  Räume 
der  Erde ,   und  in  Bezug  auf  das  Pflanzenwachsthum  gehört  es  zu 


38o 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


der  äusserst  schmalen  bevorzugten  Zone ,  wo  die  Cultur  der 
Dattelpalme  und  des  Weinstocks  sich  begegnen.  Man  darf  sogar 
keck  fragen,  was  gedeiht  in  Algerien  nicht?  Ausser  einigen  streng 
tropischen  Gewächsen  fast  alles,  was  als  edel  oder  köstlich  ge- 
priesen wird.  Wer  also  den  Beruf  fühlt,  für  den  Gemüsemarkt  in 
Paris,  in  Strassburg,  in  allen  Städten  am  Rhein  grüne  Erbsen  im 
November,  Salat  im  ganzen  Winter,  und  Spargel  seit  Januar  zu 
bauen,  der  gehe  schleunig  nach  Algier,  denn  seit  der  Erleichterung 
und  Beschleunigung  des  Verkehrs  über  Meer  und  Land  ist  Algier 
das  Frühbeet  für  alle  Feinschmecker  in  Mitteleuropa  geworden. 
Aber  natürlich  kann  nicht  jedermann  Gärtner  sein  wollen  und 
Salat  begiessen.  In  Algier  jedoch  ist  auch  der  Fruchtbau  im 
engern  Sinne  nicht  minder  lohnend  als  der  Gartenbau.  Es  beginnt 
jetzt,  wie  es  ehemals  Rom  und  das  hungernde  ItaUen  fütterte, 
reichlich  seine  Brodstotfe  nach  Frankreich  auszuführen,  und  diess 
scheint  auch  sein  v\'ahrer  geographischer  und  ökonomischer  Beruf 
zu  sein.  Die  Franzosen  in  ihrem  Protectionsfieber  haben  nach 
Algier  exotische  Culturen  versetzen  wollen ,  z.  B.  die  Zucht  von 
Cochenilleläusen  auf  der  Feigendistel  (Nopal)  und  mit  Hülfe  un- 
sinniger Prämien  die  Cultur  der  langen  seidenartigen  Baumwolle. 
Es  ist  nun  keine  Frage,  dass  Algier  vollständig  das  Klima  für 
Nopalerien  besitzt  und  seine  Baumwolle  auf  den  Märkten  unbe- 
dingt wegen  ihrer  Güte  so  hohe  oder  höhere  Preise  erzielen  könnte, 
wie  die  Sea  Island-  und  die  ägyptischen  Sorten ,  aber  beide 
Erwerbsarten  lassen  sich  ohne  hohe  Schutzzölle,  also  ohne  Gefähr- 
dung des  öffentlichen  Wohlstandes  auf  die  Dauer  nicht  fortsetzen, 
und  man  muss  der  kurzen  bürgerlichen  Verwaltung  Algeriens 
unter  Prinz  Napoleon  nachrühmen,  dass  sie  die  Prämien  für  die 
Cochenillezüchter  aufhob  und  für  die  Baumwollenbauer  eine  sin- 
kende Scala  mit  Ablauf  von  lo  Jahren  einführte.  An  Mannig- 
faltigkeit der  Producte  ist  kein  Land  ohnehin  so  reich  wie  Algier. 
Es  besitzt  Obstbau ,  Dattel-  und  Weingärten ,  es  baut ,  wie  das 
südliche  Frankreich  Blumen  für  Essenzfabrikation,  man  treibt  auch 
mit  Nutzen  den  Bau  von  Farbpflanzen,  endhch  aber  wird  der 
dortige  Tabak  wegen  seiner  Güte  gepriesen  und  hoch  bezahlt. 
Eine  eigenthümliche  und  jetzt  höchst  einträgliche  Cultur  —  wenn 
man  von  Cultur  sprechen  kann,  wo  vorläufig  nur  vorhandene 
Schätze  ausgebeutet  werden  —  ist  die  der  Korkeichen ,  welche  in 
Wäldern  am  nördlichen  Rande  Algiers  angetroffen  werden. 


Wanderziele  der  Deutschen. 


381 


Die  Franzosen  haben  etwa  vier  Millionen  Hektaren  zur  Ver- 
fügung, sie  wünschen  und  begünstigen  Einwanderer,  sie  sind  auch 
nicht  spröde,  sie  verlangen  nur,  dass  ein  Einwanderer  300  Franken 
Vermögen  nachweise,  um  ihm  unentgeltlich  etliche  zwanzig  Hek- 
taren Land  anzuweisen.  Und  dennoch  ist  dieses  Canaan  noch 
leer  von  Einwanderern ,  obgleich  sich  alle  Semester  einmal  die 
Pariser  Journale  für  deutsche  Auswanderung  nach  Algier  interes- 
siren  und  darauf  sicher  meinen ,  jetzt  endHch  werde  der  grosse 
atlantische  Auswanderungsstrom  mediterraneisch  werden.  Trotz 
dem  Aushängeschild:  ,,Hier  sind  Rittergüter  umsonst  zu  haben", 
wollen  sich  keine  Liebhaber  finden.  Zwar  in  allerneuester  Zeit 
ist  das  Tempo  der  Einwanderung  ein  wenig  mehr  allegro  ge- 
worden, und  hat  sich  die  Zahl  der  Europäer  von  180,472  Köpfen 
am  31.  December  1857  auf  208,476  am  30.  Juni  1860  (Dauer 
der  bürgerlichen  Verwaltung)  gesteigert,  man  sieht  aber,  dass  der 
durchschnittliche  Zufluss  in  der  Zeit  der  30jährigen  Herrschaft  der 
Franzosen  nur  6000  jährlich  betrug.  Unter  den  208,476  ,,Colo- 
nisten"  aber  finden  sich  schwerlich  nur  20,000  Landwirthe ,  oder 
100,000  Personen,  die  vom  Ackerbau  leben,  denn  die  Einwan- 
derung besteht  notorisch  dem  grössten  Theile  nach  aus  Gast- 
wirthen,  Kellnern,  Schauspielern,  Sängern,  Tänzern  und  etUchen 
wenigen  Handwerkern  und  Handelsleuten,  kurz  aus  dem  Tross 
eines  erobernden  Heeres.  Man  sagt  dem  Franzosen  gern  nach, 
dass  er,  wohin  er  immer  komme,  ein  Theater,  ein  Kaffeehaus  und 
ein  Billard  besitzen  müsse.  Dieser  Art  von  ,,Civilisation"  und 
,,Colonisation"  dienen  die  meisten  Auswanderer  nach  Algier, 
während  die  sesshaften  Elemente  darunter  in  entschiedener  Minder- 
heit sich  befinden. 

Es  kann  auch  kaum  anders  sein.  Europäische  Handwerker 
für  europäische  Bedürfnisse  werden  dort  wenig  Arbeit  finden, 
dazu  ist  die  europäische  Bevölkerung  zu  klein ,  und  sind  die 
mutterländischen  Märkte  zu  nahe.  Der  Landwirth  aber,  der  nach 
Grundeigenthum  trachtet,  findet  in  Algier  seine  Rechnung  nicht, 
auch  wenn  die  Regierung  es  verschenkt.  Zuerst  ist  das  Land  so 
verwahrlost  noch  wie  vor  der  Ankunft  der  Franzosen  in  Bezug 
auf  Verkehrsmittel,  wie  sie  der  Handel  fordert.  Dann  herrscht  im 
Innern  die  grösste  Unsicherheit  für  Person  und  Eigenthum.  Die 
Versicherung  der  Eingebornen,  es  könne  eine  Frau  mit  einer  gol- 
denen Krone  auf  dem    Haupte   von   einer   Ecke   des  Landes    zur 


382 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


andern  unversehrt  und  unberaubt  gelangen,  war  eine  orientalische 
Schmeichelei  für  Napoleon  III.  Die  Wahrheit  ist  vielmehr,  dass 
Strassenraub  auf  dem  flachen  Lande,  Einbruch  in  den  Städten 
zum  täglichen  Brode  gehören ,  und  jeder  auf  sich  selbst  zum 
Schutze  dessen,  was  er  hat,  angewiesen  bleibt.  Und  selbst  wenn 
man  mit  der  Zeit  Abhülfe  dieser  Uebelstände  erwarten  könnte,  so 
rauss  sich  doch  jeder  Colonist  sagen ,  dass  er  Feld  und  Wald, 
Hütte  und  Garten  nur  so  lange  besitzen  wird,  als  überhaupt  die 
Herrschaft  der  Franzosen  dauert.  Phönizier,  Römer,  Araber, 
Türken  haben  nach  einander  das  nördliche  Littoral  des  „geheimniss- 
vollen" Festlands  erobert  und  besessen  und  nichts  zurückgelassen 
als  Trümmerspuren  ihrer  Anwesenheit.  Das  wird  früher  oder 
später  auch  das  Loos  der  Franzosen  sein.  Noch  sind  sie  in 
diesem  Lande  nicht  recht  zum  Sitzen  gekommen,  denn  sie  bi- 
wakiren  im  Grunde  noch  immer.  Man  colonisirt  aber  kein  Land 
mit  dem  Gewehr  im  Arm  und  dem  qui  vive!  auf  der  Zunge. 
Die  Kosten  der  Besatzung  werden  von  Jahr  zu  Jahr  eher  grösser 
als  geringer,  und  es  verschlingt  die  Provinz  oder  die  ,,Colonie", 
wie  die  Franzosen  raissbräuchlich  sagen,  das  vierfache  von  dem, 
was  sie  an  Rimessen  liefert.  Sobald  Frankreich  in  ernste  Budget- 
verlegenheiten geräth,  wird  ein  hausbackner  Finanzmann  mit  einem 
Additionsexempel  auftreten  und  den  Franzosen  zeigen,  um  wie 
viel  weniger  Schulden  sie  haben  würden,  wenn  ihnen  nie  einge- 
fallen wäre,  mit  den  Beduinen  um  die  Vorländer  der  Sahara  zu 
raufen,  und  um  wie  vieles  sie  ihren  heutigen  Haushalt  verbessern 
könnten,  wenn  sie  entschlossen  sich  dieses  kostspieligen,  ihr  Mark 
\erzehrenden  Möbels  entledigten.  So  kann  Algerien  über  Bord 
geworfen  werden ,  oder  es  kann  auch  bei  einem  Krieg  mit  Eng- 
land im  Handumdrehen  wieder  an  die  ursprünglichen  Eigenthümer 
verloren  gehen. 

Unter  dem  Schatten  der  Bajonette  ist  nicht  gut  Weizen  bauen. 
Und  selbst  wenn  sich  der  Auswanderer  damit  trösten  wollte,  dass 
die  Eitelkeit  der  Franzosen  niemals  ein  freiwilliges,  ihre  Tapferkeit 
und  Kriegstüchtigkeit  nie  ein  erzwungenes  Aufgeben  der  Colonie 
zulassen  würde,  obgleich  Napoleon  die  Louisiana  verkaufen  durfte 
und  Canada  den  Franzosen  entrissen  werden  konnte,  so  muss 
doch  schon  die  Aussicht,  unter  einer  Militärherrschaft  zu  leben, 
jeden  Auswanderer  abschrecken,  dem  Unabhängigkeit  und  bürger- 
liche Verwaltung  von  Werth  sind.     Vergebens   hat    man  versucht. 


Wanderziele  der  Deutschen. 


383 


Algier  aus  einer  Domäne  des  Kriegsministeriums  in  eine  Colonie 
zu  verwandeln.  Am  24.  Juni  1858  wurde  das  Ministerium  für 
Algerien  und  die  Colonien  geschaffen ,  zuerst  vom  Prinzen  Napo- 
leon, dann  vom  Grafen  Chasseloup  -  Laubat  verwaltet  und  am  24. 
November  1860  ohne  Angabe  eines  Beweggrundes  wieder  aufge- 
hoben. Man  erzählt  nur,  dass  der  Kaiser  bei  seiner  Parade  in 
Algier ,  betroffen  über  die  zahllosen  Gruppen  von  Reitern ,  die 
hin-  und  hersprengten  und  ihre  Gewehre  als  Freudenzeichen  ab- 
feuerten ,  ausgerufen  haben  sollte :  ce  n'est  pas  un  peuple ,  c'est 
une  armee,  und  dass  von  diesem  AugenbUcke  an  die  Wieder- 
einführung des  Säbelregiments  beschlossen  gewesen  sei.  Wie  viel 
Wahres  hinter  dieser  Anekdote  stecke,  kann  uns  ganz  gleichgültig 
sein,  genug  dass  der  Versuch  einer  Civilverwaltung  völlig  scheitern 
musste.  Das  Loos  eines  Colonisten  unter  der  Herrschaft  eines 
militärischen  Bureaus  ist  aber  jedenfalls  nicht  beneidenswerth,  denn 
nichts  ist  zum  Gedeihen  einer  jugendlichen  Gesellschaft  wohl  so 
unentbehrlich,  als  Selbstverwalung  und  eine  grosse  Freiheit  der 
Bewegung.  Es  ist  wahr,  die  Regierung  verschenkt  fruchtbares 
Land,  aber  dafür  wird  der  arme  Colonist  aus  einer  Canzlei  in  die 
andere  gehetzt,  muss  warten  und  zehren,  ehe  seine  „Papiere" 
ausgefertigt  sind ,  muss  sich  dann  obendrein  verpflichten ,  so  und 
so  viel  Bäume  zu  pflanzen ,  diese  Cultur  zu  treiben  und  jene  zu 
unterlassen,  überhaupt  aber  die  heilige  Administration  als  seine 
Vorsehung  zu  betrachten.  Wer  möchte  aber  solchen  Göttern 
dienen  und  solche  Geschenke  nehmen?') 

VöUig  verschieden  sind  die  Verhältnisse  am  südlichen  Hörn 
des  grossen  Festlandes.  Die  Auswanderung  nach  den  Caplanden 
kann  unbedingt  Jedem  empfohlen  werden ,  der  überhaupt  auswan- 
dern will ,  und  der  sich  keine  Täuschungen  macht  über  das,  was 
ihm  bevorsteht,  nämlich  harte  Arbeit  und  hartes  Brod  zehn  oder 
zwölf  Jahre  lang,  um  am  Abend  des  Lebens  einer  nachfolgenden 
Generation  eine  heitere  Zukunft  zu  hinterlassen.  Die  Capcolonie 
geniesst  den  Ruf,  das  gesündeste  Land  der  Erde  zu  sein  und  ver- 
dankt diesen  Vorzug  der  beständigen  Erneuerung  der  Luft  durch 
die    herrschenden    Seewinde,    die   ihren  Einfluss    binnenwärts    sehr 


i)  Neueste  Aufschlüsse  bei  George  Wingrove  Coocke ,  Conquest  and  Co- 
lonisation  in  North  Afrika.  London  1860.  und  Histoire  du  Minist^re  de  l'Al- 
gerie,  Journal  des  Economistes  1861,  Nr.  88   und  Nr.  90. 


384 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


weit  erstrecken.  Es  gedeiht  dort  der  Weinstock,  die  Feige,  die 
Orange,  und  die  einzige  Klage  der  Colonisten  ist  der  Mangel  an 
Regen.  Weizenboden  ist  vorhanden,  doch  nicht  von  solcher  fabel- 
haften Fruchtbarkeit,  wie  ihn  einzelne  jungfräuliche  Striche  Nord- 
amerika's  zu  beiden  Seiten  der  Felsengebirge  besitzen.  Uebrigens 
ist  vorläufig  nicht  abzusehen,  dass  das  Capland  ein  kornaus- 
führendes Land  werden  sollte.  Nicht  etwa  weil  es  allzu  abseits 
von  den  europäischen  Märkten  liegt,  denn  wenn  selbst  Californien 
nach  England  Brodstoffe  versendet,  so  könnten  auch  die  Caplande 
die  europäischen  Märkte  suchen.  Aber  einmal  fehlt  es  noch  an 
guten  Verkehrsmitteln  des  Innern  mit  der  Küste,  dann  aber  eignet 
sich  Klima  und  Boden  besser  zur  Viehzucht  als  zum  Ackerbau. 
Die  Schafzucht  ist  es  daher,  welche  hauptsächlich  die  Caplande  in 
neuerer  Zeit  so  wohlhabend  gemacht  hat.  Es  stieg  nämlich  die 
Ausfuhr  der  Wolle  bis  zu  folgenden  Ziffern: 

1827  44,000  Pfund, 

1852  7,778,000 

1859  19,494,000        ,, 

Ebenso  lohnend  ist  die  Rinderzucht.  Auf  ihren  Heerden  beruhte 
weiland  auch  der  Stolz  und  das  Vermögen  der  Kaffern,  bis  sie 
von  einem  falschen  Propheten  verführt,  all  ihr  Vieh  eines  Tages 
schlachteten  und  vom  Hunger  dann  gezwungen  wurden,  als  Tage- 
löhner im  englischen  Solde  die  Strassen  zu  bauen,  welche  in  ihre 
bisher  unzugängliche  und  darum  auch  nie  eroberte  Heimath  führen 
sollten.  Dann  hat  in  neuester  Zeit  auch  die  Weincultur  um  Con- 
stantia  ausserordentlich  rasch,  von  1855  auf  1856  um  45,  von 
1856  auf  1857  um  70  Procent  zugenommen.  Auch  muss  viel 
zur  Veredlung  der  Reben  geschehen  sein ,  denn  die  Preise  sind 
beträchtlich  gestiegen;  wird  doch  der  Werth  einer  Pipe  (550 
Flaschen)  an  Ort  und  Stelle  durchschnittHch  auf  200  Gulden 
angegeben.  Das  edelste  Gewächs  wird  übrigens  im  Lande  selbst 
verzehrt. 

Jeder  Einwanderer  erhält  von  der  Regierung,  wenn  er  ledig 
ist,  30  Acres  (5  Acres  =  2  Hektaren ,  i  Hektare  =  4  preussi- 
schen  Morgen)  Fruchtland,  wenn  er  verheirathet  ist  50,  für  jedes 
Kind  über  10  Jahren  weitere  10  und  für  jedes  über  i  Jahr  alte 
5  Acres  mehr,  gegen  einen  Nominalpreis  von  2  Schilling  (i  ü. 
1 2  kr.)  per  Acre ,  welche  Schuld  er  in  fünf  jährlichen  Raten  ab- 
tragen darf.     Das  Ueberfahrtsgeld  von  Hamburg   beläuft    sich  auf 


Wanderziele  der  Deutschen. 


385 


11V2  PM.  St.  (138  fl.)  und  für  Kinder  die  Hälfte.  Wie  bei  allen 
englischen  Colonien  wird  die  Beförderung  der  Auswanderer  von 
Amtswegen  überwacht,  und  der  Ansiedler  läuft  nicht  in  die  Gefahr, 
gewissenlosen  Speculanten  zu  verfallen,  wie  diess  sein  Schicksal  in 
den  Vereinigten  Staaten  ist,  wo  sich  höchstens  nur  wohlthätige 
Vereine  seiner  annehmen.  Auch  bieten  die  britischen  Colonien 
den  grossen  Vorzug,  dass  sie  bei  der  ausgedehntesten  j^olitischen 
Freiheit  immer  doch  noch  die  Wohlthaten  eines  monarchischen 
Schutzes  gemessen.  Der  Ansiedler  ist  frei  vom  Kriegsdienst,  er 
wird  kaum  höher  besteuert ,  als  in  den  Vereinigten  Staaten ,  er 
wählt  und  ist  wählbar  für  alle  öffentlichen  Aemter,  bei  einem  sehr 
geringen  oder  bei  gar  keinem  Census,  und  doch  wiederum  geniesst 
er  in  der  Colonie  die  Sicherheit  und  die  Ruhe,  welche  ihm  der 
Schutz  und  Schirm  der  ersten  Seemacht  der  Welt  gewähren  können. 
Die  Caplande  sind  also  eines  der  Ziele,  welche  tmbedingt  dem 
Auswanderer  empfohlen  werden  können ,  der  sich  vor  der  Arbeit 
nicht  scheut  und  dem  seine  Gesundheit  etwas  werth  ist'). 

Alle  Vorzüge  einer  Colonie  und  zwar  einer  englischen  Colonie 
gewährt  aber  auch  Canada.  Wer  die  Heimath  verlässt,  um  wohl- 
feilen Grund  zu  erwerben,  der  wird  Canada  vor  dem  Westen  der 
Vereinigten  Staaten  in  so  fern  den  Vorzug  geben  müssen,  als  dort 
nicht  die  schlimmen  Fieber  herrschen,  wie  in  allen  frischbebauten 
Strichen  des  amerikanischen  „fernen  Westens".  Aber  der  Aus- 
wanderer muss  auch  gegen  die  strengen  Contraste  eines  ächten 
Festlandklimas  gestählt  sein.  Er  muss  sich  im  Winter  darauf  ge- 
fasst  machen ,  das  Quecksilber  im  Thermometer  mehrere  Tage 
gefroren  zu  sehen,  während  im  Sommer  Temperaturen  bis  zu 
-\-  26  und  zu  -f-  32°  R.  nicht  selten  vorkommen.  Bis  zum 
Monat  April  bleibt  das  Land  in  Schnee  gehüllt.  Das  ist  für 
Spaziergänger  nicht  sehr  angenehm ,  aber  ausserordentlich  wichtig 
für  den  Landwirth.  Ohne  diese  Schneedecke  würde  der  Boden, 
der  selten  12  oder  18  Zoll  tief  gefriert,  weit  hinab  erstarren,  und 
ehe  er  wieder  aufthaut,  möchte  eine  kostbare  Zeit  des  kurzen 
Sommers  ungenützt  verstreichen,  so  aber  reicht  die  Kraft  der  cana- 
dischen    Sonne    vollständig    aus ,    um    Mais   und    Weizenemten    zu 


i)  S.  Schmarda's  Reise  um  die  Erde.  Braunschweig  1861.  Zweiter  Band 
S.  25  ff.-  Scherzer,  Reise  der  österreichischen  Fregatte  Novara.  Wien  1861, 
Erster  Band  S.   174  ff. 

Peschel,  Abhandlungen.     II.  25 


386 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


reifen.  Die  Fruchtbarkeit  des  Landes  in  Bezug  auf  diese  beiden 
Mehlstofife  steht  unvergleichlich  in  der  Welt  da.  Es  hat  sich  auch 
in  der  Zeit  von  1845 — ^^SS  ^^^  Erzeugung  von  Weizen  in  Ober- 
canada  um  400  Procent,  von  Mais  um  163,  von  Hafer  um  133 
Procent  vermehrt.  Die  alluvialen  Niederschläge  sollen  30  —  80 
Fuss  Tiefe  besitzen  und  so  reich  sein,  dass  sie  ungedüngt  30—40 
Weizenernten  hinter  einander  zu  liefern  vermöchten. 

Wie  in  der  Capcolonie  hat  das  Colonialparlament  Fonds  zur 
Unterstützung  der  Auswanderer  bewilligt,  und  sorgt  durch  eigene 
Beamte  dafür,  dass  letztere  über  ihr  eigenes  Wohl  aufgeklärt  und 
nach  den  richtigen  Zielen  geleitet  werden.  Der  Boden  wird  für 
2  Schill,  der  Acre  gegen  Verpflichtung,  ihn  zu  bebauen,  abgegeben, 
und  zwar  steigen  die  Abtretungen  bis  auf  100  Acres.  Der  Aus- 
wanderer findet  also  das  Land  eben  so  wohlfeil,  wie  in  den  Ver- 
einigten Staaten,  ausserdem  aber  hat  hier  die  Verwaltung  der 
Länderspeculation  zu  Gunsten  der  Einwanderer  völlig  das  Hand- 
werk gelegt.  Ganze  Gemeindegründe  bis  zu  50,000  Acres  ä  2 
Schilling  der  Acre  sind  abgesteckt  und  werden  Liebhabern  oder 
kleinen  Gesellschaften,  nicht  aber  an  Landwucherer  oder  Actien- 
colonisationscompagnien  abgegeben,  denn  wer  kauft,  muss  anbauen, 
sonst  verliert  er  seinen  Grund  und  Boden.  So  wird  dem  wahren 
Ansiedler  nicht  die  Niederlassung  vertheuert ,  wie  diess  so  häufig 
in  den  Vereinigten  Staaten  geschieht. 

Wenn  man  liest,  dass  Canada  350,000  englische  Quadrat- 
meilen besitzt,  von  denen  nur  40,000  bevölkert,  auf  dem  Reste 
aber  noch  198  Millionen  Acres  unbewohntes  Land  übrig  sind,  so 
sollte  man  meinen ,  es  gäbe  dort  noch  Raum  für  ein  halbes  Jahr- 
hundert europäischer  Auswanderung.  Aber  man  täuscht  sich,  wie 
man  sich  auch  in  Bezug  auf  die  Vereini^n  Staaten  täuschen 
würde ,  wenn  man  ihre  Geräumigkeit  für  unausfüUbar  hielte. 
Zu  jenen  canadischen  Flächen  zählen  nämlich  die  unwirthlichen 
Gebiete  von  Labrador  und  andere  nördliche  Strecken,  wo  nur  der 
Pelzjäger  seine  Nahrung  findet.  Das  Land,  welches  allein  dem 
Ansiedler  Lohn  für  seine  Mühe  verheisst,  liegt  an  und  zwischen 
der  Kette  der  grossen  Landseen,  so  dass,  obgleich  nur  der  zwölfte 
Theil  der  englischen  Auswanderung  nach  Canada  sich  wendet,  doch 
jetzt  schon  der  Platz  zu  mangeln  anfängt.  In  Folge  dessen  wurde 
im  Jahre  1859  eine  Expedition  in  den  „fernen  Westen"  des  bri- 
tischen Nordamerika's   geschickt     um   die   Länder  am    Red  River 


Wanderziele  der  Deutschen.  .jgy 

und  an  den  beiden  Saskatschewanflüssen  zu  erforschen.  Solche 
abgelegene  Ansiedlungen  hätten  jetzt  vielleicht  gar  keine  Aussicht, 
wenn  nicht  die  Entdeckung  gemacht  worden  wäre ,  dass  sich  auf 
britischem  Gebiete  bequeme  Pässe  über  die  Felsengebirge  nach 
Columbien  und  der  Vancouverinsel  befinden,  und  weil  es  auch 
in  der  atlantischen  Hälfte  der  Vereinigten  Staaten  ausser  Nebraska 
kein  grösseres  unbesiedeltes  Gebiet  mehr  giebt.  Auch  weiss  man 
jetzt,  dass  sich  längs  der  östlichen  Flanke  der  Felsengebirge  ein 
grosser  unfruchtbarer,  beinahe  wüster  Streifen  erstreckt,  wo  der 
Regenmangel  kein  ergiebiges  Pflanzenwachsthum  aufkommen  lässt. 
Das  Land  wenigstens  zwischen  dem  Ellenbogen  des  obem  Missouri, 
und  den  Felsengebirgen  ist  eine  halbe  Wüste,  durch  welche  die 
grossen  Gebirgsströme  ungenährt  wie  die  Canäle  ziehen.  Dagegen 
ist  nach  den  neuesten  Forschungen  Hoffnung  vorhanden,  dass  die 
Flüsse  des  britischen  Westens,  die  beiden  Saskatschewan ,  durch 
fruchtbarere  Strecken  sich  bewegen.  Wenigstens  sah  die  letzte 
grosse  Expedition  an  ihren  Ufern  zahllose  Büffelheerden ,  und  wo 
diese  Thiere  Weide  finden ,  müssen  auch  Ansiedlungen  sich  be 
gründen  lassen.  Gewiss  ist  wenigstens,  dass  in  der  von  Lord 
Selkirk  1 8 1 1  gegründeten  Red  River- Ansiedlung,  für  Auswanderer 
noch  viel  zu  hoffen  ist.  Auch  das  Land  an  der  Seenkette  zwischen 
dem  Winipeg  und  Lake  Superior  wird  als  ein  liebliches  Paradies 
beschrieben.  Man  glaubt  sich  in  einen  lange  vernachlässigten 
Garten  versetzt,  so  reich  an  Blumen  und  an  blühenden  Sträuchern 
sind  die  Ufer  dieser  stillen  Weiher.  Der  Boden  am  Red  River 
ist  von  jungfräuhcher  Kraft  und  soll  bis  zu  56  Bushel  Weizen  per 
Acre  tragen,  mehr  als  das  Doppelte  wie  in  England.  ,,Dort  auf 
der  Prairie,"  sagte  ein  schottischer  Ansiedler  zu  Capitän  Henry 
Hind,  „könnten  10,000  Rinder  weiden  und  sich  mästen  ohne 
irgend  einen  weitern  Aufwand.  Wenn  es  sich  lohnte,  wollte  ich 
50,  100  oder  500  Acres  Land  einfriedigen  und  von  jedem  Acre 
36 — 40  Bushel  Weizen  Jahr  um  Jahr  ziehen.  Ich  könnte  Mais, 
Gerste,  Hafer,  Flachs,  Hanf,  Hopfen,  Rüben,  Tabak  —  was  ich 
möchte  und  in  beliebiger  Menge  bauen,  aber  was  würde  es  mir 
nützen?  Wir  haben  keine  Märkte.  Ja,  hätten  wir  diese,  so  sollten 
Sie  weit  herumreisen  müssen,  ehe  Sie  etwas  sähen,  das  sich  mit 
unsern  Prairien  vergleichen  Hesse."  Uebrigens  fehlt  es  nicht  an 
Schattenseiten.  Abgesehen  von  dem  Winter,  der  eine  Abhärtung 
erfordert,  wie  sie  nur  bei  Kosaken  und  Pelzjägern  angetroffen  wird, 

25* 


388 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


werden  auch  jene  hohen  Breiten  von  dem  furchtbaren  Feinde  der 
Landwirthe  in  den  Vereinigten  Staaten,  von  den  Heuschrecken 
heimgesucht,  die  oft  in  einem  Tage  die  Ernten  kahl  abfressen. 
Vor  allen  Dingen  fehlt  es  aber  an  Verkehrsmitteln,  denn  jetzt 
beträgt  vom  Obern  See  bis  Assiniboia,  dem  Hauptpunkte  der 
Colonien,  die  Fracht  noch  45  Pfd.  Sterl.  die  Tonne  oder  28  fi. 
der  Centner.  Ueber  die  Vereinigten  Staaten  kann  man  Güter 
etwas,  aber  doch  nicht  viel  wohlfeiler  beziehen.  Welchen  Ent- 
behrungen ist  also  der  Ansiedler  im  Schoosse  vegetabiUscher 
Fruchtbarkeit  preisgegeben,  wenn  er  bei  jenen  Frachtlöhnen  seine 
Producte  nicht  absetzen  und  für  den  spärlichen  und  gelegentlichen 
Absatz  auch  nur  wieder  um  hohes  Geld  sich  die  Werkzeuge  und 
die  Genüsse  der  Civilisation  verschaffen  kann  ? 

Es  wird  auch  wohl  nie  eine  recht  dichte  Bevölkerung  sich 
dort  ansiedeln  können,  denn  früher  oder  später  muss  es  bei  den 
harten  Wintern  an  Holz  fehlen.  Kohlen  finden  sich  nur  am  Sas- 
katschewan,  aber  diese  Schätze  werden  wegen  ihrer  Entfernung 
den  Red  Riveransiedlern  unerreichbar  bleiben.  Jetzt  freilich  und 
so  lange  die  Bevölkerung  sich  dünn  erhält,  fehlt  es  und  wird  es 
nicht  an  Holz  fe|ilen.  Selbst  in  Canada,  wo  man  besser  thäte, 
seine  Schätze  zu  sparen  und  die  Forsten  wissenschaftlich  verwalten 
zu  lassen,  herrscht  noch  das  widerwärtige  Gewerbe  der  Potasch- 
brennereien.  Der  Wald  wird  dort  vernichtet,  rein  nur  um  seine 
Aschenbestandtheile  zu  gewinnen.  Krieg  den  Wäldern  ist  das 
allgemeine  Feldgeschrei,  ohne  dass  man  an  die  Enkel  denkt,  die 
einst  seufzen  und  frieren  werden.  Es  giebt  eine  eigene  Zunft,  die 
„Lumbermen" '),  die  sich  von  dem  Raub  der  edlen  Forsten  er- 
nähren und  sie  redlich  verheeren  ganz  ähnlich  wie  die  brutalen 
Rothhäute  und  die  brutaleren  Buschjäger  ganze  Büffelheerden 
morden,  nur  um  die  Zungen  eingesalzen  zu  verschicken  2). 

Die  Vereinigten  Staaten,  von  denen  wir,  der  atlantischen 
Küste  folgend,  vorläufig  nur  die  östliche  Hälfte  im  Auge  haben, 
werden,  und  mit  Recht,  die  Auswanderer  des  jetzigen  Jahrhunderts 


i)  S.  J.  G.  Kohl,  Reisen  in  Canada  S.  225. 

2)  Wer  sich  näher  unterrichten  will,  vgl.  ausser  J.  G.  Kohl's  obengenann- 
tem Werk:  Canada  and  the  North-West,  Qu arterly  Review,  und  bezüglich  der 
Red  River-Niederlassungen,  Paul  Kane,  Wanderings  of  an  Artist  from  Canada 
to  Vancouvers  Island.  London  1859.  Endlich  Henry  Youle  Hind,  Narrative 
of  Canadian  Exploring  Expeditions  1860. 


Wanderziele  der  Deutschen.  380 

grösstentheils  an  sich  ziehen  und  in  sich  aufnehmen ,  denn  noch 
auf  lange  Zeit  möchten  die  beiden,  für  den  Ansiedler  wichtigsten 
ökonomischen  Erscheinungen  dort  anzutreffen  sein,  nämlich :  wohl- 
feiles Land  und  hoher  Arbeitslohn.  Für  Auswanderer  höherer 
Berufsarten  sind  sie  fast  das  einzige  offene  Feld  und  für  Land- 
wirthe  wie  Handwerker  noch  immer  das  dankbarste.  In  Deutsch- 
land kennt  man  jetzt  auch  so  ziemlich  die  jenseitigen  Zustände. 
Wenige  noch  gehen  mit  überspannten  Hoffnungen  hinüber  und 
daher  vermindern  sich  auch  die  Weherufe  der  Enttäuschten.  Selbst 
in  politischer  Beziehung  hat  man  sich  beträchtlich  ernüchtert  und 
niemand  erwartet  mehr  ideale  Zustände  zu  finden.  Im  Gegentheil 
haben  gerade  die  altfränkischen  Einrichtungen  Europa's  durch  den 
Vergleich  mit  den  widerwärtigen  Bildern  einer  Massenherrschaft  an 
Werth  gewonnen.  Man  erkennt  jetzt  in  Europa,  •  dass  eine  Ver- 
flachung des  politischen  Stimmrechts  zum  Parteiterrorismus  führt, 
dass  bei  der  kritiklosen  Menge  nichts  gilt  als  Demagogenschlau- 
heit, und  dass  nicht  der  Beste  oder  Fähigste,  sondern  der  Mittel- 
massige  und  der  Gewöhnliche  an  die  Spitze  gestellt  wird.  Politi- 
sches Missbehagen  hat  wohl  überhaupt  wenig  Deutsche  über  das 
atlantische  Thal  getrieben,  denn  wenn  sich  jemand  bei  uns  ein- 
bildet, dass  er  ohne  republikanische  Luft  nicht  athmen  könne,  so 
hat  er  ja  die  Schweiz  in  erreichbarer  Nähe.  Wenn  man  den  Ur- 
sachen der  Auswanderung  bei  uns  nachforscht,  so  bestehen  sie 
vielmehr,  was  das  flache  Land  betrifft,  aus  dem  Ueberhandnehmen 
des  ruralen  Proletariats,  und  was  die  Städte  betrifft,  aus  den  bis- 
herigen iUiberalen  Gewerbsgesetzen  und  den  Schwierigkeiten  von 
Ansässigmachung.  Nichts  ist  drückender  in  unsern  bürgerlichen 
Verfassungen,  als  die  Hindemisse,  die  sich  uns  beim  Abschluss 
einer  Ehe  in  den  Weg  stellen.  Dass  ein  Mann,  der  sui  juris  ist, 
einen  noch  so  weisen  Magistrat  um  die  Erlaubniss  bitten  muss, 
ob  er  heirathen  darf,  dass  er  auch  gefasst  sein  muss,  in  diesem 
oder  jenem  Falle  abgewiesen  zu  werden,  ist  eine  Beschränkung 
der  menschlichen  Freiheit,  die  ein  Engländer  oder  gar  ein  Ameri- 
kaner ganz  unerträglich  finden  würde.  Man  eifert  so  oft  gegen 
Bureaukratie  und  Beamtenvormundschaft,  schwärmt  für  parlamen- 
tarische Controle,  bildet  sich  ein,  die  Freiheit  komme  und  gehe 
mit  diesen  oder  jenen  Paragraphen  eines  Wahlgesetzes,  und  erträgt 
doch  geduldig,  ja  beinahe  stumpf  die  nächsten  und  gröbsten 
Missstände  innerhalb  der  Gemeinde.     Ueberhaupt  ist  es  ein  Fehler 


nqQ  Zur  Länder-  und  Völkerkunde, 

unserer  politischen  Erziehung  oder  unserer  politischen  Liebhabereien, 
dass  wir  immer  nur  an  die  hohen  Functionen  des  Staates  und  der 
Nationen  denken,  und  uns  gar  so  wenig  oder  gar  nicht  mit  un- 
sern  öftentlichen  Geschäften  innerhalb  des  Stadtweichbildes  be- 
fassen. 

Die  Aussicht,  einen  eigenen  Hausstand  mit  we- 
nig baaren  Mitteln  auf  die  Kraft  eines  gesunden 
Körpers  zu  begründen,  sollte  der  einzige  Beweggrund  für 
Auswanderer  sein.  Nun  träumt  sich  wohl  ein  Jeder,  welcher  der 
alten  Welt  unbefriedigt  den  Rücken  kehrt,  er  werde  in  der  neuen 
bis  zu  jener  fortrückenden  äussersten  Zone  der  Ansiedelung 
dringen,  in  der  letzten  Ortschaft  der  CiviHsation  sich  eine  Karte 
der  vermessenen  Strecken  vorlegen  lassen,  einen  Ansiedelungsplatz 
wählen  und  seinen  „Claim"  oder  sein  Anrecht  gegen  die  her- 
kömmliche Taxe  von  1V4  Dollar  der  Acre  in  festes  Eigenthum 
verwandeln  lassen.  Er  will  dann,  so  träumt  er  fort,  den  Wald 
ausroden,  eine  Zeitlang  in  der  Blockhütte,  durch  deren  Fugen  der 
Wind  zieht,  auf  seiner  geladenen  Büchse  schlafen ,  bis  alles  „ge- 
klärt" ist,  in  dem  Graslande  blanke  Kühe  weiden,  auf  den  unge- 
düngten  Feldern  goldener  Weizen  steht,  Nachbarn  rechts  und 
Hnks  sich  einfinden,  ihre  Hütten  zum  Dorf  zusammenrücken,  Wege 
beschafft,  Märkte  beschickt  werden  und  zuletzt  die  Civilisation 
bereits  soweit  westwärts  gedrungen  sei,  dass  man  sich  mitten  in 
einem  wohlgenährten  friedlichen  Lande  befinde. 

Gewiss!  So  hold  war  gar  Vielen  das  Glück  in  den  letzten 
dreissig  Jahren  und  wird  es  Vielen  noch  sein  in  den  nächsten 
zwanzig  Jahren.  Allein  der  deutsche  Auswanderer  bilde  sich  nicht 
ein ,  dass  er  der  Mann  sei ,  der  zur  Bewältigung  des  Urwaldes 
physische  und  geistige  Stärke  genug  besitze.  Er  lasse  sich  zuvor, 
ehe  er  sich  etwas  so  ausserordentliches  zutraut,  von  dem  trefflichen 
A.  de  Tocqueville  belehren,  der  in  seinen  Wanderungen  durch  die 
Vereinigten  Staaten  bis  an  und  bis  über  den  Saum  der  äussersten 
Besiedlungen  drang.  Dort  glaubte  er  europäische  Auswanderer, 
Iren,  Schotten,  Engländer  und  Deutsche  anzutreffen,  allein  je  weiter 
westwärts  er  reiste,  desto  seltener  wurden  die  frischen  Ankömm- 
Hnge  und  im  eigentlichen  fernen  Westen  sah  er  fast  nur  Ameri- 
kaner. Der  Kampf  mit  dem  Walde  ist  nämlich  unter  allen  Fällen 
höchst  gefährlich.  Wohl  unterliegt  der  Forst  unfehlbar  der  Axt, 
aber  er  reisst  auch  nicht  selten  den  Menschen  mit  sich  ins  Grab. 


Wanderziele  der  Deutschen. 


39^ 


Der  Feldzug  des  Ansiedlers  beginnt  damit,  dass  er  ein  Zelt  auf- 
schlägt, bis  die  Blockhütte  fertig  ist.  Um  sie  herum  werden  in 
die  Bäume  Ringe  bis  zum  Holz  geschnitten ,  so  dass  der  Saft 
nicht  mehr  circuliren  kann,  und  die  Bäume  Laub  und  Schatten 
verlieren.  Zwischen  die  kahlen  und  verdorrten  Stämme  hinein 
wird  der  erste  Mais  gesäet,  denn  der  nie  fehlschlagende  Mais  ist 
der  „Stab  des  Lebens"  für  die  erste  und  die  nächste  Zeit.  Im 
andern  Jahre  schlägt  man  die  abgestorbenen  Bäume  nieder,  ebnet 
die  Lichtung  und  fängt  an  die  Erde  aufzureissen.  Die  Folgen 
sind  leicht  vorherzusehen.  Das  Fieber  ergreift  unfehlbar  den  An- 
siedler und  seine  Familie,  denn  die  Amerikanerin,  so  verwöhnt  sie 
als  junges  Mädchen  wurde,  so  trivial  und  leichtfertig  ihr  Betragen 
auch  gewesen  sein  mochte,  sie  folgt  dem  Mann  heroisch  in  die 
Wildniss.  Ein  Fass  Mehl  und  ein  Fass  Salzfleisch  bilden  die  ein- 
zigen Vorräthe,  und  die  Kühe,  die  man  im  nahen  Walde  grasen 
lässt,  liefern  in  ihrer  Milch  die  beste  Erquickung  und  die  einzige 
Arznei,  wenn  das  Fieber  im  Blockhaus  sich  einnistet.  Kein  Arzt 
ist  in  der  Nähe,  kein  Geistlicher  kann  Trost  spenden.  Mann  und 
Weib,  ja  auch  die  Kinder  bisweilen,  liegen  wochenlang  krank  und 
schleppen  sich  vom  Fieber  geschüttelt  herum,  um  einen  Trunk 
Wasser  zu  holen,  oder  sich  etwas  Nahrung  zu  bereiten.  Es  ist 
ein  Kampf  um  Leben  und  Tod,  und  ungetröstet  muss  der  Unter- 
liegende in  die  Grube  fahren.  Hat  er  endlich  gesiegt,  so  wird  er 
doch  die  Spuren  des  Fiebers  nie  wieder  los.  Er  und  sein  Weib 
sind  rasch  gealtert,  der  Abschnitt  des  höchsten  Lebensgenusses 
ist  bereits  übersprungen,  und  es  bleibt  ihnen  nur  der  einzige  Trost, 
dass  ihre  Kinder  durch  ihre  Opfer  einst  mit  Glücksgütern  gesegnet 
sein  werden. 

Nur  sporadisch  trifft  man  unter  den  Squattern  und  Pionieren 
auch  Deutsche  an  und  keiner  unter  ihnen  fühlt  sich  glücklich, 
sondern  noch  um  vieles  elender  als  der  Amerikaner,  denn  dieser 
hat  nur  Ein  Ziel,  den  Erwerb,  vor  Augen,  dem  er  mit  aller  Energie 
entgegenstrebt,  während  den  Deutschen  der  Erwerb  stets  nur  das 
Mittel  bleibt,  um  sich  einen  höhern  und  verklärteren  Lebensgenuss 
zu  verschaffen  —  einen  Lebensgenuss  aber,  dem  der  Ansiedler 
fast  gänzlich  entsagen  muss. 

Wenn  also  das  Squatterthum  nicht  der  Beruf  für  die  deutschen 
Auswanderer  ist,  so  bleibt  ihnen  nichts  übrig,  als  ,, geklärten" 
Grund  und  Boden  zu  kaufen.     Nun    giebt   es  viele   Hinterwäldler, 


-^g2  Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 

welche,  halbindianisirt,  die  Einsamkeit  so  hoch  schätzen,  wie  wir 
die  Geselligkeit ,  und  denen  ihre  Landeroberung  zum  Ueberdruss 
wird,  sobald  sie  in  der  Nähe  die  Rauchsäule  eines  Nachbars  auf- 
steigen sehen.  In  den  besiedelten  Staaten  giebt  es  natürlich  noch 
unendlich  viel  unbebautes,  wenn  auch  nicht  mehr  herrenloses  Land. 
Dort  kann  man  den  Wald  leichter  bewältigen,  den  Fiebern  besser 
ausweichen  oder  sie  kräftiger  bekämpfen,  allein  an  allen  diesen 
Punkten  findet  sich  auch  nicht  mehr  das  hohe  Reizmittel  der  An- 
siedlungen,  nämlich  wohlfeiler  Grund  und  Boden.  Der  Auswan- 
derer muss  Vermögen  mitbringen ,  und  zwar  ein  hübsches  Stück 
Geld,  wenn  er  nicht  kümmerlich  vegetiren  will.  Beim  Ankauf 
läuft  er  aber  Gefahr,  den  schamlosesten  und  pfiffigsten  Speculanten 
der  Welt  in  die  Hände  zu  fallen.  Wenn  man  liest,  wie  in  der 
grossen  Demokratie  die  neuen  Städte  wie  die  Pilze  aufschiessen 
und  die  Bevölkerungen  sich  in  wenig  Jahren  verdoppeln,  so  glaubt 
man,  es  könne  nicht  fehlen,  dass,  wo  einmal  fünf  Schornsteine 
rauchen,  übers  Jahr  zehn  und  über  zehn  Jahr  hundert  zu  zählen 
sein  müssen.  Wenigen  ist  es  recht  klar,  dass  das  Gedeihen  neuer 
Ansiedlungen  gänzlich  von  der  Wahl  des  Ortes  abhängt,  dass  man 
nur  schreibt  und  liest  von  den  Städten,  die  aufgekommen  sind, 
nie  von  denen,  die  nn  Kindesalter  schon  wieder  zu  Ruinen  wur- 
den. Der  Amerikaner,  sagt  man,  hat  ein  besonderes  Auge,  um 
günstig  gelegene  Punkte  zu  entdecken;  der  Deutsche  dagegen 
bleibt  nur  gar  zu  oft  an  Plätzen  haften,  die  nicht  gedeihen  wollen 
und  nicht  gedeihen  können.  Diess  mag  daher  kommen,  dass  der 
Amerikaner  eben  nur  den  Erwerb  im  Auge  hat,  während  den 
Deutschen  seine  Sentimentalität  bewältigt,  wenn  ihm  da  und  dort 
der  blaue  Himmel  holder  durch  die  dunkeln  Wipfel  der  Bäume 
gelacht,  oder  ihn  ein  Hügelzug  am  Strome  an  einen  Winkel  seines 
Vaterlandes  erinnert  hat,  wo  er  seinen  besten  Traum  träumte. 
Die  einzelnen  rein  deutschen  Ortschaften  in  Texas  und  in  Missouri 
sind  noch  immer  vernachlässigte  Punkte  geblieben  und  keine  Lan- 
dungsplätze des  grossen  Verkehrs  geworden. 

Der  Auswanderer,  der  sich  warnen  lassen  will,  lese  daher  vor 
allen  Franz  Löhers  Land  und  Leute  in  den  Vereinigten  Staaten, 
Er  findet  dort  Winke  über  die  Art  und  Weise,  wie  in  Land  und 
„in  Städten"  speculirt  wird,  denn  Grund  und  Boden  wie  ganze 
Ortschaften  sind  Gegenstand  einer  Art  von  Börsenspiel.  Man  baut 
neue  Städte  auf  Speculation  in  der  Hoftnung,   dass,  wenn  man  den 


Wanderziele  der  Deutschen. 


393 


riclitigen  ökonomischen  Fleck  getroffen  hat,  der  Werth  des  Ter- 
rains und  der  Gebäude  oft  um  das  Hundertfache  steigt.  Wehe 
aber,  wenn  die  Wahl  des  Ortes  verfehlt  war !  Anfangs  lassen  sich 
wohl  Einzelne  heranlocken  und  es  folgen  Andere  nach,  bis  es 
allmähUch  offenbar  wird,  dass  der  Platz  nicht  geschickt  gewählt 
war.  Eine  Zeit  lang  sucht  man,  um  noch  Gimpel  zu  fangen,  das 
Welken  vor  der  Blüthe  zu  verbergen.  Häuser  und  Strassen  wer- 
den schmuck  und  sauber  gehalten,  damit  die  Kauflustigen  sich 
nicht  abschrecken  lassen,  bis  endlich  die  Aussichten  schwinden 
und  man  die  Speculation  der  Verwilderung  überlässt.  Der  Ameri- 
kaner ,  ohnehin  von  unruhigem  Blute ,  schnürt  sein  Bündel  imd 
zieht  zerrüttet  in  seinem  Vermögen  fort,  um  einen  günstigeren 
Platz  aufzusuchen,  von  frischem  und  überhaupt  so  lange  anzu- 
fangen, bis  er  den  Boden  findet,  wo  er  lustig  Wurzel  schlagen 
kann.  Förderlich  ist  ihm  dabei,  dass  er  beinahe  jedes  Gewerbe 
treibt :  aus  einem  Hol/flösser  des  Mississippi  wird  ein  Schulmeister, 
aus  diesem  ein  Advocat  und  Parteimann,  und  aus  dem  Parteimann 
ein  Präsident  der  Vereinigten  Staaten.  Der  Deutsche  dagegen 
bleibt,  wo  er  sich  einmal  niedergelassen,  und  lieber  verkümmert 
er  sein  Leben  lang,  ehe  er  sich  zum  erneuten  Wechsel  seines 
Lebensplanes  entschUesst. 

Alles  Gesagte  gilt  nur  von  den  Freibodenstaaten  Nordameri- 
ka's,  denn  der  Süden  gehört  kaum  in  den  Bereich  dieses  Ueber- 
blickes,  da  deutsche  Auswanderer,  die  nach  den  Sklavenstaaten 
gehen  wollen,  um  Pflanzer  zu  werden,  wohl  zu  den  grössten 
Seltenheiten  zählen.  Zu  emer  Pflanzung  gehören  mindestens  20 
Farbige,  denn  wer  weniger  Sklaven  besitzt,  treibt  nicht  Land- 
wirthschaft,  sondern  vermiethet  seine  schwarzen  Arbeitskräfte. 
Zwanzig  Sklaven  stellen  jetzt  schon  einen  Besitz  von  16,000  Dol- 
lars oder  40,000  fl.  dar.  Für  den  Grund  und  Boden,  die  Wirth- 
schaftsgebäude  und  das  Betriebscapital  einer  entsprechenden  Pflan- 
zung müssen  abermals  mindestens  20,000  fl.  gerechnet  werden. 
Nun  rentirt  sich  bekanntlich  Sklavenarbeit  ausserordentlich  gering, 
in  Jamaika  kurz  vor  Aufhebung  der  Sklaverei  nur  mit  2  und  i 
Procent,  und  in  den  heutigen  Secessionsstaaten  notorisch  nicht 
höher  als  2 — 3  Procent.  Wer  also  auswandern  will,  um  eine 
Pflanzerwirthschaft  zu  erwerben,  müsste  ein  Vermögen  besitzen, 
wofür  er  in  der  Heimath  ein  mittleres  Landgut  sich  kaufen ,  und 
wo  er  im    Schoosse   heimathlicher    Gesittung   und   traulicher    Ver- 


394 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


hältnisse  mit  höherem  Ertrag  und  ohne  den  Fluch  der  Racen- 
kneclitschaft  wirthschaften  könnte,  welche  letztere  jedem  Pflanzer 
die  Nachtruhe  stört  und  ihn  durch  die  quälende  Furcht  vor  Neger- 
empörungen zur  grausamen  Verfolgung  aller  humanen  Re- 
gungen antreibt. 

Nur  in  zwei  der  südlichen  Staaten  haben  sich  Deutsche  bisher 
dicht  angesiedelt,  nämlich  im  nördlichen  Missouri,  welches  sich, 
ungleich  der  südlichen  Hälfte  dieses  Staates ,  von  der  Sklaverei 
gänzlich  gereinigt  hat  und  fast  ein  Freibodenland  geworden  ist, 
und  in  Texas.  In  dem  ersteren  Staate  treten  die  Deutschen  als 
Weinbauern  auf,  und  suchen  ihre  heimathlichen  Kenntnisse  dieses 
edlen  Gewerbes  in  der  neuen  Welt  sich  nutzbar  zu  machen. 
Leider  hört  man  in  neuerer  Zeit,  dass  auch  die  Weindistricte  am 
Missouri  von  der  Traubenfäule  nicht  verschont  worden  sind. 
Gleichwohl  wird  der  Weinbau  solchen  Einwanderern  angepriesen, 
welche  von  der  Feldwirthschaft  nichts  verstehen  und  an  die  Arbeit 
im  Freien  noch  nicht  gewöhnt  sind.  Der  grösste  Weinbauer  in 
Hermann  ist  ein  Hr.  B.,  welcher  erst  am  Missouri  die  Cultur  der 
Reben  erlernte.  Von  solchen  altern  Ansiedlern  müssen  die  Zu- 
gewanderten sich  Raths  erholen ,  denn  die  Erfahrungen ,  welche 
sie  aus  der  Heimath  mitbringen,  nützen  ihnen  insofern  wenig,  als 
in  der  neuen  Welt  bekanntlich  nicht  die  edlen  Reben  der  alten, 
sondern  nur  die  einheimischen  Sorten,  die  Isabella-  und  die  Ca- 
tawbatraube  gedeihen  wollen.  Es  ist  also  natürlich,  dass  der 
Weinbauer  drüben  von  vorne  zu  lernen  anfangen  muss ,  weil  die 
Pflege  der  transatlantischen  Reben  eine  andere  und  das  Klima  im 
Innern  eines  grossen  Continentes  sehr  verschieden  ist  von  dem 
unseres  Welttheiles,  der  doch  im  Grunde  nichts  ist,  als  eine  grosse 
Halbinsel  am  westlichen  Rande  grosser  Ländermassen. 

Auf  die  Deutschen  in  Texas  ist  man  neuerdings  aufmerksam 
gemacht  worden  durch  den  berühmten  Olmstedt,  dessen  Beobach- 
tungen und  Schriften  über  die  Sklaverei  und  die  Sklavenstaaten 
die  besten  Aufschlüsse  zum  Verständniss  des  grossen  Kampfes 
zwischen  der  freien  und  der  Negerarbeit  enthalten,  und  welche  als 
wahres  Gegengift  gegen  die  Parteischriften  der  guten  Beecher 
Stowe  und  des"  ungestümen  Hrn.  Helper  zu  empfehlen  sind.  Die 
Deutschen  in  Texas  haben  zuerst  bewiesen,  dass  es  den  Menschen 
unserer  Hautfarbe  möglich  ist,  in  einem  Treibhausklima  und  neben 
der  Negerarbeit  Baumwolle  mit  Gewinn  zu  erbauen,     lieber  diese 


Wanderziele  der  Deutschen. 


395 


Entdeckung  sind  die  warmen  Freibodenapostel  eine  Zeit  lang  in 
das  höchste  Entzücken  gerathen ,  denn  bisher  hatte  man  die 
Racenknechtschaft  immer  noch  damit  gerechtfertigt,  dass  Weisse 
in  der  Nachbarschaft  der  Wendekreise  nicht  auf  dem  Felde  zu 
arbeiten  vermögen  ohne  Zerrüttung  ihrer  Gesundheit.  Die  Deut- 
schen haben  diess  für  die  nördliche  Zone  von  Texas  widerlegt, 
aber  der  Satz  gilt  sonst  noch  allüberall,  wo  Palmen  wachsen  und 
das  Zuckerschilf  gedeiht.  Dass  sie  aber  die  Concurrenz  der  Neger- 
arbeit aushielten,  verdanken  sie  nur  dem  einzigen  Umstand,  dass 
ihr  Product  sorgfältiger  gereinigt  ist  und  daher  viel  höher  bezahlt 
wird,  als  Negerbaumwolle,  denn  darin  wird  die  freie  Arbeit  jeder 
gezwungenen  überlegen  bleiben,  dass  bei  ihr  allein  durch  Sorgfalt 
und  Intelligenz  die  Güte  eines  Productes  gesteigert  werden  kann. 
Nur  zu  den  rohesten  und  einfachsten  Verrichtungen,  zu  denen 
kein  Nachdenken  gehört,  ist  der  Neger  in  der  Sklaverei  befähigt. 
Gänzlich  untauglich  ist  er  zur  Viehzucht  und  zum  Stalldienst, 
weshalb  auch  in  den  Secessionsstaaten  der  Pferdebestand  ein  auf- 
fallend geringer,  und  man  gezwungen  ist,  Esel  und  Maulthiere  zu 
halten,  weil  das  Ross  ohne  aufmerksame  Pflege  siech  wird  und  nur 
das  Eselgeschlecht  eine  grössere  Vernachlässigung   ertragen   kann. 

Wir  wünschen  übrigens  durchaus  nicht,  dass  unsere  Lands- 
leute den  Beruf  spüren  sollten,  das  Problem  der  Negerknechtschaft 
dadurch  zu  lösen,  dass  sie  sich  massenhaft  dem  Baumwollenbau 
zuwendeten.  Für  freie  Arbeit  eignen  sich  ja  doch  nur  die  edlen 
und  theuer  bezahlten  Sorten  der  Gewebpflanze,  nach  denen  aber 
wiederum  nur  eine  beschränkte  Nachfrage  besteht.  Uebrigens  ist 
die  Lage  der  Landwirthe  in  Texas  nichts  weniger  als  beneidens- 
werth.  Niemand  bilde  sich  ein,  rasch  durch  den  Ackerbau  reich 
zu  werden.  Reich  werden  nur  die  glückHchen  Güterspeculanten, 
die  Gastwirthe  und  die  Viehhändler.  Der  Landwirth  in  Texas 
dagegen,  wie  in  den  meisten  Staaten  des  ,, Westens",  hat  zuviel 
mit  den  Schicksalsschlägen  seines  Berufes  zu  kämpfen.  Trockener 
Misswachs  stellt  sich  gar  häufig  ein,  versengt  ihm  die  Frucht  am 
Halme  und  vernichtet  seinen  Viehstand,  so  dass  er  immer  wieder 
in  seinen  Vermögensverhältnissen  zurückgeworfen  wird.  Auch  die 
Heuschrecken  sind  eine  gefürchtete  Landplage,  und  noch  bestehen, 
so  viel  wir  wissen,  keine  Versicherungsanstalten  gegen  ihre  Ver- 
heerungen, wie  bei  uns  gegen  die  Hagelschläge. 

In  den  älteren  Staaten  der  Union  dagegen   hat  der   deutsche 


5q6  Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 

Landwirth  eine  herrliche  und  lohnende  Aufgabe.  Die  oft  bestaunte 
Fruchtbarkeit  des  Jungfernlandes  in  der  neuen  Welt  ist  bekanntlich 
eine  sehr  vergängliche.  Es  sind  immer  nur  die  frisch  eroberten 
Striche,  welche  durch  ihre  Ernten  in  Erstaunen  setzen.  Wenn 
irgendwo,  so  hat  sich  in  den  Vereinigten  Staaten  die  Liebig'sche 
Lehre  von  der  raschen  Ausbeutung  des  Ackerbodens  ohne  Rück- 
erstattung der  Aschenbestandtheile  glänzend  bestätigt.  Jetzt  schon 
sind  die  Vereinigten  Staaten  zu  einem  Hauptabnehmer  des  peru- 
anischen Inselguanos  geworden,  weil  sie,  als  ihre  Felder  noch  die 
reichsten  Ernten  gaben,  im  Wahne  ihrer  Unerschöpflichkeit  nicht 
an  eine  Düngung  dachten.  Es  fehlt  dem  Amerikaner  im  All- 
gemeinen die  Geduld,  durch  fleissige  Bestellung  und  Schonung 
dem  Boden  seine  Gaben  abzugewinnen.  Er  beraubt  das  Feld 
unbarmherzig  seiner  Reichthümer,  und  wenn  die  Ernten  mager 
werden,  verlässt  er  ohne  Reue  seine  Liegenschaften,  um  neue 
Flächen  aufzusuchen  und  auszuplündern.  Verarmtes  Fruchtland 
in  die  Höhe  zu  bringen,  daran  denkt  er  nicht  und  für  diese  Kunst 
sind  inteUigente  deutsche  Landwirthe  am  besten  geschaffen.  Wenn 
sie  aber  nicht  ihr  Vermögen  durch  illusorische  Unternehmungen 
verlieren  wollen,  müssen  sie  entweder  schon  längere  Zeit  mit  den 
Zuständen  der  neuen  Welt  vertraut  sein  und  die  völlig  andern 
Wirthschaftsbedingungen  aus  Erfahrung  kennen,  oder  sie  müssen 
sich  von  der  Wissenschaft  belehren  lassen,  und  nichts  ist  ihnen 
dann  mehr  zu  empfehlen,  als  Roschers  berühmtes  Buch  über  Co- 
lonien  und  Colonialpolitik,  so  wie  der  zweite  Band  seiner  Natio- 
nalökonomie, der  ausschliesslich  von  der  Landwirthschaft  handelt. 
Im  gegenwärtigen  Augenblick  lässt  der  Bürgerkrieg  in  der 
Union  eine  Auswanderung  dorthin  als  höchst  bedenklich  erschei- 
nen. Der  Traum  von  längerer  Lebensdauer  und  unverwüstlicher 
Gesundheit  der  grossen  Demokratie  ist  jedenfalls  vorbei.  Muss  die 
Union,  wie  es  jetzt  fast  den  Anschein  gewinnt,  den  Abfall  der 
Secessionsstaaten  anerkennen,  so  ist  gar  sehr  zu  befürchten ,  dass 
dieses  schlimme  Beispiel  zu  Nachahmungen  reizen  werde.  Andere 
Pronunciamentos  möchten  nachfolgen  und  zuletzt  sich  im  Norden 
die  Geschichte  des  Argentinischen  Bundes  wiederholen.  In  der 
Union  selbst  trennen  jetzt  bereits  verschiedene  schroffe  Gegensätze 
und  Interessen  den  ackerbautreibenden  Westen  von  den  gewerb- 
fleissigen  Küsten-  und  Handelsstaaten.  Endlich  hängt  wieder  der 
pacifische  Theil    der    Vereinigten   Staaten,    Californien   mit    seinen 


Wanderziele  der  Deutschen. 


397 


aufblühenden  Grenzgebieten  nur  durch  einen  dünnen  Faden  mit 
dem  übrigen  Bunde  zusammen,  während  die  Felsengebirge  mit 
ihrem  wüsten  Glacis  und  ihrem  ewigen  Schnee  eine  poUtische 
Trennung  der  beiden  festländischen  Wasserscheiden  als  etwas  Na- 
türliches und  Unausbleibliches  erscheinen  lassen.  Mit  dem  Zerfall 
muss  dann  die  Zwietracht  und  die  Reibung  an  den  Gränzen  ein- 
treten. In  Folge  dessen  werden  die  Staaten  sich  bequemen 
müssen,  stehende  Heere  zu  halten  und  ihren  kläglichen  Milizdienst 
aufzugeben.  Mit  den  stehenden  Heeren  aber  wird  die  innere  Ver- 
fassung einer  Umbildung  zugedrängt.  Jedenfalls  erwachsen  die 
Lasten  eines  Kriegsbudgets,  vielleicht  sogar  die  Lasten  einer  all- 
gemeinen Kriegspflicht.  Damit  gehen  aber  für  den  Auswanderer 
zwei  der  grössten  Reizmittel,  die  Befreiung  vom  Militärdienst  und 
von  unmittelbaren  Abgaben  verloren.  Aber  selbst,  wenn  die 
Unionssache  siegen  und  der  Süden  unterliegen  sollte,  so  wird  doch 
unter  allen  Umständen  die  Staatsschuld  des  Gesammtbundes  einen 
gefährlichen  Durchmesser  bekommen;  denn  nicht  allein,  dass  der 
Bürgerkrieg  an  sich  schon  Hunderte  von  MiUionen  kostet,  es  wird 
auch  den  Pflanzern  zuletzt  doch  eine  Entschädigung  für  ihr 
schwarzes  Vermögen  gezahlt  werden  müssen.  Es  giebt  vier 
Millionen  Sklaven  in  den  Vereinigten  Staaten,  deren  Werth  nach 
jetzigen  Auctionspreisen  (durchschnittlich  500  Dollar  per  KopQ 
2000  Millionen  Dollar  beträgt.  Gesetzt,  man  zahlte  nur  300 
Dollar  Entschädigung  für  den  Kopf,  so  würde  daraus  eine  Last 
von  drei  Milliarden  Gulden  entstehen,  die  Union  also  mit  einer 
Staatsschuld  höher  als  die  österreichische  beschenkt  werden.  Wer 
nun  ein  wenig  mit  Staatswirthschaft  vertraut  ist,  wird  sogleich  die 
nothwendigen  Folgen  eines  solchen  Schuldenanwachses  überblicken. 
Es  werden  eine  Menge  Steuern  und  Steuerbehörden  geschaffen, 
vor  allen  Dingen  aber  der  Grund  und  Boden  belastet  werden 
müssen,  auch  wird  man  als  nächste  Einnahmequelle  die  Staats- 
ländereien  sich  zueignen  und  sie  nicht  mehr  um  einen  Nominal- 
preis den  Squattern  überlassen.  Die  Vereinigten  Staaten  sind  dann 
nicht  mehr  das  Land  des  wohlfeilen  Gütererwerbes  und  unbelaste- 
ten Gütergenusses,  sondern  die  wirthschaftlichen  Verhältnisse  jen- 
seits werden  den  diesseitigen  immer  ähnlicher  werden. 

Wir  halten  uns  nicht  damit  auf,  die  Erspriesslichkeit  einer 
Wanderung  nach  Mexiko  oder  nach  Westindien  zu  erörtern.  Wer 
nicht  Bergmann   ist,    hat  in   Mexiko   nichts  zu  suchen  und  selbst 


-jq3  Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 

Bergleute  mögen  sich  zweimal  besinnen,  ehe  sie  ihren  Fuss  in 
dieses  gesetzlose  Land  setzen,  welches  ohnediess  in  seinen  nörd- 
lichen Provinzen  in  Chihuahua,  Sinaloa  und  Durango  der  völligen 
Verwilderung  entgegeneilt  und  in  seiner  Kraftlosigkeit,  ähnlich  wie 
Byzanz  zu  den  Zeiten  der  Barbareneinbrüche,  eine  Beute  der  be- 
ständig an  Raum  gewinnenden  Apachen  wird,  die  von  ihren  Raub- 
nestern herab  auf  den  Moment  lauern ,  wo  sie  sich  wie  die  Geier 
auf  Hirt  und  Heerde  stürzen  können.  In  Westindien  aber  schliesst 
das  tropische  KHma  die  deutsche  Arbeit  und  jede  Arbeit  des 
weissen  Mannes  aus.  Das  Schicksal  der  dortigen,  jetzt  seit  der 
Negerbefreiung  wieder  reconvalescenten  Gebiete ,  namentlich  der 
Zuckerländer,  beruht  bekanntlich  auf  der  Einfuhr  von  Kulis, 
worunter  man  Hindu  niedriger  Kaste  oder  chinesische  Auswan- 
derer versteht.  Dagegen  sind  die  mittelamerikanischen  Freistaaten 
in  neuerer  Zeit  im  Interesse  von  Auswanderern  vielfach  bereist 
und  beschrieben  worden. 

Im  Hochlande  Segovia's  (Nicaragua),  meint  Karl  Scherzer'), 
giebt  es  zahlreiche,  unermessliche  Strecken  des  fruchtbarsten  Sa- 
vanenbodens,  der  nicht  erst  der  Entwaldung  bedarf,  mit  welcher 
stets  und  überall  Fieber  verknüpft  sind  und  wo  der  Einwanderer 
schon  im  ersten  Jahre  die  Früchte  seiner  Saaten  ernten  kann. 
Im  Hochlande  giebt  der  Boden  an  den  meisten  Orten  bei  geringer 
Bearbeitung  zwei  und  selbst  drei  Ernten,  und  bedarf  vorläufig  und 
wohl  auf  längere  Zeit  keiner  Düngung.  Auch  der  Arbeitslohn 
steht  dort  sehr  hoch,  höher  als  selbst  in  den  Vereinigten  Staaten. 
,,Gar  lebendig,"  sagt  Scherzer,  ,,hat  sich  mir  das  Bild  eines 
schlichten  derbkräftigen  Oberschlesiers  eingeprägt,  der  in  einer 
Sägemühle  als  Arbeiter  angestellt,  nebenbei  seinen  kleinen  Gemüse- 
garten baute  und  eines  Morgens,  wo  er  eben  seinen  Monatslohn 
ausbezahlt  erhalten  hatte,  mit  einer  Hand  voll  Gold-  und  Silber- 
stücke auf  mich  zukam  und  wohlbehaglich  ausrief:  so  viel  Geld, 
als  ich  jetzt  in  meiner  Hand  habe  (es  mochten  ungefähr  40  fl. 
rh.  sein),  bekommt  bei  mir  zu  Hause  ein  Knecht  kaum  für  ein 
Jahr  schwerer  Arbeit  und  muss  sich  noch  obendrein  Kleider 
schaffen.  Der  biedere  Leobschützer  wollte  damit  auf  die  Lieb- 
hchkeit  und  Gleichmässigkeit  des   Klimas  anspielen,    welche   dem 


l)  Wanderungen  durch  die  mittelamerikanischen  Freistaaten.    Braunschweig 
1857.     S.  216. 


Wanderziele  der  Deutschen. 


399 


Ansiedler  gestatten ,  das  ganze  Jahr  hindurch  einen  wenig  kost- 
spieHgen  luftigen  Anzug  zu  tragen."  Wenn  die  bisherigen  An- 
siedelungen in  Nicaragua  misslangen,  namentlich  der  kostspielige 
Versuch  der  Niederlassung  Sanct  Thomas,  der  mit  einem 
Leichenhofe  endigte,  so  schreibt  Scherzer  alle  Schuld  nur  auf  die 
unglückliche  Wahl  des  ersten  Niederlassungspunktes.  Indessen 
räth  auch  er  nur  zur  Auswanderung  in  grösseren  Gesellschaften, 
da  der  Einzelne,  unbekannt  mit  Sprache  und  Sitten,  nicht  recht 
aufzukommen  vermag.  Da  müssen  wir  nun  hinzusetzen,  dass  uns 
jede  Auswanderung,  die  nicht  auch  vereinzelt  unternommen  werden 
kann.  Bedenken  erregt.  Die  Geschichte  aller  gemeinschaftlich  un- 
ternommenen Ansiedelungen  der  Spanier,  Franzosen  und  Englän- 
der, wie  der  Deutschen,  bietet  fast  stets  ein  Bild  der  Zwietracht, 
als  ob  die  Menschen  sich  am  meisten  anfeindeten,  je  nothwendiger 
sie  sich  brauchen.  Haben  sich  ja  irgendwo  solche  gemeinschaft- 
lichen Ansiedlungen  friedlich  entwickelt  und  sind  sie  gediehen,  so 
waren  es  in  der  Regel  nur  Secten,  die  rehgiöses  Bedürfniss  fester 
aneinander  kettete  und  wo  durch  die  hierarchische  Gliederung 
Oberhäupter,  Leiter  des  Ganzen  und  Friedensstifter  vorhanden 
waren. 

Weit  günstiger  als  Nicaragua,  Guatemala  oder  San  Salvador, 
erscheint  uns  das  bis  auf  Wagners  und  Scherzers  Reisen  vernach- 
nachlässigte  und  wenig  gekannte  Costarica.  Gegenwärtig  giebt  es 
keinen  Fleck  amerikanischer  Erde,  der  fleissiger  beschrieben  wor- 
den wäre,  als  gerade  diese  kleine  friedliche  creolische  Bauem- 
republik  auf  der  Landenge  zwischen  den  beiden  Weltmeeren. 
Ausser  sehr  zahlreichen  Journalberichten  haben  wir  das  Werk  von 
Scherzer  und  Wagner:  „Die  Republik  Costarica",  Trollope's  the 
West  Indies  and  the  Spanish  Main  und  Frangois  Belly's  Geschichte 
eines  interoceanischen  Canals  (Revue  des  deux  Mondes.  1860). 
TroUope  ist  ein  ungewöhnlich  begabter  Darsteller  und  scharf- 
blickend in  allen  wirthschaftlichen  Streitfragen,  Frangois  Belly  da- 
gegen ein  französischer  Publicist  von  der  Sorte,  von  welcher 
zweiunddreissig  auf  das  Pfund  gehen.  Sein  Bericht  hat  weder  den 
naturwissenschaftlichen  Werth  wie  die  Werke  der  beiden  deutschen 
Gelehrten,  noch  die  praktische  Bedeutung  wie  das  des  Engländers, 
aber  er  ergänzt  uns  das  Bild  des  fremden  Landes  oft  in  willkom- 
mener Weise.  Das  Klima  des  Landes  ist  ohne  alle  Frage  für  die 
Ansiedlung  der  Europäer  geeignet,  denn  es  ist  das  liebliche  Klima 


400 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


des  Kaffeestrauches  und  einer  Hochebene  unter  den  Tropen. 
Auch  dort  hat  der  Auswanderer  nicht  mit  örtlichen  Krankheiten 
zu  kämpfen,  sobald  er  nur  den  heissen  Küstensaum  im  Rücken 
hat.  Die  Einwohner  scheinen  ausserordentlich  gut  geartet,  die 
Vermögen  sind  sehr  glücklich ,  das  heisst  gleichmässig  vertheilt, 
Bettler  etwas  völlig  unbekanntes,  Arbeit  hoch  bezahlt  und  eifrig 
gesucht,  die  politischen  Verhältnisse  aber  ein  wahrer  Lichtblick 
und  eine  reine  Erquickung  in  der  widerwärtigen  Geschichte  des 
creolischen  Amerika.  Costarica  ist  die  einzige  Republik,  Paraguay 
düstem  Angedenkens  ausgenommen,  die  kein  Bürgerkrieg  seit  der 
Befreiung  verheert  hat,  und  wo  es  nicht  die  Landplage  der  an- 
dern Creolenstaaten ,  nämlich  ein  unruhiges  Bandenwesen  giebt, 
denn  Soldaten  verdienen  die  raubsüchtigen  und  treulosen  bewaff- 
neten Schaaren  in  Mexico,  Peru,  Ecuador,  den  neugranadinischen 
und  argentinischen  Staaten  nicht  genannt  zu  werden.  Das  ein- 
zigemal,  dass  Costarica  die  Waffen  ergriff,  geschah  bei  dem  letz- 
ten Einfalle  Walkers  und  zur  Behauptung  der  Unabhängigkeit  vor 
Räuberwillkür.  Die  Costaricaner  zeigten  sich  dabei  wie  ein  edles 
und  freies  Volk.  Sie  schufen  eine  Dictatur,  griffen  zahlreich  zu 
den  Waffen  und  fielen  tapfer  in  der  Schlacht  bei  Rivas.  Abgaben 
und  Staatsschulden  sind  noch  unbekannte  Dinge,  denn  die  geringen 
Bedürfnisse  des  öffentlichen  Haushaltes  werden  durch  die  Zölle 
hinlänglich  gedeckt. 

Zum  höheren  Aufschwung  dieses  glücklichen  Cantons  fehlt 
nur  etwas,  eine  Strasse  nach  dem  atlantischen  Meer,  auf  der 
schwere  Güter  sich  wohlfeil  bewegen  lassen,  denn  bis  jetzt  führt 
nur  ein  Saumpfad ,  und  zwar  der  schlimmsten  Art  nach  Muelle, 
am  Sarapiqui,  dem  Zollhause  für  die  atlantischen  Einfuhren.  Der 
jetzige  beschwerliche  Weg  von  San  Juan  del  Norte  nach  dem 
6000  Fuss  hohen  Rande  des  Tafellandes  wird  nach  einer  Fluss- 
schifffahrt bis  Muelle  über  eine  Anzahl  Querschluchten  in  drei 
Tagen  bis  nach  San  Josd,  der  Hauptstadt,  zurückgelegt.  Besässe 
Costarica  nur  zwölf  oder  fünfzehn  Meilen  Chaussee  abwärts  nach 
den  Ladeplätzen  am  Sarapiqui,  also  nach  der  atlantiscHen  Seite, 
so  würde  jede  seiner  Kaffeepflanzungen  um  die  Hälfte  oder  das 
Doppelte  mehr  werth  sein.  Der  Wunsch  ist  indessen  schwieriger 
zu  erfüllen,  als  man  sich  vorstellt.  Zwar  haben  wir  von  techni- 
schen Hindernissen  nichts  gelesen,  und  heutigen  Tages,  wo  die 
Alpenpässe    von    Dampfwagen    befahren     werden ,    wo    man    den 


Wanderziele  der  Deutschen. 


401 


St.  Lorenzstrom  überbrückt  hat,  und  Weltmeere  durch  Tunnel- 
durchstiche verbinden  will,  ist  das  Wort  Unmöglichkeit  aus  der 
Ingenieursprache  gestrichen  worden.  Die  Hauptschwierigkeit  ist 
die  unzähmbare  Fruchtbarkeit  der  Natur,  denn  ein  Weg  durch 
das  tropische  Dickicht  ist  wie  ein  Hieb  durch  das  Wasser.  Die 
Geschichte  der  Panamabahn  bietet  darüber  die  grösste  Belehrung, 
denn  diese  Bahn  kostete  weit  mehr  Menschenleben  als  ein  Schlacht- 
feld im  letzten  italienischen  Krieg.  Wenn  man  aber  auch  eine 
Strasse  hergestellt  hätte,  ihre  Unterhaltung  würde  beständig  schwere 
Summen  erfordern,  man  müsste  einen  hohen  Wegzoll  erheben, 
und  dieser  würde  alle  Wohlthaten  des  Verkehrsmittels  wieder  illu- 
sorisch machen.  In  Ermanglung  einer  wohlfeilen  Verbindung  mit 
einem  atlantischen  Hafen  geht  daher  der  Kafifee,  das  Stapelpro- 
duct  Costarica's,  auf  Ochsenkarren  die  schiefe  Ebene  des  Tafel- 
landes abwärts  nach  Punta  Arenas,  am  Stillen  Meere,  und  muss 
dann  auf  dem  Kiel  den  weiten  Umweg  um  das  amerikanische 
Hörn  nach  Europa  ertragen.  Die  Panamabahn  kann  der  Kaffee 
nicht  benutzen,  weil  dieses  Verkehrsmittel  bekannthch  wegen  seiner 
unsinnig  hohen  Frachtlöhne  allen  schweren  Gütern  noch  gänzlich 
verschlossen  ist.  Die  hohen  Dividenden  dieser  Bahn  (oft  30  bis 
40  Procent)  schreiben  sich  daher,  dass  es  bis  jetzt  das  Hauptglied 
des  kürzesten  Verkehrs  zwischen  den  atlantischen  Staaten  und  den 
Küsten  des  Stillen  Meeres,  hauptsächlich  aber  die  grosse  Strasse 
für  Auswanderer  nach  Californien  bildet.  Sollte  aber  der  Per- 
sonenverkehr sinken,  oder  durch  eine  Doppelbahn  Concurrenz  auf 
dem  Isthmus  entstehen,  dann  wird  die  Panamabahn  genöthigt 
werden,  durch  den  Güterverkehr  ihre  Dividenden  zu  suchen,  folg- 
hch  die  Tarife  herabzusetzen.  Uebrigens  ist_der  Nachtheil  einer 
Verschiffung  des  costaricanischen  Kaffees  um  Cap  Hörn  nicht  so 
gross,  als  man  sich  denkt,  denn  wenn  von  Californien  sogar  Ge- 
treide nach  England  verschifft  wird,  so  kann  der  Kafifee  doch  viel 
eher  die  Frachten  eines  weiten  Seeweges  nach  Europa  vertragen. 
Wir  möchten  Costarica  jedoch  nur  katholischen  Auswande- 
rern empfehlen,  denn  Protestanten  vermeiden  wohl  besser  die 
Creolenstaaten,  sie  müssten  denn  gemeindenweise  sich  niederlassen. 
Ganz  besonders  aber  empfiehlt  die  kleine  Bauernrepublik  der  Um- 
stand, dass  dort  die  freie  Arbeit  hoch  in  Achtung  steht.  Plan- 
tagenwirthschaft  ist  dort  nie  oder  nur  sporadisch  betrieben  worden. 
Jedermann    lebt    von    dem,    was    er    selbst    erbaut,    und  er  muss 

Peschel  Abhandlungen.     II.  26 


402  Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 

erbauen,  wenn  er  nicht  verhungern  will.  Das  Arbeitslohn  ist  sehr 
hoch  und  freies  Land  noch  in  Fülle  zu  haben.  Auch  die  Moral 
der  Bewohner  verlangt  unsere  höchste  Achtung;  denn  es  herrscht 
im  Verkehr  das  grösste  gegenseitige  Zutrauen,  da  bis  jetzt  Miss- 
bräuche desselben  den  guten  Glauben  an  die  Redlichkeit  der  Mit- 
menschen noch  nicht  zerstört  haben. 

Das  nächste  Feld  für  Auswanderer,  wenn  wir  der  atlantischen 
Küste  gegen  Süden  folgen ,  ist  Brasilien ,  und  zwar  müssen  wir 
sogleich  zwischen  Nord-  und  Süd-,  zwischen  dem  heissen  und  dem 
gemässigten  Brasilien  unterscheiden.  Die  Auswanderung  nach  dem 
südamerikanischen  Kaiserreiche  ist  bekanntlich  in  neuester  Zeit 
ein  Gegenstand  lebhafter  öfifentUcher  Erörterungen  in  der  preussi- 
schen  und  ganz  neuerdings  in  der  brasilianischen  Kammer  ge- 
worden. In  der  deutschen  Presse  wird  seit  langem  mit  ziemlicher 
Erbitterung  ein  Krieg  für  und  wider  diese  Auswanderung  geführt, 
und  zwar  sind  es  hauptsächlich  zwei  Personen,  welche  gegen  die 
Auswanderung  zu  wirken  suchen,  der  ehemaUge,  kürzHch  verab- 
schiedete brasilianische  Generalconsul  Sturz  in  Berlin  und  Dr. 
Ave  Lallemant,  welcher  die  Novara  auf  ihrer  Weltfahrt  begleiten 
sollte,  unterwegs  aber  in  dienstliche  Missverhältnisse  gerieth,  seine 
Entlassung  verlangte  und  in  Rio  ans  Land  ging,  wo  er  früher 
schon  mehrere  Jahre  lang  als  Arzt  gelebt  hatte.  Lallemant  wurde 
dem  damaligen  Colonisationsminister  als  ein  Mann  empfohlen,  der 
über  Brasilien  zu  Gunsten  der  Einwanderung  schreiben  würde. 
Man  versah  ihn  daher  mit  Geld  zur  Bereisung  von  Südbrasilien 
und  von  Nordbrasilien.  Nach  Europa  zurückgekehrt  erschien 
zuerst  sein  Buch  über  Südbrasilien ,  wo  er  das  Leben  der  ange- 
siedelten Deutschen  so  günstig  und  verlockend  schilderte,  dass 
wir  ihn  für  einen  maskirten  brasilianischen  Werber  gehalten  hätten, 
wenn  nicht  auch  er  mit  den  entschiedensten  Ausdrücken  das 
Parceriasystem  verurtheilt  hätte.  Ganz  anders  klingt  sein  Buch 
über  NordbrasiUen.  Dort  ist  alles  nur  Schauder,  Elend,  Hunger, 
Fieber,  Siechthum  unter  den  Colonisten,  namentUch  auf  den  Plan- 
tagen des  berüchtigten  Herrn  Ottoni  am  Mucuri.  Für  dieses  Buch 
ist  er  in  der  brasilianischen  Kammer  als  ,, Verräther"  bezeichnet 
worden.  Die  Brasilianer  irrten  sich  aber  nur  in  der  deutschen  Natur. 
Aus  irgend  einem  trivialen  oder  gemeinen  Beweggrunde  öffentlich 
zu  lügen,  dazu  giebt  sich  gottlob  bei  uns  selten  jemand  her.  Nach 
unserem  Gefühl  war    indessen  Dr.  Lallemant,    wenn    er  Reisegeld 


Wanderziele   der  Deutschen. 


403 


von  der  brasilianischen  Regierung  annahm ,  zum  öffentUchen 
Schweigen  verpflichtet.  Er  brauchte  nicht  für  die  Auswanderung 
zu  schreiben,  er  konnte  mündHch  jedermann  abrathen ,  aber  als 
öffenthcher  Ankläger  aufzutreten,  dazu  war  er  nicht  verpflichtet 
und  dadurch  hat  er  sich  den  Namen  eines  ,, Verräthers"  zugezogen, 
auf  den  er  selbst  möglicherweise  stolz  ist.  Wir  zweifeln  keinen 
Augenblick,  dass  er  sah,  was  er  beschreibt,  und  wir  empfehlen 
sein  Buch  als  das  beste ,  um  jeden  zu  curiren,  der  etwa  noch  für 
brasilianische  Herrlichkeiten  schwärmen  möchte.  Uns  hat  jedoch 
seine  ,, Reise  durch  Nordbrasilien"')  den  Eindruck  hinterlassen,  als 
kehre  er  geflissentlich  nur  die  Schattenseiten  des  Ansiedlerlebens 
heraus.  Auch  weiss  man  recht  gut,  dass  nicht  die  besten  gesell- 
schaftlichen Elemente  in  das  Garn  der  brasihanischen  Werber  ge- 
riethen,  sondern  vielmehr  Leute,  die  gar  nichts,  nicht  einmal  das 
Geld  zur  Ueberfahrt  besassen,  auch  nicht  warten  wollten,  bis  ihre 
Ersparnisse  die  Spesen  des  Auswanderns  decken  würden  ,  sondern 
in  gränzenlosem  Leichtsinn  ihre  Freiheit  und  die  Freiheit  ihrer 
Familie  schriftlich  verpfändeten.  Wenn  endlich  Siechthum  und  der 
Kirchhof,  wie  man  nach  Lallemants  Schilderungen  glauben  möchte- 
in kurzer  oder  längerer  Zeit  die  Auswanderer  einen  nach  dem 
andern  unfehlbar  wegraffen  würden ,  so  sieht  man  nicht  ein ,  auf 
welche  Art  die  Colonialherren  einen  Gewinn  aus  der  höchst  kost- 
spieligen Einfuhr^)  von  Colonisten  ziehen  sollten.  Wir  würden  bei 
unsern  Zweifeln ,  ob  nicht  Lallemant  ein  wenig  übertrieben  habe, 
auf  das  Zeugniss  eines  solchen  Ehrenmannes ,  wie  der  letzte 
preussische  Gesandte  Hr.  v.  Meusebach ,  der  ganz  im  Sinne  der 
Schilderungen  aus  Nordbrasilien  gegen  die  brasilianische  Pflanzer- 
aristokratie aufgetreten  ist,  den  höchsten  Werth  setzen,  wenn  dieser 
Diplomat  nicht  leider  schon  während  seines  Aufenthaltes  in  Rio 
gemüthskrank  gewesen  zu  sein  schiene. 

Man  glaube  desshalb  nicht,  dass  wir  für  Auswanderung  nach 
Brasilien  schreiben  oder  gar  verzweifelte  Landsleute  in  die  Bureaus 
der  bezahlten  Werbeagenten   locken    wollten,    wir    meinen  nur,    es 


i)  Es  ist  hier  natürlich  nur  von  seinen  Schilderungen  der  deutschen  Co- 
lonien,  nicht  von  dem  werthvollen  wissenschaftlichen  Inhalt  des  Buches  die 
Rede. 

2)  Nach  officiellen  Angaben  kostete  die  Verschiftung  von  7200  Colonisten 
4200  Contos  (i  Conto  oder  eine  Million  Reis  ist  gleich  1000  Milreis,  i  Milreis 
sind  gleich  2  Francs  60  Cent). 

26* 


AQA  Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 

sei  besser,  eine  Sache  nüchtern  zu  widerlegen,  als  sich  durch  Hef- 
tigkeit Blossen  zu  geben.  Was  von  vornherein  die  Auswanderer 
vor  Brasilien  scheu  machen  sollte,  ist  der  Umstand,  dass  die  bra- 
silianische Regierung  in  Deutschland  die  Presse  bezahlt,  um  für 
Auswanderung  dorthin  zu  wirken.  Das  gehört  nicht  etwa  zu  den 
Denunciationen  der  Bestechlichkeit,  wie  sie  leider  und  zu  ihrer 
eigenen  Schande  unter  deutschen  Journalisten  Mode  geworden  sind, 
sondern  wir  beziehen  uns  auf  die  Aeusserungen  des  Colonisations- 
ministers  Felicardo ,  der  bei  den  brasiUanischen  Kammerverhand- 
lungen im  August  d.  J.  offen  gestand ,  man  habe  die  öffentliche 
Meinung  in  Deutschland  so  vollständig  gegen  sich,  dass  es  viel 
Geld  gekostet  habe  und  noch  viel  Geld  kosten  werde ,  um  sie  zu 
bearbeiten.  Auch  das  sollte  den  Auswanderer  abschrecken,  dass 
der  Agent,  der  ihn  anwirbt,  eine  Prämie  bekommt,  und  dass  von 
Seiten  der  Regierung  oder  von  Seiten  der  grossen  Grundherren 
Vorschüsse  gemacht  werden,  damit  der  Auswanderer  in  das  Land 
ihrer  Verheissungen  ziehe.  Für  die  Vereinigten  Staaten  und  Austra- 
lien schreibt  kein  Mensch ,  wirbt  kein  Mensch  und  zahlt  kein 
Mensch ,  und  dennoch  ergiesst  sich  der  Strom  dorthin  in  reichen 
Fluthen,  während  trotz  aller  künstlichen  Ablenkungen  nach  Bra- 
silien in  sieben  Jahren  doch  nur  18,000  Köpfe  gelockt  worden  sind. 
Das  heisse  Nordbrasilien  ist  ohnehin  kein  Land  für  europäische 
Ansiedler.  Prinz  Adalbert  von  Preussen  erzählt  uns  in  seiner 
„Reise  nach  Brasilien"  von  sehr  vielen  deutschen  Landsleuten,  die 
sich  bald  da,  bald  dorc  angesiedelt  hatten.  Unter  ihnen  war  auch 
nicht  Ein  Glücklicher,  nicht  Ein  Befriedigter,  sondern  alle  ge- 
dachten wehmüthig  und  sehnsüchtig  der  Heimath.  In  Südbrasilien 
sind  die  Verhältnisse  günstiger  und  auf  Lallemants  Berichte  ge- 
stützt, ist  kein  Grund  vorhanden,  Südbrasilien  Auswanderern,  die 
Vermögen  mit  hin  wegnehmen,  zu  widerrathen.  Der  Aus- 
wanderer wird  kein  härteres  Loos  dort  antreffen,  als  ihn  z.  B.  in 
Texas  erwartet.  Ist  der  Auswanderer  Katholik,  so  fällt  ohnediess 
ein  gewichtiges  Bedenken  gegen  die  Uebersiedlung  nach  Brasilien 
hinweg,  insoferne  die  Brasilianer,  trotz  aller  hochtönenden  Phrasen 
in  ihrer  Verfassung,  was  die  Glaubenssachen  betrifft,  unduldsam 
bis  zur  Verstocktheit  sind.  Bei  Mischehen  muss  der  protestantische 
Theil  gefasst  sein,  dass  seine  Kinder,  mag  der  Wunsch  der  Eltern 
sein,  welcher  er  will,  der  katholischen  Kirche  zugeführt  werden. 
Auch   bleibt   eine   Ehe    zwischen  Protestanten    in    den   Augen   der 


Wanderziele  der  Deutschen. 


405 


katholischen  Brasilianer  stets  nur  ein  Concubinat,  denn  nach  ihren 
Begriffen  fehlte  beim  Ringwechseln  der  Priester ,  fehlte  also  der 
Segen  vor  dem  Altar,  fehlte  die  sacramentale  Weihe, 

Das  zweite  Bedenken  gegen  eine  Auswanderung  nach  dem 
gemässigten  Südbrasilien  sind  die  rechthchen  Folgen  der  Werbungs- 
verträge. Wer  nicht  wenigstens  so  viel  Vermögen  hat,  um  die 
Spesen  der  Ueberfahrt  zu  bestreiten  und  für  das  erste  Jahr  sich 
den  Lebensunterhalt  zu  verschaffen,  der  bleibt  besser  daheim.  Es 
wird  ihm  überall,  wenn  er  ohne  Vermögen  ans  Land  steigt,  oder 
Avenn  er  nicht  wenigstens  ein  geschickter  Handwerker  ist,  das 
Loos  des  Proletariers  und  des  Miethlings  zu  Theil  werden.  Aber 
ganz  besonders  gefährlich  sind  bei  Anwerbungen  nach  Brasilien 
die  gefürchteten  und  berüchtigten  Parceriacontracte.  Unter  Par- 
ceria  versteht  man  einen  zweiseitigen  Vertrag,  den  ein  brasilia- 
nischer Pflanzer  durch  seine  Agenten  in  Deutschland  mit  einem 
mittellosen  Auswanderer  abschliesst.  Er  verspricht  ihm  die  Spesen 
der  Ueberfahrt,  des  Transportes  vom  Ladungsplatz  nach  dem 
Parceriagebiet,  der  Verpflegung  und  Verköstigung  bis  zu  seiner 
Selbsternährung  vorzustrecken.  Die  Berechnung  dieser  Spesen  ist 
aber  eine  einseitige  und  willkürliche ,  sowie  auch  die  Contracte, 
wie  Hr.  v.  Tschudi  gerügt  hat,  gewöhnlich  sehr  doppelsinnig  ab- 
gefasst  werden.  So  muss  sich  der  Colonist  gefasst  machen,  dass 
ihm  für  seine  Wanderung  von  der  Heimath  bis  auf  die  Fazenda 
(Pflanzung)  bis  zu  140  Thaler  angesetzt  werden.  Selbst  diese 
Summe ,  welche  sich  noch  durch  die  weitere  Verpflegung  steigert, 
wäre  nicht  so  unerschwinglich ,  wenn ,  freilich  gegen  alle  unsere 
Begriffe  des  gemeinen  Rechtes,  nicht  bloss  die  FamiHenglieder  soli- 
darisch für  ihre  Familienschuld,  sondern  sämmtliche  Familien  soli- 
darisch wieder  für  sämmtUche  gleichzeitig  mit  ihnen  angeworbenen 
Colonisten  haften  müssten.  Im  Jahre  1858  gingen  nach  der  An- 
siedlung  Pedro  IL  eine  grosse  Anzahl  Deutscher  ab,  deren  Spesen- 
conto  sich  auf  14,600  Thaler  belief.  Obgleich  von  ihnen  im 
ersten  Jahre  1 7  8  starben ,  so  wurden  doch  die  überlebenden  6 1 5 
Katholiken  und  497  Protestanten  mit  der  Gesammtschuld  belastet. 
Kommt  der  Colonist  auf  der  Fazenda  an ,  so  überweist  ihm  der 
Fazendeiro  (Grundherr)  eine  Kafteepflanzung  von  jungen  und  alten 
Sträuchern,  die  er  in  Stand  halten  muss.  Allerdings  ist  die  Kaffee- 
cultur ,  wie  wir  billigerweise  hinzusetzen  müssen ,  diejenige  land- 
wirthschaftliche  Arbeit,    welche  in  heissen  Ländern  der  Gesundheit 


4o6  ^ur  Länder-   und  Völkerkunde. 

des  Europäers  am  wenigsten  schadet.  Die  Ernten  werden  zwischen 
dem  Colonisten  und  dem  Fazendeiro  getheilt,  woher  der  Contract 
seinen  Namen  führt  (Parceria  =  Theilvertrag).  Den  Verkauf 
besorgt  jedoch  der  Eigenthümer,  oder,  was  noch  schlim- 
mer ist,  seine  Verwaher.  Er  berechnet  wiederum  Spesen  und  der 
reine  Ertrag  wird  dem  Colonisten  dann  gut  geschrieben.  Dieser 
aber  ist  inzwischen  viel  tiefer  in  die  Schulden  gerathen.  Er  hat 
Kleider,  er  hat  Hausgeräthe  gebraucht  und  hat  alles  vom  Fazen- 
deiro sich  vorstrecken  lassen  müssen ,  der  ihm  möglichst  theuer 
alles  berechnet.  Dazu  ist  der  Zinsfuss  in  Brasilien  so  hoch,  dass, 
wie  Hr.  v.  Tschudi  erklärt,  bei  ungünstigen  Ernten  oder  flauen 
Marktpreisen  der  Colonist  nicht  einmal  die  Zinsen  für  seine  Be- 
lastungssumme zu  erschwingen  vermag.  Welches  Schicksal  harrt 
also  seiner  Familie?  Hat  sie,  vom  Glück  wunderbar  begünstigt, 
den  Acclimatisirungsprocess  überstanden ,  alle  Entbehrungen  des 
Ansiedlerlebens  ertragen,  war  sie  von  allen  Conjuncturen  begünstigt, 
so  ist  sie  vielleicht  nach  fünf  oder  sechs  Jahren  nicht  etwa  ver- 
mögend oder  wohlhabend,  sondern  sie  kann  vorläufig  nur  über 
ihre  Freiheit  verfügen,  sie  ist  erst  wieder  da  angekommen,  wo  sie 
stand,  als  sie  den  Parceriavertrag  unterzeichnete.  Ist  sie  aber 
nicht  vom  Glück  begünstigt  gewesen ,  haben  sie  Krankheit  ge- 
schwächt, Missernten  betroffen,  ist  sie  tiefer  in  die  Schulden  hinein- 
gerathen,  so  muss  ein  Familienvater  mit  der  Gewissenslast  in  die 
Zukunft  sehen,  dass  er  nicht  bloss  bis  zum  Grabe  an  die  Scholle 
gebunden  bleibt,  sondern  dass  sein  Leichtsinn  und  seine  Thorheit 
sich  auch  auf  seine  Kinder  weiter  vererben  werde. 

Rechtsschutz  ist  in  Brasihen  für  den  Fremdling  nicht  vor- 
handen. Seine  Richter  sind  Brasihaner  und  die  brasilianische 
Justiz  sehr  oft  käuflich,  oder  wenigstens  von  vornherein  zu  Gunsten 
des  Beklagten,  nämlich  des  brasilianischen  Fazendeiro  gestimmt. 
Mit  welchen  Augen  die  Einwanderer  aber  in  Brasilien  betrachtet 
werden,  ist  nicht  sehr  erbauHch  zu  hören.  Brasilien  hat  seit  etwa 
zehn  Jahren  dem  Negerschmuggel  aus  Furcht  vor  der  Anti- 
Slavery-Loge  in  England  gänzlich  entsagt.  Dem  dadurch  veran- 
lassten Ausfall  von  Arbeitskräften  aber,  den  man  anderwärts  durch 
Kulies  und  Chinesen  zu  decken  sucht,  meint  man  in  Brasilien  durch 
Einfuhr  von  Deutschen  zu  begegnen.  Deutsche,  die  ächte  Colo- 
nisten werden ,  Grundbesitz  erwerben  und  Fazenden  sich  gründen 
wollen,  wünscht  man  sich  nicht  ins  Land,   sondern  man  will  nur 


Wanderziele  der  Deutschen. 


407 


diejenigen  unserer  Landsleute,  die  ihre  Freiheit  und  ihre  Arbeits- 
kraft verkaufen  wollen.  Diese  Art  von  zeitlicher  Sklaverei,  wie 
sie  in  Folge  der  Parceriaverträge  entsteht,  ist  eine  moderne  Rechts- 
erscheinung und  nachgebildet  dem  Kuliesystem ,  nur  mit  dem 
Unterschiede,  dass  der  Kulie  nach  Ablauf  von  fünf  oder  sechs 
Jahren  am  vorausbezeichneten  Tage  frei  wird,  und  dann  eine 
Summe  empfängt,  welche  nicht  nur  die  Spesen  der  Rückreise  deckt, 
sondern  ihm  auch  einen  oft  nicht  unbeträchtlichen  Lohnüberschuss 
übrig  lässt.  Der  Kulie  steht  auch  unter  dem  Schutz  einer  unpar- 
teiischen überwachenden  Behörde,  und  er  kann,  wenn  ein  anderer 
Pflanzer  ihm  bessere  Bedingungen  bietet,  und  seine  Geldverpflich- 
tungen übernimmt,  den  Herrn  wechseln.  Unseres  Wissens  besteht 
eine  Knechtschaft  auf  ungewisse  Zeit  bis  zur  Amortisation  eines 
Darlehens  nur  noch  in  Mexiko.  Dort  heisst  bekanntlich  ein  Mann, 
der  sich  zur  Abtragung  einer  Schuld  seinem  Gläubiger  verdingt, 
ein  Peon.  Das  Rechtsverhältniss  hat  aber  dort  eine  patriarcha- 
lische Weihe.  Die  Peonen  machen  eine  Ehrensache  daraus,  ihre 
einfachen  Vertragspflichten  zu  erfüllen,  und  der  Herr  wiederum 
darf  seine  Rechte  nicht  missbrauchen.  Man  merke  aber  wohl  den 
Ungeheuern  Unterschied  zwischen  den  beiden  Freiheitsverpfändun- 
gen. In  Mexiko  verpflichtet  sich  ein  Mexikaner  einem  Mexikaner 
zu  einem  von  der  Sitte  geheiligten ,  klaren  Dienstverhältniss  und 
die  öffenthche  Meinung  wacht  darüber,  dass  kein  Missbrauch  mit 
dieser  Form  von  Obligationen  getrieben  werde.  In  Brasilien  da- 
gegen verpflichtet  sich  ein  im  Lande  selbst  missgünstig  betrachteter 
Fremdling  ohne  irgend  einen  moralischen  Schutz,  ohne  den  Rück- 
halt alter  geheiligter  Sitte  zu  einem  unklaren,  in  seinen  Conse- 
quenzen  gefährlichen  Dienstverhältniss. 

Gewarnt  sind  also  unsere  Landsleute  genug  vor  den  Schritten 
nach  den  brasilianischen  Werbebureaus.  Wollen  sie  durchaus  ins 
Elend,  wollen  sie  die  grösste  Schmach  eines  freien  Mannes  über 
sich  ergehen  lassen  ,  nämlich  Hörigkeit  und  Robot ,  so  mögen  sie 
ziehen ,  aber  nicht  sich  beklagen ,  dass  es  ihnen  an  aufrichtigem 
Rathe  gefehlt  habe. 

Die  Steppen  im  Flussgebiete  des  Silberstromes  sind  in  neuerer 
Zeit  der  Auswanderung  besser  zugänglich  geworden  als  früher, 
seitdem  Buenos-Ayres  nicht  mehr  den  La  Plata  geschlossen  hält. 
Es  haben  sich  namentHch  Amerikaner  in  den  zukunftsvollen  Plätzen 
am    Strome    angesiedelt.      Dass   man    auch    den    dortigen   Himmel 


4o8  ^"r  Länder-  und  Völkerkunde, 

und  die  grüne  Erde  lieb  gewinnen  könne,  dafür  bürgt  uns  das 
Beispiel  Aime  Bonplands,  der  freilich  auch  durch  seine  Heirath 
mit  einer  halbblütigen  Indianerin  dem  alten  Europa  gänzlich  ent- 
fremdet wurde.  Wir  sehen  aber  nicht  recht  ein,  was  ein  deutscher 
Landwirth  auf  den  argentinischen  Steppen  suchen  will.  Viehzucht 
ist  dort  das  einzige  Losungswort,  und  zwar  Viehzucht  im  Style 
der  Gauchos,  beständig  im  Sattel,  mit  dem  Lasso  in  der  Hand 
und  mit  dem  Messer  im  Gürtel.  Es  giebt  jedoch  weiter  oberhalb 
in  der  Gabelung,  oder  nach  indischer  Redeweise  im  Duab  zwischen 
dem  Parana  und  Paraguay  einen  stillen  lachenden  Erdenwinkel, 
so  mild  und  gesund ,  dass  vor  Mangel  an  Patienten  die  Aerzte 
ihren  Beruf  aufgegeben  haben.  Paraguay ,  die  Heimath  des  Mate' 
oder  argentinischen  Theestrauches ,  ein  Canaan ,  wo  die  edlen 
Früchte  der  heissen  Zone  reifen,  gehört  zu  den  lockendsten  Zielen 
des  wärmeren  Amerika' s. 

nie  terrarum  mihi  praeter  omnes 

Angulus  ridet. 

Doch  ist  es  nicht  rathsam  für  Protestanten  dorthin  zu  wandern, 
sondern  nur  für  Kathohken,  da  sich  erstere  bigotten  Verfolgungen 
aussetzen  möchten.  Ferner  hängt  die  Entwicklung  Paraguay's  von 
der  Freiheit  des  Silberstromes  und  befriedigten  Zuständen  in  den 
argentinischen  Staaten  ab.  So  lange  aber  der  Silberbund  (Argen- 
tinische Republik)  von  Bürgerkriegen  verheert  wird,  kann  von  einem 
Gedeihen  des  Handels  und  der  Flussschifffahrt  die  Rede  nicht  sein. 
Paraguay  hat  sich  bisher  immer  abgesperrt  gehalten  und  gut  für 
sich  dabei  gesorgt,  und  auch  jetzt,  wo  der  alte  unversöhnliche 
Streit  zwischen  Unitariern  und  Federahsten  in  der  Argentina  von 
neuem  ausgebrochen  ist,  wird  Paraguay,  obgleich  seit  dem  Besuche 
der  Water  Witch  den  Amerikanern  geöffnet,  sich  wieder  absperren, 
und  der  Colonist ,  der  dorthin  geht ,  mag  zuvor  die  Worte  der 
Fabel  bedenken :  nulla  vestigia  retrorsum.  Wer  aber  mit  der  alten 
Welt  völlig  gebrochen  hat,  und  mit  einem  Tellsprung  den  Nachen 
hinter  sich  abstossen  will,  der  gehe  nach  dem  lieblichen  und  stillen 
Paraguay,  er  wird  dort  den  Himmel  finden,  den  Bonpland  liebte, 
unter  dem  Himmel  aber  einen  Klosterfrieden  und  ein  völliges  Ver- 
gessen, wir  möchten  sagen,  ein  Unhörbarwerden  Europa's'). 

l)  Das  Neueste  und  Beste  über  Paraguay  schrieb  der  Befehlshaber  der 
amerikanischen  Expedition  Thomas  Page,  La  Plata,  the  Argentine  Confederation 
and  Paraguay.     London   1859. 


Wanderziele  der  Deutscher 


409 


Auf  der  andern  Seite  des  neuen  Welttheils  am  stillen  Meere 
finden  wir  \'aldivia  und  Chili  als  geeignete  Ziele  für  deutsche 
Auswanderer,  das  erste  für  Landwirthe,  das  andere  für  Handwerker. 
Chili  ist  nach  Costarica  und  Paraguay  der  dritte  und  der  letzte 
Creolenstaat ,  der  seit  der  heiss  erstrittenen  Unabhängigkeit  von 
Spanien  noch  nicht  durch  bürgerliche  Anarchie  in  \'erwesung  über- 
gegangen ist,  und  dessen  Finanzen  in  flottem  Zustande  sich  be- 
finden. Auch  ist  das  dortige  Klima  an  der  Küste  sowohl  wie 
binnenwärts  dem  Zuwandernden  nicht  nachtheilig.  In  Valdivia 
wie  in  Chili  treten  die  Deutschen  zahlreich  auf,  und  zwar  laufen 
die  Fäden  der  Verbindung  mit  der  alten  Hermath  über  Bremen. 
Für  den  deutschen  Handwerker,  besonders  wenn  er  Katholik  ist, 
findet  sich  an  der  Südsee  kein  besseres  Unterkommen.  Es  giebt 
in  Valparaiso  einen  deutschen  Club,  der  vielleicht  der  einzige 
seiner  Art  auf  der  ganzen  Erde  ist  wegen  seiner  nationalen  Exclu- 
sivität.  In  Chili  ist  der  Deutsche  stolz  auf  seine  Abkunft,  er  wird 
so  vornehm ,  dass  er  nur  Deutsche  zu  Clubgenossen  aufnimmt, 
und  unter  den  Deutschen  selbst  wieder  eine  Auswahl  trifft.  Der 
Club  hat  sein  eigenes  Haus,  einen  Turnboden  und  eine  Kegelbahn. 
Aus  ihm  ist  ein  Unterstützungsverein  für  dürftige  Landsleute  und 
ein  jVIusikverein  hervorgegangen.  Es  sind  aber  nicht  bloss  deutsche 
Kauf  leute,  Aerzte  und  Bergleute,  die  in  ChiH  Wurzel  gefasst  haben, 
sondern  auch  Handwerker.  ,,Aleman",' bemerkt  Schmarda  (Bd.  2. 
S.  367),  ist  hier  eine  Empfehlung  und  unsere  Handwerker  unter- 
lassen es  nie,  es  beizufügen;  man  liest  an  den  Aushängaschildern 
Carpinteria  alemana  (deutsche  Tischlerwerkstatt)  und  Sastreria 
alemana  (deutsche  Schneiderwerkstatt).  Auf  einer  solchen  Basis 
und  mit  einer  ackerbautreibenden  deutschen  Bevölkerung  im  süd- 
lichen Chili  hat  unser  Handel-  und  Gewerbfleiss  die  glänzendsten 
Aussichten  vor  sich.  Die  nationale  Schwärmerei  für  die  Kneipe 
hat  der  Deutsche  beibehalten  und  die  deutsche  Eiche  und  ähnliche 
Wirthshäuser  sind  Sammelplätze  für  den  Abend." 

Hat  ein  Auswanderer  also  seinen  Blick  auf  Südamerika  ge- 
worfen ,  so  rathen  wir  ihm ,  besonders  wenn  er  Handwerker  ist, 
Chili  als  Wanderziel  zu  wählen.  Die  andern  Staaten  der  pacifi- 
schen  Küste,  Bolivia,  Peru  und  Ecuador,  gewähren  allerdings  auch 
auf  ihren  Hochebenen  die  klimatische  Möglichkeit  von  Ackerbau 
treibenden  Niederlassungen,  allein  wer  die  politischen,  socialen  und 
ökonomischen  Verhältnisse   dieser   unglücklichen  Creolenrepubliken 


\4^IQ  Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 

kennt,  der  wird,  so  lange  ihm  noch  eine  andere  Wahl  bleibt, 
gewiss  nicht  sein  künftiges  Loos  an  das  Schicksal  dieser  zerrütteten 
Gesellschaften  knüpfen  wollen.  Der  Ansiedler  wird  für  die  Be- 
schwerden und  Drangsale  des  ersten  Anfangs  da  am  besten  be- 
lohnt, wo  um  ihn  herum  die  Civilisation  mächtig  fortschreitet. 
Was  aber  nützen  ihm  seine  Opfer  und  seine  Wagnisse  in  Ländern, 
die  mehr  und  mehr  verfallen?  wo  der  Bürgerkrieg,  kaum  erstickt, 
wieder  in  hellen  Flammen  aufschlägt?  wo  sich  sogar  das  einge- 
borne  farbige  Element  mächtig  zu  erheben  beginnt  und  dermaleinst 
zu  Gericht  zu  sitzen  droht  über  die  weissen  Eindringlinge  und  ihre 
entartete  Nachkommenschaft? 

Was  der  Segen  eines  gesunden  Gemeinwesens  zu  bedeuten 
hat,  das  merkt  man  vorzüglich  an  Californien.  Kaum  zehn  Jahre 
brauchten  zu  verfliessen,  dass  aus  den  Zeltlagern  steinerne  Städte, 
aus  beutelustigen  Goldjägern  sesshafte  Landwirthe,  aus  Zuständen 
des  Faustrechtes  und.  der  Selbsthülfe  mit  dem  Revolver  eine  sitt- 
liche Ordnung  entstand.  Schon  jetzt  gehören  die  Vehmgerichte, 
wie  sie  zweimal  in  San  Francisco  eingesetzt  werden  mussten ,  zu 
den  Erinnerungen  einer  traumartigen  Vergangenheit.  Die  Spiel- 
höllen sind  in  die  tiefste  Heimlichkeit  verbannt  und  das  Laster 
ist  gezwungen,  die  Dunkelheit  zu  suchen.  Auf  die  Goldwäscher, 
welche  den  Schutt  der  goldführenden  Gewässer  ausraubten ,  sind 
die  Quarzmühlen  und  die  Maschinen,  auf  den  vereinzelten  Arbeiter 
die  Gewerkschaften  und  Vereine  gefolgt.  Auf  den  Spuren  des 
ersten  wagelustigen  Gesindels  ist  eine  andere  und  bessere  Classe 
von  Auswanderern  gefolgt,  deren  Sinn  nicht  auf  die  Erbeutung 
des  edlen  Metalls  gestellt  ist,  sondern  die  sich  der  unvergänglichen 
Schätze  des  Bodens  bemächtigen  wollen. 

Das  Klima  ist  für  die  Europäer  und  ihre  Nachkommen  so 
zuträglich ,  dass  man  bis  jetzt  von  Epidemien  noch  nichts  gehört 
hat,  obgleich  diese  sich  gern  dort  einnisten,  wo  sich  die  verdor- 
benen Elemente  anderer  bürgerlicher  Gesellschaften  zusammen- 
schaaren ,  und  wo  so  ausschweifend  gelebt  wird,  wie  anfangs  in 
Californien.  Auch  hätte  man  erwarten  dürfen,  dass  die  Gold- 
wäscherei an  sich  schon,  verbunden  mit  ungenügender  oder  geradezu 
ungesunder  Nahrung,  die  Einwanderer  schaarenweis  hätte  hinweg- 
raffen sollen.  Californien  ist  aber  im  allgemeinen  ein  trockenes 
und  von  regelmässigen  Winden  gut  gereinigtes  Land. 

Dort  finden  sich    aber  auch  die  besten  Schätze  des  Pflanzen- 


Wanderziele  der  Deutschen. 


411 


Wuchses  in  höchster  Vollkommenheit.  Es  besitzt  nicht  bloss  die 
Wellington'schen  Riesentannen,  sondern  man  trifft  dort,  wunderbar 
genug,  die  Brodfrüchte  wild  oder  verwildert  wachsend.  J.  Fröbel 
sah  ganze  Flächen  mit  Hafer  bestanden,  und  da  man  in  der  Sierra 
Nevada  auch  Weizen  und  Gerste  an  Orten  traf,  wo  allem  Ver- 
muthen  nach  nie  ein  Europäer  zuvor  eingedrungen  war,  so  schmei- 
chelte man  sich,  in  Californien  die  längst  gesuchte  Wiege  und  die 
Urheimath  unserer  Brodfrüchte  angetroffen  zu  haben.  Es  gehört 
nicht  in  den  Kreis  dieser  Betrachtungen,  zu  entscheiden,  ob  unsere 
brodstofftragenden  Grasarten  in  ihrer  jetzigen  Gestalt  freiwillige 
Gaben  der  Natur  oder  Zöglinge  künstlicher  Pflege  sind,  es  genügt 
schon  das  wiederholte  Zeugniss  wissenschaftHcher  Reisenden,  dass 
die  Cerealien  dort  ohne  menschliche  Pflege  gesellig  auftreten,  um 
Californien  uns  als  die  Stätte  höchster  Fruchtbarkeit  erscheinen  zu 
lassen.  Auch  hat  der  Getreidebau  in  Californien  in  neuester  Zeit 
eine  grossartige  Richtung  bekommen.  Schon  in  den  ersten  Jahren 
der  Besiedlung,  als  man  den  Goldgräbern  noch  Mehl  und  Zwieback 
zuführen  musste,  erkannten  klare  Beobachter,  dass  Californien  in 
nicht  langer  Zeit  nicht  bloss  sein  eigenes  Brod  erzeugen,  sondern 
auch  die  bedürftigen  Küstenplätze  der  Südsee  damit  versorgen 
werde.  Aber  niemand  hätte  es  für  denkbar  gehalten,  dass  Cali- 
fornien im  Jahre  1860  schon  eine  Weizenflotte  nach  England 
schicken  sollte').  Wer  ein  wenig  um  Volkswirthschaft  sich  ge- 
kümmert hat,  wird  von  dieser  Erscheinung  tief  betroften  werden. 
Wie  fruchtbar  muss  nicht  ein  Land  sein,  von  wo  trotz  des  hohen 
Arbeitslohnes  und  der  starken  Spesen  einer  Verschiffung  um  das 
Cap  Hörn,  dennoch  mit  Nutzen  Getreide  nach  Europa  abgesetzt 
werden  kann !  Unter  den  Thierproducten,  die  Californien  ausführt, 
nimmt  auch  die  Wolle  jährlich  einen  höheren  Rang  ein,  wenn 
auch  die  dortige  Schafzucht  nie  eine  solche  Entwicklung  zu  er- 
reichen vermag,  wie  in  Australien  oder  in  den  Caplanden.  Seit 
etwa  vier  Jahren  hat  man  auch  Reben  zu  pflanzen  begonnen,  und 
nach  den  patriotischen  Versicherungen  der  Californier,  ein  aus- 
gezeichnetes, oder  wie  wir  selbst  bescheidener  sagen  wollen,  ein 
trinkbares  Gewächs  erzielt.  Da  gerade  in  unsem  Weinländem  vor 
dem  Jahre  1857  allgemeines  Elend  geherrscht  hat  und  dort,  wo 
die  Traubenfäule  nicht  erloschen  ist,  noch  immer  herrscht,  jetzt 
aber,  nach  dem  Rhythmus  zwischen  guten  und  schlechten  Herbsten, 
1)  Die  Gesammtausfuhr  erreichte  einen  Werth   von  drei  Millionen  Dollar. 


412 


Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 


die  letzten  für  die  nächste  Zeit  eher  zu  erwarten  sind,  als  die 
andern,  so  ist  es  gewiss  ein  günstiger  Umstand,  dass  in  den 
meisten  neuen  Ansiedlungsgebieten,  die  sich  empfehlen  lassen,  wie 
Missouri,  die  Caplande,  Californien  und  Australien ,  überall  Wein 
gebaut  und  der  Weinbau  in  starker  Zunahme  begriffen  ist.  Der 
Weinbau  in  Californien  bietet,  beiläufig  bemerkt,  den  grossen 
Vortheil,  dass  wahre  Missernten  wegen  der  gleichmässigen  Tempe- 
ratur nicht  eintreten.  Die  Traubenfäule  hat  sich  aber  bis  jetzt 
nur  an  eingewanderten,  nicht  an  den  einheimisch  amerikanischen 
Reben  und  nur  auf  allzu  geilen  Bodenarten  gezeigt. 

Californien  ist  übrigens  nicht  das  einzige  Küstengebiet  im 
nördlichen  Theile  des  stillen  Oceans,  wohin  eine  landwirthschaft- 
liche  Bevölkerung  auswandern  kann.  Durch  die  Goldfunde  im 
Fraserthale  und  durch  die  Entdeckung  von  Kohlenflötzen  auf  Van- 
couver  hat  diese  Insel  sowohl,  wie  Britisch  Columbien,  sich  rasch 
mit  Ansiedlern  zum  Theil  auf  Kosten  Californiens  bedeckt.  Beide 
Gebiete  geniessen  den  Vorzug  fast  aller  pacifischen  Küsten  inner- 
halb der  gemässigten  Zonen,  nämUch  den  Vorzug  der  Salubrität. 
Trotz  der  Nähe  des  Meeres  herrschen  aber  in  den  Sommermonaten 
auf  Vancouver ,  wie  auf  dem  Festlande  grosse  Trockenheit  und 
hohe  Temperaturen;  die  Winter  dagegen  sind  mild  wie  an  den 
atlantischen  Küsten  Nordeuropa' s  und  anhaltende  Fröste  gehören 
zu  den  höchsten  Seltenheiten.  Der  landwirthschaftliche  Betrieb 
wird  sich  dort  indessen  auf  wenige  Fächer  beschränken  und  er 
ist  nicht  so  mannigfaltig  wie  in  Californien.  Von  Obst-  und  Wein- 
bau ist  am  stillen  Meer  unter  gleicher  Breite  wie  Mitteldeutschland 
keine  Rede.  Auch  für  Schafzucht  scheint  das  Land  minder  ge- 
eignet, dagegen  ist  der  Körnerbau  und  die  Rinderzucht  jetzt  schon 
auf  Vancouver  in  hoher  Blüthe.  Britisch  Columbien  besitzt  über- 
haupt vor  Californien  nur  den  einen  Vorzug,  dass  es  eine  englische 
Colonie  ist.  Der  Grund  und  Boden  dagegen  gehört  der  Hud- 
sonsbaygesellschaft  und  wird  nicht  so  wohlfeil  gegeben  als  in  den 
Vereinigten  Staaten.  Jeder  Ansiedler  hat  das  Recht,  150  Acres 
Land  sich  auszuwählen  und  vor  dem  Ortsrichter  seine  Besitz- 
ergreifung zu  erklären,  wofür  er  nur  eine  Taxe  von  8  Schilling  (4  fl. 
48  kr.)  zu  zahlen  hat.  Will  er  aber  nicht  bloss  occupiren,  sondern 
das  Eigenthum  erwerben,  so  muss  er  für  jeden  Acre  10  Schilling 
(6  fi.).  also  mehr  als  das  Doppelte  wie  in  den  Vereinigten  Staaten 
zahlen. 


Wanderziele  der  Deutschen. 


413 


Nach  den  bisherigen  Bestimmungen  sind  diese  Vorrechte 
auch  nur  den  britischen  Unterthanen  zugesichert  worden,  indessen 
lässt  sich,  da  schon  der  Occupant  seine  Rechtstitel  verkaufen  darf, 
diese  Einschränkung  durch  ein  Zwischengeschäft  und  durch 
Zwischenhändler  umgehen.  Bisher  sind  übrigens  nur  britische 
Unterthanen  und  zwar  meistens  Schotten  nach  Columbien  einge- 
wandert, abgesehen  von  den  Californiern,  die  nur  zur  Ausbeutung 
des  Goldschuttes,  nicht  zur  Sesshaftmachung  einzogen. 

Wer  wird  aber  so  hohe  Breiten  wählen,  wenn  ihm  in  der 
Südsee  zwei  andere  günstiger  gelegene  Gebiete  zum  Auswandern 
offen  stehen,  nämlich  der  australische  Continent  und  die  Neusee- 
landgruppe !  Im  jetzigen  Augenblicke  sind  gerade  zwei  ausseror- 
dentlich günstige  Umstände  für  Auswanderung  nach  Australien 
eingetreten,  nämlich  Mac  Donall  Stuarts  grossartige  Entdeckungen 
eines  weidereichen  Kernes  des  Festlandes  und  der  Sturz  der  so- 
genannten Squattokratie  in  Neu-Süd-Wales.  Das  erstere  Ereigniss 
eröffnet  allen  Ansiedlern  der  australischen  Küstenreiche  Aussichten 
auf  eine  grossartige  Zukunft  und  auf  ein  fortgesetztes  Gedeihen  im 
Style  der  Vereinigten  Staaten,  das  andere  gewährt  dem  Auswan- 
derer mit  geringem  Vermögen  eine  ausserordentliche  Erleichterung, 
sich  ansässig  zu  machen.  Neu-Süd-Wales  und  das  jetzt  von  ihm 
getrennte  und  unabhängige  Queensland  ist  nämlich  weit  eher  als 
Victoria  oder  Südaustralien  für  Einwanderung  ackerbautreibender 
Elemente  geeignet.  In  Victoria  herrschen  überhaupt  noch  die 
eigenthümlichen  ökonomischen  Schwankungen  in  Folge  der  Gold- 
erzeugung, welche  das  Sesshaftmachen  beträchtlich  erschweren. 
An  Grund  und  Boden  ist  zwar  bis  jetzt  noch  viel  vorhanden  (52 
Millionen  Acres),  aber  er  steht  ziemlich  hoch  im  Preise.  Zu 
Gunsten  des  Colonialfiscus  werden  die  wilden  Ländereien  verstei- 
gert und  bisher  wurden  durchschnittlich  35V2  Schilling  oder  21 
Gulden  per  Acre  erlöst,  was  also  beim  Erwerb  von  100  oder  150 
Acres  schon  eine  hübsche  Summe  erfordert,  die  nicht  jeder  Aus- 
wanderer mitbringt.  Auch  der  Unterhalt  in  der  ersten  Zeit  und, 
wenn  man  so  sagen  darf,  die  Equipirung  des  Squatters  sind  ziem- 
lich kostspielig,  weil  eben  Alles  noch  theuer  in  der  Colonie  ist. 
Uebrigens  sind  die  Deutschen  srhon  ziemlich  zahlreich  in  den 
Städten  wie  auf  dem  flachen  Lande,  Sie  besitzen  mehrere  Zei- 
tungen und  fangen  an  so  viel  zu  gelten,  dass  bereits  Eifersucht 
auf  Seiten  der  britischen  Einwanderer  vorhanden  ist.    Die  Auswan- 


^lA  Zur  Länder-  und  Völkerkunde. 

derung  dorthin  hat  übrigens  seit  1860  etwas  abgenommen.  Wolle 
und  Talg,  also  die  Producte  der  Viehzucht  sind,  abgesehen  vom 
Golde,  die  wichtigsten  Rimessen,  welche  diese  Colonie  nach  Europa 
absetzt. 

In  Neu-Süd-Wales  war  bisher  der  Einwanderung  unbemittelter 
Landwirthe  die  Squattokratie  oder  die  reichen  Hutpächter  im 
höchsten  Grade  hinderlich.  Diese  Leute,  welche  als  ,,alte  Fami- 
lien" in  der  Colonie  gelten  und  eine  Art  von  Adel  vorstellen 
wollen,  sind  beiläufig  bemerkt  höchst  zweideutigen  Ursprungs, 
nämlich  die  Nachkommen  der  Landesbewohner  aus  der  Sträflings- 
zeit. Der  Gouverneur  Obrist  Maquarie  war  es  bekanntlich,  wel- 
cher im  ersten  Jahrzehnt  dieses  Jahrhunderts  die  Colonie  durch 
die  Ticket-of-leave-men,  d.  h.  eine  Art  mit  Pass  beurlaubter  Sträf- 
linge gehoben  hat.  Er  ging  in  seinem  Colonisationsfanatismus  so 
weit,  dass  er  sogar  solche  Leute,  nachdem  sie  ihr  Glück  gemacht 
hatten,  in  Gesellschaft  empfing.  Die  altern  Ansiedler  trachteten 
nun  darnach,  das  Grundeigenthum  ihrer  Kaste  ausschliesslich  zu 
erhalten.  Der  Einwanderer,  der  Ackerbau  treiben  wollte  und  ein 
kleines  Besitzthum  suchte,  wurde  dadurch  verscheucht,  dass  man 
den  Minimalpreis  bei  Landversteigerungen  auf  i  Pfd.  St.  (12  fl.) 
per  Acre  ansetzte  und  nur  grosse  Parcellen  von  mindestens  160 
Acres  abgab.  Dagegen  behielten  sich  die  „Squatter" ')  vor,  von 
dem  Fiscus  sogenannte  ,,Runs"  zu  pachten.  Eine  solche  Hutung 
(Run)  besteht  aus  25  englischen  Quadratmeilen  (also  beinahe  1^/3 
deutsche  Quadratmeilen)  und  es  gehen  darauf  10,000  Schafe  oder 
1600  Rinder  zur  Weide.  Der  Pachtschilling  für  den  Run  beträgt 
10  Pf.  St.  (120  fl.)  und  ausserdem  für  jedes  Rind  wieder  1^2, 
für  jedes  Schaf  V2  Penny  Kopfgeld,  also  für  eine  Schafheerde  von 
10,000  Häuptern  an  Kopfgeldern  248  fl.  Die  Pachten  lauten  auf 
8  oder  14  Jahre,  und  nach  Ablauf  der  Frist  behält  der  Pächter 
unter  allen  Umständen  das  Vorkaufsrecht.  Man  sieht  auf  den 
ersten  Blick,  dass  dieses  System  der  bevorzugten  und  der  reichen 
Classe  den  ewigen  Genuss  des  Grasbodens  der  Colonie  sichern 
sollte,    denn    wer   anders    als   sie   besass    die    Mittel,    mit   solclien 


i)  Der  Begriff  Squatter  ist  nicht  genau  der  nämliche  in  Australien,  wie 
in  den  Vereinigten  Staaten.  Dort  bezeichnet  man  damit  die  Grosspächter, 
während  in  diesen  unter  Squatter  nur  ein  Ansiedler  und  zwar  ein  Ansiedler 
auf  Jungfernland  verstanden  wird, 

f 


Wanderziele  der    Deutschen. 


415 


grossartigen  Geschäften  sogleich  zu  beginnen?  Auf  der  andern 
Seite  bheb  den  ankommenden  Einwanderern  nichts  übrig,  als  sich 
bei  den  Squattern  gegen  Lohn  und  Tantiemen  als  Hirten  zu  ver- 
dingen. Auch  gab  es  eine  Unzahl  freiwillig  dienender  Landwirthe, 
Volontärs  oder  „Swells"  genannt,  die  meistens  aus  guten  Familien 
von  ihren  Eltern  mit  einem  Stück  Geld  in  der  Tasche  nach 
Australien  geschickt  wurden ,  um  dort  reich  zu  werden.  Zuvor 
aber  sollten  sie  sich  bei  älteren  Ansiedlern  über  die  Wirthschafts- 
geheimnisse  unterrichten  und  für  die  Kost  sich  verdingen. 

Die  Heerden  befinden  sich  alle  im  Innern  des  Landes  und 
müssen  zu  ihrer  Verwerthung  nach  der  Küste  getrieben  werden. 
Diess  besorgen  die  Treiber,  eine  eigenthümhche  Classe  von  Men- 
schen, unter  denen  sich  mancher  missrathene  Gentleman  befinden 
soll.  Das  Geschäft  hat  etwas  Ritterliches,  weil  manche  Abenteuer 
und  Vermögenswagnisse  damit  verknüpft  sind.  Die  Treiber  sind 
auch  diejenigen,  welche  am  raschesten  zu  grossem  Vermögen 
gelangen.  Die  Heerden  selbst  vermehren  sich  alljährlich  um  die 
Hälfte  und  es  gäbe  in  der  Welt  wohl  keinen  Erwerb,  der  so  rasch 
zur  Vervielfältigung  grosser  Vermögen  führte,  wie  die  australische 
Schafzucht,  wenn  nicht  wiederum  durch  die  Seuchen  oft  der  grösste 
Reichthum  in  kurzer  Zeit  vernichtet  und  der  Schafzüchter  immer 
wieder  auf  bescheidene  Anfänge  zurückgeworfen  würde. 

Seuchen  sind  es  denn  auch  gewesen ,  die  in  den  letzt  ver- 
flossenen Jahren  die  Squatter  in  Queensland  und  Neu-Süd-Wales 
so  schwer  betroffen  haben,  dass  einer  nach  dem  andern  sein  Ver- 
mögen zerrüttet  sah.  Nur  wer  vorsichtig  auch  Rinderzucht  be- 
trieb, hat  etwas  von  seinem  Heerdenbestand  gerettet.  In  Folge 
der  zahlreichen  Bankerotte  ist  aber  der  Einfluss  der  Squatter  so 
lief  erschüttert  worden,  dass  es  der  demokratischen  Partei  in  den 
Colonien  gelungen  ist,  das  alte  Gesetz  über  Versteigerung  und 
Verpachtung  der  Itronländereien  umzustossen  und  dafür  den 
Grundsatz  der  freien  Wahl  des  Ansiedlungsplatzes  (free  selection) 
oder  der  Occupationsform.  der  Vereinigten  Staaten  rechthche  Gel- 
tung zu  verschaffen. 

Jetzt,  wo  die  gesetzlichen  Hindernisse  für  den  kleinen  An- 
siedler beseitigt  sind,  bietet  Neu-Süd-Wales  und  Queensland  dem 
deutschen  Auswanderer  die  nämlichen  Vortheile,  wie  die  Vereinig- 
ten Staaten.  Er  findet  im  Gegentheil  ein  gesünderes  Klima,  wo 
merkwürdiger  Weise  trotz  der  ganz  allgemeinen  Trunksucht  keine 


^  j  5  Zur  Länder-  und    Völkerkunde. 

gesteigerte  Sterblichkeit  herrscht.  In  der  neuen  Colonie  Queens- 
land kann  er  Ananas  und  Feigen  unbedeckt  im  Freien  lassen, 
seine  Hütte  unter  dem  Schatten  von  Palmen  bauen  und  doch  die 
besten  Gemüsearten  und  Feldfrüchte  der  Heimath  daneben  ziehen. 
Aber  es  fehlt  Queensland  der  herrliche  Hintergrund  der  „blauen 
Berge",  die  in  Neu-Süd-Wales  das  deutsche  Herz  durch  Lieblich- 
keit der  landschaftlichen  Bilder  befriedigen,  auch  ist  in  den  be- 
wohnten Küstentheilen  ein  trüber  und  trübe  stimmender  Himmel 
die  Regel. 

An  Freiheit,  wenn  ihm  danach  gelüstet,  fehlt  es  dem  Aus- 
wanderer in  den  englischen  Colonien  nicht,  denn  der  Grundsatz 
der  Selbstregierung  gilt  dort  unverkümmert ,  die  britische  Krone 
begnügt  sich  vielmehr  damit,  die  föderalistischen  Neigungen  der 
Ansiedler  anzufachen.  Damit  sie  nämlich  in  Australien  nicht  er- 
lebe, was  ihr  bereits  in  den  Vereinigten  Staaten  widerfahren  ist, 
sucht  sie  dort  zu  theilen  und  zu  herrschen.  Sie  hat  die  Ablösung 
von  Queensland  in  dieser  Absicht  begünstigt,  um  durch  den  er- 
wachenden Geist  der  Autonomie  und  der  Liebe  zur  Selbststän- 
digkeit ein  Bündniss  der  einzelnen  Colonien  unter  einander  zu 
verhindern,  indem  sie  trennende  Elemente  und  trennende  örtliche 
Interessen  gross  zu  ziehen  sucht.  Für  eine  längere  Zeit  mag  ihr 
diess  auch  gelingen,  und  es  wird  daher  wohl  das  jetzige  Geschlecht 
zu  Grabe  gehen,  ehe  die  Welt  erfährt,  dass  sich  eine  Union  der 
freien  Staaten  Australiens  gebildet  habe. 

Von  der  Neuseelandsgruppe  ist  es  bisher  die  nördliche  und 
die  mittlere  Insel  gewesen,  wo  sich  Auswanderer,  meist  britische 
Unterthanen,  niedergelassen  haben.  Das  Klima  dieser  Inseln  ist 
unbillig  gerühmt  worden,  es  ist  im  Gegentheil  kalt  und  feucht  und 
gleicht  vielmehr  dem  Klima  des  nördlichen  wie  des  südlichen 
Europa,  dessen  edle  Früchte  auch  nicht,  selbst  nicht  auf  der 
Nordinsel,  gedeihen.  Für  Lungenleidende  sind  diese  stürmischen 
Küsten  höchst  unpassende  Zufluchtsorte  und  Erholung  suchen  dort 
nur  die  indischen  Officiere  und  Civilbeamten ,  denen  die  heisse 
Sonne  der  Halbinsel  und  klimatische  Fieber  die  Nervenkräfte  ge- 
schwächt haben.  Grund  und  Boden  wird  überall  theuer ,  in  der 
Nähe  der  grossen  Ansiedlungen  sogar  mit  fabelhaften  Preisen  be- 
zahlt. Bekanntlich  haben  die  Engländer  bisher  nur  sehr  enge 
Flächen  auf  den  Inseln  an  sich  bringen  können,  denn  die  Ein- 
geborenen oder  Maori,  ein  äusserst  streitbarer  und  im  Buschkriege 


Wanderziele  der  Deutschen.  ^jj 

den  Engländern  überlegener,  bisher  auch  (wie  bis  zum  Jahre  1857 
die  Kaffern^  immer  siegreicher  Menschenschlag,  veräussern  nichts 
von  ihren  Ländereien ,  sie  haben  sogar  einen  Bund  geschlossen, 
dass  jeder  Landverkauf,  mag  er  von  einem  Einzelnen  oder  einem 
Clan  geschlossen  werden,  als  nichtig  zu  betrachten  ist.  Wer  also 
Landwirthschaft  im  Grossen  treiben  will,  muss  ein  Vermögen  von 
mindestens  12  — 15,000  fl.  mitbringen.  Dennoch  bezeichnet 
Schmarda  Neu-Seeland  als  das  Wanderziel  für  arme  Leute.  Es 
ist  diess  aber  so  zu  verstehen,  dass  der  kleine  Auswanderer,  der 
als  Zwergwirth  beginnen,  Kartoffeln  und  Gemüse  bauen  will ,  in 
Neu-Seeland  sehr  hohe  Preise  für  seine  Erzeugnisse  erzielen  kann, 
weil  er  Absatz  nach  den  grossen  und  nahen  Seeplätzen  des  austra- 
lischen Festlandes  findet.  Wen  aber  nicht  eine  besondere  Lieb- 
haberei nach  den  reizenden  Landschaften  der  Inseln  oder  ein  Ge- 
lüsten nach  den  Aufregungen  von  Maorikämpfen  dorthin  zieht, 
der  thut  wahrlich  besser,  sich  den  Deutschen  in  Australien  an- 
zuschliessen. 

Fassen  wir  den  Inhalt  dieser  Musterung  der  Auswanderungs- 
gebiete zusammen,  so  haben  wir  gänzlich  geschwiegen  von  allen 
tropischen  Fieberländern,  wir  haben  abgerathen  von  der  Auswan- 
derung nach  Ungarn,  Südrussland,  Algerien,  Nord-Brasilien  und 
gewarnt  vor  dem  Parceriasystem  in  Süd-Brasihen.  Wer  einen 
harten  Winter  nicht  fürchtet,  dem  bietet  Canada  besondere  Vor- 
theile.  Katholiken,  die  sich  nach  dem  tropischen  Frühling  sehnen, 
denen  winken  die  aromatischen  Kaffeeplantagen  Costarica's  oder 
das  klösterliche  Paraguay,  sind  sie  aber  tüchtige  Handwerker,  so 
mögen  sie  zu  den  Chilenen  gehen,  dem  achtbarsten  Elemente  unter 
den  Creolen.  Unbemittelten  Auswanderern  sind  die  Caplande 
nicht  dringend  genug  zu  empfehlen,  wer  aber  einiges  Vermögen 
besitzt,  der  kann  immer  noch  die  Vereinigten  Staaten  einschliess- 
hch  Californiens  oder  eine  der  lustig  gedeihenden  Colonien  Austra- 
liens wählen.  Jeder  aber  sei  fest  entschlossen,  zu  arbeiten  und 
zu  entbehren,  denn  ein  hartes  Leben  erwartet  ihn  unter  allen 
Umständen. 


Peschel,  Abhandlungen.    II.  27 


Ferienreisen. 


Eine  Rigifahrt. 

(Beilage  zu  Nr.  254  der  AUgem.  Zeitung  vom   il.  September  1855.) 

Meine  Erwartungen  auf  eine  belohnende  Aussicht  auf  dem 
Rigigipfel  waren  sehr  gering,  als  wir  am  29.  August  in  Arth  an- 
kamen. Die  Sonne  beglückte  uns  zwar  mit  ungemilderter  Gluth, 
aber  der  Himmel  zeigte  ein  kränkliches  Blau ,  und  weisse  Dünste 
verhüllten  fortwährend  den  Pilatus  bei  der  Fahrt  über  den  Zuger 
See.  Indessen  war  der  Rigi  ganz  wolkenfrei,  und  unser  wetter- 
kundiger Führer  versicherte  uns ,  dass  seit  dem  Morgen  die  Aus- 
sicht sich  beständig  gebessert  habe.  Sie  kennen  ja  den  kurzen 
Fussweg  rigiaufwärts  nach  dem  Dächli.  Wir  gewannen  auf  diesem 
steilen  Fusspfad  etwa  eine  halbe  Stunde  vor  der  berittenen  Gesell- 
schaft, die  mit  uns  von  Arth  aufgebrochen  war.  Dieser  Zeitgewinn 
hatte  seinen  Werth,  denn  kaum  hatten  wir  uns  im  Dächli  nieder- 
gelassen, so  hessen  sich  die  ersten  Donnerschläge  vernehmen, 
langsam  und  gemessen  von  dem  mannigfachen  Echo  der  Berge 
wiederholt.  Keine  fünf  Minuten  vergingen,  so  war  das  Thal  unter 
uns  mit  der  Aussicht  nach  dem  Rossberg,  dem  Lowerzer  See  und 
den  Schwitzermythen  durch  eine  Wolkenmasse  verschlossen,  die 
querüber  trüb  und  widerwärtig  wie  ein  Spinngewebe  sich  an  die 
Bergwände  hing ,  und  bald  schoss  ein  reichlicher  Regen  auf  den 
gehchteten  Abhang  hinab,  auf  dem  jetzt  einige  berittene  Regen- 
schirme ,  Wachstuchmäntel  und  graue  Hüte  sichtbar  wurden.  Im 
stillen  hatte  ich  auf  den  Genuss  einer  Abend-  und  Morgenbeleuch- 
tung verzichtet,  doppelt  betrübt  um  meine  Heben  Reisegefährten, 
die   zum   erstenmal    den  Berg  bestiegen    und   nun    ziemlich   sicher 


Eine  Rigifahrt.  4IQ 

sein  konnten,  bei  der  grossen  Touristenlotterie  auf  dem  Rigi  eine 
Niete  zu  ziehen.  Nach  einigem  Zaudern  brachen  wir  im  Regen 
wieder  auf,  der  wenig  nachliess,  bis  wir  beim  Klösterh  das  zweite 
Drittel  unserer  Bergfahrt  erreicht  hatten.  Die  Gewitterschauer 
gewährten  uns  wenigstens  den  Anblick  einer  reichen  Wassermasse, 
die  sich  über  die  braunen  Felsenwände  an  der  andern  Thalseite 
der  Rigifurche  von  dem  Rücken  der  Scheideck  herabstürzte.  In 
einem  Wirthshaus  des  Wallfahrtsortes  Hessen  wir  uns  Thee  bereiten, 
der  an  Wohlgeschmack  einen  Aufguss  über  Tabakblätter  ziemlich 
erreichte.  Als  wir  uns  auf  solche  Art  für  vergangene  und  künftige 
Beschwerden  erquickt  hatten,  setzten  wir  unsere  Bergstöcke  weiter. 
Aber  siehe  da!  der  Regen  hatte  aufgehört,  und  als  wir  die 
„Staffel"  erreichten,  lag  unter  uns  die  grosse  Fläche  nach  Nord- 
west ausgebreitet,  und  sechs  bis  sieben  Seen  waren  sichtbar. 
Allein  alles  ist  in  die  Leibfarben  des  Aergers  gekleidet,  der  Himmel 
voll  von  zerfetztem  tuschfarbenen  Gewölk ,  wenig  verklärt  durch 
ein  schmutziges  Abendroth.  Der  Pilatus,  nach  dem  ich  schon 
auf  dem  Zuger  See  so  sehnsüchtig  mich  umgesehen ,  schimmerte 
w^etterfarbig  und  nur  einem  alten  Verehrer  kenntlich  über  den 
Luzerner  See  herüber.  Eigentlich  bot  die  Veränderung  des  Wetters 
wenig  Hoffnung  auf  eine  Morgenaussicht,  aber  was  ist  stärker  als 
der  nebelverjagende  Glaube  eines  begierigen  Rigifahrers?  Auf  dem 
Gipfel  preisen  wir  uns  glücklich,  mit  dem  Telegraphen  Zimmer 
und  Betten  bestellt  zu  haben.  Die  Telegraphenleitung  geht  nämlich 
bis  zur  Kaltwasseranstalt,  und  ein  Bote  trägt  die  Depeschen  nach 
dem  Hause  auf  der  Kulm.  Lassen  Sie  mich  dieses  Serai  der 
Touristenkarawanen  ein  wenig  preisen,  denn  es  bildet  eine  höchst 
rühmenswerthe  Ausnahme  der  Schweizer  Gasthäuser.  An  der 
Wirthstafel  wird  ein  Abendessen  aufgetragen,  wie  man  es  als 
Gasthauskost  selten  besser  antrifft.  Die  Weine  sind  die  trefflichsten, 
die  mir  je  in  der  Schweiz  vorgekommen  waren,  und  wenn  man 
bedenkt,  dass  alles,  selbst  das  Wasch-  und  Trinkwasser  den  Berg 
hinaufgetragen  werden  muss,  so  wird  jeder  Billige  die  Zeche  noch 
wohlfeil  finden  müssen,  selbst  wenn  der  Rigi  nicht  in  der  theuren 
Schweiz,  sondern  im  wohlfeilen  Guldenlande  läge.  Und  diess 
treffen  wir  auf  einem  Punkte  an,  wo  der  Wirth  Monopolpreise 
erheben  könnte. 

Nachdem  wir  uns  für  unsere   überstandenen  Beschwerden  an 
dem  vorgefundenen  Chambertin   in    vollen  Zügen    erquickt  hatten, 

27* 


420 


Ferienreisen. 


legten  wir  uns  nieder  mit  dem  Schlummer  der  Gerechten.  Mir 
jedoch  war  eine  schlaflose  Nacht  bescheert,  und  für  den  Verlust 
des  Schlummers  belohnte  mich  nur,  dass  es  seit  2  Uhr  plötzlich 
hell  wurde.  Das  Gewitter  hatte  dem  Mond  Platz  gemacht,  und 
freundlich  blickten  mich  durchs  Fenster  die  fünf  Sterne  der  Cas- 
siopeia an.  Nach  4  Uhr  Hess  sich  das  bekannte  Signal  des  Alpen- 
hornbläsers vernehmen ,  welches  bekanntlich  den  Rigipilgern  das 
Loos  eines  schönen  Morgens  verkündet.  Schweigt  die  hölzerne 
Trompete ,  dann  mögen  die  Schläfer  ruhig  zwischen  den  warmen 
Decken  bleiben,  denn  die  Aussicht  lohnt  dann  nicht  das  Schuh- 
anziehen. 

Um  die  Wette  wurde  jetzt  der  Morgenanzug  vollendet.  Eine 
Tafel  im  Zimmer  enthielt  das  Verbot,  die  wollenen  Bettdecken 
mit  ins  Freie  zu  führen,  wie  diess  sonst  so  sehr  im  Schwung  war, 
und  beraubte  uns  daher  des  ehemaligen  Schauspieles,  die  elegante 
Welt  beduinisirt  zu  sehen.  Die  Aussicht  gehörte  freilich  nicht  zu 
den  vollkommensten,  denn  die  Ebene  unter  unsern  Füssen  war 
bedeckt  mit  einem  leichten  Nebelmeer,  als  schlummere  sie  unter 
einer  Schicht  gekrämpelter  Baumwolle.  Weder  der  Schwarzwald 
noch  der  Jura,  noch  die  Seen  gegen  Westen  und  Norden  waren 
sichtbar.  Dafür  waren  ,,hoch  vom  Sentis  her"  bis  zur  Blümlis-Alp 
alle  Berge  wie  frisch  gewaschen ,  keine  Spitze  fehlte ,  jede  war 
deutlich  und  lag  in  der  Reinheit  des  Morgens  in  trügerischer  Nähe 
vor  uns.  Eine  Schilderung  dieses  grossen ,  feierlichen  und  be- 
geisternden Anblicks  ist  eine  schwierige  Sache.  Wer  das  Schau- 
spiel genossen,  den  verdriesst  die  geringe  Kraft  des  geschriebenen 
Wortes,  und  wer  den  Zaubergipfel  nie  bestiegen,  dem  kann  man 
keinen  Begriff  geben  von  dem  innerlichen  Jauchzen,  wenn  unser 
Blick  hinabfällt  auf  den  dunkelblauen  Spiegel  des  Vierwaldstätter- 
sees,  der  durch  zertheilte  Nebel  sichtbar  wird  und  dann  sich  auf- 
wärts schwingt  nach  dem  nahen  Höhenzuge  der  Unterwaldner 
Gebirge,  ein  Halbrund  prächtig  gehörnter  Alpen  am  Rande  mit 
blendendem  Schnee  gefleckt.  Ganz  im  Osten  tiefdunkelblau  auf 
dem  Purpursaum  des  Morgens  hebt  sich  der  Sentis,  die  erste  indi- 
vidualisirte  Berggruppe,  das  äusserste  Ende  des  sichelförmigen 
Gebirgstheaters.  Der  Sentis  in  dieser  wolkenhohen  Schau  ist 
mir  immer  vorgekommen  wie  das  Aufheben  des  Capellmeisterstabes 
beim  Beginn  einer  grossartigen  Symphonie.  Die  Felsenburg  des 
Glärnisch  mit  ihren  quadratischen  Formen  ist  ein  „Satz"  für  sich. 


Eine  Rigifahrt.  421 

Aber  nun  schlingen  sich  verschiedene  Höhenkämme  voller  Zinken 
und  Zacken  bald  auf-,  bald  niedersteigend ,  durch  und  über ,  vor 
und  hintereinander,  und  es  fordert  einige  Aufmerksamkeit,  Glieder 
und  Thäler,  die  Glarner  von  den  Urner  Systemen  zu  sondern  und 
sich  die  Richtung  der  Achsen  und  der  Wasserscheiden  deutlich 
m  machen.  Die  nähern  Gegenstände  verlangen  dann  wieder  ihre 
Rechte,  und  der  Blick  wird  hinabgezogen  nach  dem  ovalen  Lo- 
werzer  See,  hinter  dem  die  scharfen  Ränder  des  gabelförmig  ge- 
spaltenen kleinen  Mythen  schroff  aufsteigen,  denen  als  erwachsener 
Bruder  der  grosse  Mythen,  ein  ungeheurer  Felsenzahn  mit  fleisch_ 
rother  Spitze,  über  die  Achsel  schaut.  Bald  weiss  man  nicht  mehr^ 
wo  man  hinschauen  soll,  bis  zuletzt  und  am  längsten,  und  immer 
wieder  das  Auge  an  der  krystallnen  Pracht  der  Berner  Alpengipfel 
haften  bleibt,  auf  welche  jetzt  der  erste  Lichtgruss  fällt.  Jeder 
Berg  in  dieser  Gruppe  scheint  uns  bedeutend,  ich  hätte  beinahe 
gesagt  durch  seine  Persönlichkeit,  und  sie  zusammen,  einen  Kopf 
höher  als  alle,  auch  die  schneebedeckten  Häupter  lassen  sich  in 
ihrem  Hermelin  wie  ein  Monarchencongress ,  wie  die  Churfürsten- 
bank  auf  dem  Reichstag  hoher  Alpengipfel  anschauen.  Sie  er- 
kennen und  unterscheiden  deuthch  zur  Linken  das  Finsteraarhorn, 
die  Schreckhörner,  das  feingespitzte  Wetterhorn,  die  stumpfe  Höhen- 
kante des  Mönches ,  den  Zapfen  des  Eigers  und  hinter  ihm  drei 
glänzende  Pünktchen,  die,  wie  Sie  dem  Führer  glauben  dürfen, 
dem  lichtbestrahlten  Saum  der  halbversteckten  Jungfrau  angehören. 
Wenn  diese  Aristokratie  der  Alpenwelt  vom  Licht  getroffen  wird 
und  selbst  zu  leuchten  anhebt,  dann  haben  Sie  für  nichts  mehr 
Sinn  was  tiefer  hegt.  Aber  höher  steigt  die  Sonne  und  höher 
und  mit  der  Vertheilung  von  Licht  und  Schatten  klären  sich  allent- 
halben neue  Gipfel  von  den  tiefblauen  Gründen  los.  Jetzt  vermag 
Sie  wieder  der  Pilatus  zu  fesseln,  an  dessen  Felsenpyramide  lang- 
sam wie  ein  bläuliches  Gewand  der  Schatten  des  Rigi  hinabsinkt. 
Aber  freilich  der  Pilatus  will  nicht  vom  Rigi  aus  betrachtet  werden, 
sondern  von  der  Ebene,  wo  seine  phantastisch  aufgestiegenen 
Kanten  gleichsam  gen  Himmel  aufzulodern  scheinen.  Und  jetzt 
ist  alles  erwacht,  die  Thäler  werden  grün,  die  Seen  spiegeln  freund- 
Hche  Städtchen,  weisse  Wölkchen  klettern  nach  den  Scheiteln  der 
Berge  empor  und  allmählich  wird  es  einsam  auf  der  Rigispitze, 
denn  die  Morgenluft  hat  den  Appetit  geschärft ,  und  es  wartet 
unsrer  die  Labung  eines  Theefrühstücks. 


422 


Ferienreisen. 


Behielte  man  nicht  auf  dem  Rückweg  nach  Weggis  das  beste 
Stück  der  Rigiaussicht  und  namentlich  die  schneeweisse  Krystall- 
krone  des  Bemer  Oberlandes  im  Gesicht,  und  zöge  uns  nicht  das 
saftige  Blau  und  Blaugrüne  des  Vierwaldstättersees  hinab,  ein  Los- 
reissen  von  diesem  Gemälde  im  Morgensonnenlicht  wäre  eine 
Schmähung,  wäre  eine  Versündigung  an  allen  Schöpfungszaubern 
dieses  lichten  Bildes.  Verwundert  schauen  die  säubern  Rigikühe 
Pilger  und  Saumthiere  den  schroffen  Weg  nach  dem  Luzerner  See 
hinab  eilen,  andern  grossartigen  Eindrücken  entgegen,  voll  Befrie- 
digung und  dankbar  über  den  erhabenen  Genuss ,  den  so  wenige 
sich  verstatten  dürfen,  und  der  so  manchen  von  den  wenigen 
versagt  wurde. 

.  .  .  Beim  nochmaligem  Durchlesen  dieser  Zeilen  fällt  mir  auf, 
dass  ich  eigenthch  vieles  geschildert,  was  ich  nicht  gesehen,  und 
dass  unwillkürlich  in  die  neuen  Eindrücke  frühere  Erinnerungen 
sich  gemischt  haben,  die  beim  Durchlesen  alter  Tagebücher  leben- 
dig mir  erwachten.  Es  fehlte  uns  nämlich  diessmal  ein  völlig  ab- 
geklärter Osten ,  und  als  sich  die  Sonne  hinter  einem  schwarzen 
Wolkenstreif  erhob,  hatte  sich  ihre  Gluth  schon  abgekühlt,  und 
sie  kam  als  blasse  Scheibe  zum  Vorschein.  Die  kleine  hölzerne 
Pyramide  auf  der  Kulm  war  vollständig  mit  Engländern  beiderlei 
Geschlechtes  überfüllt,  die  mit  langgestreckten  Hälsen  dem  Auf- 
steigen des  leuchtenden  Gestirns  entgegenharrten.  Wahrscheinlich 
mochten  sie  glauben ,  es  sei  der  Sonnenaufgang  selbst ,  dem  zu 
lieb  sie  ihre  Morgenruhe  geopfert,  als  ob  die  Sonne  auf  dem  Rigi 
prächtiger  aufginge  als  in  der  Ebene,  oder  wohl  gar  auf  dem 
gewölbten  Spiegel  des  Meeres.  So  kehrten  sie  beständig  dem 
grossen  Schauspiel ,  nämlich  der  Alpenwelt  im  Morgenlicht ,  den 
Rücken  zu,  und  ich  möchte  wetten,  dass  sie  sich  schwer  beklagt, 
keinen  rechten  Sonnenaufgang  genossen  zu  haben  —  blind,  wie 
Teiresias  gescholten  wird,  an  Gefühl  und  Aug'  und  Sinnen  1 


Das  Reussthal. 

(Beilage  zu  Nr.  263  der  Allgem.  Zeitung  vom  20.  September  1855.) 

Von    allen  Alpenseen   ist    der  Vierwaldstätter   mein    Liebling, 
den  Genfer   und   den  Comersee    nicht    ausgeschlossen.     Wem    das 


Das  Reussthal. 


423 


wie  eine  Ketzerei  klingt,  der  wird  wenigstens  nicht  bestreiten, 
dass  der  See  mit  seinen  vier  bis  fünf  Kammern  die  mannigfaltig- 
sten Reize  gewährt,  es  ist  kein  See,  es  sind  fünf  Seen,  und  drei 
davon  geschmückt  mit  der  Aussicht  auf  solche  Meisterstücke  geo- 
logischer Fertigkeit,  wie  der  Pilatus  in  der  Luzerner  Ecke,  wie  die 
beiden  Mythen  über  der  Schweizer  Bucht  und  wie  die  hohe 
Schneepyramide  des  Bristenstocks  in  der  engen  Schlucht  von 
Fluelen.  Und  betrachten  Sie  aufmerksam  die  Wände  des  Rigi 
und  gegenüber  die  Felsen  des  Grütli,  dort  gewahren  Sie  die 
Schichten  der  Gesteine,  dünn,  aber  drei-,  vier-,  und  fünffach  zu- 
sammengefaltet und  gequetscht  wie  ein  Stück  Wäsche  unter  dem 
Bügeleisen,  oder  beinahe  zusammengerollt  wie  eine  Omelette. 
Mögen  die  Gelehrten  bestimmen,  wann  das  geschehen  sei,  und 
welche  geognostische  Generation  hauptsächlich  die  Stösse  zu  er- 
leiden hatte,  welche  die  Oberfläche  zum  Bersten  zwang,  das  Thal 
des  Vierwaldstättersees  aufriss  und  jene  Gipfel  hob.  Der  Laie 
sieht  in  jenen  Schriftzeichen  an  den  Felsenwänden  die  hierogly- 
phischen Namensschilder  der  grossen  pharaonischen  Bauten  geo- 
logischer Naturkräfte.  Einen  zweiten  Weltengestalter  lernt  er 
respectiren,  wenn  er  die  nussbaumbepflanzte  Strasse  bei  Amsteg 
verlässt  und  der  tobenden  Reuss  aufwärts  folgt.  Beim  Mönchs- 
sprung trifft  man  auf  den  ersten  Fall  des  zornigen  Gewässers,  wo 
sich  das  Element,  durch  die  enge  Felsenklamm  gezwängt,  in  die 
Tiefe  stürzt  und  mit  ehernem  Mund  die  Felsen  anbrüllt.  Das 
alles  ist  aber  nur  eine  Vorbereitung  auf  die  classische  Stelle,  welche 
bei  Göschenen  beginnt  und  der  Gotthardstrasse  ihre  hohe  Be- 
rühmtheit gegeben  hat.  Das  Thal  verengt  sich  hier  zur  Schlucht, 
und  die  schroffen  Felswände  treten  enger  und  enger  zusammen. 
Schon  hinter  dem  nächsten  Vorsprung  wird  jede  Aussicht  auf 
einen  Rückweg  verschlossen.  Der  Strom  im  jähen  Fall  wirft  sich 
bald  rechts,  bald  links,  einen  Ausweg  aus  diesen  gewundenen  Erd- 
spalten suchend.  Kein  lebendiges  Wesen  regt  sich  rings  um  uns. 
Nur  mühsam  erreicht  das  Auge  den  Rand  der  Felsen,  die  nicht 
hoch,  aber  eng  zusammengerückt  uns  entgegenstarren ,  an  manchen 
Stellen  so  glatt  auseinandergespalten,  als  ob  diese  Steintafeln  ko- 
lossalen Inschriften  dienen  sollten.  Nur  hie  und  da  zwischen  dem 
Gestein  trägt  eine  Handvoll  Erde  spärhche  Grasbüschel.  Flechten 
allein  bedecken  einige  Blossen  des  graugrünen  Gesteins,  tintenblau 
aufgefärbt,  so  hoch  der  Wasserstaub   der  Reuss    hinaufreicht,    die 


424 


Ferienreisen. 


hier  in  beinahe  ununterbrochenen  Katarakten  neben  dem  Fusspfad 
tobt.  Ein  klarer  Sonnenschein  passt  nicht  für  die  ernsten  Schauer 
dieses  Felsenschlundes,  Wer  bei  hellem  Wetter  hindurchzieht, 
nimmt  desshalb  gewöhnlich  nur  einen  matten  Eindruck  in  die 
Heimath.  Man  wähle,  wem  die  Wahl  bleibt,  die  Stunde  der  ein- 
brechenden Dämmerung.  Der  Verkehr  auf  dem  Alpenpass  ist 
dann  völlig  erstorben.  Im  Abgrund  leuchtet  der  Schaum  der  ge- 
hetzten Gewässer,  und  ununterbrochen  vernimmt  man  von  oben 
ein  gedämpftes  Donnern,  das  endlose  Echo  der  stürzenden  Wasser. 
Immer  vernehmlicher  wird  der  gewaltige  Donner,  bis  die  Teufels- 
brücke erreicht  ist  und  der  Wanderer,  über  die  Steinbrüstung  ge- 
beugt, den  gewaltigen  Sprung  des  Stromes  in  den  schwindelnden 
Abgrund  schaudernd  mit  dem  Auge  misst.  Es  scheint  dann  bei- 
nahe, als  risse  der  unwiderstehliche  Schwall  ihren  Blick  immer 
wieder  mit  sich  hinab  über  die  Felsbank  in  die  kochende  Tiefe. 
Wer  dann  auserwähltes  Glück  hat ,  dem  begegnet  es  obendrein, 
dass  von  der  Furca  schwarzbraune  Gewitterwolken  in  das  Thal 
drängen  und  heissrothe  BUtze  nach  einander  aufleuchten.  Welches 
Schauspiel,  welche  Zeugen!  Vor  uns  droht  das  ungastliche  Ge- 
witter, neben  uns  horchen  die  regungslosen  Wände,  unter  uns  er- 
schüttert der  zur  Wuth  gehetzte  Strom  die  jähe  Tiefe  mit  dem 
Gebrüll  eines  Homerischen  Kriegsgottes,  und  über  dem  göttlichen 
Streiter  fühlen  wir  uns  auf  sicher  gewölbtem  Bogen,  welcher  den 
finstern  Pass  und  die  gewaltige  Reuss  gezähmt  und  überbrückt 
hat.  Bequem  aufwärts  geleitet,  erreichen  wir  den  kleinen  vier- 
eckigen Tunnel,  der  vor  dem  Eisenbahn  -  Zeitalter  noch  Anspruch 
hatte,  von  dem  Wanderer  neugierig  durchschritten  zu  werden.  Mit 
ein  paar  Dutzend  Schritten  ist  das  Urner  Loch  passirt,  und  wir 
gelangen  in  eine  neue  Welt.  Die  Reuss  fliesst  geduldig  in  einem 
ebenen  Bett  zwischen  grünen  Matten,  und  aus  der  Ferne  winken 
Lichter,  Obdach  und  Labung  dem  Hungrigen  und  Müden  ver- 
heissend ! 


Ueber  den  Oberaippass  nach  Graubünden. 

(Beilage  zu  Nr.  265  der  Allgeni.    Zeitung  vom  22.   Sept.   1855.) 

Von    dem    Reussthal    nach    dem    Vorder-  oder,    genauer  ge- 
sprochen, nach  dem  Tavetscher  Rhein  führt  der  Oberaippass,  der 


Ueber  den  Oberalppass  nach  Graubünden. 


425 


wenig  besucht  wird,  weil  der  grosse  Strom  der  Schweizer  Touristen 
an  Andermatt  vorüber  und  rechts  über  die  Furca  nach  der  Grim- 
sel  zieht.  Der  Weg  ist  überdiess  etwas  beschwerlich,  und  die 
landschaftlichen  Schönheiten  des  Rheinthaies  auf  andern  Wegen 
und  bequemen  Landstrassen  erreichbar.  Auch  hat  im  einsamen 
Tavetscherthal  die  Reisecultur  noch  nicht  die  Wirthshäuser  beleckt, 
und  eine  leidliche  Fahrstrasse  beginnt  erst  bei  Sonvix.  Diess  sind 
eben  so  viele  Motive,  einen  Reisenden,  der  zum  erstenmal  die 
Schweiz  besucht,  von  dieser  Strasse  zu  verscheuchen,  während  an- 
dere gern  dem  Touristentumult  des  Berner  Oberlandes  ausweichen, 
und  neue,  wenig  besuchte  Thäler  aufsuchen. 

Unmittelbar  hinter  Andermatt  steigt  der  Weg  streng  bergan, 
bis  man  nach  einer  Stunde  die  Höhe  erreicht,  und  nun  in  einem 
sattelförmigen  Thale  gelind  aufsteigend  östlich  vorwärts  schreitet. 
Wir  kehren  uns  noch  einmal  um,  die  erstiegene  Höhe  durch  einen 
Blick  ins  Reussthal  hinab  zu  ermessen,  und  gewahren,  dass  über 
den  bräunlich  grünen  Matten  der  jenseitigen  Thalwand  sich  der 
scharf  geränderte  graue  Galenstock  erhoben  hat,  reichlich  bedeckt 
mit  blendendem  Schnee  und  geschützt  durch  den  stahlfarbigen 
Schuppenpanzer  eines  mächtigen  Gletschers.  Unser  Weg  geht 
mitten  durch  prächtige  Heerden  von  Hornvieh,  welches  seine 
Weide  reichlich  selbst  gedüngt  hat  und  überall  feiste  Kräuter  am 
Boden  findet.  An  der  nördlich  gelegenen  magern  Seite  der  Matte 
hält  eine  Division  Geissen  in  zwei  Colonnen  mit  uns  Schritt,  all- 
mählich mehr  und  mehr  die  Höhe  gewinnend.  So  gelangen  wir 
an  einen  klaren  dunkeln  Forellensee,  den  der  Wirth  in  Andermatt 
gepachtet  hat,  und  welcher  seine  Wasser  den  Lawinen  verdankt, 
die  ihm  von  den  schrägen  Thalseiten  nicht  entgehen  können. 
Wir  selbst  müssen  hart  am  Rande  des  Sees  über  einen  solchen 
Schneekoloss  hinwegsteigen,  und  erblicken  jetzt  bereits  über  der 
Höhe  des  doppelten  Joches  die  jenseitigen  Bergesgipfel  des  Rhein- 
thales.  Zwei  Wege  führen  hinab ,  wir  wählen  aber  den  linken 
und  kürzeren,  obgleich  er  ims  über  einen  steileren  und  höheren 
Bergsattel  aufwärts  führt,  und  es  ein  sprudelndes  Bergwasser  von 
Stein  zu  Stein  zu  überspringen  und,  wo  die  Steine  fehlen,  zu 
durchwaten  gilt.  Die  Wasserscheide  ist  nun  erreicht,  und  das 
lustige  Gewässer,  welches  zur  Linken  von  den  schneebetupften 
kahlen  Berggipfeln  herabkommt,  gehört  bereits  dem  Rhein  an. 
Das  Kindlein,  welches  später  Zinnen    und    Mauern,    Thürme   und 


^20  Ferienreisen. 

Münster  spiegeln,  welches  schwerbefrachtete  Kähne  und  schlechte 
Poesien  ertragen  soll,  welches  die  buschigen  Inseln  im  grünen 
Rheingau  baut,  und  der  grösste  Städtegründer  im  weiland  heihgen, 
jetzt  entheiligten  römischen  Reiche  genannt  zu  werden  verdient 
—  dieses  Kindlein,  sage  ich,  kommt  nackt  zur  Welt,  und  die 
Mutter  Natur  steht  daneben  im  härenen  Barfüssergewande.  Ein- 
förmige Felsenkegel  trachten  zum  Himmel  empor,  reich  mit  Schnee- 
streifen geädert,  und  umweht  von  trüben  zähen  Nebelfasern. 
Nichts  Grünes  findet  an  dem  schrägen  steinigen  Körper  seine 
Nahrung,  nur  allmählich,  wo  sich  der  Berg  thalabwärts  rundet, 
wird  er  bekleidet  mit  filzigen  Matten,  aber  ohne  dass  das  Grün 
besonders  fröhlich  uns  anlachte.  Erst  später  wagen  sich  einige 
zu  Phalangen  geordnete  Tannen  bergaufwärts ,  während  tief  unten 
der  graue  Tavetscher  Rhein  im  steinigen  Bett  dahinfliesst  und  an 
der  Verödung  des  Thaies  eine  bösartige  Verheerungslust  bewährt. 
Der  Weg  abwärts  ist  äusserst  beschwerlich.  Es  müssen  mehrere 
Bäche  durchschritten  werden,  bis  man  eine  enge  Strasse  von 
spitzigen  Steinen  erreicht,  auf  der  kleine  Schleifen  oder  Schlitten, 
mit  Brennholz  für  die  Senner  beladen,  vom  Hornvieh  mühsam 
hinaufgezogen  werden.  Aber  ehe  man  in  Selva  das  erste  grössere 
Dorf  erreicht,  bekleiden  sich  die  Abhänge  bereits  mit  Gersten- 
feldern, deren  Halme  jedoch  trotz  der  späten  Jahreszeit  noch 
grün  und  zart  waren.  Nach  fünf  Stunden  angestrengten  Marsches 
mag  man  sich  in  Selva  erquicken ,  doch  rechne  man  nicht  auf 
einen  labenden  Schluck  Wein,  da  der  Veltliner,  auf  den  das  ro- 
manische Graubünden  angewiesen,  bekanntlich  seit  der  Trauben- 
fäule rar  in  den  Kellern  geworden  ist. 

Von  Selva  führt  der  Weg  fortwährend  abwärts  bis  Dissentis. 
Das  Thal  bleibt  eng  und  seine  Wände  reich  bewachsen  mit  Fich- 
tenholz, hier  und  da  von  lichten  Matten  durchbrochen.  So  oft 
aber  der  Rhein  wieder  einen  rechten  Nebenfluss  aufnimmt,  er- 
schliesst  sich  nach  Süden  ein  tiefes  Seitenthal,  überwacht  von 
einem  hochaufgeschossenen  Bergesgipfel,  dessen  graues  Felsenhorn 
aus  hellem  Schnee  hervorbricht,  während  ■  breit  und  tief  ins  Thal 
die  grauen  Gletscher  hineingewachsen  sind,  wie  namentlich  bei 
Dissentis,  wo  der  Medelser  Rhein  von  dem  Luckmanier  herab  in 
den  Tavetscher  Strom  sich  ergiesst.  Wir  bewegen  uns  jetzt  an 
der  Südseite  des  Urner  Bristenstocks  dahin,  ohne  dass  ims  eine 
rechte    Aussicht    auf    diese    prächtige    Schneepyramide    zu    Theil 


Ueber  den  Oberalppass  nach  Graubünden.  ^27 

würde.  Bis  Sonvix  müssen  wir  den  Saumweg  am  rechten  Ufer 
suchen,  denn  an  der  Felswand  gegenüber  krachen  rasch  hinter- 
einander die  Sprengschüsse  der  Strassenarbeiter,  welche  an  der 
Verlängerung  der  Oberrheinstrasse  arbeiten.  In  Sonvix  mietheten 
wir  Pferd  und  Wagen  ,  um  noch  Ilanz ,  das  erste  Städtchen  am 
Rhein,  zu  erreichen,  in  der  Hoffnung  auf  ein  reinliches  Nachtlager, 
welches  die  bisherigen  Wirthshäuser  uns  nicht  zu  versprechen 
schienen.  Mittlerweile  aber  war  die  Dämmerung  angebrochen, 
und  ein  Gewitter  verfinsterte  vollends  das  Thal,  so  dass  man 
nichts  gewahrte,  als  dass  die  Strasse  bald  am  rechten,  bald  am 
linken  Ufer  des  rauschenden  Rheins  ganz  eben,  aber  meistens 
durch  dunkelndes  Nadelholz  führte.  Von  Stunde  zu  Stunde  kamen 
wir  durch  eine  Ortschaft,  wo  bereits  Licht  und  Lärm  erloschen 
war,  und  höchstens  zwei;  oder  dreimal  begegnete  uns  ein  verspä- 
tetes Fahrzeug,  dem  bei  der  Dunkelheit  und  auf  der  engen  Strasse 
schwer  auszuweichen  war.  Auch  in  Ilanz  waren  nur  wenige 
Scheiben  noch  erleuchtet,  und  lange  mussten  wir  an  einem  statt- 
lichen Gasthaus  läuten,  bis  man  endlich  öffnete  und  ein  Zimmer 
herrichtete.  Unserm  Reise-Instinct  folgend,  waren  wir  in  das 
reinhche,  appetitliche  Hotel  zum  Luckmanier  gerathen,  und  als 
wir  am  andern  Morgen  die  Jalousien  unseres  Fensters  öffneten, 
lag  der  Rhein  und  jenseits  der  Haupttheil  des  Städtchens  vor  uns, 
mit  der  Aussicht  in  das  Glennerthal  auf  bewaldete  Anhöhen  und 
neue  schneebedeckte  Felsenspitzen. 

Von  Ilanz  verlässt  die  Strasse  den  Rhein  und  wendet  sich 
links  bergauf,  grosse  Umwege  beschreibend,  mühsam  durch  die 
Felswände  gesprengt  und  über  tiefe  Thäler  gebrückt.  Hätte  man 
die  Strasse  den  Rhein  entlang  geführt  ,  sie  wäre  um  das  Drittel 
kürzer  geworden,  auch  hätte  sie  weniger  Kosten  verursacht  und 
zahlreichere  Ortschaften  berührt.  Die  Ablenkung  aber  geschah  zu 
Gunsten  einiger  höher  gelegenen  Gemeinden,  deren  pohtischer 
Einfluss  wahrscheinlich  hinreichte,  das  wichtige  Verkehrsmittel  der 
Landschaft  zu  verbiegen,  den  Bau  und  die  Kosten  der  Benutzung 
zu  vertheuern.  Dieses  Denkmal  der  Engherzigkeit  kommt  aber 
dem  Reisenden  trefflich  zu  statten,  denn  der  Weg,  welcher  sich 
hoch  über  das  Thal  hinauf  schwingt,  bietet  einen  fortwährenden 
Wechsel  der  Landschaft,  führt  uns  über  manchen  gähnenden 
Schlund  und  an  riesenhaft  bis  zur  Schneelinie  aufwachsenden  Fel- 
sengipfeln vorüber,    belebt  durch  reiche    schäumende   Wasserfälle ; 


428 


Ferienreisen. 


er  gewährt  vor  allem  immer  nach  rechts  einen  freien  Blick  ins 
Rheinthal  mit  seinen  frischen  Wiesen  und  Obstbaumfluren,  ein- 
geengt bis  zur  Verworrenheit  durch  ein  Gedränge  wunderlicher 
Buckel  und  Hügel,  die  man  für  abgelöste  Bergesgipfel  halten 
möchte,  welche,  von  den  schroff  ansteigenden  Gebirgen  in  die 
ebene  Thalsohle  einst  herabgerollt  und  später  mit  fruchtbarem 
Erdreich  bedeckt,  lieblich  zu  grünen  begannen.  Der  Reiz  der 
Landschaft  steigert  sich  namentlich  vor  Reichenau.  Zur  Linken 
behalten  wir  noch  immer  die  steilen  Schneegipfel,  welche  Grau- 
bünden von  Uri,  Glarus  und  St.  Gallen  trennen,  rechts  aber  dringt 
unser  Blick  tief  in  ein  ebenes  Thal,  welches  im  blauen  Hinter- 
grund abermals  eine  Alpenpyramide  verriegelt  und  woher  jetzt  der 
Hinterrhein  uns  zuströmt.  Da  wo  die  beiden  steingrauen  Gewässer 
sich  aufschäumend  in  die  Arme  stürzen  und  eine  Art  geräusch- 
volles Wiedersehen  wie  zwei  Freunde  nach  lang  erwartetem  Be- 
gegnen feiern,  liegt  an  einem  Hügelvorsprung  ein  frisch  geputzter 
und  mit  Liebe  gepflegter  Garten,  den  der  Hberale  Besitzer  des 
Schlosses  Reichenau,  berühmt  durch  Ludwig  Philipps  Schulmeister- 
jahre, jedem  Fremden  öffnet,  und  wo  man  zwischen  saftigem  Rasen 
und  prangendem  Blumenflor  durch  verstohlene  Gänge  und  zahme 
Grotten  hindurch  auf  eine  Galerie  dicht  über  den  Zusammenfluss 
des  Rheinbruderpaars  gelangt.  Wer  in  der  Schweiz  einen  stillen 
Aufenthalt  sucht,  unbelästigt  von  der  Reisewuth  der  Hunderttau- 
sende, nicht  geärgert  durch  brittischen  Touristenpöbel  oder  ver- 
stimmt durch  Schweizer  Naturprellereien,  der  sollte  Reichenau  auf- 
suchen, dessen  freundliche  Wohnhäuser  zum  Bleiben  einladen  wie 
ein  appetitlich  gedeckter  Tisch.  Von  dort  giebt  es  nach  allen 
Seiten  Ausflüge  zu  machen ,  ins  vordere  Rheinthal ,  nach  Tusis, 
nach  dem  Engadin  über  den  Julier-,  nach  dem  Comersee  über 
den  Septimer-Pass. 

Zu  Wagen  in  anderthalb  Stunden  erreicht  man  dann  das 
freundliche  Chur,  welches  sich,  der  grossen  Strasse  nach  Italien 
zu  lieb,  rheinabseits  nach  der  Mündung  eines  rechten  Seitenthals 
gezogen  hat,  und  wo  moderne  bürgerliche  Bauten  mit  eleganten 
Gärten  und  gusseisernen  Balconen  die  Hauptstadt  des  Cantons 
verrathen.  Wir  indessen  begeben  uns  über  böses  Pflaster  in  das 
altmodische  innere  Städtchen,  wo  uns  ein  Wirthshaus  von  jeden- 
falls   vormärzlicher    Fagon,    das    weisse  Kreuz,  wegen  Küche  und 


Ueber  den  Oberalppass  nach  Graubünden.  429 

Keller  empfohlen  worden  ist,  und  dem  Gewährsmann  nichts  we- 
niger als  Schande  machte. 

Der  Rhein  hat  schon  vor  Chur  begonnen,  den  Fuss  der 
Berge,  die  ihn  einschHessen,  mit  Geröll  zu  vergraben  und  eine 
Ebene  im  Thal  auszufüllen,  die  sich  hier  beträchtlich  erweitert, 
so  dass  unsere  Blicke  zu  beiden  Seiten  über  grüne  Teppiche 
streifen,  ehe  sie  an  dem  reichbewachsenen  Gebirge  hinaufsteigen. 
Alle  Nebenflüsse  des  erstarkenden  Stromes  kommen  von  Süden, 
nach  welcher  Seite  sich  auch  die  grössten  und  weitesten  Thäler 
aufschliessen.  So  völlig  hat  indessen  das  Wasser  nicht  seine  Ufer 
bis  zum  Rande  der  Berge  nivellirt,  dass  nicht  die  Köpfe  einiger 
Felsenblöcke  über  das  fruchtbare  Land  noch  hervorragten.  Sie 
sind  nicht  selten  mit  Eichen  bewachsen,  oder  von  altem  Gemäuer, 
mit  Thürmen  und  Schlössern  gekrönt.  In  der  Ebene  herrscht  der 
Maisbau  und  die  Obstbaumzucht.  Farbe  und  Glanz  des  Busch- 
werks verräth  ein  milderes  Klima,  die  Hügel  bedecken  sich  mit 
Reben,  und  vor  uns  wachsen  im  Abenddunkelblau  die  phantastisch 
geformten  Felsenkronen  des  Rhätikon  auf,  nur  zum  Gürtel  mit 
Laub-  und  Nadelholz  bewachsen,  dann  schroff  und  nackt,  mit  aus- 
genagtem  Kamm,  voll  Nasen  und  voll  Zacken.  Ihnen  gegenüber 
unter  Weingärten  und  reichbelaubten  Abhängen  liegt  das  freund- 
liche Ragatz  am  Eingang  der  Taminaschlucht ,  die  nach  Pfeffers 
führt.  Weitaus  gen  Norden  mögen  wir  den  Lauf  des  Rheins  ver- 
folgen, bis  dann  wieder  das  Thal  vom  zarten  Grau  einer  kalk- 
steinfarbigen Felsenwand  geschlossen  wird.  Der  Reichthum  des 
Pflanzenwuchses,  der  uns  nach  längerer  Entbehrung  erst  recht 
entzückt,  das  freundliche  Städtchen,  die  dunkelblauen  Felsen  über 
dem  Strom,  die  Ruinen  auf  frisch  begrünten  Hügeln,  und  die 
tiefen  Farben  der  Abendluft  könnten  uns  vollständig  befriedigen, 
wenn  nicht  der  schlammfarbige  Rhein  zerstörungssüchtig  sich  mit 
seinem  Geröll  weit  und  breit  umgürtet  und  das  Grüne  von  dem 
Grünen  durch  eine  steinige  Oede  geschieden  hätte. 

Im  Ragatzer  Hof,  der  eine  kleine  Stadt  für  sich  vorstellt, 
war  es  noch  ziemlich  lebendig,  obgleich  die  Saison  sich  ihrem 
Ende  zu  neigte  und  am  andern  Morgen ,  wo  wir  abreisten ,  die 
Post  mit  ihrem  Beiwagen  sich  vollständig  mit  abziehenden  Gästen 
füllte,  die  sämmtlich  den  Weg  über  den  Wallenstädter  See  nach 
Zürich  einschlugen.  Wir  allein  blieben  dem  Rhein  getreu  und 
fuhren  hinein  in  die  grüne  Pracht  des  St.  Galler  und  Appenzeller 


430 


Ferienreisen . 


Landes.  Es  war  ein  duftiger  Morgen ,  der  Himmel  tief  dunkel- 
blau und  die  Berge  umspielt  von  blendendem  Wolkendampf,  der 
uns  zur  Rechten  und  zur  Linken  gewaltige  mit  Schnee  gezierte 
Bergzacken  bald  enthüllte ,  bald  verschleierte.  So  trieb  ers  auch 
mit  der  Sentiswand,  die  bis  zum  Gürtel  reich  mit  Laub  bewachsen, 
schroff  und  gezähnt  wie  der  Rand  einer  Seemuschel,  grau  mit 
hochgelben  Rändern  durch  den  Nebel  zum  Vorschein  kam,  wäh- 
rend rechts  auf  dem  Saum  des  sonnigen  Rheinthals  mit  seinem 
Obstrevier  die  hohen,  schirmenden  Bergwände  des  kleinen  Fürsten- 
thumes  Liechtenstein  ihre  blauen  Schatten  warfen.  Noch  immer 
sehnsüchtig  kehrten  aber  unsere  Blicke  nach  den  Bergen  zurück, 
die  jetzt  zwischen  uns  und  Ragatz  lagen,  und  über  denen  höhere 
Alpengipfel,  die  Schnee-  und  Gletschergruppe  der  Scesaplana  in 
duftiger  Ferne  her  überragten.  Das  ganze  St.  Galler  Land  ist  nur 
ein  grosser  Garten,  und  hoch  oben  auf  dem  Postwagen  müssen 
wir  uns  der  belasteten  Zweige  wehren,  die  mit  Aepfeln  oder 
Birnen  schwer  behangen  uns  mit  ihren  Schlägen  derb  begrüssen. 
Höfe,  Ortschaften,  Dörfer,  Städtchen  folgen  sich  in  dem  wohl- 
gepflegten fleissigen  Lande.  Wir  schauen  hinein  in  das  obere 
Stockwerk  der  säubern  Häuser,  deren  Aussenwände  mit  hölzernen 
Schuppenziegeln  bekleidet  sind,  und  überall  vor  dem  trommelartig 
ausgespannten  Musselin,  im  Erdgeschoss,  im  obern  Stock,  im  bun- 
ten Blumengärtchen  vor  dem  Hause,  im  Schatten  der  Scheune 
oder  unterm  Nussbaum  im  Freien,  sitzen  sie  einzeln,  oder  zu 
mehreren  oder  in  Gesellschaft,  Kinder  und  Erwachsene ,  Frauen 
und  selbst  Männer  am  Stickrahmen  und  schaffen  mit  ihrer  Nadel 
die  Muster  in  den  klaren  Baumwollenstoff  zu  Vorhängen  und 
luftigen  Sommerkleidern.  So  geht  es  ohne  Unterbrechung  fort, 
bis  allmählich  die  hohen  Wolkengipfel  zu  Bergen  sich  abrunden, 
und  diese  wieder  in  sanfte  Hügelwellen  sich  senken,  bis  jetzt  vor 
uns  ein  niederer  Horizont  sich  öftnet ,  hinter  seinen  buschigen 
Gränzen  die  Fläche  des  Bodensees  verrathend. 


Ein  Ausflug  in  die  Salzburger  und  Tiroler  Alpen. 
I. 

(Beilage  zu  Nr.  298  der  Allgem.    Zeitung  vom   25.  Oct,    1858.) 
Der  Weg  von  Tegernsee  nach  Achenthai    ist   für   denjenigen, 
welcher  gewaltigen  Gebirgsansichten  entgegeneilt,  eine  todte  Strecke, 


Ein  Ausflug  in  die  Salzburger  und  Tiroler  Alpen.  4^  t 

die  er  gern  überspringen  möchte,  besonders  wenn  ihr  der  Reiz 
der  Neuheit  fehlt.  Kommt  man  indessen  aus  der  Ebene,  und  ist 
noch  nicht  mit  grossartigen  Eindrücken  übersättigt,  so  geniesst 
man  auch  dankbar  die  Schönheiten  eines  bewaldeten  Engpasses; 
man  labt  sich  an  der  Kraft  und  Fülle  des  Pflanzenwuchses,  dem 
es  nie  an  nährender  Feuchtigkeit  fehlt  ^  man  erquickt  sich  an  der 
grünen  Klarheit  der  wilden  Gewässer,  die  auf  dem  tirolischen  Ab- 
hang der  Alpen  sich  trüben;  man  hat  noch  Augen  für  den  ma- 
lerischen Styl  der  Holzhütten  im  Thal  und  auf  hohen  Almen ; 
man  bewundert  das  blanke,  wohlgenährte  und  wohlgestaltete  Vieh, 
und  die  physischen  Vollkommenheiten  des  Menschenschlags ,  den 
es  ernährt,  bis  Thal  und  Pass  sich  lichten,  und  man  am  Spiegel 
des  Achensees  steht,  dessen  sattes  Tintenblau  man  von  neuem 
anstaunt,  und  an  dessen  oceanische  Tiefe  man  gern  glaubt,  wenn 
man  die  schroffen,  nur  zur  Hälfte  mit  Nadelholz  bekleideten  Ge- 
steinmassen zu  beiden  Seiten  beinahe  lothrecht  in  das  Wasser 
sinken  sieht,  so  dass  nur  hie  und  da  am  jenseitigen  Rande  des 
Sees  eine  schmale  Stufe  zum  Landen  zu  erspähen  ist,  während 
diesseits  der  Felsen  abgesprengt  werden  musste,  um  Raum  für 
einen  Fahrweg  zu  bieten,  auf  dem  zwei  Wagen  Mühe  haben  sich 
auszuweichen.  Der  See  ist  ein  hochgelegenes  Becken,  welches  die 
Wasser  von  den  einschliessenden  Höhen  sammelt,  um  sie  als  ein 
ansehnliches  Seitengewässer  nach  der  Isar  abziehen  zu  lassen. 
Wie  hoch  man  sich  an  seinem  Spiegel  schon  befand,  Avird  man 
erst  gewahr,  wenn  man  den  bequemen  Sattel  gegen  Süden  über- 
schritten hat,  und  die  Strasse  nun  in  einen  Engpass  nach  dem 
Innthal  eine  Wegesstunde  ohne  Ablass  unter  einem  beschwerlichen 
Winkel  sich  hinabsenkt.  Bei  Jenbach  erreicht  man  endlich  das 
sonnige  Innthal,  und  hält  gern  in  einem  neugebauten  Wirthshaus 
mit  breiter  Veranda,  von  wo  aus  man  bis  zu  den  duftigen  Alpen 
jenseits  Innsbruck  und  abwärts  bis  zu  dem  Wilden  Kaiser  sieht, 
während  der  bayerische  Gebirgszug  durch  seine  abenteuerHch  auf- 
ragenden Felsenhörner  die  Nähe  der  Karwendelsteine  verräth. 

Im  Vorgefühl  künftiger  Erleichterungen  überschritten  wir  am 
Inn  die  Eisenbahn,  auf  der  bereits  die  Schienen  lagen,  und  die 
uns  künftig  von  München  in  einem  halben  Tag  bis  Innsbruck  be- 
fördern wird ,  von  wo  aus  so  viele  Pfade  offen  stehen ,  und  so 
manche  neue  Fahrt  in  die  Tiroler  Gebirge  noch  ungenossen  uns 
erwartet.     Diessmal  blieben  wir  der  Richtung  nach  Süden  getreu. 


432 


Ferienreisen. 


und  gingen  in  das  Zillerthal  hinauf,  welches  in  seinem  untern 
Theil  wenig  Reize  bietet,  als  die  Aussicht  auf  stark  bewaldete 
Bergwände  mit  grasreichen  dicht  bewohnten  Lichtungen,  wo  die 
zierlichen  hölzernen  Häuser  mit  den  blitzenden  Fenstern,  winzig 
wie  geschnitztes  Spielwerk,  beisammen  standen.  Die  Thalsohle 
selbst  wird  durch  den  grauen  Zillerfluss  in  einen  Sumpf  verwan- 
delt, welcher  Ried  und  saure  Gräser  sich  erzieht,  während  man 
statt  der  weit  berühmten  Schönheiten  des  Thaies  viele  fieberblasse 
Gesichter  und  Kropfentstellungen  wahrnimmt.  Doch  wollte  von 
dergleichen  Leiden  ein  munterer  Bursche  aus  Zell  nichts  wissen, 
der  mir  auf  meine  Fragen  nach  den  Gesundheitszuständen  den 
lasciven  Bescheid  gab :  was  ihnen  denn  fehlen  solle,  ,,so  lange  die 
Mädel  gesund  sind?"  So  wie  man  sich  Zell  nähert,  zieht  sich  das 
Thal  im  Hintergrund  mit  der  schönen  Femergruppe  der  wilden 
Gerlos,  die  ihrem  Schnee-  und  Gletscherschmuck  und  ihren  Fel- 
senzacken das  Beiwort  verdankt.  Zell  scheint  nach  der  Zahl  der 
Wirthshäuser  zu  schliessen  ein  vielbesuchter  Ort ,  und  beim 
,,Bräu"  fehlte  es  denn  auch  nicht  an  Gesang  und  Citherspiel,  so 
wie  an  norddeutschen  Touristen,  die  unter  dem  Beistand  ihres 
Bädeker  schwarz  auf  weiss  ihren  Cursus  durch  Tirol  gewissenhaft 
consumirten.  Verschiedenemale  suchte  ich  die  Zillerthaler  zum 
Sprechen  über  Hrn.  Schütz,  über  amerikanische  Auswanderung 
und  Peru  zu  bringen,  aber  immer  stiess  ich  auf  grosse  Augen, 
leuchtende  Blicke  und  thörichte  Hoffnungen;  nur  unser  Träger, 
der  sich,  weil  ihm  ein  Auge  fehlte,  an  das  schärfere  Sehen  ge- 
wöhnt zu  haben  schien,  gestand  über  das  Schicksal  der  peruani- 
schen Tiroler  treuherzig  und  mit  naiver  Wortstellung:  ,,den  mei- 
sten geht's  gut,  der  Mehrzahl  aber  bedeutend  nicht  viel  besser!" 
Bei  Zell  nimmt  die  Ziller  als  rechtes  Seitengewässer  die  statt- 
liche Gerlos  auf,  deren  Thal  uns  nach  einem  Joch  hinauf  leitet, 
welches  bequem  nach  dem  Pinzgau  und  ins  Salzburgische  hinüber- 
führt. Der  Weg  von  Zell  bis  auf  die  Höhe  der  Gerlosplatte  erfor- 
dert nicht  ganz  sechs  Stunden ,  und  etwas  mehr  als  eine  halbe 
Stunde  bedarf  man  um  Krimi,  die  nächste  Ortschaft  im  Pinzgau, 
zu  erreichen.  Vier  Stunden  lang  hat  man  einen  angenehmen  Reit- 
weg, der  nur  anfangs  steil  an  die  Gebirgswand  hinaufführt,  und 
dann  schattig  an  den  Falten  der  Thalwand  sich  weiter  bewegt, 
während  unten,  aus  tiefem  Spalt  durch  Laubwerk  heraufschimmernd, 
die   Gerlos   abwärts   tobt.     Der   Bach    selbst  giebt   einem    kleinen 


Ein  Ausflug  in  die  Salzburger  und  Tiroler  Alpen.  ^^X 

Pfarrdorf  den  Namen,  wo  wir  zu  unserer  Ueberraschung  ein  hüb- 
sches Wirthshaus  und  zu  noch  grösserm  Erstaunen  —  es  war  ein 
Freitag  —  Fleischspeisen  vorräthig  fanden.  Der  Pfarrer  selbst,  so 
hiess  es,  hatte  die  Erlaubniss  gegeben,  den  Reisenden  solche  uner- 
laubte Diät  zu  gewähren,  ein  Liberalismus,  welchen  der  norddeut- 
sche Fremdenzug  allmählich  dem  strengen  Tirol  abgedrungen 
hatte.  Die  Zahl  der  fremden  Gäste  scheint  in  starkem  Wachs- 
thum ,  und  an  den  gewöhnlichen  Schlusspunkten  der  Touristen- 
etappen waren  die  kleinen  Wirthshäuser  ziemlich  gefüllt,  vorzüglich 
von  unsem  Vettern  oder  Brüdern  aus  dem  Norden.  Noch  aber 
herrscht  zum  Glück  in  Tirol  und  im  Pinzgau  Einfachheit  und  Be- 
scheidenheit bei  der  Verpflegung  der  Fremden.  Wer  nicht  exo- 
tische Delicatessen  und  Hotelüppigkeiten  sucht,  der  wird  überall 
befriedigt  scheiden,  denn  er  findet,  wie  überhaupt  in  kaiserHchen 
Landen,  eine  Küche  mit  lecker  bereiteten  Gerichten,  weit  bessere 
Weine  als  in  der  Schweiz  und  einen  trinkbaren  Kaffee.  Stattliche 
Kellnerinnen,  die  gewöhnlich  auf  den  Namen  Purgel  (Walpurgis) 
hören,  ersetzen  noch  die  oft  so  lästigen  sogenannten  Gargons  der 
grossen  Hotels ;  es  giebt  noch  keine  lithographirten  Rechnungen 
für  das ,  was  der  Fremde  verzehrt  oder  nicht  verzehrt  hat ,  also 
auch  keine  Gelegenheit,  um  zwei  Francs  ,,Bougies"  in  einem 
Abend  zu  verschwelgen,  auch  wird  der  Freigebigkeit  des  Reisen- 
den durch  kein  ,, Service"  eine  anständige  Ausdehnung  zugemessen, 
sondern  man  giebt  nach  Billigkeit  und  mit  Humor,  wofür  man, 
wenn  man  sich  nicht  wehrt,  reaHter  durch  einen  Kuss  auf  die 
spendende  Hand  beköstigt  wird.  Engländer  waren,  dieses  Jahr 
wenigstens,  die  seltensten  Geschöpfe,  was  man  den  Handelskrisen 
und  Regengüssen  wahrscheinlich  zu  danken  hatte. 

Von  Gerlos  führt  der  Weg  gemächlich  und  noch  immer  schat- 
tig thalaufwärts.  Aber  bald  werden  die  Berge  kahl ,  der  Wald 
öffnet  sich,  und  vor  uns  hegt  über  dem  letzten  Saum  zerstreuter 
Fichten  ein  mager  bewachsener  Bergrücken,  der  mit  einem  platten 
Schädel  endigt,  und  dessen  Höhe  wir  gewinnen  müssen.  Zur 
Rechten  starren  aus  Gletschermassen  und  blendendem  Schnee- 
mantel die  starren  Zacken  der  wilden  Gerlos  und  die  Reiche  Spitz, 
halb  und  halb  schon  eingehüllt  von  grauen  Nebelfetzen,  während 
wir  vom  Regen  wenig  geschont  auf  schlammigen  Pfaden  vorwärts 
schreiten.  Auf  der  sumpfigen  Höhe  des  Jochs  stehen  etliche  Senn- 
hütten, und  bei  diesen  musste  entschieden  werden,    dass    wir  den 

Peschel,  Abhandlungen.     II.  28 


.^.  Ferienreisen. 

Gipfel  des  Plattenbergs  unbesucht  zur  Seite  lassen  sollten,  da  sich 
die  Regenmassen  immer  tiefer  senkten,  und  den  Gipfel  des  Jochs 
umlagerten.  Als  wir  jedoch  die  andere  Kante  des  Rückens  er- 
reichten, und  etliche  Zeit  gerastet  hatten,  begann  die  Sonne,  die 
uns  bisher  nur  einige  wässrige  Gnadenblicke  zugeworfen  hatte, 
mächtiger  zu  wirken.  Das  Pinzgau  selbst  war  von  Dunstmassen 
bald  befreit  und  gewährte  uns  den  AnbHck  eines  sonnigen  Thals, 
mit  schön  geformten  Höhenketten  in  der  blauen  Verklärung  des 
Hintergrundes,  während  rechts  waldige  Vorgebirge  und  malerisch 
gezackte  Felsenkämme  in  mannichfaltiger  Folge  rasch  in  die  Thal- 
ebene sich  senkten,  und  uns  den  Einblick  in  stille  Querschluchten 
verhiessen.  In  grösster  Nähe  gegen  Süden  aber  öffnete  sich  un- 
mittelbar vor  uns  ein  solches  Thal,  oder  besser  ein  dicht  bewach- 
sener Spalt,  aus  dem  links  eine  völlig  geschonte  Wand  düstern 
Nadelholzes  aufstieg,  während  rechts  die  veilchenfarbenen  Felsen 
der  Reichenspitz  dunkelten,  die  karg  bewachsen  in  einem  scharfen 
Kamm  endigten,  dessen  Eis-  und  Schneespitzen  ein  zorniges  Ge- 
witter zu  krönen  drohte,  welches  indessen  die  Sonnenstrahlen  noch 
nicht  verhinderte  uns  durch  den  Fichtenwald  hindurchblit/end  das 
Wasser  zu  zeigen,  wovon  die  Felsenwände  trieften.  Diese  Gebirgs- 
gasse  schlössen  die  Krimler  Tauern,  schwarze  Felsenkhppen ,  die 
aus  blendenden  Schneefeldern  aufstiegen.  Von  ihnen  herab  kam 
die  Krimler  Ach,  ein  stattliches  Gewässer,  welches  von  der  letzten 
Bergstufe  in  drei  gewaltigen  Sätzen  herabspringt,  die  von  unserm 
Platz  aus  beinahe  senkrecht  übereinander  liegen.  Die  Höhe  der 
drei  Fälle  soll  zusammen  2000  Fuss  betragen.  Ihre  Regelmässig- 
keit, der  Reichthum  und  die  Gewalt  der  Wasser,  die  eine  enge 
Scharte  durch  die  Felsenstufen  gebrochen  haben,  geben  den  Fällen 
unbedingt  den  ersten  Rang  in  den  deutschen  Alpen.  Der  Donner 
des  Wassers  erfüllt  das  enge  Thal,  und  verkündigt  sich  mit  eherner 
Stimme  selbst  bis  zur  Höhe  des  Jochs.  Keine  Spur  von  sonstiger 
Lebensregung  stört  die  Einsamkeit  dieses  abgelegenen  Thals, 
höchstens  dass  von  Felsenspitze  zu  Felsenspitze  ein  Aar  herüber- 
schwebt. Fallen  dann  Lichtstreifen  über  das  waldige  Dunkel  und 
auf  den  blendenden  Schaum  der  Wasserfälle,  so  fehlt  dem  Ge- 
mälde nichts  mehr,  um  unvergessHche  Eindrücke  zu  hinterlassen, 
Krimi  selbst  ist  ein  freundliches  und  schmuckes  Pfarrdorf, 
welches  eine  Viertelstunde  von  dem  sogenannten  untersten  Fall  der 
Ach  liegt.     In  zwei  Stunden    kann  man  bis  zum    obern    Fall    und 


Ein  Ausflug  in  die  Salzburger  und  Tiroler   Alpen.  ^^-jj 

wieder  zurück  auf  einem  sichern  Weg  gelangen,  der  anfangs  am 
linken  Ufer  hinaufführt,  beim  obern  Fall  aber  die  Ach  überschrei- 
tet. Der  sogenannte  mittlere  Fall  ist  derjenige,  welcher,  zwischen 
solchen  Geschwistern  gelegen,  am  wenigsten  Eindruck  macht, 
während  die  Vorzüge  des  obern  wie  des  untern  sich  ziemlich  die 
Wage  halten.  Bei  dem  untern  theilt  sich  die  Wassermasse  nicht 
in  Bänder,  sondern  stürzt  durch  einen  engen  Spalt  mit  solchem 
Ungestüm  herab,  dass  der  Wasserstaub  wohl  auf  Büchsenschuss- 
weite in  immer  wiederholten  Ladungen  beinahe  horizontal  über 
Wiese  und  Buschwerk  geschleudert  wird.  Dieses  ewige  Verpuffen 
des  zarten  Wasserschleiers  und  der  Wechsel  in  den  Gestalten  des 
Wassersturzes  beschäftigt  und  entzückt  uns  doch  nur  desswegen  so 
lange,  weil  wir  gleichsam  für  eine  streitende  Creatur  halten,  was 
doch  nur  das  mechanische  Spiel  bewegter  Massen  ist.  Der  obere 
Fall  unterscheidet  sich  von  dem  ersten  dadurch,  dass  er  aus  meh- 
reren Bändern  besteht,  die  sich  erst  halben  Wegs  zu  einem  Strom 
vereinigen.  Er  ist  von  gleicher  Höhe  wie  der  untere ,  sein  An- 
blick aber  nicht  recht  zu  geniessen,  denn  wenn  man  über  schlüpf- 
rige Felsenstücke  sich  dem  Schauspiel  nähert,  so  belästigt  der 
beizende  Wasserstaub,  der  in  dichten  Wolken  uns  entgegen  sprüht, 
nicht  wenig  das  Auge.  Gleichwohl  ist  der  Anblick  voller  Reize, 
denn  jede  Welle,  die  kochend  über  den  Rand  der  Felsenstufe 
stürzt,  gestaltet  sich  im  Fallen  wie  ein  Kegelschnitt  und  senkt  sich 
anmuthig  in  die  empört  aufbäumende  Tiefe.  Ehe  sie  diese  noch 
erreicht,  eilen  ihr  eine  zweite  und  diitte  zur  Linken  oder  zur 
Rechten  nach  in  unendlicher  Folge.  Ein  solcher  Fall  spendet  un- 
aussprechliche Kraft  und  Frische  über  alles  Wachsthum  im  Thal, 
und  verleiht  diesem  selbst  eine  Art  von  Jugendreiz.  Man  wun- 
dert sich  beinahe,  dass  die  Ach  mit  ungebärdigem  Lärm  sich  über 
den  unerwarteten  Widerstand  empört,  dass  sie  so  besinnunglos  die 
besten  nie  wiederkehrenden  Momente  ihres  Laufes  überspringt,  als 
ob  sie  nicht  früh  genug  aus  frischem  Fichtendunkel  auf  den 
schwülen  Boden  herabgelangen  könne,  wo  sie  vom  Schlamm  und 
Moder  des  Schuttlandes  sich  trübt,  an  seichten  Stellen  sich  phleg- 
matisch verbreitet,  und  zwischen  Ried  und  Moos  träge  säumt; 
wo  bei  einem  Rückfall  in  jugendliches  Tempo  ihr  durch  Korb- 
geflechte von  Obrigkeitswegen  ein  corrigirter  und  polizeilich  zuläs- 
siger Wandel  vorgeschrieben  wird,  bis  sie  im  Flachland  endlich 
vor  jedem  Hügel,  vor  jeder  Erdzunge    sich   krümmen    lernt,    und 

28* 


436 


Ferienreisen. 


zuletzt  die  Stelle  erreicht,  wo  sie  schiffbar  wird,  zum  Rang  eines 
„Circulationsmittels"  sich  aufschwingt,  und  Lasten  trägt  wie  sehr 
viele  andere,  deren  Abkunft  nicht  hinauf  führt  nach  den  Gletscher- 
spalten der  Krimler  Tauern. 

Unser  Reiseglück  hatte  uns  für  die  Wanderung  oder  Fahrt 
durch  das  Pinzgau  einen  auserwählten  Morgen  bescheert.  Die 
linke  oder  nördliche  Thalseite,  welche  nach  dem  Inn  zu  die  Was- 
ser scheidet,  ist  theils  buschig  bewachsen,  theils  bebaut  und  ohne 
alle  landschaftlichen  Reize  bis  Brück,  wo  sich  die  Berge  golfartig 
nach  einer  blauen  Tiefe  öffnen,  und  eine  Kette  entblösster  Felsen- 
gebirge zeigen,  unter  denen  wir  den  Watzmann  suchen  und  das 
steinerne  Meer  unterscheiden,  doppelt  für  uns  anziehend,  weil  wir 
uns  über  die  scharfen  Steinkämme  hinüber  denken  können  in  die 
Tiefe  des  schattigen  Königsees.  Die  Salzach  folgt  ziemUch  schnur- 
gerade der  grossen  Achse  des  Thaies,  aber  die  Moderfarbe  ihres 
Wassers,  ihre  sumpfigen  Verbreiterungen  und  Rohrwiesen  dienen 
der  Landschaft  wenig  zur  Zierde.  Auch  sucht  das  Auge  nur  am 
jenseitigen  Ufer  seine  Genüsse,  weil  gegen  Süden  eine  Kette  der 
höchsten  Ferner  sich  mit  unserm  Weg  parallel  gegen  Osten  bewegt. 

Geschlossen  folgt  dort  ein  Schneeberg  nach  dem  andern,  und 
nur  hie  und  da  findet  sich  eine  Lücke,  die  einen  brauchbaren 
Uebergang  in  das  jenseitige  Tirol  verstattet.  Die  weit  vorgescho- 
benen Stufen  der  hohen  bewachsenen  Vorberge  würden  uns  jeden 
Blick  in  den  Schnee  neidisch  wehren,  wenn  sie  nicht  durch  zahl- 
reiche Querspalten  zertheilt  würden,  die  sich  in  unablässiger  Folge 
fast  jede  halbe  Wegstunde  erneuern  und  schluchtenartig  nach  dem 
Fuss  der  Ferner  öffnen.  Kaum  liegt  der  stille  Thalwinkel  der 
Krimler  Ach,  gekrönt  mit  dem  Anblick  auf  den  Schnee  der  Reich- 
spitz, hinter  uns,  so  bemerken  wir  eine  doppelte  Lücke  der  rech- 
ten Thalwand.  Die  dichtbestandenen  Vorgebirge  senken  sich  hier 
schroff  herab  und  lassen  Raum  für  eine  beträchtliche  Querspalte, 
die  durch  eine  waldige  Pyramide  unparteiisch  in  zwei  Thäler  ge- 
schieden wird.  Anfangs  will  die  Thalsohle  sich  beträchtlich  dem 
Horizont  nähern,  so  dass  man  meint,  es  müsse  sich  dort  der  be- 
quemste Uebergang  nach  Tirol  finden;  aber  bald  füllt  sich  die 
erste  Schlucht,  das  obere  Sulzbacher  Thal,  mit  dem  Anblick  von 
blendenden  Schneemassen,  die  in  mehreren  Spitzen  aufstreben. 
Noch  hat  man  nicht  ganz  diese  Gruppe  des  kleinen  Venedigers 
verloren,  so  steigt,  begränzt  von  den  scharf  auf  einander  fallenden 


Ein  Ausflug  in  die  Salzburger  und  Tiroler  Alpen.  A-yj 

Linien  der  völlig  mit  Nadelholz  bedeckten  Vorberge,  der  grosse 
Venediger  auf  —  eine  dreiseitige  unbefleckte  Schneepyramide  von 
geometrischer  Reinheit,  als  ob  der  im  klaren  Frost  starrende 
Gipfel  unmittelbar  aus  dem  schwärzlichen  Wäldersaum  heraus- 
gewachsen wäre.  Die  Luft  ist  so  klar,  dass  man  die  Hand  nach 
diesem  herrlichen  Krystall  ausstrecken  möchte,  und  doch  Hegt  er 
in  so  unerreichbarer  Tiefe,  dass  wir  gar  nicht  die  felsigen  Schul- 
tern dieses  mächtigen  Geschöpfes,  sondern  nur  seinen  Schnee  zu 
Gesicht  bekommen.  Der  Anblick  war  dieses  Jahr  besonders  voll- 
kommen, weil  Ende  JuU  so  mächtige  Schneemassen  gefallen  waren, 
dass  sie  jede  Besteigung  damals  sehr  gewagt  machten  oder  gänz- 
lich hinderten.  Im  nächsten  Thal  Hess  sich  der  glänzende  Schädel 
des  Habacher  Kees  blicken,  und  so  gewährte  jede  folgende  Spalte 
eine  neue  Gruppe,  mit  neuen  Formen  und  neuen  Lockungen,  die 
Tauernkette  durch  einen  Uebergang  zu  bezwingen.  Von  allen 
Thälem  der  Alpen,  die  parallel  den  grossen  Achsen  der  Höhen- 
züge folgen,  verdient  desshalb  das  Pinzgau  durch  seinen  Reich- 
thum  und  raschen  Wechsel  der  Landschaft  jedenfalls  den  höchsten 
Preis,  weil  es  immer  wieder  durch  neue  Bilder  überrascht,  wäh- 
rend andere  Längenthäler  uns  nur  gar  zu  leicht  ermüden. 


IL 

(Beilage  zu  Nr.  299  der  Allgem.  Zeitung  vom  26.  October  185S.) 

Aus  ähnhchen  Gründen  wie  Chamounix  in  der  westlichen 
Schweiz,  wird  in  den  östlichen  Alpen  Heilig-Blut,  ein  kleiner  Wall- 
fahrtsort des  MöUthals  in  Kärnthen,  aufgesucht,  weil  man  von  dort 
dem  Grossglockner,  nach  der  Ortelesspitze  dem  höchsten  Berge 
Tirols,  am  meisten  sich  nähern  kann.  Vom  Pinzgau  aus  führen 
das  Fuscher-  und  das  Rauriserthal,  zwei  parallele  Spalten,  senkrecht 
nach  der  grossen  Kette  der  osttirolischen  Ferner.  Fusch  ist  ein 
kleines  Pfarrdorf,  wo  man  vor  dem  Uebergang  über  das  Joch 
übernachten  mag,  wenn  man  nicht  vorzieht,  noch  tiefer  ins  Thal 
nach  dem  ,,Tauernhaus"  (Fehrleiten)  vorzudringen.  In  der  Ver- 
längerimg  des  Fuscherthals  gerade  gegen  Süden,  zwischen  dem 
Eiskogel  und  Brennkogel,    liegt  die  Pfannenscharte,    eine  Bresche 


438 


Ferienreisen. 


im  Kamm  der  Schneegebirge ,  welche  unmittelbar  nach  den  Glet. 
Sehern  des  Grossglockners  hinüberführt;  aber  dieser  Uebergang 
wird  nur  bei  sicherm  Wetter  und  bloss  den  völlig  schwindelfreien 
Reisenden  angerathen.  Betretener  und  bequemer  ist  der  Pfad 
nach  dem  Fuscherthor,  einem  Joch  oder  einer  Scharte  von  7300 
Fuss  Erhebung.  Von  der  Thalsohle  gerechnet  erreicht  man  diese 
Höhe  in  2^/2  Stunden.  Anfangs  geht  es  an  weichen  Rasenwänden 
bergauf,  dann  gewährt  der  Wald  eine  Zeitlang  Schatten,  worauf 
man  den  Gürtel  des  Knieholzes  erreicht,  über  freie  Matten  dann 
aufwärts  steigt,  bis  man  zuletzt  nur  nacktes  Gestein  betritt.  Das 
Fuscherthor  führt  aber  nicht  nach  Kärnthen,  sondern  nur  auf  die 
Höhenscheide  der  oben  erwähnten  Parallelspalte  nach  dem  Rau- 
liserthal  hinüber.  Auf  dem  Joch  selbst  geniesst  man  eine  Aussicht, 
die  an  Grossartigkeit  nur  von  auserwählten  Punkten  des  Berner 
Oberlandes  übertroffen  wird,  denn  man  befindet  sich  mitten  in 
einer  Gruppe  der  höchsten  Schneegipfel  von  10  bis  nahe  an 
12,000  Fuss.  Gegen  Osten  liegt  unter  uns  der  Spalt  des  Rau- 
riserthals,  verriegelt  durch  den  scharfgezackten  Weissenbacher  Kees. 
Zwischen  ihm  und  dem  Brennkogel  ist  der  Gebirgsrand  tief  aus- 
gewetzt und  lässt  ein  zweites  Joch,  das  Hochthor,  wahrnehmen, 
welches  einen  bequem  eingeschnittenen  Sattel  zum  Uebergang 
nach  Kärnthen  verheisst.  Wem  das  Glück  besonders  hold  ist, 
der  findet  dort  die  Gipfel  vom  Nebel  so  frei,  dass  er  hinter  dem 
Hörn  des  Fuscher  Eiskogels  links  die  Doppelspitze  des  Gross- 
glockners wahrnimmt.  Gewöhnlich  aber  sind  drei  oder  vier  Stunden 
nach  Sonnenaufgang  schon  die  Höhen  mit  wehenden  Nebeln  um- 
hüllt, mag  auch  sonst  der  Himmel  völlig  fleckenlos  und  blank  ausge- 
spannt sein.  Aber  gerade  diese  Nebel  geben  dem  Schauspiel  un- 
vergleichliche Reize.  Drei  volle  Stunden  standen  wir  auf  dem 
Fuscherthor  in  höchster  Spannung,  denn  eben  war  die  Sonne  durch 
die  Brüche  eines  dünnen  Morgenhimmels  gedrungen  und  riss  nun 
tiefe  Lücken  in  die  strömenden  Bergdämpfe.  Aber  es  fehlte  an 
einem  ausdauernden  Wind,  um  alle  Gipfel  rein  zu  blasen,  denn  er- 
müdet legt  sich  jedesmal  der  Luftzug,  sobald  er  eine  Nebelbank 
beiseite  geschoben  hatte.  Gar  trügerisch  ist  das  Spiel  der  Dunst- 
massen und  ihr  Kampf  gegen  die  wachsende  Tageswärme.  Lange 
hängen  sie  zäh  in  gerader  Linie  an  den  Gürteln  der  Berge, 
dann  sinken  sie  nur,  um  an  den  Thalabhängen  sich  aufwärts  zu 
wälzen. 


Ein  Ausflug  in  die  Salzburger  und  Tiroler  Alpen, 


439 


Während  hinter  uns  ein  sonnenerwärmtes  Thal  Hegt,  die 
Schneemassen  an  den  gehörnten  Bergen  frisch  und  klar  herüber- 
leuchten ,  quillt  und  wirbelt  es  uns  aus  dem  Seitenthal  grämlich 
aschgrau  entgegen  wie  aus  einem  Rauchfang,  und  bald  fühlen  wir 
fröstelnd  uns  vom  nassen  Gewölk  in  die  Dämmerung  eines  Regen- 
abends gehüllt.  Aber  nicht  lange,  so  lichtet  es  sich  wieder  in 
dem  Dunststrom,  ein  Glanz  verbreitet  sich  am  untern  Saum  und 
wächst  mit  verheissungsvoller  Hast.  Abermals  zeigen  sich  wieder 
die  sonnenbestrahlten  untern  Gletschermassen  der  Tauern,  aus 
deren  bläulich  schimmerndem  Eis  hervor  ein  halbes  Dutzend 
schäumender  Wasserstränge  über  die  lothrechte  Felswand  in  die 
grünende  Tiefe  sich  hinabsenken.  Von  solcher  Höhe  fallen  die 
Wasser  herab,  so  täuschend  nah  und  doch  so  weit  entfernt  sind 
wir  von  ihnen,  dass  wir  die  einzelnen  Schaumgarben  so  gemächlich 
niedergleiten  sehen  wie  Tropfen  an  den  Wänden  eines  Glases 
herabrinnen.  Aber  wir  haben  keine  Zeit,  mit  dem  Auge  Schwall 
auf  Schwall  zu  begleiten,  denn  plötzlich  zerreisst  über  uns  an 
einer  zweiten  Stelle  der  Nebelschleier,  und  mit  einer  Art  von 
freudigem  Schreck,  in  einer  Höhe,  wohin  sich  das  Auge  nicht 
verirrt  hätte,  erscheint  gegen  Nordwest  der  Schneegipfel  einer 
mächtigen  Pyramide,  das  Wiesbacher  Hörn,  über  11,317  Fuss 
hoch ,  so  dass ,  wenn  sich  der  Wiesbacher  auf  die  Zehen  stellen 
dürfte,  er  gleiches  Mass  mit  dem  Venediger  und  Grossglockner 
besässe.  Dicht  neben  ihm,  volle  tausend  Fuss  niedriger,  aber  in 
einen  unbefleckten  Schneemantel  gehüllt,  erhebt  die  „Glocknerin' 
ihren  kleinen  Kopf,  und  plötzlich  ruht,  von  allem  Dunst  entblösst» 
vor  uns  die  schöne  Gruppe  bis  zu  den  Kapruner  Tauem  völlig 
frei  im  schärfsten  Sonnenglanz.  Auch  zwischen  dem  Fuscher  Eis- 
kogel  und  dem  borstigen  Kamm  des  Brennkogels  will  es  hell 
werden ,  der  Nebel  verdünnt  sich  und  quillt  leuchtend  durch  die 
Oeffnung,  wo  der  Grossglockner  sichtbar  werden  soll.  Schon  er- 
scheint durch  den  Dunstflor  der  spitze  Gipfel  des  Eiskogels  ,  und 
seine  Umrisse  werden,  wenn  auch  matt,  bis  zur  Basis  klar  —  jetzt 
noch  ein  kräftiger  Windstoss,  und  das  herrliche  Gemälde  stände 
gereinigt  vor  den  gierigen  Blicken ! 

Wie  wünschten  wir  in  diesem  Augenblick  uns  die  Schweizer 
Industrie  herab.  Dort  giebt  es  würdige  Personen  am  dunkelblauen 
Eise  des  Rosenlaui,  welche  als  ,, Gletschermeister"  gegen  ein  Trink- 
geld den  Reisenden  sich  satt  an  der  Wunderpracht  des  Alpeneises 


440 


Ferienreisen. 


ZU  sehen  gestatten.  Warum  gab  es  nicht  auch  einen  kühnen 
Speculanten  ,  der  sich  uns  als  „Nebelmeister"  des  Fuscher  Thores 
vorgestellt  hätte?  Gewiss  hätte  er  für  eine  einzige  minutenlange 
Lücke  in  dem  neidischen  Gewölk ,  die  wir  seiner  Barmherzigkeit 
verdankt  hätten,  ein  hartes  Stück  Geld  verdienen  können.  Aber 
vergeblich  schauten  wir  uns  nach  einem  solchen  Gesellen  um,  und 
nach  kurzer  Zeit  wehte  und  quoll  es  wieder  düster  und  frostig 
vom  Thal  herauf.  Wohl  vier-,  wohl  fünfmal  innerhalb  dreier 
Stunden  wiederholte  sich  dasselbe  Schauspiel;  immer  und  immer 
war  die  Glocknerin  und  der  Wiesbacher,  seltener  der  Eiskogel, 
uns  gefällig ;  der  Grossglockner  aber  hatte  seine  Laune ,  und  wir 
schieden  betrübt  über  seine  Illiberahtät,  wenn  wir  uns  auch  glück- 
lich priesen,  diese  auserwählte  Gruppe  Tiroler  Ferner  in  ihren 
schönsten,  den  flüchtigen  Momenten,  im  Spiel  von  Licht  und 
Nebel,  betrachtet  zu  haben. 

Der  Weg  vom  Fuscherthor  nach  dem  Hochthor  führt  durch 
SteingeröUe  am  Fuss  des  schieferblauen  Brennkogels  zunächst  ab- 
wärts, dann  bergauf  über  einen  Sattel,  das  sogenannte  Mittelthörle, 
und  endlich  über  einige  Schneefetzen  steil  hinauf  nach  der  Scharte 
des  Hoch  thores  (8300  Fuss),  welche  einen  bequemen  Pass  zwischen 
dem  Weissenbacher  Kees  und  dem  Brennkogel  gewährt.  Die 
Aussicht  von  der  zweiten  Höhe  überrascht,  wie  jeder  Blick  in  ein 
neues  Land,  und  war  in  der  Richtung  unseres  Weges  noch  völlig 
von  Gewölk  frei.  Nach  Südwesten  zu  liegt  quer  vor  uns  ein  Thal, 
dessen  Tiefe  das  Auge  noch  nicht  zu  erreichen  vermag,  und  aus 
ihm  steigen  krystallscharf  etliche  Gipfel  des  Petzeck  und  der 
Weissenbacher  Spitze  mit  Schnee  und  Gletschern  auf,  die  eine 
besondere  Gruppe  bilden,  getrennt  durch  ein  muldenförmiges 
Hochthal  von  den  Gletschern  der  Pasterzenkogel,  den  Jüngern  Ge- 
schwistern des  Grossglockners,-  mit  denen  gegen  Westen  die  Fern- 
sicht abschliesst.  Von  ihren  Höhen  senkt  sich  an  unversehrten 
Nadelwäldern  der  Blick  in  ein  unbequem  enges  Thal  nieder,  wo 
die  Sonne  nur  wenige  Stunden  des  Tags  zu  verweilen  vermag,  und 
wo  Heilig-Blut,  an  schroffe  Matten  gelehnt,  sich  vor  unserm  BHck 
noch  versteckt.  Abwärts  von  Heilig-Blut  bildet  das  Möllthal,  dessen 
Bach  von  den  Gletscher  wassern  des  Glockners  und  der  Petzeck- 
Gruppe  sich  nährt ,  einen  Ellenbogen ,  indem  es  seine  ursprüng- 
Hch  östliche  in  eine  südliche  Richtung  ändert,  an  Breite  gewinnt 
und  sich  besser  unsern  Blicken  öffnet,     lieber   die  rechte  Höhen- 


Die  hohe  Salve. 


441 


scheide  des  Thaies  hinweg  ziehen  klar  am  südUchen  Himmel  die 
Ketten  des  obern  Pusterthals  gegen  Westen,  während  hinter  diesem 
letzten  Kamm  der  Alpen  ein  Stück  lombardischen  Himmels  sich 
wölbt.  Begierig  den  Grossglockner  diessmal  von  rückwärts  zu 
fassen ,  stiegen  wir  auf  einem  mit  Vieh  betriebenen  Weg  nach 
Heilig-Blut  hinab.  Aber  an  der  tiefern  Stelle,  wo  das  Glocknerhom 
zuerst  hinter  den  verdeckenden  Vorbergen  sich  zeigen  sollte,  ge- 
wahrten wir  nur  die  Schneemassen  der  Pasterzenferner  und  das 
eisige  Fussgestell  des  Grossglockners  selbst,  denn  seine  Spitze  — 
die  am  Morgen  völlig  rein  gewesen  war  —  hatte  sich  mittlerweile 
in  eine  grämliche  Nebelkappe  gehüllt.  Da  es  gerade  Sonntag 
und  Wallfahrtszeit  in  Heilig-Blut  war,  so  hatten  wir  Mühe,  in  dem 
mit  Lärm  erfüllten  Wirthshaus  bis  zu  unsern  Zimmern  vorzudrin- 
gen. Zwar  vermissten  wir  dort  manche  Bequemhchkeit  des  Berner 
Oberlandes,  spendeten  aber  dafür  Küche  und  Keller  treffliches 
Lob,  und  so  fehlte  uns  nichts  als  ein  Blick,  ach !  nur  ein  einziger 
Blick  nach  dem  tückischen  Grossglockner.'  Für  diese  Entbehrung 
entschädigte  uns  der  freundliche  und  geseUige  Pfarrer  des  Orts 
durch  Vorzeigen  eines  hübschen  Reliefs  der  Grossglockner-Gruppe, 
durch  Schilderungen  von  Glocknerfahrten,  deren  Verdienst  er  weni- 
ger den  Reisenden  als  den  kundigen  und  unerschrockenen  Führern 
beimass,  die  selbst  schwindelnde  Reisende  halb  ohnmächtig  bis 
zum  zweiten  Hörn  getragen  und  an  Seilen  hinaufgezogen  haben. 
Wir  besprachen  die  Möglichkeit  von  Partien  nach  der  „Elisabeth- 
ruhe" und  der  Franz -Josephs -Höhe  für  den  folgenden  Morgen, 
obgleich  der  Regen  vor  dem  Hause  plätscherte,  und  ich  erfreute 
mich  im  stillen,  mit  welcher  Anhänglichkeit  und  Achtung  der 
liebenswürdige  geistliche  Herr  im  Gespräch  der  Allgemeinen  Zeitung 
gedachte,  ohne  dass  er  ahiite,  oder  noch  jetzt  ahnt,  dass  er  mit 
jemand  sprach,  der  sechs  Jahre  lang  die  Ehre  hatte,  zur  Redaction 
zu  zählen  und  sich  dieser  Zeiten  noch  dankbar  erinnert. 


III. 
Die  hohe  Salve. 

(Beilage  zu  Nr.  303  der  Allgem.  Zeitung  vom  30.  October  1858.) 

Den  Freunden  von  tiroler  Naturgenüssen  ist  es  längst  bekannt, 
dass  die    hohe  Salve   eine   unvergleichliche  Gebirgsaussicht   bietet. 


AA2  Ferienreisen. 

der  grosse  Touristenstrom  aber  hat  sich  noch  nicht  dorthin  er- 
gossen, ja  nur  wenige  wissen  überhaupt,  dass  die  westlichen  Alpen 
ein  ebenbürtiges  Seitenstück  zum  schweizerischen  Rigi  besitzen. 
Seit  Eröffnung  der  Eisenbahn  nach  Kufstein  ist  es  möglich  ge- 
worden, von  München  mit  Bequemlichkeit  in  Einem  Tag  die  Spitze 
des  Berges  zu  erreichen,  und  am  andern  mit  derselben  Gemäch- 
lichkeit wieder  heimzukehren.  Es  fordert  daher  wenig  prophe- 
tische Gabe,  um  vorauszusagen,  dass,  ehe  noch  fünf  Jahre  ver- 
gehen, auf  der  hohen  Salve  ein  geräumiges  Wirthshaus  wachsen, 
am  Fuss  des  Berges  sich  ein  zahlreicher  Apparat  zum  Besteigen 
aus  vier-  und  zweibeinigen  Packthieren  entwickelt  haben,  und 
jeder  schöne  Sommer-  oder  Herbstmorgen  eine  andächtige  Ge- 
meinde von  Naturfreunden  auf  dem  Kulm  des  Tiroler  Rigi  ver- 
sammeln wird.  Die  Salve  liegt  zwischen  dem  Inn  und  dem  Achen, 
und  erhebt  sich  auf  5656  F.  (österr.  Mass),  ist  also  eben  so  hoch 
als  der  Rigi,  und  hoch  genug,  um  über  die  niedern  Bergketten 
hinwegzuschauen,  die  zwischen  ihr  und  der  hohen  Schneekette 
der  Tiroler  Alpen  liegen.  Bestiegen  kann  die  Salve  von  sehr 
verschiedenen  Seiten  werden ,  und  von  Kufstein  aus  in  gerader 
Richtung  über  Soll  in  fünf  Stunden.  Wer  es  sich  aber  bequem 
machen  will,  fährt  zuerst  nach  Hopfgarten,  und  schlägt  dann  einen 
schattigen  Weg  ein,  der  bergauf  in  2^2  Stunden  nach  dem  Kulm 
führt.  Noch  näher,  aber  auch  steiler,  ist  der  Pfad  von  Brixen 
aus,  wo  ein  tüchtiger  Fussgänger,  wenn  er  nicht  rastet,  in  zwei 
Stunden  die  Spitze  des  Berges  erreicht.  Rosse  oder  Saumthiere 
sind  noch  nicht  vorhanden,  und  erst  Versuche  gemacht  worden, 
nach  Hopfgarten  einen  Weg  zu  bahnen.  Rings  umher  liegen 
gleichartig  gestaltete  Berge,  wie  die  Salve,  nämlich  regelmässige 
Kegel  auf  einem  massiven  Bergrücken,  unter  denen  das  Kitzbüchler 
Hörn,  der  Doppelgänger  der  Salve,  weiter  gegen  Osten,  wegen 
seiner  etwas  grössern  Erhebung  unserm  Berg  den  Rang  streitig 
machen  soll  Anfänglich  zieht  sich  der  Weg  von  Brixen  durch 
lichten  Wald  oder  Wiesen  hinauf  an  Almhülten  vorüber,  bis  man 
den  Kegel  selbst  erreicht,  dessen  Abhänge,  bäum-  und  strauchlos, 
mit  niederm  Weidegras  bekleidet  sind.  Als  wir  eine  halbe  Stunde 
vor  Sonnenuntergang  den  Gipfel  gewannen ,  senkten  drohende 
Hochgewitter  an  den  südlichen  Ketten  sich  hernieder,  oder  hingen 
sich  wie  düstere  Spinngewebe  über  den  Eingang  der  nahen  Thäler, 
während    Wolkendampf    aus    den    Hörnern    der    Berchtesgadener 


Die  hohe  Salve. 


443 


Felsengruppe  und  dem  Steinernen  Meere  quoll.  Doch  versagte 
uns  die  Sonne  nicht  einen  goldigen  Abschiedsgruss ,  und  wärmte 
mit  ihrer  Farbengluth  die  Felsenburg  des  Wilden  Kaiser.  Der 
lange  Steinrücken  dieses  Gebirgszugs  ist  bekanntlich  eine  der 
höchsten  Zierden  des  Innthals,  und  ein  Liebling  der  tiroler  Natur- 
freunde. Er  ersetzt  uns  völlig  die  Felsenbildungen  am  Vierwald- 
stättersee,  denn  wenn  er  an  Gestalt  auch  weit  eher  dem  rauhen 
Kamm  der  Kurfürsten  in  St.  Gallen  gleicht  als  den  prächtig 
auflodernden  Felsen  des  Pilatus,  so  übertrifft  er  diese  doch  noch 
durch  den  Reichthum  seiner  phantastisch  aufstrebenden  Linien. 
Nirgends  aber  gewährt  diese  Klippenkette  mehr  Entzücken ,  als 
von  Kitzbüchel  oder  von  Südsüdost  gesehen,  wo  sich  die  einzelnen 
Felsensicheln  von  einander  ablösen,  und  jedes  versteinerte  Glied 
gleichsam  wie  mit  einem  zum  Schwur  erhobenen  Finger  in  den 
Himmel  ragt.  Von  der  baierischen  Ebene  am  linken  Innufer  be- 
schaut sich  das  Gebirge  dagegen  wie  ein  festgeschlossener  Wall, 
der  zu  seiner  grössten  Verherrlichung  des  abendlichen  Lichts  be- 
darf. Wenn  das  zarte  Grau  des  zerklüfteten  Gesteins  von  der 
letzten  Gluth  rosig  angehaucht  wird,  die  scharfen  Schatten  blau 
und  blauer  werden,  oder  wohl  gar  schön  gestaltete  Wolken  an 
den  unwirthlichen  Felsen  schweben,  und  diese  steinerne  Wildniss 
von  der  Macht  zarter  Farben  bewältigt  und  besänftigt  wird,  da 
erklärt  und  rechtfertigt  es  sich,  dass  schon  bei  dem  Namen 
dieses  Gebirges  unsere  Naturfreunde  in  Begeisterung  gerathen. 

Da  im  Westen  und  Süden  die  Aussicht  von  der  Salve  am 
Abend  verwettert  war,  so  begaben  wir  uns  nach  Sonnenuntergang 
unter  Obdach.  Auf  dem  Gipfel  der  Salve  stehen  nämUch  drei 
Gebäude,  eine  Capelle,  eine  Hütte  zum  Uebernachten  mit  drei 
zweischläfrigen  Betten,  und  eine  andere,  welche  die  Kammer  der 
Wirthsleute  enthält,  die  wiederum  durch  eine  Küche  von  einer 
gemeinsamen  Stube  für  die  Gäste  getrennt  wird.  Da  sich  kein 
Schornstein  vorfand,  so  zog  der  Küchenrauch  in  die  Stube,  wo  er 
sich  verwandtschaftlich  mit  dem  Qualm  des  k.  k.  Tabaks  mischte, 
der  aus  ein  paar  Dutzend  Cigarren  und  Pfeifen  uns  entgegen 
wehte,  und  sehr  monopolitisch  roch.  In  diesem  Dunstkreise  nun 
verzehrten  wir  ein  höchst  frugales  Mahl,  welches,  obgleich  es  ein 
Freitag  war,  nur  aus  einer  Fastensuppe  und  Fastenspeise  bestand, 
wozu  ein  trinkbarer  Tiroler-Wein  und  Wasser  in  bedachtsam  zu- 
gemessenen  Quantitäten    gereicht   wurde.      Entschlossen ,    aus    ge- 


444  Ferienreisen. 

wissen  Gründen,  nicht  auf  dem  Heu  zu  schlafen,  blieben  wir  in 
dieser  Stube,  und  hielten  uns  beim  Kartenspiel  wach  bis  sich  die 
Gesellschaft  nach  ihren  anderweitigen  Schlafplätzen  verfügt  hatte, 
worauf  es  erst  möglich  wurde,  den  verpesteten  Raum  zu  lüften. 
Als  wir  dann  gegen  Mitternacht  vor  die  Hütte  traten,  lagen  unter 
uns  die  zahllosen  Berggipfel  im  Frieden  des  Mondscheins,  während 
am  Horizont  die  abgezogenen  Gewitter  durch  immer  spärlicher 
zuckende  Strahlen  eine  baldige  Beruhigung  des  Dunstkreises  ver- 
hiessen,  denn  sonst  hatte  der  Himmel  sich  völlig  abgeklärt,  und 
liess  einen  hellen  Morgen  erwarten.  Vergnügt  darüber,  verfügten 
wir  uns  zurück  nach  unserer  Rauchkammer,  wo  wir  mit  andern 
Leidensgefährten  Bänke  und  Tische  zu  einer  kurzen  Nachtruhe 
theilten.  Gewiss  würde  ich  Sie  und  Ihre  Leser  mit  diesen  trivia- 
len Beschwerden  verschont  haben,  'wenn  nicht  die  Schilderung 
andern  Reisenden  zur  Warnung  dienen  sollte,  mit  Damen  nur  dann 
auf  der  hohen  Salve  zu  übernachten,  wenn  man  sich  vorher  der 
einzigen  Kammern  des  dritten  Gebäudes  versichert  hat.  Ferner 
wird  die  einfache  Mittheilung  in  Ihrem  Blatt  vielleicht  hinreichen, 
bald  allen  Entbehrungen  der  Reisenden  abzuhelfen.  Es  kann  gar 
nicht  ausbleiben,  dass,  nachdem  die  Salzburger  Bahn  vollendet  ist, 
nach  der  hohen  Salve  sich  der  grosse  Schwärm  der  Naturwall- 
fahrer ebfn  so  wie  nach  dem  Rigi  ergiessen  wird,  sobald  für  die 
Beherbefgung  zahreicher  Besuche  Sorge  getragen  ist.  Der  jetzige 
Wirth  auf  der  hohen  Salve  gestand  gutmüthig  ein;  dass  es  ihm 
bei  vorgerücktem  Alter  an  Muth  zu  Unternehmungen  und  vor 
allem  an  Geld  fehle,  dass  er  daher  seinen  kleinen  Betrieb  nicht 
ausdehnen  könne,  wenn  sich  ihm  nicht  ein  CapitaHst  zugeselle. 
Wäre  die  Rosenheim-Kufsteiner  Bahn  ein  Privatunternehmen,  so 
würde  eine  solche  Gesellschaft  für  ihr  eigenes  Geschäft  sorgen, 
wenn  sie  Darlehen  zu  einem  Hotelbau  auf  der  hohen  Salve  be- 
willigte. So  aber  findet  sich  vielleicht  der  Speculant  von  selbst 
ein,  wenn  das  Bedürfniss  durch  diese  Blätter  recht  bekannt  wird. 
Es  giebt  nun  freilich  unter  uns  manche,  die  gegen  solche  Wünsche 
eine  Art  von  Abscheu  hegen,  weil  sie  meinen,  dass  hohe  Natur- 
genüsse immer  mit  ascetischen  Prüfungen  verknüpft  bleiben  soll- 
ten. Zu  diesen  gestrengen  Herren  zähle  ich  nicht,  obgleich  mich 
weder  Anstrengungen  noch  Entbehrungen  von  irgendeinem  Natur- 
genuss  abgeschreckt  haben.  Nie  habe  ich  gefunden ,  dass  ein 
reinliches  Bett,  der  Luxus  eines  Waschapparats  am  Morgen,  eines 


Die  hohe  Salve. 


445 


schmackhaften  Gerichts,  gewürzt  durch  die  Wanderschaft  am  Tage, 
der  Empfänglichkeit  des  Gemüths  für  die  Reize  der  holden  oder 
erhabenen  Schöpfung  geschadet,  sondern  dass  im  Gegentheil  diese 
guten  Dinge  die  Fähigkeiten  von  Sinn  und  Geist  für  den  edelsten 
aller  Genüsse,  für  die  Aufnahme  landschaftlicher  Eindrücke,  nur 
geschärft  haben.  "Wohl  begreife  ich  den  Jammer  der  genügsamen 
Alpenwanderer,  wenn  sie  nach  und  nach  alle  versteckten  Heilig- 
thümer  ihrer  Gebirgswelt  vom  Lärm  des  Touristenpöbels  er- 
füllt sehen,  und  daher  gern  wünschen,  dass  hie  und  da  noch  so 
viel  Ungemach  übrig  bleibe,  um  wenigstens  die  Bequemen  noch 
längere  Zeit  zu  verscheuchen.  Wenn  wir  aber  in  Betracht  ziehen, 
dass  Naturgenuss  das  Gemüth  erhebt,  beglückt,  und  ich  möchte 
sagen ,  in  eine  gereinigte  Stimmung  zu  versetzen  vermag ,  dann 
müssen  wir  um  der  sittlichen  Wirkungen  willen  gewiss  nur  wünschen, 
dass  der  grossen  Menge  auch  die  unbekannten  Glanzpunkte  zu- 
gänglich werden.  Und  wer  wünschte  nicht  auch  dem  zartern 
Geschlecht  dorthin  einen  Pfad  zu  bahnen,  ^^ndem  er  auf  die  Be- 
friedigung von  Schicklichkeitsforderungen  dringt?  Wer  aber  noch 
nie  mit  einer  holden  Frau  in  unwegsamen  Alpenthälern  gewandert, 
und  selten  besuchte  Bergketten  überstiegen  hat,  der  kennt  weder 
die  Reize,  noch  das  Ungemach  einer  solchen  Begleitung,  und  sollte 
also  nicht  mitsprechen.  Ob  es  sich  aber  lohne,  die  hdfce  Salve 
mit  Anstalten,  wie  die  Schweizer  Berge  zu  versehen,  das  will  ich, 
obwohl  solche  Schilderungen  ihr  Ziel  nie  erreichen,  doch  darzu- 
stellen versuchen. 

Ein  grosser  Reiz  des  Rigi  fehlt  dem  tirolischen  Bruder,  näm- 
hch  der  Anblick  der  herrlichen  blaugrünen  Seen  in  lothrechter 
Tiefe  oder  im  fernen  Flachland.  Auch  sind  die  nächsten  vor- 
liegenden Berge  nicht  prächtige  mit  Schnee  betupfte  Felsenkronen, 
sondern  waldige  Rücken  mit  grasreichen  Gipfeln,  zwischen  denen 
enge  Thalsohlen  hinaufsteigen  und  freundliche  Ortschaften  hell  im 
Grünen  schimmern.  Wer  vollends  den  Blick  über  weite  Flächen 
sich  verlieren  lassen  und  auf  der  Ebene  Ortschaften,  Kirchthürme 
und  Städte  zählen  will,  der  findet  auf  der  hohen  Salve  wenig  zu 
zählen,  denn  er  ist  ringsum  eingeschlossen  von  Bergen ,  die  nur 
gegen  Nordosten  eine  Oeffnung  nach  dem  flachen  Land  erschliessen, 
wo  eine  kurze  Bogenöffnung  des  Horizonts  sichtbar  wird,  und 
wohin  der  Inn,  lange  geängstigt  durch  enge  Thäler  und  begierig 
nach  Freiheit,  in  gefälhgen  Krümmungen  entschlüpft.     Auch  solche 


446 


Ferienreisen. 


märchenhafte  Felsengebilde  wie  die  scharfen  Zähne  der  Schwyzer 
Mythen  sucht  man  auf  unserm  Gemälde  vergebens,  da  sich  in 
diesem  Theil  der  Alpen  das  Gestein  in  Massen  mit  rauhem  Kamm 
und  wild  zerklüftet  mauerartig  zusammenzudrängen  liebt.  Dafür 
sieht  man  weit  mehr  Schnee  als  vom  Rigi,  und  befindet  sich  der 
hohen  Kette  der  Alpen  in  erwünschter  Nähe,  während  gerade  die 
krystallenen  Kleinode  des  Berner  Oberlandes  nur  ihr  Profil  dem 
Rigi  zeigen,  und  so  weit  abseits  liegen,  dass  man  immer  den  Berg 
nach  ihnen  hinschieben  oder  sie  näher  heranrücken  möchte.  Dem 
Rundblick  auf  dem  Rigi  haftet  auch  eine  gewisse  Unruhe  anT 
Man  findet  sich  erst  nach  und  nach  zurecht  in  dieser  Anarchie 
von  Gebirgszügen,  deren  Gliederung  nur  mit  Beschwerde  fasslich 
wird.  Auf  der  hohen  Salve  empfindet  man  beinahe  die  Anwesen- 
heit eines  Künstlers,  der  mit  Vorbedacht  die  Gegenstände  zu  einem 
gemeinsamen  Eindruck  geordnet  habe,  namentlich  beherrscht  ge- 
gen Süden  wie  ein  Juwel  im  Ring  der  Venediger  das  gesammte 
Gemälde.  Duft  und  Farbenreize  sind  zwar  auf  dem  Rigi  noch 
zauberhafter  als  auf  der  Salve,  dafür  aber  geniesst  dieser  Berg 
wegen  seiner  Zuckerhutform  den  Vorzug,  dass  kein  langer  Berg- 
rücken ihm  einen  Theil  der  Aussicht  durch  eine  todte  Staffage 
entzieht,  und  dass  er  nicht  bloss  im  Halbkreis,  sondern  in  einem 
beinahe  vöUig  geschlossenen  Theater  die  Gebirgswelt  zeigt. 

Der  Morgen  war  klar  wie  ein  Thautropfen,  und  die  fernsten 
Berggipfel  spiegelten  sich  rein  und  blank  ab  wie  frisch  geprägte 
Silbermünzen.  Im  Osten  lagen  über  der  grünen  Dämmerung  der 
nächsten  Thäler  und  bewaldeter  Kuppen  im  duftigen  Schatten  vor 
der  aufsteigenden  Sonne,  überflössen  von  dem  gemeinsamen  zarten 
Farbenton  der  äussersten  Ferne  als  eine  breite  Felsenbastion,  die 
Lofersteine,  das  Steinerne  Meer  und  der  Ewige  Schnee,  unter 
deren  zahllosen  Gabeln,  Zinken  und  Hörnern  mit  Hülfe  einer 
hthographirten  Bergsilhouette  der  Watzmann  herausgesucht  werden 
konnte.  Weit  mächtiger  wirkte  der  Anblick  nach  Süden,  wo  eine 
fortlaufende  Schneekette  am  Horizont  einen  Bogen  von  mehr  als 
120°  Oeffnung  füllt.  Hier  drängen  sich  zwischen  uns  und  das 
Pinzgau  hohe  Vorberge  mit  zahllosen  waldigen  Kegeln,  von  denen 
eine  Reihe  anmuthiger  Linien  in  Thäler  sich  senkt,  welche  ein- 
ladende Pässe  nach  dem  jenseitigen  Salzachthal  verheissen.  Wie 
der  Kopf  einer  Bleifeder  mit  abgebrochner  Spitze  überragt  diese 
Vorberge  sämmtlich  der  Rettenstein,  eine  7000'  hohe  Klippe,  die 


Die  hohe  Salve. 


447 


bis  an  den  Horizont  reicht,  denn  über  die  andern  Theile  dieses 
farbigen  Vordergrundes  leuchtet  der  Schnee  der  Ferner  auf.  Tiefer 
zurück  und  zur  Linken  neben  der  Pyramide  des  Wiesbacher 
Homs  unter  lauter  Schneehäuptem  steigt  einsam  die  Nadel  des 
Grossglockners  auf,  die  aber  ihrer  Höhe  ungeachtet  viel  zu 
schwächlich  ist,  um  grosse  Eindrücke  zu  hinterlassen,  denn  weiter 
rechts,  fast  genau  im  Süden,  beherrscht  der  Venediger  in  könig- 
licher Ruhe  die  gesammte  Kette  der  Tiroler-Ferner.  Er  ist  nicht 
wie  der  Montblanc,  vom  Arvethal  aus  gesehen ,  ein  langsam  aus 
rostbraunen  Felsennadeln  aufsteigender  Rücken  mit  flachem  Kopf, 
sondern  erhebt  sich  aus  Schneemassen  wie  der  Krystall  einer  drei- 
seitigen Pyramide.  Und  da  seine  Flächen  etwas  hohl  geschliffen 
sind,  so  fällt  der  blaue  Schatten  der  Kanten  malerisch  über  den 
leuchtenden  Schnee,  der  den  Berg  vollständig  und  fleckenlos  be- 
deckt. Es  steigert  die  Würde  des  Venedigers  nicht  wenig,  dass 
weder  zur  Rechten  noch  zur  Linken  ihm  ein  Schneegipfel  bis  zur 
Schulter  reicht,  sondern  die  Kette  zu  beiden  Seiten  im  Ebenmass 
sich  senkt,  bis  erst  weiter  gegen  Westen  wieder  die  stattliche 
Gruppe  der  Krimler  Tauern  mit  der  Dreiherrenspitze  ihre  mäch- 
tigen Schneemassen  ausbreitet.  Nähere  und  fernere  aufsteigende 
Gipfel  der  Vorberge  beginnen  jetzt  die  Schneegebirge  zu  überragen, 
und  die  Fernerkette  in  einzelne  Bruchstücke  zu  trennen.  So  fol- 
gen zunächst  als  gesonderte  Gruppe  die  scharfen  in  Schnee  und 
Eis  starrenden  Hörner  der  Reichen  Spitz  und  des  wilden  Gerlos- 
Kees.  In  grösseren  Abständen  und  zerstreuter  wegen  der  wach- 
senden Entfernung  schauen  noch  einzelne  Schneespitzen  über  die 
farbigen  Zwischenketten,  deren  Höhenränder  gegen  Westen  immer 
entzückender  sich  verschUngen,  so  dass  man  bisweilen  ein  halbes 
Dutzend  von  Linien  und  Farbenstufen  übere^^nander  zählt.  Unter 
jenen  Fernern  soll  sogar  die  Ortelesspitze  erkannt  worden  sein, 
die  am  Fuss  anderer  Schneekegel  in  Nadelkopfgrösse  herüber- 
schaut, doch  WMrd  bei  der  ausserordentlichen  Entfernung  dieses 
edlen  Berges  die  Möghchkeit  einer  strengen  Identificirung  sehr 
erschwert.  Weniger  grossartig,  aber  doch  anziehend  und  anmu- 
thig,  ist  die  Aussicht  gegen  Westen.  Dort  senkt  sich  das  nähere 
Gebirge  mit  seinen  zahlreichen  Gipfeln  abwärts,  und  gewährt  der 
Ebene  des  Innthales  einen  sonnigen  Raum,  auf  dem  wiederholt 
der  Fluss  und  schmucke  Ortschaften  an  seinen  Ufern  sichtbar 
werdeji.     Wird  auch  durch  die  näheren  Berge  dem  Blick  die  Thal- 


^^g  Ferienreisen. 

sohle  selbst  rasch  wieder  entzogen ,  so  kann  man  doch ,  da  die 
Gebirge  weit  zurücktreten,  noch  weit  hinauf  die  Lichtung  des 
grossen  Thals  verfolgen,  bis  durch  eine  Curve  hinter  Innsbruck 
die  Spalte  sich  dem  Auge  entzieht,  und  im  blauen  Duft  die  Höhen 
am  rechten  Ufer  das  Thal  verschHessen.  Dort  wird  abermals  eine 
Schnur  von  Fernern  wahrnehmbar,  worunter  der  Stubbair  zu  er- 
kennen ist,  und  die  jener  Schneekette  angehören,  welche  zwischen 
Innsbruck  und  dem  Oetzthal  liegt.  Das  linke  Ufer  des  Inn  be- 
schirmen dagegen  die  steilen  Steinmassen  des  schönen  Karwendel- 
gebirges, hinter  denen,  schwer  erkenntlich,  die  Zugspitze  aufragt. 
Von  dort  setzt  sich  der  Höhenkamm  in  reicher  Mannichfaltigkeit, 
wenn  auch  besänftigter,  nach  Nordwesten  fort.  Am  lieblichsten 
winkt  die  Aussicht  gegen  Norden.  Noch  einmal  erhebt  sich  links 
die  Kette  der  baierischen  Alpen  zu  einer  lebhaften  Gruppirung. 
Kamm  überragt  Kamm,  gekrönt  von  Hörnern  und  Zacken,  unter 
denen  der  Wendelstein  alle  beherrscht,  bis  sich  die  Kette  in  nie- 
drigen Kuppen  verläuft,  zwischen  und  über  denen  das  ruhige 
Flachland  mit  seinem  Bogen  den  Horizont  begränzt,  und  wo  der 
Inn  gewandt  das  Freie  sucht,  denn  ihm  zur  Rechten  und  weiter 
gegen  Osten  dunkelt  das  mächtige  Gebirge  des  Wilden  Kaisers, 
dessen  Schluchtengewirr  die  morgendUchen  Schatten  noch  sanft 
verwischen. 

Mit  einer  solchen  trockenen  Aufzählung  der  Gegenstände  lässt 
sich  freiUch  nicht  viel  mehr  erwecken  als  der  Begriff  von  dem 
Reichthum  und  der  Mannichfaltigkeit  der  Rundschau.  Unbe- 
schreiblich bleiben  dagegen  alle  jene  Reize,  die  mit  dem  Wechsel 
des  Lichtes  verbunden  sind.  Wenn  ich  vorhin  von  einer  Art 
malerischer  Ordnung  in  diesem  herrlichen  Gemälde  sprach,  so 
wird  dieser  Vorzug  ganz  besonders  beim  Sonnenaufgang  fühlbar. 
Wo  man,  wie  bei  der  Rigi-Aussicht,  die  höchsten  Gipfel  im  Westen 
suchen  muss,  und  diese  der  erste  Lichtstrahl  trifft,  da  wird  der 
Bhck  leicht  hin  und  her  von  Gipfel  zu  Gipfel  gejagt,  wenn  er  das 
erste  Entzünden  der  Höhen  verfolgen  will.  Auf  der  hohen  Salve 
entwickelt  sich  das  Schauspiel  mit  mathematischer  Regelmässigkeit. 
Die  Beleuchtung  rückt  von  der  Linken  zur  Rechten,  denn  zuerst 
umfliesst  die  zarte  Gluth  das  Profil  des  Grossglockners ,  dann  er- 
wärmt sich  erst  die  Spitze  des  Venedigers,  und  während  im  Osten 
schon  die  geringeren  Häupter  aus  der  Dämmerung  aufglänzen, 
regt    sich    das    Licht   langsam   an   den  Krimler   Tauern   und   der 


Eine  Ferienreise  nach  dem  Mittelmeer. 


449 


Gerlosgruppe.  Dieser  Sprung  des  Sonnenglanzes  von  Gipfel  zu 
Gipfel,  und  das  erste  Flüssigwerden  der  Farben  aus  frostiger  Er- 
starrung gilt  vielen  für  den  höchsten  Moment  des  Morgens,  aber 
genussreicher  vielleicht  ist  die  Wirkung,  wenn  die  Sonne  etwa  um 
ihren  doppelten  Durchmesser  über  den  Horizont  gerückt  ist.  Dann 
steht  bereits  die  Höhenkante  der  vordem  Thäler  in  Beleuchtung 
und  die  Gegensätze  von  Licht  und  Schatten,  von  lebendigen  und 
starren  Farben  walten  auf  dem  ganzen  Bilde ,  während  auf  den 
Schneeketten  noch  ein  leichter  Saffranhauch  schwebt,  und  die 
blauen  reizend  gestalteten  Schatten  auf  dem  matten  Gold  der 
Schneewände  durch  ihren  Gegensatz  die  Farbenherrlichkeit  vollen- 
den. Dann  möchte  man  dem  fortrückenden  Tag  Einhalt  gebieten, 
und  zum  Augenblicke  sagen:   ,, Verweile  doch!  du  bist  so  schön!" 


Eine  Ferienreise  nach  dem  Mittelmeer. 

I.     Von  Lyon  nach  Nizza. 
(Ausland  1865.     Nr.   27.     8.  Juli.) 

Lyon  liegt,  wie  jedermann  weiss,  am  Zusammenfluss  des 
Rhone  und  der  Saone.  Der  Hauptfluss  im  geographischen  Sinne 
ist  unbedingt  der  Rhone,  Lyon  aber  dankt  dem  Nebenfluss  weit 
mehr  als  dem  mächtigen  Strom.  Der  älteste  Theil  der  Stadt  mit 
dem  Dome  liegt  auf  dem  rechten  Ufer  der  Saone,  folgUch  muss 
dort  der  Stadtkeim  gesucht  werden.  Der  Rhone  heisst  an  seinem 
Ursprung  noch  jetzt  der  Rothe  Fluss  (Rotten),  woraus  die 
Römer  Rhodanus,  die  Franzosen  Rhone  schufen.  Er  hat,  da  der 
Leman-See  1154,  Lyon  nur  523  Fuss  über  dem  Mittelmeer  liegt, 
ein  gewaltiges  Gefäll ,  und  die  Eisenbahn ,  welche  von  Genf  aus 
seinem  Laufe  ziemlich  treu  bleibt,  ist  ungewöhnlich  reich  an 
Kunstbauten  und  Tunneln,  indem  sie  fortwährend  an  jähen  Ab- 
hängen oder  durch  tiefe  einsame  Schluchten  führt.  Ein  Fluss  mit 
starkem  Gefälle,  mag  auch  seine  Wassermasse  noch  so  bedeutend 
sein,  ist  ein  Culturmittel  von  geringem  Werth  und  ein  schlechter 
Städteerbauer.  Die  Saone  dagegen  heisst  bei  den  Kelten  Arar, 
die  Langsame,  was  auf  eine  Begünstigung  der  Schififfahrt  schliessen 

Peschel,  Abhandinngen.    II.  29 


ACQ  Ferienreisen. 

lässt.  Und  wirklich  ist  noch  heutigen  Tages  für  Lyon  der  klei- 
nere Fluss  wichtiger  als  der  grössere').  Dieses  Verhältniss  der 
beiden  Gewässer  wurde  zum  Gesetz  für  das  Wachsthum  der  Stadt. 
Vom  rechten  Saoneufer  dehnte  sich  Lyon  zuerst  nach  dem  linken 
Saöneufer ,  von  diesem  nach  dem  rechten  Rhoneufer  aus ,  und 
jetzt  erst  sieht  man  eine  junge ,  noch  lückenreiche  Stadt  auf 
dem  linken  Rhoneufer  entstehen.  Es  ist  ein  bekanntes  phy- 
sikalisches Gesetz ,  dass  die  Gabelungen  von  Strömen  oder 
ihre  Delta's  stromabwärts  zu  rücken  pflegen,  ähnlich  müssen 
sich  auch  die  Halbinseln ,  welche  durch  die  Vereinigung  zweier 
Flüsse  gebildet  werden,  beständig  durch  Anschwemmungen  ver- 
grössern.  Wahrscheinlich  lag  die  Mündung  der  Saone  noch  in 
historischen  Zeiten  weiter  oberhalb,  wo  sich  jetzt  auf  einer  Land- 
zimge  der  vornehmere  Theil  der  Stadt  ausbreitet,  in  welchem  man 
die  grossen  Plätze,  die  Kaiser-  und  die  Kaiserinstrasse,  das  Rath- 
haus,  die  Börse,  das  Museum,  die  reichsten  Magazine,  die  grössten 
Hotels ,  die  besuchtesten  Kaffeehäuser  und  die  meisten  Müssig- 
gänger  antrifft.  Die  Saone  hat  sich  ein  tiefes  und  enges  Bett  in 
krystallinisch  metamorphische  Felsarten  gegraben,  deren  Gestein 
mitten  in  der  Stadt  anstehend  gesehen  werden  kann.  In  diesem 
engen  Felsenthale  ist  nur  Raum  für  den  Fluss,  für  die  Quais  und 
für  ein  oder  zwei  Reihen  Häuser.  Die  Stadt  musste  also  terrassen- 
artig emporsteigen  auf  der  felsigen  Halbinsel  zwischen  Saone  und 
Rhone,  und  sie  musste  auch  die  Höhen  krönen  über  dem  rechten 
Saoneufer.  Dieser  Umstand  ist  es,  der  Lyon  zu  einer  so  male- 
rischen Stadt  gemacht  hat.  Denkt  man  sich  zwei  Flussthäler  ge- 
trennt durch  Anhöhen ,  an  denen  sich  Terrassen  über  Häusern 
und  Häuser  über  Terrassen  erheben,  so  fühlt  man  sogleich,  welche 
Vorzüge  die  grosse  Seidenweberstadt  vor  den  Städten  der  Ebenen 
voraus  haben  muss. 

Der  höchste  Punkt  in  der  Stadt  selbst  ist  eine  viel  besuchte 
Wallfahrtskirche,  Notre  Dame  de  Fourvieres,  auf  einer  beherr- 
schenden Stelle  des  rechten  Saoneufers ,  140  Metres  über  dem 
Fluss  gelegen,  von  deren  Glockenthurm  der  Präfect  des  Rhone- 
departements das  beherrschte  Samos  vollständig  überschauen  kann. 


I)  Auf  der  Saone  gelangen  jährlich  400,000,  auf  dem  obern  Rhone  nur 
250,000  Tonnen  Waaren  nach  Lyon.  Die  Thalfahrt  auf  den  vereinigten 
Flüssen  bewegt  von  Lyon  aus  nur  260,000  Tonnen,  die  Bergfahrt  aber  bringt 
gar  nur  81,000  Tonnen. 


Eine  Ferienreise  nach  dem  Mittelmeer. 


45: 


Jenseits  der  Saone  erhebt  sich  auf  seiner  Felsengrundlage  Croix 
Rousse,  das  berüchtigte  Arbeiterviertel,  die  'Schöpferstätte  der 
schwersten  Seidenzeuge,  der  buntesten  gewirkten  Shawls  und  der 
tollsten  sociaHstischen  Träumereien.  Tiefer  unten  zwischen  den 
beiden  Flüssen  liegt  das  handeltreibende  Lyon,  und  unzählige 
Kettenbrücken  verbinden  die  vier  Ufer  der  beiden  Ströme.  Die 
meisten  dieser  Kettenbrücken  sind  an  der  Stelle ,  wo  die  Kette 
verankert  ist,  mit  Löwen  als  „Briefbeschwerer"  verziert.  Nun  ist 
es  ganz  in  der  Ordnung,  dass  die  Stadt  Lyon  eine  Bestie  verehrt, 
deren  Familiennamen  sie  sich  angeeignet  hat.  Die  Lyonneser 
Brückenlöwen  aber  scheinen  nicht  die  mindeste  Hochachtung  für 
die  Stadt  zu  besitzen,  denn  wie  auf  Verabredung  drehen  sie 
sämmtlich  ihr  und  den  Spaziergängern  auf  den  Quais  denjenigen 
Theil  ihres  Körpers  zu,  welchen  die  Natur  am  wenigsten  für 
ornamentale  Zwecke  ausgebildet  hat. 

Vom  Thurm  der  Frauenkirche  von  Fourvieres  soll  man  die 
Alpen  mit  dem  Montblanc  sehen  können.  Wir  sahen  sie  ent- 
schieden nicht,  obgleich  es  ein  sonniger  Tag  war.  Ueber  der 
Stadt  schwebte  nämlich ,  ihre  äusseren  Umrisse  fast  bis  zur  Un- 
kenntlichkeit verhüllend,  ein  Duft,  der  nichts  mit  der  atmosphä- 
rischen Bläue  zu  schaffen  hatte,  sondern  sich  schon  dem  Geruch 
als  Kamin-  und  Kohlenrauch,  kein  bonus  odor  lucri,  verrieth,  und 
an  die  schwunghaften  Maschinenfabriken  sowie  an  die  9000 
Messingknopferzeuger    erinnert,    die   in  Lyon    ihr    Brod    erwerben. 

Lyon  besass  1862  318,000  Einwohner  und  54  Mill.  Frcs. 
Gemeindeschulden.  Es  ist  also  jedenfalls  eine  grosse  Stadt,  aber 
es  ist  nicht  eine  Grossstadt  und  noch  weniger  ein  Klein -Paris, 
wie  es  die  Studenten  in  Auerbachs  Keller  von  Leipzig  behaupten. 
Seine  Quais  könnten  vollständig  die  Boulevards  ersetzen,  seine 
Rue  Imperiale  wäre  stattUch  genug,  um  sich  in  dem  belebtesten 
Theil  von  Paris  sehen  zu  lassen,  und  doch  vermisst  man  nirgends 
mehr  die  heitere  Stadt  an  der  Seine,  die  weltliche  Grossstadt  und 
die  Stadt  der  grossen  Welt  als  in  Lyon.  Diess  kommt  daher, 
dass  seine  318,000  Einwohner  Franzosen  sind,  aber  keine  Pariser. 
Die  Lyonneser  Strassen  sind  selbst  in  den  ersten  Abendstunden, 
wo  Paris  sich  mit  Licht  und  Leben  erfüllt,  wenig  bewegt.  Billiger- 
weise kann  es  auch  nicht  anders  sein.  Paris  zieht  nicht  nur  aus 
Frankreich,  sondern  aus  ganz  Europa  alles  an,  was  sich  gut  er- 
nähren  und    gut   unterhalten    will.      Jede    fünfte    Person   auf   den 

29* 


^C2  Ferienreisen. 

Boulevards  gehört  zu  der  beneideten,  wenn  auch  nicht  glücklichen 
Classe,  die  Feierabend  hat,  wenn  sie  früh  Morgens  aufgestanden 
ist.  In  Lyon  dagegen  ist  die  Bevölkerung  entweder  nur  mit  der 
Seidenindustrie  oder  mit  ihrem  Seelenheil  beschäftigt.  Auch  giebt 
es  dort,  da  auf  je  162  Frauen  nur  156  Männer  treffen,  schon  der 
Statistik  zu  Liebe  und  von  vorn  herein  4  Proc.  „unverstanden 
gebliebener  Seelen".  Wenn  man  daher  irgendwo  die  Wahrheit 
des  Spruches  drückend  empfinden  will,  Paris  sei  Frankreich,  so 
gehe  man  nach  Lyon.  Nur  eine  gute  Seite  hat  die  Stadt,  sie 
besitzt  ausser  ihrem  alten  gothischen  Dom  mit  einem  prächtigen 
Portal  und  einem  Saal  voll  schlecht  beleuchteter  Gemälde ,  die 
man  der  Entführung  nach  dem  Louvre  nicht  werth  gehalten  hat, 
keine  sogenannten  Sehenswürdigkeiten ,  zu  denen  die  Lohndiener 
ihre  Opfer  schleppen  könnten. 

Lyon  liegt  lat.  45°  46'  N.,  Marseille  —  wie  schon  Pytheas 
334  Jahre  vor  Chr.  es  richtig  angab  —  unter  lat.  43°  7',  die 
Saonemündung  aber  besitzt  170  Metres  Höhe  über  dem  Meer. 
In  etwas  mehr  als  6  Stunden  fahren  die  Eilzüge  bis  ans  Mittel- 
meer, und  in  dieser  Zeit  verliert  man  also  2^/2°  an  geographischer 
Breite  und  mehr  als  500'  an  absoluter  Höhe.  Wenn  man  im 
Frühjahr  über  den  Brenner  nach  Italien  herabsteigt,  ändert  sich 
der  Pflanzenwuchs  mit  der  Meereshöhe.  Die  Kirschen,  die  sich 
bei  Brixen  erst  zu  färben  beginnen,  sind  roth  bei  Clausen,  reif 
bei  Botzen  und  schwarz  in  Verona.  Im  Rhonethal  ändert  sich 
dagegen  bei  den  geringen  Höhenunterschieden  alles  nur  mit  der 
geographischen  Breite,  und  solche  Aenderungen  sind,  wie  A.  von 
Humboldt  uns  gelehrt  hat,  am  allerstärksten  in  der  Nähe  des 
45.  Breitegrades.  Bis  zu  dieser  Polhöhe  trifft  man  Weinbau  im 
Rhonethal,  südlicher  wird  er  seltener  und  verschwindet  allmählich 
völlig.  Gleich  hinter  Lyon  erscheinen  in  Gärten  der  Judasbaum, 
die  Oleander,  die  Rosen  in  voller  Pracht,  im  Freien  überwinternde 
Feigenbäume ,  Cypressen ,  und  als  Handelsgewächs  der  niedem 
Lagen  der  Maulbeerbaum.  Diess  sind  die  charakteristischen 
Culturpflanzen ,  die  man  auch  an  der  warmen  Seite  des  Genfer 
Sees  trifft.  Erst  bei  Valence,  also  jenseits  des  45.  Breitegrades, 
treten  die  Oliven  auf,  kaum  mannshoch  und  auf  schwächlichem 
Holz.  Sie  gleichen  dort  an  Stamm-  und  Astbau  unsern  Pflaumen- 
bäumen, an  Belaubung  unsern  Weiden.  Die  Aehnlichkeit  des  Oel" 
baums  mit  der  Weide  ist   jedoch   nur   eine    sehr  geringe,    und  be- 


Eine  Ferienreise  nach  dem  Mittelmeer. 


453 


schränkt  sich  darauf,  dass  die  Olivenblätter  sehr  schmal  und  auf 
ihrer  Rückseite  grau  sind.  Bei  uns  erscheinen  Weiden  neben 
Laubbäumen  graulichgrün  ;  sieht  man  aber  Oliven  neben  Weiden, 
so  erscheinen  die  Weiden  grün  und  die  Oliven  grau.  Nichts  ist 
ärgerlicher  als  die  Uebertreibungen  schwärmerischer  Reisenden. 
Räthselhaft  war  uns  bisher  immer,  wie  man  die  ,, herrlichen  Oliven- 
wälder" an  den  italienischen  Seen  preisen  konnte.  Es  giebt  keine 
Olivenwälder,  so  wenig  wie  es  Birnenwälder  oder  Apfelwälder') 
in  Europa  giebt.  Der  Oelbaum  erfordert  eine  besondere  Zucht; 
selbst  an  den  höchsten  und  ältesten  Gewächsen  entdeckt  das  Auge 
die  Spuren  des  Messers  und  der  Säge.  Soll  die  Ernte  reichlich 
ausfallen,  so  muss  der  Boden  unter  dem  Oelbaum  dreimal  im  Jahr 
aufgehackt  und  gelockert  werden.  Das  alles  verträgt  sich  nicht 
mit  unsern  Begriffen  von  einem  Wald,  den  wir  uns  nicht  ohne 
ein  Wachsthum  im  Freien  und  in  der  Freiheit  denken  können, 
■während  die  Oelpflanzungen  meistens  hinter  Mauern  eingefangen 
oder  durch  Terrassen  an  den  Anhöhen  begränzt  werden.  Was 
man  von  Oelbäumen  m  der  Lombardei  und  im  Venetianischen 
sieht,  trägt  nicht  eben  zum  Schmuck  der  Landschaft  bei,  denn  der 
Oelbaum  ist  in  der  Jugend  weder  durch  sein  Holz  noch  durch 
seine  Belaubung  ein  malerischer  Gegenstand,  und  wer  ihn  nur 
dort  gesehen ,  begreift  die  schwärmerische  Verzückung  nicht ,  in 
•die  sein  Anblick  so  viele  Naturschilderer  versetzt.  Aber  je  süd- 
licher man  sich  bewegt,  desto  mehr  nimmt  diese  Pflanzengestalt 
an  Schönheit  zu.  Schon  an  der  genuesischen  Riviera  gewinnt  sie 
eine  Höhe  bis  zu  30  und  40  Fuss.  Ihr  Umfang  verleiht  ihr  Pa- 
triarchenwürde und  das  Knorrige  ihrer  Stämme  sogar  Aehnlichkeit 
mit  dem  Holzwuchs  unserer  Eichen.  An  jenen  Uferabhängen  des 
Mittelmeers  verdrängt  die  OUve  fast  jeden  übrigen  Baum  und  be- 
deckt ganze  Bergrücken  nicht  bis  zur  Baumgränze,  wohl  aber  bis 
zur  Gränze  der  Bäume.  Von  weitem  erscheinen  dann  die  Berge 
wie  mit  Laubwald  überdeckt,  und  in  diesem  Sinn  lässt  sich  auch 
der  Ausdruck  Olivenwälder  rechtfertigen.  Ein  Hain  urväterlicher 
Oelbäume  kann  wirklich  zum  Gegenstand  einer  ästhetischen  Be- 
friedigung werden,  denn  kein  einziger  Stamm  gleicht  an  Wuchs 
seinem  Nachbar,  jeder  macht  sich  durch  Eigenthümlichkeiten, 
fast  möchte  man  sagen  durch  seine  scharf  ausgeprägte  Persönlich- 


[)  Wirkliche  Apfelwälder  sollen  sich  in  Valdivia  finden. 


.rA  Ferienreisen. 

keit,  bemerbbar.  Die  Belaiibung  ist  in  Folge  des  spärlichen  Blatt- 
wuchses und  der  schmalen  Form  der  Blätter  sehr  durchsichtig, 
und  das  Licht  dringt  daher  mit  einer  befremdenden  Wirkung,  die 
nicht  ohne  Reize  ist,  bis  auf  den  Boden  hinunter,  und  bringt  den 
eigenthümlichen  Zauber  eines  schattenlosen  Waldes  hervor.  Daher 
gelingt  es  auch  den  Italienern ,  unter  dem  Oelbaum  in  den  so- 
genannten Ohvenwäldern  noch  eine  Haferernte  zu  erzielen,  was 
bei  einer  andern  Belaubung  rein  unmöglich  wäre.  Auch  die  Cy- 
pressen  pflegen  oft  unverständig  bewundert  zu  werden.  Nichts 
ist  geschmackloser  als  die  Reihen  bleistiftähnhcher  Pflanzen- 
gestalten, wie  man  sie,  vom  Norden  herabsteigend,  zuerst  bei  den 
Villen  am  Garde-See  sieht.  Selbst  die  bis  zur  Berühmtheit  ange- 
priesenen hundertjährigen  Cypressen  in  dem  Garten  des  Palazzo 
Giusti  zu  Verona  erscheinen  uns  nur  wie  düstere  Pedanten  des 
Pflanzenreiches  ,  und  sollten  sich  nie  von  den  Kirchhöfen  in  die 
Ziergärten  verirren.  Aber  auch  die  Cypresse,  an  richtigen  Platz 
und  richtig  gestellt,  kann  zum  Schmuck  der-  Landschaft  werden. 
Am  Mittelmeer  verliert  dieses  Gewächs  seine  spitzigen  Formen 
und  fängt  an,  sich  am  Gipfel  abzurunden.  Sieht  man  dann  aus 
dem  matten  Grün  der  Olivenwipfel  auf  dem  Hintergrund  des 
blauen  Mittelmeeres  kleine  Gruppen  von  Cypressen  verschiedenen 
Alters  schwärzlichgrün  aufsteigen,  so  versteht  man  zum  ersten- 
mal ,  dass  diese  Conifere  auch  aufrichtige  Bewunderer  gefunden 
haben  kann. 

Die  Gränze  des  Oelbaumes ,  der  seine  Blätter  nicht  abwirft, 
ist  zugleich  die  Gränze  der  immergrünen  Belaubung,  und  wo  er 
auftritt,  da  beginnt  im  klimatischen  Sinne  Südeuropa.  Erreicht 
man  endlich  bei  Marseille  das  Mittel  meer,  so  gesellt  sich  zu  ihm 
die  amerikanische  Agave  oder  die  Aloe  der  Trivialsprache,  die 
Cacteen  und  die  Pinie ,  das  edelste  Geschöpf  unter  allen  einhei- 
mischen Gehölzen  unseres  Welttheils.  Sie  ist  zwischen  Marseille 
und  Genua  nirgend  gemein,  und  nur  gesellig  auf  einer  kleinen 
Strecke,  bevor  man  Frejus  erreicht.  Wo  sie  auftritt,  fesselt  sie 
von  weitem  schon  und  lange  die  Blicke  des  Naturfreundes.  Ihr 
schirmartiges  Dach  auf  dem  säulenartigen  Stamm  giebt  ihr  eine 
entfernte  Aehnlichkeit  mit  Palmen,  besonders  wenn  sie  auf  Höhen- 
kämmen niedriges  Laubholz  überragt  und  auf  blauer  Luft  die 
zierliche  Verästelung  ihrer  Krone  sichtbar  wird.  Aehnlich  bemerkt 
Herr  v.  Chamisso,  der  ein  grosser  Kenner  landschafdicher  Schön- 


Eine  Ferienreise  nach  dem  Mittelmeer.  j^ti- 

heiten  war,  dass  in  der  Südsee  nichts  dem  Anblick  gleich  komme, 
als  wenn  man  auf  einer  niedern  Koralleninsel  einen  Palmenwald 
aufsteigen  sehe  und  durch  die  schlanken  Stämme  der  Himmel 
fast  unverdeckt  bleibe.  Allen  Reisenden ,  welche  die  Tropen  be- 
suchten, bleibt  die  Stelle  merkwürdig,  wo  sie  die  Wendekreise  zum 
erstenmal  gekreuzt  haben.  In  Europa  könnte  man  nur  dem  45. 
Parallel  eine  ähnliche  mathematische  Wichtigkeit  beilegen.  Aber 
gewiss  wird  niemand  Ort  und  Zeit  vergessen ,  wo  er  die  erste 
Palme  im  Freien  gewahr  wird.  Geht  man  über  Marseille  nach 
Italien,  so  sieht  man  bei  Toulon  in  einem  Garten  das  erste  krän- 
kelnde Exemplar,  bei  Cannes  die  erste  hochgewachsene  Palme 
und  bei  Nizza  die  ersten  Palmen  gesellig  sich  vereinigen.  Zwischen 
Cannes  und  Nizza  beginnen  auch  die  ersten  Orangenhaine  sich 
zu  zeigen.  Orangen-  und  Citronenwälder  kann  man  sie  nicht 
nennen ,  denn  meist  hinter  Gartenmauern ,  reihenweis  gepflanzt, 
mit  Messer,  Scheere  und  Säge  geformt,  bleiben  sie  stets  Erzeug- 
nisse der  Cultur,  keine  Kinder  der  Freiheit.  Palmen  und  Citrus- 
arten  im  Freien  wachsen  zu  sehen,  nicht  in  menagerieartigen  Kä- 
figen wie  in  Südtirol  und  am  Garda-See,  wo  sie  den  Winter  unter 
Dach  und  hinter  Glas  mit  Hülfe  von  Wasserheizung  überstehen, 
diess  war  der  hauptsächliche  Reisezweck  des  Verfassers ,  und  er 
hat  ihn  am  Mittelmeer  vollständig  erfüllt  gesehen. 

Auf  dem  Schienenweg  von  Lyon  nach  Marseille  fehlt  es  zu 
keiner  Zeit  an  hübschen  Aussichten.  Auf  dem  rechten  westlichen 
Ufer  des  Rhone  erfreut  uns  der  Anblick  der  Cevennen,  die  jedoch 
bald  zurücktreten  und  allmählich  niedriger  werden.  An  manchen 
Punkten  gewährt  der  Strom  freundliche  und  belebte  Bilder  wie 
der  Rhein.  Es  fehlt  nicht  an  alterthümlichen  Städten,  an  Burgen 
und  Schlössern  mit  Thürmen,  Mauern  und  Zinnen,  aber  die  bür- 
gerliche Bauart  der  Ortschaften  ist  die  französische,  wenig  ver- 
schieden von  der  unsrigen  und  weniger  eigenthümlich  als  die 
schweizerische.  Diess  ändert  sich  jedoch,  wenn  man  die  Provence 
erreicht.  Avignon ,  Tarascon  und  Arles  machen  einen  ganz  selt- 
samen, nicht  eben  freundlichen,  sondern  unwohnlichen  Eindruck. 
Kahl,  ohne  Schatten,  von  der  Sonne  gebleicht,  mit  flachen  Dächern 
und  verwahrlostem  Mauerwerk,  erscheinen  sie,  bevor  sich  das  Auge 
an  das  Neue  gewöhnt,  fast  wie  halbverlassene  Brandstätten  und 
eher  im  Zustande  des  Verfalls,  als  wie  blühende  oder  wohlhabende 
Städte. 


456 


Ferienreisen. 


Bei  Arles ,  wo  der  Rhone  sich  die  Miene  giebt ,  ein  kleiner 
Mississippi  zu  werden,  wendet  sich  die  Bahn  von  ihm  ab  nach 
Ostsüdosten  und  durchschneidet  die  Ebene  La  Crau,  welche  nur 
eine  östliche  Fortsetzung  der  berüchtigten  Camargue  ist.  Wenn 
irgendwo ,  so  kann  man  dort  Europa  sich  entrückt  und  in  eine 
völlig  fremde  Welt  versetzt  dünken.  Dieser  Eindruck  rührt  nicht 
von  einem  Wechsel  des  Pflanzenwuchses ,  sondern  vielmehr  von 
seiner  gänzlichen  Abwesenheit  her.  In  der  deutschen  Heimath 
finden  wir  jeden  Felsenabhang,  dessen  Fallwinkel  30°  nicht  über- 
steigt, bewachsen.  Wo  sich  kein  Gehölz  mehr  festklammern  kann, 
spriesst  Gras  und  Blume,  und  wo  für  sie  Erde  noch  nicht  hin- 
reichend vorhanden  ist,  überziehen  Flechten  und  Moose  das  Gestein, 
Erst  wenn  wir  6 — 7000  Fuss  hoch  gestiegen  sind  und  die  Alpen- 
matten uns  verlassen ,  sehen  wir  bisweilen  Felsen  in  ebener  Lage 
völlig  von  Kraut  und  Gras  entblösst.  Aber  selbst  diese  Erschei- 
nung ist  gewöhnlich  auf  einen  engen  Raum  beschränkt,  denn  wo 
der  Schnee  aufhört,  regt  sich  auch  das  Pflanzenleben.  In  der  Ebene 
La  Crau  befindet  man  sich  nur  wenige  Meter  über  der  See,  und 
doch  treten  überall  flach  gelagerte  und  zerklüftete  Felsarten  in  der 
Ebene  zu  Tage,  eine  Steinwüste,  auf  der  jede  Lebensregung 
erstarrt  und  auf  die  man  in  der  Provence  zu  stossen  nicht  vor- 
bereitet war.  Um  diese  niederen  Felsen  legt  sich  eine  glatte 
Ebene  von  neuester  Bildung,  aus  Rollkieseln  bestehend,  die  durch 
ein  grobes  Bindemittel  zusammengebacken  sind.  Auch  diese 
schattenlose  Fläche  erscheint  im  allgemeinen  pflanzenleer,  doch 
wird  sie  durchzogen  von  Schafheerden ,  die  einige  kümmerliche 
Halme  und  Grasbüschel,  halb  von  der  Sonne  schon  gedorrt,  be- 
gierig abweiden,  Dass  die  Unfruchtbarkeit  jener  Striche  nicht  den 
mineralogischen  Bestandtheilen  der  Felsarten  zuzuschreiben  ist, 
bezeugen  einige  Oelpflanzungen ,  die  in  den  flachen  Mulden  der 
Steinwüste  gedeihen ,  wo  sich  urbarer  Boden  angesammelt  hat. 
Die  Ursache  der  Verödung  muss  daher  dem  Mangel  von  sommer- 
lichen Niederschlägen  und  dem  Wasserdurchlassen  des  Bodens 
zugeschrieben  werden.  Die  Regenlosigkeit  im  Rhonedelta  wird 
dem  Reisenden  auch  ohne  meteorologische  Beobachtungsreihen 
bestätigt,  sobald  er  den  ßtang  de  Berre  erreicht,  einen  geräumigen 
See,  der  in  einer  muldenförmigen  Vertiefung  zwischen  felsigen 
Anhöhen  liegt,  gegen  Südwesten  aber  eine  Verbindung  mit  dem 
Meer   besitzt.      Dort    wird    unter    freiem  Himmel   Salz    gewonnen. 


Eine  Ferienreise  nach  dem  Mittelmeer.  45  ^ 

indem  der  Strand  durch  schmale  Dämme  netzartig  eingefasst  als 
Pfanne  dient,  während  die  Sonne  das  eingelassene  Seewasser  ver- 
dunstet. Ein  solches  Gewerbe  wäre  nicht  möglich,  wenn  nicht 
monatelange  Trockenheit  herrschte ,  denn  jedes  reichliche  Ge- 
witter oder  ein  einziger  beharrlicher  Regentag  müsste  die  abge- 
sperrte Salzlauge  wieder  verdünnen. 

Ein  Tunnel  durchstösst  die  östliche  Felsenmauer  jenes  Beckens, 
und  wenn  man  das  Freie  erreicht,  erblickt  man  zum  erstenmal 
das  offene  Mittelmeer  und  das  ersehnte  Reiseziel.  Von  allen 
Hafenplätzen  des  Mittelmeers  hat  Marseille  gegenwärtig  die  grösste 
Zukunft  vor  sich.  Während  man  in  Venedig  beobachten  kann, 
wie  eine  Stadt  langsam  verhungert  un(J  zusammenstürzt,  wächst 
Marseille  ungestüm  nach  allen  Himmelsrichtungen.  Es  vereinigt 
die  Reize  eines  südlichen  Hafenplatzes  mit  den  Vorzügen  der 
grossen  französischen  Städte.  Längs  der  gemauerten  Hafenleisten 
oder  Quaien  herrscht  geschäftiges  Getümmel,  ein  Babel  von 
Sprachen,  ein  Gemisch  aller  Trachten  und  Hautfarben,  bis  zum 
Ebenholzschwarz  der  Kinder  des  Sudan.  Auf  einer  östHchen 
kahlen  Anhöhe  steht,  im  Bau  begriffen  und  bald  vollendet,  eine 
Kuppelkirche,  Notre  Dame  de  la  Garde,  von  deren  Gallerien  der 
Blick  unbeschränkt  Meer,  Küste,  Hafen  und  Stadt  beherrscht  und 
landeinwärts  über  Fluren  und  Wälder  streift  bis  zum  Fuss  mäch- 
tiger meist  kahler  Felsengebirge,  die  nicht  ohne  anmuthige  Formen 
durch  die  Zartheit  der  südlichen  Farbentöne  ausserordentlich  ma- 
lerisch werden.  In  der  See ,  etwa  eine  Stunde  entfernt ,  liegen 
zwei  völlig  nackte  Felseninseln,  die  dem  Hafen  als  Wogenbrecher 
dienen,  die  eine  gekrönt  mit  dem  Chäteau  d'If,  der  Quarantäne- 
station. Der  Niederbhck  auf  einen  belebten  Hafen  ist  unter  allen 
Verhältnissen  ein  erheiterndes  Bild ,  dort  aber  doppelt ,  weil  die 
felsigen  Uferküsten  durch  tiefe  Einschnitte  an  Schönheit  gewinnen. 
Kahle  Gesteinsmassen  heben  sich  und  sinken  wieder  sanft  nach 
dem  Meer  hinab.  Wie  Oasen  zerstreut ,  ruhen  auf  ihnen  freund- 
liche Sommerpaläste  und  dunkelgrüne  Gärten,  deren  Pinienwipfel 
unmittelbar  über  dem  blauen  Lichte  der  See  noch  schwärzlicher 
erscheinen  als  sie  sind.  Die  grösste  Verkehrsader,  die  Strasse  La 
Cannebiere,  zertheilt  die  Stadt  bis  zum  innersten  Hafenbecken  und 
wird  selbst  wiederum  senkrecht  gekreuzt  von  einer  schattigen  Allee, 
la  Course  genannt ,  einer  Nachbildung  der  Champs  Elysees ,  der 
selbst  als  Beschluss  nicht  ein  Luxusthor  im  Styl  des  Are  de  l'Etoile 


458 


Ferienreisen. 


fehlt.  Die  Quaien,  die  Cannebiere  und  la  Course  strotzen  von 
Leben  und  Bewegung,  so  dass  sie  selbst  einen  Vergleich  mit  den 
classischen  Strecken  der  Pariser  Boulevards  vertragen,  nur  sind  es 
in  Marseille  nicht  geputzte  Pflastertreter,  sondern  das  Volk  selbst, 
und  zwar  Matrosen  und  Hafenarbeiter,  welche  die  Strassen  füllen, 
La  Cannebiere  wird  aber  bald  nicht  mehr  die  Hauptstrasse  Mar- 
seille's  sein.  Dicht  am  Hafen  wächst  eine  Kaiserstrasse  mit  Luxus- 
bauten empor,  die  nach  dem  neuen  bis  zu  halber  Höhe  vollen- 
deten Dom  führen  wird.  Marseille  gehört  nämlich  zu  den  Städten, 
welche  das  zweite  Kaiserreich  verjüngt  hat.  Auf  unserer  Seite 
des  Rheines  ist  gar  viel  geschrieben  worden  über  die  imperia- 
listische Baufurie  und  über  die  Verschuldung  der  Gemeinden,  im 
Lande  selbst  aber  ist  man  dankbar  und  befriedigt.  Die  alten  franzö- 
sischen Städte  waren  gealterte  Städte  und  hinter  den  Bedürfnissen 
ihres  Bevölkerungszuwachses  lange  Zeit  ungebührlich  zurückge- 
blieben. Ein  Schweizer  Freund  versicherte  dem  Verfasser,  dass 
das  alte  Marseille  durch  die  napoleonischen  Umgestaltungen  grossen 
Nutzen  gezogen  habe.  Wenn  ein  Geschäftsmann  ehemals  eine 
schwimmende  Ladung  habe  besichtigen  wollen,  musste  er  hohe 
Stiefeln  anziehen,  um  durch  Schlamm  und  durch  Gestank  im  Hafen 
hindurch  zu  waten.  Jetzt  hegen  die  Schiffe  hart  an  den  reinlichen 
steinernen  Quaien ,  auf  deren  Quadern  der  Kaffee  mit  Schaufeln 
ausgeschüttet  und  in  Säcke  verpackt  werden  kann.  Durch  diese 
Bauten  sind  den  Städten  allerdings  Schulden  erwachsen,  doch  war 
das  Capital  nicht  für  sie  verloren ,  sondern  trägt  seine  Zinsen 
durch  die  Erleichterung  des  Verkehrs.  Wenn  wir  oben  erwähnten, 
dass  Lyons  Schuldenmasse  auf  54  Mill.  sich  beläuft,  so  setzen 
wir  jetzt  hinzu,  dass  sie  im  Jahr  1854  nur  10  Mill.  betrug.  Durch 
solche  Zahlen  lässt  sich  dem  deutschen  Publicum  leicht  ein  Schauder 
vor  dem  französischen  Leichtsinn  beibringen,  wenn  man  aber 
erfährt,  dass  im  Jahr  1854  der  Stadt  Lyon  bei  4,877,000  Frcs. 
Einnahme  nur  620,000  Frcs.  für  Schuldentilgung  oder  ausser- 
ordentlichen Aufwand  übrig  blieben,  jetzt  aber  trotz  der  ange- 
wachsenen Schulden  unter  9  Mill.  Einnahmen  immer  noch  3V2  MilL 
Ueberschuss  sich  vorfinden ,  so  muss  man  gestehen  ,  dass  der 
Wohlstand  französischer  Städte  in  seinem  Wachsthum  immer  die 
Zunahme  der  öffentlichen  Lasten  um  mehrere  Schritte  überholt  hat. 
Von  Marseille  aus  benutzten  früher  die  Touristen  die  Dampfer 
zur  Fahrt  nach  Nizza.     Jetzt  legt  man  die  Strecke  mit  dem  Schnell- 


Eine  Ferienreise  nach  dem  Mittelmeer.  459 

zug  in  sechs  Stunden  zurück.  Da  die  Bahn  Antibes  und  Cannes 
berührt  und  in  nicht  allzugrosser  Entfernung  an  Grasse  vorüber- 
geht, jene  drei  Städte  aber  berühmt  sind  durch  ihre  Erzeugung 
wohriechender  Essenzen,  so  hoffte  der  Verfasser  etwas  von  dem 
Blumenackerbau  zu  sehen,  welcher  dem  Var- Departement  eigen- 
thümlich  ist.  Die  Täuschung  war  jedoch  eine  vollständige,  wahr- 
scheinlich weil  die  Blüthenernte  Mitte  Mai  längst  vorüber  und  auf 
den  Feldern  andere  Früchte  auf  die  Blumen  gefolgt  waren.  Von 
Toulon  aus  verlässt  der  Schienenweg  wieder  das  Mittelmeer  und 
wendet  sich  binnenwärts  durch  eine  dünn  bewohnte  Gegend ,  die 
anfangs  wenig  Interesse  bietet.  Nach  zweistündiger  Fahrt  jedoch, 
bevor  man  Frejus  erreicht,  gelangt  man  durch  eine  entzückend 
schöne  Berglandschaft,  deren  Thalsohle  durch  Pinienwälder  ver- 
herrlicht wird,  wälirend  nach  der  See  zu  Felsengebirge  aufsteigen,  die, 
obgleich  kaum  2000  Fuss  hoch  oder  weniger,  doch  an  rauher  Zer- 
klüftung und  zackigen  Umrissen  vollständig  unsern  höchsten  Alpen- 
kämmen gleichen.  So  wie  man  das  Mittelmeer  wieder  erreicht, 
läuft  die  Bahn  hart  an  steil  abfallenden  Bergen  fort,  deren  zahl- 
reiche Felsenvorsprünge  durch  Tunnel  durchstochen  und  deren 
zwischenliegende  dicht  bewachsene  Schluchten  überbrückt  werden 
mussten.  Die  See  bricht  sich  schäumend  an  Klippen  und  über 
felsigen  Untiefen,  deren  Purpurfarbe,  verstärkt  durch  die  Wärme 
abendlicher  Lichter,  so  grell  aus  dem  blauen  Meer  tritt,  dass  ein 
Maler  sie  auf  dem  Bilde  mildern  müsste,  um  nicht  für  unwahr  ge- 
halten zu  Averden.  Cannes,  eine  kräftig  aufblühende  und  durch 
ihre  Sauberkeit  verlockende  Stadt,  zieht  jetzt  viele  Wintergäste 
von  Nizza  zu  sich  herüber,  dessen  Klima  in  neuester  Zeit  nicht 
mit  Unrecht  gefürchtet  zu  werden  beginnt.  Uebrigens  finden  jetzt 
Winterflüchtlinge  von  Frejus  bis  nach  Savona  längs  der  ganzen 
Riviera  fast  in  jedem  grösseren  Orte  Pensionen  und  zur  Miethe 
freistehende  Landsitze.  Weit  empfehlenswerther  als  Nizza  soll 
namentlich  Mentone  sein>  welches  nicht  bloss  geschützter  gelegen 
ist,  sondern  auch  eine  grosse  Wahl  von  Ausflügen  und  Spazier- 
gängen bietet,  während  Nizza  nichts  anderes  aufzuweisen  hat,  als 
sein  altes  Schloss  und  eine  Fahrt  nach  der  Bucht  und  dem  Hafen 
von  Villafranca,  dessen  angebliche  Abtretung,  richtiger  Vermiethung, 
an  die  Russen  vor  sieben  oder  acht  Jahren  der  deutschen  politischen 
Presse  so  viel  Gelegenheit  bot,  durch  abgeschmackte  Vermuthungen 
ihren  Lesern    das  Blut   heiss    zu  machen,    während    jetzt,   wo  der 


460 


Ferienreisen. 


Hafen  französisch  geworden  ist,  der  ganze  Handel  verschollen  und 
aus  den  Augen  verloren  worden  ist.  Nizza  selbst  ist  im  Mai  nach 
geschlossener  Saison  ein  trostloser  Aufenthalt,  und  auf  der  berühm- 
ten Promenade  des  Anglais,  wo  die  Seebrise  den  Schatten  ver- 
treten muss,  herrscht  eine  drückende  Kirchhofstille. 


II.     Die   Riviera    di    Ponente. 

(Ausland   1865.     Nr.   28.      15.  Juli.) 

Der  westliche  Saum  des  Golfes  von  Genua,  etwa  von  Nizza 
angefangen  bis  zur  Vaterstadt  des  Columbus  und  des  Paganini, 
heisst  die  Riviera  di  Ponente ,  im  Gegensatz  zur  Riviera  di  Le- 
vante, die  sich  von  Genua  in  südöstlicher  Richtung  nach  Spezia 
erstreckt.  Jener  schmale  Ufersaum  zwischen  den  See- Alpen  und 
dem  Mittelmeer  gehört  wegen  seiner  hohen  landschaftlichen  Reize 
mit  Recht  zu  den  gefeierten  Strichen  Italiens.  In  kurzer  Zeit  wird 
eine  Eisenbahn  auf  ununterbrochenen  Kunstbauten  und  durch  un- 
zählige Tunnel  den  Reisenden  in  wenigen  Stunden  an  den  ligu- 
rischen  Orangegestaden  vorüberführen ,  aber  geniessen  wird  er 
dabei  sehr  wenig.  Die  Post  zwischen  Nizza  und  Genua  legt  den 
Weg  in  20 — 22  Stunden  halb  bei  Tag,  halb  bei  Nacht  zurück. 
Wer  daher  die  Riviera  seh'en,  d.  h.  bei  Tage  reisen  und  doch 
mit  seinen  Geldmitteln  haushalten  will,  der  lässt  sich  am  ersten 
Tag  bis  Oneglia  einschreiben  und  setzt  am  nächsten  seine  Fahrt 
nach  Genua  fort.  Will  man  aber  ungeschmälert  die  Herrlichkeiten 
der  Natur  geniessen ,  dann  miethe  man  auf  3  —  4  Tage  einen 
Zweispänner  für  200  —  220  Frcs.  einschliesslich  des  Trinkgeldes. 
Wer  Italiens  wohlklingende  Worte  liebt,  der  sagt  dann  nicht,  er 
sei  mit  dem  Lohnkutscher,  sondern  er  sei  mit  dem  Vetturin  ge- 
fahren. Nur  denkt  man  sich  gewöhnlich  unter  einem  Vetturin 
einen  lustigen  Kerl  mit  spitzem  Hut  und  geflickten  Aermeln,  der 
seine  Gäule  mit  dem  Peitschenstiel  und  in  ehrenrührigen  Aus- 
drücken misshandelt,  dem  Reisenden  aber  ausser  dem  durch  die 
Sitte  geheiligten  Trinkgeld  (buona  mano)  auch  noch  ein  Supple- 
ment (bottiglia)  abverlangt.  Mit  Ausnahme  der  letzten  Eigen- 
thümlichkeit   gleichen   die  Vetturini   der  Riviera  nicht  ihren  Zunft- 


Die  Riviera  di  Ponente. 


461 


genossen  im  übrigen  Italien,  sondern  weit  eher  den  gesitteten 
Lohnkutschern  im  römischen  Reiche  deutscher  Nation,  nur  dass 
sie  auf  Kosten  ihrer  Thiere  das  Handwerk  weit  besser  verstehen 
als  ihre  Kunstgenossen  in  unserer  Heimath.  Sie  fahren  zwar  nicht 
wie  diese  auf  ebenem  Lande  in  einem  gedankenreichen  Adagio, 
aber  auch  nicht,  wie  man  es  oft  liest,  im  Galopp  die  schrägen 
Stellen  der  Strassen  hinan,  sondern  sie  erkennen  wie  die  unsrigen 
an  solchen  Strecken  das  Newtonische  Gesetz  an.  Selbst  die  Post 
fährt  an  steileren  Ebenen  im  Schritt.  Ebenso  übertrieben  ist  es, 
zu  sagen,  dass  die  Fahrt  ängstlich  sei  für  Personen,  die  dem 
Schwindel  ausgesetzt  sind.  Da  wo  die  Strasse  in  schroffe  Fels- 
wände eingesprengt  worden  ist,  hat  man  gemauerte  Brüstungen 
zur  Seite,  und  wo  diess  nicht  der  Fall  ist,  doch  wenigstens  Bö- 
schungen von  Erde.  Gelegenheit  zum  Schaudern  bietet  daher  die 
Riviera  so  viel  oder  so  wenig  wie  unsere  Gebirgsstrassen,  und  we- 
niger sogar  als  diese. 

Man  würde  sehr  enttäuscht  werden,  wenn  man  auf  dem  30 
Meilen  langen  Weg  einen  unausgesetzten  Wechsel  auserwählter 
Landschaften  erwarten  wollte.  Es  giebt  Strecken,  wo  das  Auge 
keine  andere  Labung  hat  als  das  sonnige  blaue  Mittelmeer  mit 
seiner  milchweissen  Schaumlinie  am  Strande,  und  Schiffen  in 
der  Ferne,  die  nach  den  Häfen  streben.  Der  Oelbaum  verdrängt 
fast  jede  andere  Pflanzenform.  Nur  bisweilen  sieht  man  am  Wege 
Johannisbrodbäume,  fast  ganz  unseren  gemeinen  Acazien  ähnlich, 
mit  langen  Schoten,  die  Ende  Mai  noch  grün  sind.  Gelegentlich 
macht  sich  auch  ein  Feigenbaum  bemerkbar,  sehr  selten  Pinien, 
und  Cypressen  nur  als  Ziergewächse  in  den  Gärten.  Dagegen 
blüht  der  Oleander  wild  an  kahlen  Abhängen,  wo  er  Nässe  genug 
findet.  In  der  Niederung  zwischen  Oneglia  bis  zum  Vorgebirge 
bei  Noli  wird  Getreide  gebaut ,  und  zu  Heckenzäunen  dient  dort 
der  Granatstrauch,  den  wir  im  Winter  in  ein  warmes  Haus  ver- 
setzen und  nur  in  den  sonnigen  Gegenden  Deutschlands  zur  Blüthe 
bringen.  Wo  Wasser  fliesst  oder  steht,  ist  es  dicht  eingefasst  von 
einem  Wald  von  Schilf  (Arundo  Donax),  welches  bei  uns  als 
Rasenzierde  benutzt  wird,  im  Winter  aber  gedeckt  werden  muss. 
Mit  neidischem  Blick  gewahrt  der  nordische  Barbar  durch  die  losen 
Fugen  der  Mauern  Geranien  hervorbrechen  und  einen  Scharlach- 
blumenteppich über  die  Terrassenwände  breiten,  der  aus  Stunden- 
ferne noch  herüberleuchtet,   ja   bisweilen    sieht   man   sie  sogar  als 


462 


Ferienreisen. 


Schattengewächs  über  Lauben  gezogen.  Von  Nizza  bis  YentimigUa 
hängen  über  die  Gartenmauern  belastete  Citronenäste,  weiter  nach 
Genua  zu,  also  nördlicher,  werden  die  Citronen  seltener  und  durch 
die  Orangen  verdrängt,  denn  die  Orange  ist  härter  als  die  Citrone. 
Den  Glanzpunkt  südlicher  Vegetation  erreicht  man  aber  nicht,  wie 
es  in  Reisebüchern  angegeben ')  wird ,  bei  San  Remo ,  sondern 
vielmehr  bei  Bordighera,  einer  kleinen  Ortschaft  zwischen  Venti- 
miglia  und  San  Remo.  Dort  sieht  man ,  was  man  mit  einigem 
Pathos  einen  „Palmenwald"  nennen  könnte,  d.  h.  man  kommt  an 
einem  kleinen  Hügel  vorüber,  der  gekrönt  und  ziemlich  dicht  von 
Dattelpalmen  bestanden  ist.  Der  Anblick  ist  nicht  sonderlich  ma- 
lerisch, und  da  man  nie  vergisst,  dass  man  ein  Culturgewächs 
vor  sich  hat,  ist  er  auch  nicht  tropisch,  immerhin  aber  fremdartig 
genug,  zumal  wenn  man  das  Glück  haben  sollte,  daneben  noch 
amerikanische  Agaven  in  Blüthe  anzutreffen.  Im  Mai  freilich  darf 
man  nur  erwarten,  die  verdorrten  Blütheschäfte  des  vorigen  Jahres 
zu  sehen,  die  stark  und  holzig  wie  ein  junger  Baum,  15  —  20  Fuss 
hoch  ihre  Blüthenleuchter  in  die  Luft  ragen  liessen ,  schöner  zum 
Zeichnen  als  zum  Sehen.  Wenn  die  Dattelpalmen  noch  nicht  sehr 
hoch  sind,  und  selbst  bisweilen  wenn  sie  es  schon  sind,  werden 
ihre  Wedel  zusammengeschnürt,  um  sie  vor  Verletzungen  zu 
schützen.  Eine  Allee  solcher  eingeschnürter  Palmen  ist  ein  uner- 
quicklicher Anblick,  denn  jedes  einzelne  Gewächs  gleicht  einem 
eingesenkten  ungeheuren  Besen.  Selten  sieht  man  Dattelpalmen 
wild,  d.  h.  ungepflegt  und  vom  Zufall  ausgesäet  wachsen.  Die 
Fächerpalme  (Chamerops  humilis),  die  einzige  in  Europa  heimische 
Palme,  blieb  in  der  Freiheit  unsichtbar,  doch  trifft  man  sie  häufig 
in  Gärten,  und  wer  unter  dem  Schatten  eines  kräftigen  Exemplars 


l)  In  dem  Itinerfire  de  l'Italie  von  Du  Pays  wird  versichert,  dass  San 
Remo  die  Palmenwedel  liefere,  womit  in  der  Osterzeit  die  Kirchen  Roms  ge- 
schmückt würden,  und  zwar  kämen  sie  aus  der  nahe  gelegenen  Einsiedelei  des 
heil.  Romulus.  Diese  liegt  aber  hoch  in  den  Bergen,  und  obgleich  die  Dattel- 
palme höher  als  1000  Fuss  bei  Nizza  steigt,  so  findet  sie  sich  doch  nicht  weder 
beim  heil.  Remus  noch  heim  heil.  Romulus.  Ein  englisch  geschriebener  von 
einem  ungenannten  Italiener  verfasster  Roman,  Doctor  Antonio,  der  vor  weni- 
gen Jahren  erschienen  ist  und  die  genauesten  Schilderungen  der  Riviera  enthält, 
klärt  dieses  Missverständniss  damit  auf,  dass  es  in  San  Remo  eine  Familie 
giebt,  welche  von  Altersher  das  Vorrecht  geniesst,  die  österlichen  Palmenwedel 
für  römische  Kirchen  zu  liefern.  Sie  kommen  aber  aus  Bordighera,  wie  es 
schon  A.  de  Candolle,  G^ogr.  botanique  rais.  p.  344   richtig  angiebt. 


Die  Riviera  di  Ponente. 


463 


Gefrorenes  schlürfen  will,  findet  Gelegenheit  dazu  im  Cafe  dltaUa 
Genua^s.  Auch  Dattelpalmen  sieht  man  noch  bis  Genua,  ein 
herrliches  dreissig  Fuss  hohes  Exemplar  in  Loano ;  sie  werden 
aber  nördlich  von  La  Bordighera  immer  spärHcher. 

Die  Riviera ,  oder  vielmehr  die  Napoleonische  Kunststrasse, 
zerfällt  in  drei  Abschnitte ,  nämlich :  in  die  Strecken  von  Nizza 
nach  Oneglia,  von  Oneglia  nach  Noli  und  von  NoH  nach  Genua. 
Gleich  hinter  Nizza  steigt  sie  zwei  Stunden  lang  bergauf  und  ge- 
währt dort  einen  entzückenden  Niederblick  über  Oelbelaubung  auf 
die  orangengefüllte  Thalebene,  zerschnitten  von  dem  fast  wasser- 
losen mit  Geschieben  angefüllten  Bette  des  Paglione,  dem  durch 
Uferbauten  die  Wiederholung  seiner  früheren  Verheerungen  sauer 
gemacht  wird.  Was  man  diesem  Wildwasser  vom  Thal  abge- 
rungen hat,  ist  bedeckt  mit  Oelpflanzungen  und  Orangengärten, 
hinter  denen  die  Trümmer  des  alten  Schlosses  von  Nizza  auf 
ihrem  Felsensockel  sich  erheben,  an  dessen  Fuss  zu  beiden  Seiten 
die  Stadt  sich  ausbreitet.  Man  verliert  das  Meer  dort  aus  dem 
Gesicht  und  die  Strasse  erreicht  eine  Erhebung  von  gewiss  2000 
Fuss,  wenn  nicht  mehr,  wo  sie  an  einer  vom  Wetter  zerfressenen 
und  zerklüfteten  Felswand  (la  Corniche)  vorüber  führt.  Aber  schon 
bei  der  nächsten  Biegung  kommt  das  Meer  wieder  zum  Vorschein, 
und  unten  am  Gestade  auf  einem  Felsenrücken  Hegt  Monaco, 
hell  und  sauber,  als  ob  es  sich  eben  von  einer  Feuersbrunst  erholt 
hätte.     Ein  Landes sprüchwort  lautet: 

Monaco  bin  ich,   auf  einem  Stein, 
Säe  nichts  aus  und  bringe  nichts  ein, 
Aber  gesättigt  will  ich  doch  seim). 

Nach  diesem  Sprüchwort  hat  (mit  Ausnahme  der  letzten 
Strophe),  wie  man  sieht,  das  deutsche  München  mit  dem  itahe- 
nischen  nichts  gemein.  In  neuerer  Zeit  soll  die  Stadt  an  der 
Riviera  auch  das  Einbringen  gelernt  haben  durch  ein,  wenn  nicht 
achtbares,  doch  probates  Geschäft,  nämlich  durch  die  Errichtung 
einer  Spielbank. 

Die  landschaftlichen  Reize  der  Riviera  erreichen  ihren  Höhe- 
punkt   bei    Ventimiglia.      Alle     malerischen    Bauwerke,    oder    die 


1)  Son  Monaco  sopra  un  scoglio, 
Non  semino  e  non  racoglio 
E  pur  mangiar  voglio. 


464  Ferienreisen. 

meisten  wenigstens,  sind  unappetitlich.  Ventimiglia  ist  sehr  ma- 
lerisch. Es  liegt  an  einem  steilen  Abhang,  Haus  über  Haus, 
darunter  sich  Orangengärten  nach  einem  offenen  Thal  senken  mit 
Fluss  und  Brücke ,  während  im  Hintergrund  Berge  die  Aussicht 
verengern,  die  zuletzt  durch  eine  Alpengipfelkette  geschlossen  wird. 
Was  begehrt  man  noch  mehr?  Die  See  mit  vordringenden  Klip- 
pen, die  heitere  Luft  Italiens,  eine  Ortschaft  in  anmuthiger  Lage 
und  dahinter  ewigen  Schnee  auf  starren  Kämmen.  Nur  die  Palmen 
fehlen  dieser  Stelle. 

Auf  dem  Wege  nach  Nizza  kommt  man  durch  ein  Dutzend 
Städtchen,  fast  alle  am  Meer  gelegen,  bisweilen  befestigt,  bisweilen 
mit  gemauerten  Hafenwerken  versehen,  bisweilen  durch  Schiffs- 
werften belebt,  wo  Fahrzeuge  bis  zu  500  Tonnen  erbaut  werden. 
Sie  gleichen  sich  alle  so  ziemlich,  denn  sie  bestehen  meistens  nur 
aus  einer  einzigen  Strasse,  so  eng,  dass  sich  die  Bewohner  in  die 
Häuser  flüchten  müssen,  wenn  der  Postwagen  durchgaloppirt.  Von 
dieser  einzigen  engen  Strasse  führten  dann  Gassen,  die  noch  schmaler 
sind,  nach  dem  Strande,  wo  gewöhnlich  schmucke  Fahrzeuge 
und  Gondeln,  malerisch  über  die  Wasserlinie  hinaus  auf  die  rein- 
lichen Kiesel  gezogen  sind.  Die  grössern  Orte  heissen  San  Remo, 
Porto  Maurizio,  Oneglia,  Alessio,  Albengo  und  Savona.  Vertieft 
man  sich  in  das  Innere  dieser  Städtchen,  so  geräth  man  in  enge 
krumme  Strassen,  die  bisweilen  streckenweis  überwölbt,  gewöhnlich 
aber  mit  Bogen  überspannt  sind.  In  diese  Häuserschluchten  scheint 
noch  nie  ein  Sonnenstrahl  und  ein  Kehrbesen  gedrungen  zu  sein. 
Erblindete  Fenster,  zerbrochene  Scheiben,  Seile  von  Haus  zu  Haus 
gespannt,  an  denen  Wäsche  trocknet,  Spinnweben,  Käsegeruch 
und  andere  Gerüche,  neben  denen  der  Käsegeruch  noch  unschul- 
dig erscheint,  Bewohner,  die  einem  Antiseifenverein  angehören, 
aber  doch  schneeweisse  Hemden  tragen,  freundlich,  aber  nicht 
zudringlich,  sehr  lebendig,  und  zwar  bis  in  die  tiefen  Abendstunden 
auf  Unkosten  des  müden  Reisenden,  der  spät  sein  Nachtquartier 
erreicht  und  früh  aufbrechen  soll.  Die  Männer,  die  von  und  auf 
der  See  leben,  tragen  wie  Masaniello  blutrothe  Mützen  mit  blauem 
Rande,  viele  der  Frauen  den  genuesischen  Schleier,  d.  h.  ein  Stück 
gesäumten  Mousselin,  der  ihnen  bräutlich  vom  Haupte  herabwallt. 
Unter  dem  Mousselin  sieht  es  aber  nicht  immer  bräutlich  aus,  ja 
man  prallt  bisweilen  zurück  vor  einem  zigeunerhaften  Willewauwau- 
Gesicht.     Ueber  die   Wirthshäuser   in    diesen  Städten   dürfen    sich 


Die  Riviera  di  Ponente. 


465 


selbst  verwöhnte  Kritiker  nicht  beklagen.  Sie  sind  so  reinlich  wie 
bei  uns,  und  was  das  Ungeziefer  betrifft,  so  leidet  man  darunter 
so  wenig  oder  weniger  als  in  den  besten  Häusern  der  Schweiz, 
und  viel  weniger  als  in  den  Gasthäusern  am  Rhein  mit  ihren  Be- 
völkerungen von  Acanthia  lectularia.  Sie  haben  nur  eine  Schatten- 
seite: die  Prellerei.  Man  kann  ihr  zwar  entgehen,  wenn  man  sich 
auf  das  Accordiren  und  das  Feilschen  verlegt,  aber  beides  ist  ein 
so  widriger  Zeitvertreib,  dass  man  das  Geprelltwerden  fast  als  das 
mindere  Uebel  noch  vorzieht.  Uebrigens  ist  dieser  Missstand  nicht 
dem  Nationalcharakter  zuzuschreiben ,  denn  in  Genua  sind  in  ita- 
henischen  Häusern  die  Preise  ganz  bescheiden ;  es  muss  vielmehr 
an  dem  südlichen  Klima  liegen,  welches  die  Ueppigkeit  der  Wirths- 
rechnungen  steigert,  und  zwar  bei  Deutschen  so  gut  oder  besser 
wie  bei  Eingeborenen,  denn  die  grösste  Leistung  dieser  Art  erlitt 
der  Verfasser  von  einem  Deutschen  aus  Schaffhausen  ,  dem  Be- 
sitzer des  Hotel  de  France  zu  Nizza.  Der  Reisende  ist  gegen- 
wärtig nicht  schutzlos  gegen  diqgks  moderne  Raubritterthum.  Die 
Herausgeber  unserer  Reisehandbücher  sind  dankbar  für  jeden  Nach- 
weis, und  man  braucht  daher  nur  die  betreffende  Wirthsrechnung 
an  Herrn  Bädeker  oder  Berlepsch  zu  senden,  damit  das  PubUcum 
in  Zukunft  gewarnt  werde.  Da  unsere  rothen  Reisebücher  gegen- 
wärtig auch  ins  Enghsche  und  Französische  übersetzt  werden,  so 
wirkt  die  Strafe  um  so  empfindlicher. 

Der  zweite  Abschnitt  der  Riviera  umfasst  die  Strecke  zwischen 
dem  Capo  delle  Mele  bis  zur  Landspitze  hinter  Noli  mit  den 
Städtchen  Allasio,  Albenga,  Finale  Marina  und  Finale  borgo.  Man 
bewegt  sich  dort  über  eine  geräumige  Niederung,  umgeben  von 
einem  gewaltigen  Höhenkranz,  auf  dessen  Kämmen  noch  Schnee- 
flecken sichtbar  sind.  So  weit  der  Oelbau  reicht,  erscheinen  die 
Abhänge  wie  bewaldet,  jenseits  der  senkrechten  Gränze  der  Olive 
breiten  sich  nur  grüne  Matten  aufwärts,  wie  denn  der  Oelbaum 
alles  verdrängt,  was  Schatten  giebt.  An  den  im  Nordwesten  lie- 
genden Abhängen  leuchten  zerstreute  Gebäude  durch  das  sanfte 
Grün  der  Oliven.  Dieser  Anblick  ist  neu  und  überraschend.  Es 
fehlen  nämlich  in  Oberitalien  die  Dörfer,  welche  durch  stadtähnliche 
Ortschaften  ersetzt  werden,  und  es  giebt  auch  keine  Bauern,  son- 
dern Pächter,  die  in  jenen  Ortschaften  wohnen.  Dort  steht  Haus 
an  Haus  mit  möglichster  Ersparniss  des  Raumes  zu  engen  Gassen 
zusammengerückt.      Nirgends    sieht    man   Höfe    oder    Gärten   da- 

Peschel,  Abhandlungen.     II.  30 


466 


Ferienreisen. 


zwischen,  oder  wenn  man  Gärten  sieht,  sind  sie  umgeben  von 
hohen  Mauern  und  mit  Rebstöcken  oder  Oelbäumen  angefüllt, 
ummauerte  Stätten  der  Gartencultur,  keine  Räume,  die  zum  Schmuck 
oder  zur  Erholung  bestimmt  wären.  Zerstreute  Häuser  sind 
äusserst  selten  und  darum  wird  man  überrascht,  sie  wieder  anzu- 
treffen. Mag  es  ein  Bedürfniss  der  Sicherheit  gewesen  sein,  welches 
die  Italiener  veranlasste,  überall  sich  städtisch  anzusiedeln,  oder 
ein  Bedürfniss  der  Geselligkeit ,  oder  eine  Folge  des  herrschenden 
Pachtsystems  und  des  Mangels  eines  grundbesitzenden  Bauern- 
standes ,  oder  alle  diese  Umstände  zusammengenommen ,  der 
Mangel  an  Dörfern  und  an  einzelnen  Höfen  giebt  den  italienischen 
Ortschaften  ihre  fremdartige  Physiognomie.  So  wenig  wie  der 
Italiener  ein  Bedürfniss  fühlt,  seine  Wohnung  durch  einen  Blumen- 
garten zu  zieren,  so  wenig  scheint  sich  bei  ihm  ein  Bedürfniss 
nach  Spaziergängen  zu  regen.  Nähert  man  sich  einer  Ortschaft, 
so  wird  die  Landstrasse  lange  vorher,  und  entfernt  man  sich, 
lange  nachher  durch  Mauern  eingingt,  wahrscheinlich  zum  Schutze 
der  Früchte  gegen  ungebetene  Gäste.  Den  Ausdruck  ,,ins  Freie 
gehen"  kann  es  im  Itahenischen  nicht  geben,  denn  man  fühlt  sich 
nicht  frei,  wenn  Mauer  rechts  und  Mauer  links  neben  dem  Wan- 
derer aufsteigt.  Frei  ist  nur  der  Weg  nach  dem  Strande,  wo 
die  anspülenden  Wellen  mit  den  Kieseln  rauschen ,  wo  man  aber 
an  der  Riviera  vergeblich  nach  Muscheln  suchen  wird. 

Beim  Vorgebirge  Noli's  wird  die  Strasse  der  Riviera  wieder 
malerisch  wild.  Scharfe  Felsen  und  Khppen ,  prächtig  zerklüftet, 
fallen  ziemlich  lothrecht  in  die  See,  deren  Wogen  sich  schäumend 
an  abgestürzten  Felsblöcken  brechen  und  die  Felsennasen  unter- 
waschen. Auffallenderweise  ist  das  ligurische  Gestade  von  Nizza 
bis  Genua  inselfrei,  mit  nur  zwei  Ausnahmen.  Vor  Albenga  näm- 
lich liegt  die  Insel  Gallinaria,  ein  rauher  Felsenkopf,  der  aus  der 
blauen  Tiefe  aufragt,  und  hinter  Noli  eine  zweite  namenlose  Insel, 
der  ersten  familienähnlich.  Hat  sich  die  Strasse,  theilweis  in  und 
durch  den  Felsen  gesprengt ,  thurmeshoch  um  das  letzte  Vor- 
gebirge geschwungen,  so  ^schimmert  am  Fusse  blauer  Rücken  das 
östliche  Hörn  von  Genua  mit  der  Kuppel  der  Carignana,  und  der 
Leuchtthurm  des  westlichen  Hornes  wird  sichtbar,  hinter  dem, 
prächtig  gezeichnet,  steile  blaue  Gebirge  in  die  See  fallen.  Bis 
in  jene  Ferne  scheint  sich  nur  eine  grosse  Stadt  zu  erstrecken,  so 
T^^cht  drängt  sich    am  Ufer   zwischen  Savona   und   der  Hauptstadt 


Die  Riviera  di  Ponente.  467 

Ort  an  Ort.  Alle  Anhöhen  und  alle  Abhänge  schwärmen  mit 
Villen  und  Landhäusern,  und  man  fühlt  immer  deutlicher,  dass 
man  sich  einem  grossen  bürgerlichen  Ernährungspunkte  nähert. 
Die  Höhe  der  Küstengebirge  vermindert  sich  aber  bedeutend,  und 
die  Riviera  wird  von  jener  Stelle  an  zahm  und  gesittet.  Die 
Landhäuser  gehören  mit  wenigen  Ausnahmen  einem  Jahrhundert 
an,  dem  wir  nicht  angehören.  Die  Erbauer  haben  an  steinernem 
Schnörkelwerk  und  Bildhauerarbeit  redlich  gespart,  dafür  aber  an 
die  flachen  Wände,  Säulen  und  Simse  anmalen  lassen.  Diess  hat 
nun  schon  mancher  recht  anmuthig  gefunden  und  es  trägt  jeden- 
falls zur  Lebendigkeit  des  Anblicks  bei,  im  Grunde  aber  macht 
diese  coulissenartige  Ausschmückung  der  Gebäude  die  unwill- 
kommene Wirkung ,  uns  bei  hellem  Tage  in  die  Zeit  der  Zöpfe 
zurückzuversetzen. 

In  Savona  wurden  wir  zum  ersten-,  in  Voltri  zum  zweiten- 
male  von  unsern  Lohnkutschern  „verkauft",  das  heisst  wir 
gingen  als  Frachtgegenstände  in  andere  Hände  und  in  andere 
Verkehrswerkzeuge  über,  weil  es  sich  finanzpolitisch  den  Vet- 
turinen  empfiehlt ,  nur  kleinere  Strecken  zu  fahren.  In  Voltri 
wurden  wir  der  Eisenbahn  übergeben,  indem  unser  Kutscher, 
nachdem  er  die  Einwilligung  seiner  beiden  Frachtgegenstände  er- 
halten hatte,  uns  auf  seine  Kosten  Billets  erster  Classe  löste. 
Bevor  wir  jedoch  Voltri  erreichten,  kamen  wir  durch  eine  arglose 
Ortschaft,  Namens  Cogoleto,  von  ärmUchen  Fischern  bewohnt. 
Der  Verfasser  war  kindisch  genug,  jedem  Bewohner,  den  das 
Rasseln  des  Wagens  unter  die  Hausthür  zog,  musternd  ins  Gesicht 
zu  schauen.  Aber  keine  dieser  gutmüthigen  Physiognomien  Hess 
den  geringsten  Verdacht  aufkommen,  als  ob  der  Inhaber  auch 
nur  die  allerentfern  teste  Verschuldung  an  der  Entdeckung  Amerika' s 
habe.  Plötzlich  hielt  jedoch  der  Kutscher  vor  einem  keineswegs 
alterthümhchen  Hause  und  verweilte  so  lange,  bis  wir  die  Mauer- 
inschriften, lateinische  und  italienische  Verse,  gelesen  hatten,  welche 
das  Gebäude  als  die  Geburtsstätte  des  Cristoforo  Colombo  oder, 
wie  er  sich  als  Entdecker  genannt  hat,  Cristobal  Colon  bezeich- 
neten. 

Wir  schliessen  hier  die  Bemerkungen  über  die  ligurische  Ri- 
viera, und  Leser,  die  keine  Zeit  haben,  sich  mit  den  historischen 
Zweifeln  über  die  Geburtsstätte  des  grossen  Seefahrers  zu  beschäf- 
tigen ,    können  getrost    das    folgende   überschlagen ,    zumal   wir  im 


468 


Ferienreisen, 


Voraus  versichern  dürfen ,  dass  sie  sich  nicht  genauer  ermitteln 
lässt,  wenn  es  auch  mehr  als  wahrscheinlich  ist,  dass  der  Ent- 
decker der  neuen  Welt,  wenn  nicht  in  Genua  selbst,  doch  in  der 
Nähe  von  Genua  geboren  wurde,  und  die  Riviera  im  weitern 
Sinne  jedenfalls  seine  Heimath  war. 

Nicht  weniger  als  dreizehn  Städte  Italiens  streiten  sich  um 
die  Ehre ,  dass  ihre  Mauern  den  ersten  Schrei  des  Neugebornen 
gehört  haben.  Ein  chinesisches  Sprüchwort  sagt:  der  Meinungen 
sind  viele,  die  Wahrheit  ist  aber  nur  eine ,  demnach  ist  es  ausge- 
macht, dass  wenigstens  zwölf  falsche  Geburtsorte  Colons  genannt 
werden.  Von  diesen  dreizehn  Orten  gehören  drei,  nämlich  das 
Schloss  Cuccaro  zwischen  Alessandria  und  Casale,  Piacenza  und 
Pradello  im  Stadtgebiet  von  Piacenza ,  nicht  der  Umgebung 
Genua's  an.  Bei  dem  spätem  Erbschaftsstreit  um  das  Majorat, 
welches  der  Entdecker  gestiftet  hatte ,  traten  die  Herren  von 
Cuccaro  mit  Ansprüchen  auf,  die  aber  historisch  sich  nicht  be- 
gründen und,  was  man  bisher  übersehen  hat,  sich  sogar  heraldisch 
widerlegen  lassen ').  Von  den  zehn  andern  Orten  hat  jedenfalls 
Genua  selbst  den  meisten  Anspruch;  die  letzten  neun  Cogoleto, 
Bugiasco,  Finale,  Quinto,  Nervi,  Savona,  Palestrella,  Abizoli, 
Cosseria  (landeinwärts  zwischen  Milessimo  und  Carcere),  sowie 
Oneglia  gehören  den  beiden  Gestaden  des  Golfes  von  Genua  an. 
Wahrscheinlich  gab  es  sehr  viele  Colombi  in  und  in  der  Nähe 
von  Genua.  Ein  Domenico  Colombo,  der  gewöhnlich  für  den 
Vater  gehalten  wird,  siedelte  1469  nach  Savona  über,  und  dort 
erscheint  auch  ein  Cristoforo  Colombo  als  Testamentszeuge  auf 
einer  Urkunde  des  Jahres  1472.  Selbst  wenn  der  Entdecker,  was 
leicht  möglich  ist,  in  einer  der  Ortschaften  der  Riviera  geboren 
wurde,  bleibt  er  doch  noch  immer  ein  Genuese,  denn  alle  diese 
kleinen  Gemeinden  erscheinen  schon  dem  Auge  nur  wie  Familien- 
glieder und  Abkömmlinge  der  grossen  Mittelmeerstadt.  Wie  um 
einen  grossen  Stamm  neue  Schösslinge  aus  gemeinsamer  Wurzel 
und  aus  gemeinsamer  Erde  aufspriessen ,  so  die  kleinen  Orte,  die 
ihr  Leben  von  der  Nähe  eines  mächtigen  Stadtkörpers  empfangen. 
Es  ist  daher   nur   eine  Frage  der  Neugier,    wo  der  Entdecker  ge- 


i)  Der  Verfasser  hat  schon  auf  den  Unterschied  der  Familien wappen  des 
amerikanischen  Colon  und  der  Herren  v.  Cuccaro  aufmerksam  gemacht.  S. 
Peschel,   Zeitalter  der  Entdeckungen.     S.  98. 


Die   Riviera  di  Ponente. 


469 


boren  wurde,  für  die  Geschichte  genügt  es' vollkommen,  wenn  wir 
wissen,  dass  er  ein  Ligurier  gewesen  sei,    gleichgültig  dagegen  ist 
es,  ob  er  zuerst  die  Luft  der  grossen  Stadt  selbst  oder  eines  nahen 
Ortes   eingesogen    habe.     Es    ist    ebenso   zweifelhaft,    ob  er  1436 
oder    1456    geboren    wurde,    und  nur   das    eine   scheint   sicher  zu 
sein,  dass  er   plebejischen  Ursprungs    war.     Seinfunehelicher  Sohn 
Don  Fernando ,    der  die  Lebensbeschreibung  des  Vaters  verfasste, 
kannte  selbst  weder  das  Alter,    noch  die  Geburtsstätte,    noch  die 
Jugendgeschichte  seines  Erzeugers.     Vielleicht  hat  er  die  letzte  ab- 
sichtlich   im    Dunkel    gelassen.     Sein    Bruder    und    seine    Neffen 
wurden  Granden  von  Spanien,   im  dritten  Gliede  bereits  verwandt 
mit  den  spanischen  Habsburgern,    und    sie   hatten  keine  Ursache, 
den  Schleier   zu    lüften.     Wir    wissen    indessen ,    dass    ausser   zwei 
Brüdern  der  Entdecker    eine  Schwester  besass,    die    den  Giacomo 
Bavarello,    einen    Pizzicagnolo,    heirathete.      Genau    zu    ermitteln, 
was    ein    Pizzicagnolo    sei,    hat    schon    Gelehrte   beschäftigt,    und 
Alex.    v.    Humboldt   übersetzt    den   Ausdruck    mit   Fleischhändler. 
Das  Gewerbe   blüht  noch   immer   in  Genua    und  an   der    Riviera. 
Um  daher  Gewissheit   über   diese   grosse  historische  Frage  zu   er- 
halten ,    musterte   der   Verfasser    in    Genua   einen  Laden ,    der   die 
Aufschrift  eines  Pizzicagnolo    trug.     Dort    wurden  Käse,    Schmalz, 
Eier,  kurz  Lebensmittel  und  Küchenbedürfnisse  verkauft,  und  schon 
der  Geruch  beseitigte  alle  kritischen  Zweifel  über  den  bürgerlichen 
Beruf   der   PizzicagnoH.      Wenn  also    die    Schwester   Würste    ver- 
kaufte, warum  sollen  wir  bezweifeln,    was  die  ältesten  und  besten 
Angaben  bezeugen,  dass  näniHch  der  Entdecker  Sohn  eines  Tuch- 
webers   gewesen   sei?     Bei    dieser   Gelegenheit  erlaube    man    uns 
eine  andere  falsche  Angabe  zu  widerlegen,  die  schon  A.  v.  Hum- 
boldt bestritten,  Prescott  durch  sein  Schweigen  verworfen  hat,  die 
aber  neuerlich  wieder   aufgetischt   worden  ist.     Der   gelehrte  Sohn 
des  Entdeckers ,  Don  Fernando ,    erzählt ,  dass  sich  sein  Vater  an 
Bord  eines  Geschwaders  befunden  habe,  welches  von  einem  aristo- 
kratischen Seeräuber,  Namens  Colombo,   befehhgt  wurde,  und  das 
im  Jahr  1485  vor  Lissabon    vier    venetianische  Galeeren   auf  dem 
Wege   nach  Flandern   überfiel.     Bei  dem  Gefecht   fing  das  Schiff, 
auf  dem  sich    der  Entdecker   befunden    haben  sollte,    zu   brennen 
an,  und  der  grosse  Mann  rettete  sich  nur,    dass  er  ein  Ruder  er- 
griff und  als  geübter  Schwimmer   die  zwei  Meilen  entfernte  Küste 
erreichte.     Ein   englischer   Gelehrter  R.  Brown,    der   kürzüch    die 


47° 


Ferienreisen. 


Archive  von  Venedig  durchsuchte ,  will  dort  die  Beglaubigung 
dieser  Thatsachen  aufgefunden  haben.  Allein  er  fand  doch  nur, 
was  niemand  bestritten  hat  und  was  bereits  in  dem  venetianischen 
Annalisten  Sabellicus  zu  lesen  ist,  dass  nämlich  vier  venetianische 
Galeeren  von  Seeräubern  vor  Lissabon  angefallen  wurden,  dass 
die  Piraten  ein  Mann,  Namens  Colombo,  befehligte,  von  dem 
wir  andrerseits  wissen ,  dass  er  der  edlen  Familie  in  Cuccaro  an- 
gehörte, und  dass  die  That  im  Jahr  1485  vorfiel.  So  weit  ist 
alles  in  Ordnung. 

Nun  fragt  vielleicht  ein  unbefangener  Leser,  warum  die  histo- 
rische Kritik  sich  anmasst ,  etwas  zu  bezweifeln ,  was  der  Sohn 
vom  Vater  erzählt?  Don  Fernando  weiss  jedoch  nicht  mehr  als 
was  im  Sabellicus  steht,  und  was  er  von  der  Theilnahme  seines 
Vaters  erzählt,  beruht  auf  Hörensagen,  wenn  nicht  auf  eigener 
Phantasie,  denn  der  Entdecker  selbst  gedenkt  in  seinen  Briefen 
nie  einer  solchen  Begebenheit.  Dieser  Umstand,  welcher  in  die 
Classe  der  sogenannten  negativen  Beweise  gehört,  die  ausserordent- 
lich gefährlich  sind,  wäre  allein  nicht  hinreichend,  wenn  wir  nicht 
aus  den  Urkunden  und  aus  den  eigenen  Briefen  des  Entdeckers 
wüssten,  dass  er  im  Jahr  1484  Portugal  verlassen  und  dass  er 
beim  Antritt  seiner  Entdeckungsreise  1492  bereits  8  Jahre  im 
Dienst  der  spanischen  Krone  gestanden  war.  Die  Urkunden 
widersprechen  daher  der  Angabe,  und  Don  Fernando  hat  sich 
vielleicht  nicht  ungern  das  Märchen  aufbinden  lassen,  als  er  in 
Italien  reiste  und  die  edlen  Colombi  in  Cuccaro  besuchte,  um  sich 
Auskunft  über  seine  Vorfahren  zu  verschaffen. 

Genua  hat  seinem  grossen  Sohne  ein  würdiges  Standbild  aus 
Marmor  gesetzt,  vielleicht  beabsichtigt,  vielleicht  unbeabsichtigt  im 
Angesichte  des  Bahnhofes,  so  dass  der  marmorne  Mann,  welcher 
das  Weltmeer  so  gewaltig  verkleinern  half,  sich  in  unmittelbarer 
Nähe  unserer  raumbewältigenden  Verkehrsmittel  befindet,  welche 
das  Festland  uns  jetzt  so  angenehm  verkürzen.  An  die  Knie  des 
Columbus  schmiegt  sich  eine  Indianerin  mit  dem  Kreuz  in  der 
Hand,  eine  sinnige  Anspielung  (wenn  es  eine  solche  sein  sollte) 
auf  den  Vornamen  des  Entdeckers,  der  ihn  als  den  Christ- 
träger') als  den  Ueberbringer    des  Evangeliums   nach  der  neuen 


i)  Colon  selbst ,    ein    religiöser    Schwärmer ,    war    tief  betroffen    durch  den 
Umstand,  dass  er  schon  in  der  Taufe  als  Christoph,  als  der  Träger  des     Evan- 


Die  Riviera  di  Ponente. 


471 


Welt  schon  in  der  Taufe  angekündigt  hat.  Wäre  der  italienische 
Künstler  in  der  Völkerkunde  bewandert  gewesen,  so  hätte  er 
wahrscheinlich  die  Indianerin  zu  Füssen  des  Entdeckers  wegge- 
lassen ,  denn  er  erinnert  damit  an  die  dunkelste  Seite  der  Ent- 
deckung Amerika's.  Das  Christenthum  hat  der  Genueser  wohl 
hinübergeführt  über  das  atlantische  Thal ,  aber  zugleich  auch  den 
Racentod.  Die  Hälfte  der  eingebornen  Stämme,  mit  denen  Colon 
in  Berührung  kam,  war  bereits  von  dem  Erdboden  verschwunden 
ehe  ein  halbes  Jahrhundert  verstreichen  konnte.  Das  Aussterben 
der  schwächeren  Menschengeschlechter  erfolgt  nach  einem  Natur- 
gesetz, welches  sich  nicht  bloss  auf  beiden  Festlanden  Amerika's, 
auf  den  Inseln  des  grossen  Oceans,  auf  der  Sandwichgruppe,  den 
Marquesas-,  den  Gesellschafts-,  den  Freundschafts-,  den  Fidschi- 
Inseln,  auf  Neu-Seeland  und  in  Australien  an  den  Völkern  wieder- 
holt, sondern  dem  selbst  Pflanzen  erliegen,  sobald  Gewächse  der 
alten  Welt  ferne  Inseln  und  Festlande  überfallen  und  die  schwä- 
cheren Formen  der  eingebornen  Flora  verdrängen.  Traurig  bleibt 
es  aber  immer ,  und  die  Gestalt  der  Eingebornen  zu  Füssen  des 
steinernen  Seefahrers  erscheint  fast  wie  eine  Anklage,  das  Kreuz 
in  ihren  Händen  aber  nicht  als  ein  Zeichen  der  Rettung,  sondern 
wie  das  Zeichen  über  einem  Rasenhügel,  wenn  alles  vorbei  ist. 

Es  ist  uns  kein  Porträt  des  Genuesers  erhalten  worden  oder 
vielmehr  alle  in  Umlauf  befindlichen  Porträts  sind  unecht  und  er. 
fimden.  Der  Künstler  hat  daher  freie  Wahl,  sich  den  Mann  zu 
denken  wie  er  will.  Daher  die  grosse  Verschiedenheit  zwischen 
den  Auffassungen  des  Genueser  Bildhauers,  Kaulbachs  im  Refor- 
mationsbild, Rubens  und  Rugenda's.  Rüben  scheint  sich  der  histo- 
rischen Wahrheit  am  meisten  genähert  zu  haben.  Nach  der 
Schilderung   seines  Sohnes    war  Colon   hoch  gewachsen   und  stark 


geliums  in  die  neue  Welt  bezeichnet  worden  war.  Um  diesen  Umstand  recht 
fühlbar  zu  machen,  unterzeichnete  er  stets  XPO  FERENS,  wie  man  auch  auf 
seinen  Originalbriefen,  die  im  Palazzo  del  Municipio  in  Genua  unter  Glas  ge' 
zeigt  werden,  und  deren  Echtheit  nie  einen  Zweifel  erregt  hat,  lesen  kann- 
Das  XPO  soll  Christo  (statt  Christum)  gelesen  werden,  da  in  alten  spanischen 
Urkunden  und  Druckwerken  dem  X  und  P  bei  griechischen  Worten  auch  der 
griechische  Lautwerth  gelassen  wird.  Juan  de  la  Cosa,  ein  Begleiter  des  Ent- 
deckers und  der  Verfasser  der  ältesten  Karte  von  Amerika,  hat  auf  diesem 
Erdgemälde  vom  Jahr  1500  den  heiligen  Christoph  mit  dem  Jesuskind  auf  den 
Schultern  abgemalt ,  wie  er  durch  Schilf  an  das  Ufer  der  neuen  Welt  steigt, 
was  man  auch  für  eine  Anspielung  auf  den  Namen  des  grossen  Entdeckers  hält. 


472 


Ferienreisen. 


gebaut.  Sein  Gesicht  länglich  geformt,  wurde  bedeutsam  durch 
eine  Adlernase,  entstellt  aber  durch  einen  grossen  Mund,  sowie 
durch  Sommerflecken  und  eine  stehende  Röthe.  Schon  im  dreissig- 
sten  Jahr  war  sein  rothblondes  Haar  ergraut,  wie  er  selbst  be- 
hauptet in  Folge  von  Sorgen.  Das  ist  alles,  was  wir  von  der 
äussern  Erscheinung  des  grossen  Mannes  wissen. 


III.     Genua. 

(Ausld.   1865.  Nr.  29.     22.  Juli.) 

Die  Natur  hat  Venedig  nur  seine  Lagunen  und  den  täglich 
mehr  versandenden  Hafen  geschenkt.  Man  muss  auf  den  Thurm 
des  Marcusplatzes  steigen  um  jenseits  des  Lido  das  bewegte  Meer 
und  gegen  Süden  die  vulkanischen  Kegel  der  euganeischen  Berge 
zu  sehen.  Venedigs  Reize  sind  also  nur  menschliche  Kunstwerke, 
und  ein  Maler  findet  dort  nichts,  wenn  er  nicht  ein  Canaletto  ist. 
Für  Genua's  Schmuck  hat  dagegen  die  Natur  mehr  gethan  als 
die  Genueser.  Von  jedem  höhern  Punkt  wird  das  Meer  über  dem 
Mastenwald  des  Hafens  sichtbar.  Küstengebirge  von  beträcht- 
licher Höhe  begränzen  den  Golf  nach  Westen  wie  nach  Osten, 
die  Stadt  selbst  aber  hebt  sich  an  einem  halbmondförmigen  Becken 
empor.  Paläste  überragen  Paläste,  dann  folgen  Terrassen  und 
grüne  Gärten,  über  den  Gärten  steigen  Matten  empor,  und  zuletzt 
krönen  jede  Kammspitze  malerische  Festungswerke,  zwischen  denen 
die  Mauern  hier  sichtbar,  dort  versteckt  auf  den  geschwungenen 
Höhenkanten  auf-  und  niederklettern.  Nach  dem  Wetterkalender 
ist  jeder  dritte  Tag  in  Genua  ein  Regentag,  aber  die  Regen  fallen 
nur,  wenn  die  Sonne  in  den  südlichen  Zeichen  steht,  und  die 
schöne  Jahreszeit  ist  wirklich  schön  und  nicht  wie  bei  uns  em 
,,grün  angestrichener  Winter". 

Die  Hauptstrassen  in  Genua  sind  mit  Quadern  getäfelt,  werden 
sehr  rein  gehalten  und  sind  fast  ganz  geruchlos.  Doch  fällt  bis- 
weilen seitwärts  der  Blick  in  sehr  hohle  Gassen  hinab,  wohin  die 
Sonne  aus  Discretion  nicht  eindringt,  um  nicht  die  Wäscherinnen 
zu  stören,  die  im  tiefen  Dunkel  um  einen  Brunnen  Genua's 
schwarze  Wäsche  säubern,  die  dann  zwischen  den  Häusern  au 
quer   gezogenen  Stricken  bis  in    die  vierten  Stockwerke  hinauf  an 


Genua. 


473 


der  Luft  trocknet.  Die  bessern  Strassen  sind  breit  und  vom 
frühesten  Tage  bis  gegen  Mitternacht  belebt.  Wie  in  jedem  See- 
handelsplatz herrscht  in  der  Nähe  des  Hafens  der  grösste  Tumult, 
doch  ist  in  Genua  der  Verkehr  bei  weitem  nicht  so  gross  wie  in 
Marseille. 

Im  Vergleich  zu  Mailand  und  Venedig  besitzt  Genua  wenig 
Kunstschätze,  und  die  wenigen  befinden  sich  zerstreut  im  Privat- 
besitz. Seine  wichtigsten  Kunstwerke  sind  die  Paläste,  welche 
dicht  an  einander  gereiht  die  Strassen  Via  Nuova,  Nuovissima  und 
Balbi  bilden.  Diese  Strassen  und  Paläste  sind  es,  welche  Genua 
den  Beinamen  der  Prächtigen  (Genova  la  superba)  ei-worben 
haben.  Vor  der  Ankunft  Galeazzo  Alessi's  aus  Perugia,  der  in 
15  Jahren  der  Stadt  ihr  monumentales  Gepräge  gab,  scheint  die 
Architektur  viel  frugaler  gewesen  zu  sein.  Man  sagt  sich  diess 
wenigstens,  wenn  man  den  Palast  des  Andrea  Doria  aus  dem 
16.  Jahrhundert  äusserlich  betrachtet,  der,  am  östlichen  Ufer  des 
Hafens  gelegen ,  ziemlich  ärmlich  und  verarmt  erscheint ,  wenn 
man  kurz  zuvor  die  Palaststrassen  durchwandert  hat.  Im  Innern 
freilich  sind  noch  Reste  der  ehemaligen  Pracht  und  Kunstliebe 
genug  vorhanden,  so  dass  man  sein  erstes  Urtheil  wieder  ändert 
und  inne  wird,  dass  die  Genueser  des  16.  Jahrhunderts  für  den 
Schmuck  ihrer  Stadt  und  ihrer  Wohnungen  im  Vergleich  zu  ihren 
damaligen  Mitteln  ebenso  viel  aufwendeten  wie  ihre  spätem  Nach- 
kommen. 

In  Venedig  haben  die  Mehrzahl  der  Paläste  ihre  Besitzer 
nicht  sehr  günstig  gewechselt.  Sänger,  Tänzerinnen,  Börsenspieler 
und  Gasthofsbesitzer  haben  die  schönsten  Monumente  inne.  In 
Genua  gehören  die  prächtigsten  Stadtsitze  noch  immer  den  alten 
Familien,  in  Hotels  haben  sich  nur  die  Paläste  umgewandelt, 
welche  die  Front  bilden  zur  innersten  Vertiefung  des  Hafens- 
Dort  steigen  sie  auf  cyklopischen  Bogengängen  zu  Kirchenhöhe 
auf,  und  der  Fremde,  der  eines  dieser  Häuser  ersten  Ranges  wählt, 
bewohnt  dort  die  ehemaligen  Gemächer  genuesischer  Nobili, 
marmorgetäfelt,  mit  Balconen  versehen  und  etwa  18 — 20  Fuss 
hoch.  Die  Höhe  der  Zimmer  ist  es,  welche  allen  genuesischen 
Palästen  ungewohnte  Grössenverhältnisse  gegeben  hat.  Anfangs 
denkt  man  wohl ,  es  sei  plutokratischer  Uebermuth  gewesen, 
welcher  die  Genueser  verführt  habe,  sich  in  Riesenbauten  zu  über- 
bieten, aber  bald  sieht  man  ein,    dass   körperliches  Behagen    sehr 


47  4 


Ferienreisen. 


genau  mit  der  architektonischen  Hypsometrie  zusammenhängt, 
denn  obgleich  Genua  im  Sommer  nicht  so  heiss  ist  wie  Mailand, 
und  jeder  freie  Platz  durch  die  Seeluft  erfrischt  wird,  so  ist  man 
doch  dankbar  für  die  Kühle  dieser  Gemächer,  deren  senkrechter 
Höhe  man  die  erquickende  Nachtruhe  zuschreiben  muss. 

Aeusserlich  zeichnet  sich  von  allen  Kirchen  Genua's  der  Dom, 
ein  sehr  altes  romanisches  Gebäude  aus  weiss  und  schwarzen 
Marmorstufen ,  am  günstigsten  aus ,  während  umgekehrt  die  An- 
nunciata,  äusserhch  unvollendet  und  scheinbar  im  Verfall  begriffen, 
inwendig  durch  ihre  verschwenderische  Pracht  überrascht.  Von 
den  Capitälen  der  Säulen  angefangen  sind  die  Wölbungen  des 
Haupt-  und  der  Seitenschiffe  mit  Vergoldung  und  Malerei  über- 
laden ,  und  rothe  Vorhänge  vor  dem  oben  hereinfallenden  Licht 
erhöhen  noch  durch  Purpurschimmer  die  Farbenpracht  dieses 
Tempels.  Wenn  Kahlheit  ein  protestantisches  Verdienst  ist,  so 
bildet  die  Carignana  den  schärfsten  Gegensatz  zur  Annunciata, 
denn  dieser  innere  weissgetünchte  Kuppelbau  zeigt  keinen  andern 
Schmuck  als  einige  starre  marmorne  Heiligenkolosse  und  etliche 
Altarblätter,  deren  Kunstwerth  bei  der  schlechten  Beleuchtung 
wie  der  fast  aller  Gemälde  in  Kirchen  fast  ungeniessbar  wird. 
Wie  das  Pariser  Pantheon  ist  die  Kuppel  der  Carignana  mit  einer 
Gallerie  und  einer  Laterne  versehen,  und  da  sie  in  der  Nähe  des 
östhchen  Homs  des  Hafens  liegt,  so  geniesst  man  von  der  Höhe 
einen  günstigen  Ueberblick  über  Meer  und  Küsten ,  sowie  nach 
Genua  und  seinen  Hafen  hinunter,  der  gegenüber  von  dem  west- 
lichen Leuchtthurm  mit  seinen  Bastionen  begränzt  wird ,  von 
welchem  ein  Molo  seinen  schützenden  Arm  vor  dem  Hafen  aus- 
streckt. 

Wir  werden  den  Leser  nicht  ermüden  mit  Aufzählen  der  be- 
sicj^tigten  Kunstschätze.  Er  findet  sie  in  Reisehandbüchern  und 
in  Stahrs  Oberitalien  viel  besser  und  ausführlicher  beschrieben  als 
wir  es  vermöchten,  zumal  uns  nur  zwei  solcher  Schätze  noch  un- 
verwischt  vor  Augen  stehen,  eine  Kreuzigung  van  Eycks  im  Pa- 
lazzo  del  Municipio  und  zwei  silberne  Krüge  von  Benvenuto  Cellini 
im  Palazzo  Durazzo.  Die  grösste  Sammlung  im  Palast  Brig- 
nole  Säle  war  übrigens  wegen  Anwesenheit  des  Besitzers  nicht 
sichtbar. 

Unstreitig  sind  die  Paläste  selbst  anziehender  als  die  Samm- 
lungen, die  sie  einschliessen.     Wir  nennen  vor  allem  den  Palazzo 


Genua. 


475 


Rosso ,  so  genannt  von  dem  ziegelrothen  Anstrich  seiner  Mauern, 
der  sonderbarer  Weise  noch  durch  hellgrüne  Jalousien  gesteigert 
wird.  So  gross  und  grossartig  sind  aber  die  Dimensionen,  dass 
selbst  diese  grelle  Zusammenstellung  von  Farben  dem  Gebäude 
nichts  von  seiner  Hoheit  zu  rauben  vermag.  Ihm  gegenüber  liegt 
der  Palast  des  Municipio ,  wo  im  Verschluss  einer  vergoldeten 
Kapsel  einige  Briefe  des  Columbus  unter  Glas  aufbewahrt  werden 
und  zugleich  mit  der  Violine  —  beinah  möchte  man  sagen 
der  verstorbenen  VioHne  —  Paganinis  gezeigt  werden,  denn 
Genua  rühmt  sich ,  den  grössten  Geiger  und  den  grössten  Ent- 
decker zu  seinen  Söhnen  zu  zählen.  Der  Palazzo  Serra  ist  aus- 
gezeichnet durch  die  Pracht  seiner  Prunkgemächer,  in  denen  bis- 
weilen des  Winters  die  genuesische  Gesellschaft  funkelt,  denn  wie 
der  Custode  treffend  bemerkte,  sei  die  Dame  verloren,  welche  ohne 
eine  ausreichende  Ladung  Diamanten  und  Kleinodien  diese  gol- 
denen Prunkgemächer  mit  ihren  farbig  spielenden  krystallenen 
Kronleuchtern  betreten  wollte.  Getanzt  ■  wird  auf  Marmor  oder 
Mosaikboden.  Eine  fachkundige  italienische  Dame  versicherte 
jedoch  dem  Verfasser,  dass  der  geschliffene  Stein  Polka  und 
Walzer  nicht  sehr  begünstige  und  in  Mailand  daher  zu  Tanzgele- 
genheiten die  Fussböden  mit  Wachstuchteppichen  überspannt  würden, 
welche  gleichwohl  nur  ein  trauriger  Nothbehelf  im  Vergleich  zu 
dem  elastischen  Parket  seien.  So  lauten  die  Ansichten  von  Sach- 
verständigen, die  ein  Laie  andächtig  sich  aufgemerkt  hat. 

Die  Palme  unter  allen  ,, säulengetragenen  Dächern"  Genua's 
wird  wohl  übereinstimmend  dem  Palazzo  Durazzo')  zuerkannt, 
obgleich  oder  vielmehr  weil  er  so  ausserordentlich  einfach  ist. 
Der  Besucher  betritt  ihn  durch  einen  viereckigen  Hof,  um  den, 
von  Säulen  gestützt,  ein  Bogengang  läuft,  welcher  das  Haus  trägt, 
ohne  allen  Schmuck  ausser  seiner  weissen  Farbe  und  einer  bron- 
zenen Laterne,  aber  von  einem  unvergleichlich  wohlthuenden  Mass 
aller  Verhältnisse.  Im  Hintergebäude  liegt  die  weltberühmte 
Treppenstiege  von  Andrea  Tagliafico,  die  man  mit  wahrem  Genuss 
hinaufsteigt.  Auffallend  ist  übrigens  bei  allen  diesen  Palästen  die 
Nüchternheit  der  Thürflügel.  Sie  sind  aus  gemeinem  Holze  ge- 
fertigt und  mit  Oelfarbe  eine  falsche  Maserung  mahagony-  oder 
nussbaumartig    aufgetragen,     mitten    unter    architektonischer    Ver- 

i)  Im  Munde  der  Genueser  klingt  der  Name  Durasso ,  da  das  z  weich 
gesprochen  wird. 


^«5  Ferienreisen, 

schwendung  und  grossen  Verhältnissen,  eine  ärmliche  Sucht  nach 
Ersparniss,  zumal  Luxushölzer  in  einer  Seestadt  nicht  sehr  kost- 
spielig sein  können. 

Zu  den  Unterhaltungen,  welche  die  Reisehandbücher  dem  ge- 
lehrigen Touristen  auferlegen ,  gehört  auch  ein  Ausflug  nach  Pegli 
in  der  Nähe  von  Voltri ,  um  die  Villa  Pallavicini  zu  besuchen, 
wozu  man  sich  eine  schriftliche  Erlaubniss  in  der  Stadtkanzlei 
des  Marchese  zu  erbitten  hat.  Die  Fahrt  geht  um  die  Lanterna, 
das  heisst  um  den  Leuchtthurm  des  Molo  Nuovo  unter  Staub- 
wolken durch  die  nächsten  Ortschaften  der  Riviera  di  Ponente 
und  zum  Theil  am  Meere  vorüber  bis  nach  dem  Ziele.  Den 
Garten  der  Villa  durchschneidet  der  Schienenweg  und  noch  an 
ihrem  Rande  liegt  der  Bahnhof  der  Station  Pegli;  doch  sind  die 
Fahrtzeiten  der  Eisenbahn  dem  Besuch  des  Sommerpalastes  der  genue- 
sischen Marchesi  nicht_günstig.  Der  vorgeschriebene  Custode  empfängt 
und  führt  die  Fremden  durch  schattige  Parkanlagen,  an  einigen 
Gartentempeln  vorüber  eine  beträchtUche  Anhöhe  hinan,  gekrönt 
durch  ^ein  modernes  burgartiges  Gebäude,  von  dessen  Thurm  und 
Zinnen  herab  eine  entzückende  Aussicht  über  den  Golf  und  die 
beiden  Rivieren  sich  erschliesst.  Ganz  im  Westen  im  Meeresblau 
und  Duft  verloren  ist  noch  das  Vorgebirge  delle  Mele  zu  erkennen. 
Weiter  landeinwärts  gipfeln  die  Seealpen  bis  zu  einer  Höhe,  auf 
der  sich  noch  zerrissene  Schneeflecken  erhalten  konnten.  Rück- 
wärts hat  man  bebaute  Bergabhänge,  unter  sich  den  waldigen 
Park,  die  Villa,  die  Ortschaft  Pegli  und  das  blaue  Meer,  an  dessen 
äusserstem  Saume  früh  Morgens  und  Abends,  jedoch  nur  an  we- 
nigen begünstigten  Tagen,  Corsica  sichtbar  wird.  Nach  Osten  zu 
liegt  Genua,  grösstentheils  versteckt  hinter  seinen  halbmondartigen 
Bergen ,  doch  bleiben  sein  Leuchtthurm ,  seine  Stadtmauern 
und  seine  malerischen  Castelle  auf  den  Höhenkämmen  überall 
sichtbar.  Hinter  Genua ,  schon  in  blauer  Ferne ,  steigt  die 
östliche  Riviera  steil  aus  dem  Meere  empor,  zu  einem  schön 
geformten  zackigen  Vorgebirge  sich  erhebend ,  welches  jäh  ab- 
fallend die  Aussicht  schliesst.  Dieser  Blick  auf  und  über  den 
segelbelebten  Golf  ist  an  sich  eine  Reise  werth  und  gehört  zu  den 
Bildern,  die  sich  unverwischlich  erhalten ,  es  ist  ein  Gemälde  voll 
von  südlichem  Licht,  von  blauem  Meer,  von  dunklem  Laub  immer- 
grüner Gewächse  und  von  freundlichen  Wohnstätten.  Man  fühlt 
den  Segen  einer  bessern  Sonne,  die  nicht  lästig  wird  im  Bereiche 


Genua. 


477 


kühlender  Seewinde.     Dort  beneidet  man  die  Italiener,  dort  begreift 
man  die  Sehnsucht  der  Barbaren  und  die  Römerzüge. 

Diese  Aussicht  ist  unstreitig  das  Beste,  was  man  in  Pegli  sich 
holen  kann.  Steigt  man  herab,  so  hält  indessen  der  Führer  die 
wahren  Ueberraschungen  noch  in  Bereitschaft,  wir  werden  in  eine 
Grotte  geführt,  die  künstlich  aus  Tropfsteinen  erbaut  worden  ist 
und  zwischen  deren  Pfeilern  und  Wölbungen  ein  Gewässer  der 
Unterwelt  fluthet.  Die  herabhängenden  Stalaktiten  würden  natür- 
lich vom  Regen  sehl"  bald  in  Stalagmiten,  noch  wahrscheinhcher 
nur  in  einen  Brei  von  kohlensaurem  Kalk  am  Boden  verwandelt 
werden,  die  künstlich  gemauerte  Grotte  ist  daher  oben  mit  Metall 
gedeckt,  und  erst  auf  dieses  Gartenerde  geführt  und  Bäume  ge- 
pflanzt worden.  Man  wird  freundlich  genöthigt  eine  Gondel  zu 
besteigen ,  die  durch  Grottendunkel  uns  plötzlich  hinausbringt  auf 
einen  grell  beleuchteten  Weiher  mit  statuengeschmückten  Inseln, 
chinesischen  Tempeln  ,  türkischen  Kiosken  ,  Wasserfällen ,  Spring- 
brunnen, hochgespannten  Brücken  und  eingeschlossen  von  saftigen 
Rasenteppichen,  auf  denen  blühende  Magnolien  ihren  Schatten  aus- 
breiten. Man  tischt  uns  hier  bei  hellem  Tage  ein  Blatt  aus  dem 
Feen-Märchenbilderbuch  unserer  Kinderzeit  auf,  und  laute  Ergüsse 
der  Befriedigung  und  des  Entzückens  wurden  aus  einer  Gondel 
mit  einer  starken  Fracht  schöneren  Geschlechtes  in  correctem 
Berlinisch  laut.  Der  Eigenthümer  des  Landsitzes,  Marchese  Pal- 
lavicini,  öffnet  den  Fremden  gastfrei  seine  Gärten  und  es  wäre 
Missbrauch  dieser  Grossmuth,  die  Capitalsanlagen  des  edlen  Eigen- 
thümers  kritisiren  zu  wollen,  zumal  er  dabei  den  menschenfreund- 
hchen  Zweck  verfolgt,  unbeschäftigten  Händen  der  nächsten  Ort- 
schaften Erwerb  anzuweisen.  Wenn  wir  indessen  den  Besuchern 
Genua^s  einen  Ausflug  nach  Pegli  dringend  rathen ,  so  geschieht 
es  wohlverstanden  der  Höhenaussicht  wegen,  die  Gartenkünsteleien 
bekommen  sie  ohnediess  in  den  Kauf.  Nicht  leicht  wird  jemand 
errathen,  dass  die  kostspiehgste  dieser  Anlagen  der  sparsame  Wasser- 
fall ist,  welcher  von  der  Höhe  herabkommend  Weiher  und  Grotte 
füllt.  Wasser  ist  baares  Geld  an  der  Riviera,  und  ein  Wasserfall 
ist  ein  Fall  von  Frankenstückeri,  denn  nicht  weniger  als  acht  Mi- 
glien  weit  muss  von  den  Bergen  auf  gemauerten  Leitungen  das 
kostbare  Gut  herbeigq/"ührt  werden,  welches  aus  unsichtbaren 
Druckwerken  in  allen  Buschwerken  sprüht. 

Für  Freunde  der  Gartenkunst  bietet  die  Villa  Pegli  sowie  die 


478 


Ferienreisen. 


Gärten  der  Villa  Negri  über  dem  Palazzo  Andrea  Doria,  von  deren 
letzteren  Anhöhen  man  einen  vollständigen  Ueberblick  über  die 
Stadt  und  den  Hafen  Genua's  gen  Westen  geniesst,  ganz  absonder- 
liche Ueberraschungen,  doch  enthält  die  Villa  Pallavicini  weit  mehr 
Seltenheiten  und  Reichthümer  als  die  Villa  Negri.  Wenn  wir 
daran  erinnern,  dass  bisweilen  in  schlimmen  Wintern  das  Rdau- 
mur'sche  Thermometer  in  und  um  Genua  bis  auf  —  6°  sinken 
kann,  so  erstaunt  man,  wie  viele  Gewächse  gedeckt  und  ungedeckt 
dort  ausdauern.  Die  Cedern  vom  Libanon  und  vom  Himalaya 
(C.  Deodora)  findet  man  auch  am  Comer  See,  ebenso  wie  ver- 
schiedene Lorbeerarten  (L.  nobilis  und  L.  cerasus),  zu  denen  auch 
20'  hohe  Kampherbäume  (L.  Camphora)  gehören.  Das  gleiche 
gilt  von  Azaleen ,  Rhododendren  ,  Kamelien ,  MagnoHen ,  Agaven, 
Yuccen  (Y.  gloriosa)  und  einer  Anzahl  Cactusarten,  Was  am 
Comer  See  aber  nicht  mehr  im  Freien,  wohl  aber  in  Genua  über- 
wintert, sind  anmuthige  Bambusarten,  Stauden  des  ägyptischen 
Papyrus ,  und  eine  neu  eingeführte  japanische  Palme  oder  rich- 
tiger Cycadee  (C.  revoluta),  welche  letztere  jedoch  gedeckt  werden 
muss.  Merkwürdig  sind  drei  hohe  Exemplare  von  Korkeichen 
(Quercus  suber)  in  den  Anlagen  des  Pallavicinischen  Parkes,  sowie 
in  der  Villa  Negri  ein  starkes  Exemplar  der  Maniokstaude  (Yatropha 
Manihot),  aus  deren  Wurzel  das  bekannte  Tapiocamehl  gewonnen 
wird.  Von  Araucarien  besitzt  der  Marchese  Pallavicini  fünf  ver- 
schiedene Arten  (A.  excelsa,  brasiliana,  Cunninghami,  imbricata 
und  eine  als  columnaris  bezeichnete,  die  neu  sein  muss,  weil  sie 
in  dem  botanischen  Wörterbuch  fehlt)  in  Exemplaren  bis  zu  20 
Fuss  Höhe.  Diese  Araucarien ,  von  denen  kein  Stück  unter 
10,000,  eines  sogar  30,000  Francs  im  Werth  gehalten  wird,  müssen 
in  Kübeln  zur  Winterszeit  hinter  Glas  wandern ,  ebenso  wie  eine 
neuseeländische  Damarafichte ,  welche  die  Villa  bei  Pegli  besitzt. 
In  den  warmen  Häusern  der  Gartenfreunde  an  der  Riviera  und 
am  Comer  See  werden  mit  Vorliebe  tropische  Fruchtbäume,  Kaffee. 
Zuckerrohr  und  fast  überall  Ba,nanen  gepflegt ,  die  wir  gerade  in 
Blüthe  fanden ,  welche  aber ,  vereinzelt  und  von  unbedeutender 
Grösse  nur  einen  fremdartigen  uncf  trotz  ihrer  langen  ruderförmi- 
gen  Blätter  nicht  den  Eindruck  besonderer  Ueppigkeit  gewähren. 
Wir  dürfen  desshalb  nicht  irre  werden,  jvenn  die  Reisenden  in 
den  Aequinoctialländern  uns  einstimmig  nächst  den  Palmen  und 
vor  den  Baumfarn,  die  Musaceen  und  darunter  gerade  die  Banane 


Genua. 


479 


oder  den  Pisang  alsdas  Gewächs  bezeichnen  ,  welches  den  Ein- 
druck des  üppigen  Wuchses  am  höchsten  steigert.  Was  man  in 
Europa  sieht,  ist  ein  Kunsterzeugniss  so  gut  es  sich  hinter  den 
Scheiben  darstellen  lässt. 

Eine  Spazierfahrt  nach  PegH  kostet  einen  ganzen  Tag,  denn 
man  erreicht  Genua  erst  kurz  vor  der  Tafelzeit,  d.  h.  vor  fünf 
Uhr  wieder,  und  nach  dem  Mittagstisch  bleibt  nur  noch  ein 
Spaziergang  nach  der  Acqua-Sola  und  die  Oper  übrig.  Acqua- 
Sola  ist  ein  noch  jugendlicher,  aber  schon  ziemUch  schattiger 
Spazierplatz  und  für  Genua  dasselbe,  was  die  Champs  Elysees  für 
Paris  sind.  An  Wochentagen  ist  er  ziemlich  besucht,  an  Sonn- 
tagen aber,  wo  Musik  spielt,  so  dicht  gefüllt,  dass  die  zwei  Heer- 
säulen von  Spaziergängern  sich  nur  langsam  an  einander  vorüber 
schieben  können.  Auffallend  sind  die  vielen  kolossalen  Mannet - 
gestalten  in  Uniform  und  in  Bürgerkleidern,  denen  man  begegnet, 
aber  auch  dem  andern  Geschlecht  fehlt  es  nicht  an  stattlichen 
Gestalten.  Die  Genueserinnen  smd  berühmt  wegen  des  Kubik- 
inhalts ihrer  Körpermassen ,  der  bei  einigen  bevorzugten  Exem- 
plaren einen  Aequatorialumfang  annimmt,  dass  selbst  Falstaff  sich 
zurückgesetzt  fühlen  könnte.  In  Venedig  erkennt  man  Tizians 
Ideale  wieder,  in  Genua  hätte  Rubens  die  seinigen  wohlfeil  ge- 
funden. Die  ProcentMhl  schöner  Frauengesichter  und  Frauen- 
gestalten ist  in  Genua  aber  höchst  ansehnlich  und  im  Gegensatz 
zu  den  vorgefassten  Erwartungen  die  Hautfarbe,  namentlich  bei 
den  Blondinen,  weit  frischer  und  zarter  als  bei  uns.  Doch  sieht 
man  auch  bisweilen  das  sogenannte  durchsichtige  Braun,  und  dann 
sind  es  Gesichter  mit  stolzen  Brauen ,  die  ein  Maler  ohne  jede 
eigene  Zuthat  frischweg  als  Judith  verwenden  dürfte. 

Es  ist  nicht  mehr  als  bilHg,  dass  sich  das  grösste  und  beste 
Opernhaus  in  der  weitaus  reichsten  Stadt  Italiens,  nämlich  in 
Mailand,  befinde.  Die  Nähe  der  Scala  ist  daher  wegen  des  Ver- 
gleichs nicht  günstig  für  die  Oper  Carlo  Feiice  in  Genua ,  doch 
ermächtigt  der  flüchtige  Besuch  des  Verfassers  zu  keinem  Urtheil. 
Nur  kann  er  die  Bemerkung  nicht  unterdrücken,  wie  übereilt  ge- 
wöhnlich die  deutsche  Kritik  die  gesammte  italienische  Musik  ver- 
urtheilt.  Italienischer  Gesang  auf  deutschen  Brettern  und  aus 
deutscher  Kehle  ist  allerdings  ein  trauriger  Genuss,  aber  die  ultra- 
montanen Meister  schrieben  auch  nicht  für  die  Musiker  jenseits 
des  47.  Breitegrades.     In  Itahen  belehrt  uns  schon  ein  Opernhaus 


48o 


Ferienreisen. 


zweiten  Ranges,  was  italienische  Künstler  aus  italienischer  Musik 
herauszusingen  verstehen,  und,  dass  sie  vielleicht  mehr  enthält  als 
sich  die  musikalische  Schulweisheit  der  deutschen  Kritiker  träumt. 
Man  eifere  also  nicht  gegen  die  Oper  der  Italiener,  sondern 
gegen    die  Nachäfferei   unserer   Musikanten    und    ihrer   Präfecten  1 


IV.     Der  Corner  See. 
(Ausland   1865.     Nr.  30.     29.  Juli.) 

Seltener  wird  der  Corner  See  von  Deutschen  im  Frühjahr  be- 
rührt. Die  Monate  September  und  October  sind  vielmehr  die 
wahre  Erntezeit  für  die  zahlreichen  Gasthöfe  und  Pensionen,  die 
in  wenigen  Wochen  die  Börsen  der  Naturpilger  sanft  erleichtern 
müssen,  damit  sie  sich  für  die  übrigen  zehn  Feiermonate  des  Jahres 
entschädigen  können.  Im  Mai  und  Juni  dagegen  wird  der  See 
meistens  nur  von  Engländern  heimgesucht,  denen  es  in  Neapel 
zu  heiss  geworden  und  in  Interlaken  oder  am  Vierwaldstättersee 
noch  zu  kühl  ist.  Der  Corner  See  ist  indessen  viel  reizender  im 
Frühjahr  als  im  Herbst,  Der  Herbst  pfle*  auch  bei  uns  bestän- 
diges Wetter  zu  bringen ,  was  man  dem  Mai  und  Juni  in  der 
Regel  nicht  nachrühmen  darf.  Unbesorgt  um  die  Gesundheit  kann 
man  im  Frühjahr  die  Abende  im  Freien  an  den  italienischen  Seen 
zubringen  bis  i  o  und  1 1  Uhr ,  um  den  Aufgang  des  Mondes  ab- 
zuwarten. Im  Herbst  fehlt  ferner  ein  grosser  Reiz  des  Corner 
Sees  gänzlich ,  das  ist  der  Gesang  der  Vögel.  Amseln  und  Nach- 
tigallen wetteifern,  wo  immer  Laubkronen  ihnen  ein  willkommenes 
Versteck  bieten.  Den  Finken  ist  es  dagegen  schon  zu  heiss  unten 
am  See  oder  sie  finden  dort  nicht  die  Nahrung,  die  sie  lieben. 
Aber  schon  wenn  man  1200  — 1500  Fuss  höher  steigt,  hört  man 
ihren  munteren  Schlag,  so  dass  also  auch  an  den  Vogelstimmen 
die  senkrechte  Abstufung  der  Klimate  erkannt  zu  werden  vermag. 
Die  Nachtigallen  singen  überall  gleich  schön,  sie  sind  nicht  minder 
melodienreich,  wenn  sie,  eingesperrt  in  einen  Käfig,  über  einem 
engen  Canal  an  einem  verwitterten  Gebäude  Venedigs  hängen, 
oder  wenn  sie  hoch  im  gewaltigen  Wipfelrund  einer  westlichen 
Platane    am    Comer   See   in    heiterer   Morgenluft    schlagen.      Aber 


Der  Corner  See.  481 

die  Stimme  eines  eingesperrten  Sängers  scheint  immer  einen  kla- 
genden, fast  möchte  man  sagen  anklagenden  Ton  zu  besitzen, 
während  man  sie  in  der  Freiheit  und  im  Schoosse  einer  üppigen 
Pflanzenwelt  über  die  „süsse  Gewohnheit  des  Daseins"  frohlocken 
hört.  So  schön  der  Comer  See  auch  ist  zur  Zeit,  wo  die  Trauben 
schwarz  werden,  sein  Feiertagsgewand  trägt  er  doch  nur,  wenn 
über  die  Gemäuer  am  See  Gesträuche  —  was  sage  ich,  Ge- 
sträuche? —  ganze  Gebüsche  der  edelsten  Rosenarten,  der  präch- 
tigen faustgrossen  Theerosen  bis  zu  dem  grünen  Wasserspiegel  sich 
herabneigen.  Dann  kann  der  beneidenswerthe  Wanderer  in  dem 
Schatten  der  kühlen  Villa  Pliniana^)  noch  verspätete  Kamellien, 
Azaleen  und  Rhododendren  in  einen  Strauss  vereinigen  mit  unsern 
Edelrosen^),  und  wenn  er  hinüber  setzt  an  das  sonnige  Westufer, 
findet  er  die  ersten  Kelche  der  MagnoHa  grandiflora  erschlossen. 
Er  lässt  sich  wohl  verführen,  ein  solches  Kleinod  mit  nach  Haus 
und  in  sein  Zimmer  zu  nehmen,  aber  vorsichtig  stellt  er  die 
schneeweisse  bechergrosse  Tulpe  des  Nachts  ins  Freie,  denn  ihr 
Geruch ,  der  an  Jasmin  und  Citronenduft  erinnert ,  wirkt  so  be- 
täubend, dass  er  mit  Kopfweh  bezahlt  werden  müsste. 

Der  Comer  See  bietet  drei  landschaftlich  verschiedene  Ab- 
schnitte. Sein  nördlicher  Arm,  der  Lago  di  Colico,  eröffnet 
Einblicke  in  Alpenthäler,  die  mit  Schneegebirgen  schhessen,  und 
er  gleicht,  wenn  man  die  Augen  vor  den  veränderten  Uferstaffagen 
schliesst,  vollständig  einem  Schweizersee.  Die  klassische  Stelle 
des  Comer  See's  befindet  sich  dagegen  in  der  Mitte,  da  wo  sich 
der  Arm  von  Lecco  mit  dem  Arm  von  Como  vereinigt,  getrennt 
durch  die  Felsenzunge  von  Bellagio  mit  den  Gärten  der  gegen- 
wärtig verkäuflichen  Villa  Serbelloni.  Längst  schon  hat  der  Tou- 
risteninstinct  Bellagio  selbst,  und  noch  besser  die  am  Westufer 
liegenden  drei  Ortschaften  Tremezzo,    Cadenabbia  und  Majolica^) 


1)  Sie  führt  ihren  Namen  bekanntlich  nur  desswegen ,  weil  Plinius  die 
dortige  dreimal  täglich  intermittirende  Quelle ,  die  übrigens  ein  ansehnlicher 
Bach  ist,  beschrieben  hat. 

2)  Blumenfreunden  diene  zur  Nachricht,  dass  die  schönsten  Rosen  am 
Comer  See  dieselben  sind,  die  auch  bei  uns  gebaut  werden,  nämlich  von  Thee- 
rosen: Louv.  de  Malmaison,  Gloire  de  Dijon  und  Solfataire,  von  Bourbon- 
rosen  la  Reine  und  von  dunklen  Rosen  General  Jacqueminot.  Uebrigens  sind 
die  Rosen  am  Genfer  See  noch  vollkommener,  weil  sie  besser  behandelt  werden. 

3)  Majolica  [hiess  ursprünglich  eine  Porzellanfabrik,  die  an  jenem  Orte 
mercantil    zu  Grunde    ging.      Majolica   nennt   man   auch   schlechtweg    das  dort 

Pcschel,  Abhandlungen.     II.  3I 


482 


Ferienreisen. 


als  die  Glanzpunkte  des  Corner  Sees  herausgewittert.  Dort  hat 
man  keine  Schweizer  Natur  vor  sich,  sondern  einen  italienischen 
See,  reich  durch  eine  Anzahl  prächtig  geschwungener  Linien 
zackiger  Felsen,  unter  denen  bewachsene  Abhänge  sanfter  vor- 
überziehen und  in  prächtiges  sammetnes  Grün  gekleidet  erscheinen. 
Es  ist  merkwürdig  und  geologisch  nicht  gleichgültig,  dass  die 
schönsten  Landschaftsbilder  sich  im  Mittelpunkt  der  Seen  ent- 
wickeln. So  entfaltet  auch  der  Lago  Maggiore  bei  den  borromä- 
ischen  Inseln  seine  besten  malerischen  Aussichten,  und  ganz  ähn- 
lich sind  auf  der  andern  Seite  der  Alpen  bei  Ragaz  die  höchsten 
Naturreize  vereinigt,  denn,  dass  das  Rheinthal  dort  ehemals  mit  dem 
Wallenstätter  See  vereinigt  einen  See  bildete,  der  nur  eine  nördliche 
Wiederholung  des  Corner  Sees  war,  hat  erst  kürzlich  wieder  Desor 
ausgesprochen,  und  wurde  auch  schon  vorher  mehrfach  von  an- 
deren behauptet.  Es  ist  daher,  wenn  man  will,  eine  geologische 
Nothwendigkeit,  dass  sich  gerade  im  Vereinigungspunkt  der  beiden 
Spalten  des  Comer  Beckens  die  prächtigsten  Landsitze  an  den 
Ufern  zusammendrängen,  denn  die  bevorzugten  Erdenwinkel  wer- 
den gewiss  immer  solchen  Besitzern  zufallen,  welche  die  Mittel  be- 
sitzen, solche  lachende  Uferstellen  in  Paradiese  umzuwandeln.  Bei 
Bellagio  liegt  die  gepriesene  Villa  des  Duca  Melzi,  und  gegenüber 
zwischen  Cadenabbia  und  Tremezzo  die  berühmte  Villa  Carlotta, 
dem  Herzog  von  Meiningen  gehörig.  In  ihren  beiden  Muster- 
gärten kann  man  sich  satt  sehen  an  den  Cedern  des  Libanon  und 
des  Himalaya  (C.  Deodara),  untermischt  mit  allen  halbtropischen 
Ziergewächsen,  und  mit  Genugthuung  erfährt  man,  dass  deutsche 
Künstler  in  beiden  den  Gartenbau  leiten,  denn  sicherlich  darf  man 
den  Gartenbau  eine  Kunst  nennen,  da  er  Geschmack  erfordert. 

Touristen,  die  nur  einen  Tag  am  Comer  See  verweilen 
dürfen,  wird  also  unbedingt  Cadenabbia  oder  Majolica  als  Rast- 
platz zu  empfehlen  sein;  wem  es  aber  vergönnt  ist,  längeie  Zeit 
dort  still  zu  liegen,  den  machen  wir  aufmerksam  auf  den  eigent- 
Hchen  Lago  di  Como,  wie  die  Anwohner  denjenigen  Arm  des 
Sees  nennen,  der  sich  von  Bellagio  nach  Como  selbst  er- 
streckt').    Dort  wird  der  See  so  eng,    dass  man  in    stillen    Näch- 


liegende Hotel  de  Milan,  eine  beliebte  Pension,  die  von  Ludwig  Häusser,  einem 
Kenner  der  Naturschönheiten ,  als  der  günstigste  Ruhepunkt  für  Touristen 
empfohlen  wird. 

l)  Sie  unterscheiden  bekanntlich  den  Lago  di  Colico,  den  Lago  di   Lecco 


Der  Corner  See.  483 

ten  deutlich  Gesang  und  Musik  von  den  gegenüber  liegenden 
Villen  oder  Ortschaften  herüber  hören  kann.  Die  Abhänge  der 
Bergspalten  sinken  von  mittleren  zu  sanften  Höhen  nach  Como 
herab,  welches  sie  völlig  einschliessen,  und  gegen  Westen  öffnet 
sich  eine  sonnige  Lücke,  die  nach  der  Schweizergränze  und  dem 
See  von  Varese  hinüberführt.  Man  befindet  sich  also  dort  an  der 
zahmsten  Stelle  des  Sees,  der  an  Grossartigkeit  hinter  seinen 
nördlicheren  Theilen  zurückbleibt.  Wenn  man  nicht  die  nähere 
Umgebung  schärfer  betrachtet,  und  wenn  nicht  gegenüber  an  den 
Abhängen  einige  civihsirte  Ortschaften  lägen,  ganz  unähnlich  un- 
seren sich  im  Grünen  ausbreitenden  Dörfern,  städtisch  gebaut, 
Haus  an  Haus,  Dach  über  Dach  zusammengerückt,  mit  dem  nir- 
gends vermissten  Campanile,  so  könnte  man  sich  ebenso  gut  an 
einen  stillen  See  des  baierischen  Gebirges  versetzt  glauben.  Und 
dennoch  giebt  es  für  denjenigen,  der  aus  Italien  zurückkehrt,  viel- 
leicht keinen  günstigeren  Ruhepunkt  als  die  dort  gelegene  Villa 
d'Este,  dem  Baron  Ciani  in  Mailand  gehörig,  der  zwei  hart  am 
See  gelegene  Häuser,  theilweis  in  den  Felsen  hineingebaut,  und 
Schlössern  ähnlich,  wie  wir  sie  auf  Operndecorationen  zu  sehen 
gewohnt  sind,  als  Gasthof  verpachtet  hat '),  Für  denjenigen,  der 
sich  von  den  Kunstermüdungen  Italiens,  vom  Eselgeschrei  und 
dem  Strassenlärm  der  grossen  südlichen  Städte,  vom  Gerassel  der 
Eisenbahnen  und  dem  Stampfen  der  Dampf  boote  erholen,  der  zur 
Förderung  seiner  Gesundheit  ein  tendentiöses  Nichtsthun  sich  auf- 


und  den  Lago  di  Como.     Bellagio    ist   der   Trennungspunkt,     und    jede   Karte 
erklärt  und  rechtfertigt  diese  Bezeichnungen. 

i)  In  der  neuesten  Ausgabe  (Hildburghausen  1857)  des  Schweizer  Reise- 
handbuches von  Berlepsch  heisst  es:  ,,In  einem  Theil  des  zur  Villa  d'Este  ge- 
hörenden Gartens  ist  das  Hotel  della  Regina  d'Inghilterra,  das  schönste,  aber 
auch  das  theuerste  Gasthaus  des  ganzen  Sees ;  es  sieht  von  ferne  aus  wie  ein 
Theaterschloss  und  ist  ein  absolut  zauberischer  Aufenthalt.  Hier  wächst  Agave 
americana  fast  verwildert."  Wir  müssen  dazu  bemerken,  dass  Berlepsch  dem 
Wirth,  einem  italienischen  Schweizer,  Unrecht  zufügt,  wenn  er  sein  Haus  als 
das  theuerste  bezeichnet.  Man  bezahlt  dort  für  ein  zweimaliges  Frühstück, 
eine  table  d'hote  ersten  Ranges,  abendlichen  Thee  und  sehr  hohe  Zimmer 
mit  der  besten  Lage  und  vollkommener  Ausstattung  8  Frcs. ,  und  man  würde 
am  Genfer  See,  wo  man  in  der  ganzen  Schweiz  am  wohlfeilsten  lebt,  für  eine 
Pension  im  gleichen  Styl  mindestens  7  Frcs.  bezahlen.  Jedermann  weiss  aber, 
dass,  wenn  man  die  Alpen  übersteigt,  die  Wirthshauszechen  stets  um  25,  wenn 
nicht  30  Proc.  gegen  die  Schweizer  Tarife  wachsen.  Es  ist  übrigens  in  Ca- 
denabbia  und  Bellagio  nach  eingezogenen  Erkundigungen  nicht  wohlfeiler, 

31* 


4,84  Ferienreisen. 

erlegen  will,  ist  in  Cadenabbia  und  Bellagio  viel  zu  viel  Kom- 
men und  Gehen  von  Booten  und  Barken,  viel  zu  viel  Glocken- 
lauten,  viel  zu  viel  Damenputz  und  Unruhe;  es  fehlt  die  Einsam- 
keit und  die  Gelegenheit  dauernde  Bekanntschaften  zu  schliessen, 
denn  gewiss  gehört  es  zu  den  nicht  unwichtigen  Vorzügen  und 
Genüssen  des  Pensionslebens  mit  Menschen  zu  verkehren,  die  uns 
mit  neuen  Lebensanschauungen  und  einer  fremden  gesellschaft- 
lichen Atmosphäre  bekannt  machen.  Die  Wahl  wird  meistens  nur 
auf  Engländer  fallen  können.  Diess  ist  freilich  für  Deutsche  nicht 
sehr  erwünscht.  Doch  muss  anerkannt  werden,  dass  sich  seit 
etwa  15  Jahren,  nämlich  seit  der  ersten  grossen  Industrie- Ausstel- 
lung in  London,  die  Lebensarten  der  reisenden  Engländer  verän- 
dert und  zwar  verbessert  haben.  Schon  äusserhch  sieht  man, 
dass  vieles  anders  geworden  ist.  Noch  vor  15  Jahren  ist  es  dem 
Verfasser  in  Brigthon  begegnet,  dass  die  Strassen] ugend  —  auch 
anderwärts  keine  harmlose  Bevölkerungsciasse,  in  England  selbst 
aber  truly  frightful  —  seinem  deutschen  Begleiter,  welcher  die 
Vegetation  über  Lippen  und  Kinn  ungeschmälert  sich  hatte  ent- 
wickeln lassen,  in  Spott  und  Jubel  nachzog.  Jetzt  trägt  fast  jeder 
Engländer  einen  Bart,  und  als  ob  sich  die  Nation  für  den  langen 
Zwang  entschädigen  wollte,  lassen  sie  der  Natur  alle  Zügel 
schiessen,  und  man  sieht  Juden-  und  Rauschebärte,  in  denen  der 
Wind  sein  Spielwerk  lustig  treiben  kann.  Der  Bart  war  ehedem 
verpönt,  weil  man  in  Albion,  wo  die  schärfsten  Rasirmesser  und 
die  besten  Streichriemen  wachsen,  ein  glattes  Kinn  für  reinlicher 
hielt.  Noch  anstössiger  als  der  Bart  galt  aber  das  Tabakrauchen ; 
es  war  sogar  eine  sociale  Todsünde,  wie  es  eine  religiöse  Tod- 
sünde bei  den  Wahabiten  noch  jetzt  ist.  Gegenwärtig  rauchen 
aber  auch  die  Engländer  wie  die  thätigen  Vulkane,  sie  verschmä- 
hen sogar  nicht  die  italienischen  sogenannten  Cavourcigarren,  bei  de- 
ren blossem  Anblick  schon  ein  nicotinischer  Schauder  uns  kalt  über- 
läuft. Durch  Bart  und  Tabakrauchen  haben  sich  ihre  Sitten  nur  verän- 
dert^ verbessert  aber  haben  sie  sich  darin,  dass  sie  jetzt,  sowie 
sie  merken,  dass  ein  Fremder  englisch  spricht,  ihn  zuerst  anreden 
ohne  vorausgehende  Vorstellungsceremonie ,  die  gewöhnlich  erst 
beim  Abschied  mit  einem  Austausch  der  Visitenkarten  nachgeholt 
wird ').     Gehören  die  Bekanntschaften  den  gebildeten  Classen  an. 


i)  Die  Engländer  bedienen  sich  längst  nicht  mehr  der  glasirten  Visitenkarten, 
sie  sind  sogar  in  der  guten  Gesellschaft  verpönt.     Englische   Zeitungen  hatten 


Der  Corner  See.  485 

SO  entspinnt  sich  leicht  ein  recht  herzhcher  und  inniger  Verkehr, 
und  man  fragt  sich  erstaunt,  warum  die  Nation  uns  so  unerträg- 
Hch  ist,  wenn  der  Einzelne  so  gewinnend  und  liebenswürdig  sein 
kann? 

Vielleicht  spricht  mancher  Leser  im  stillen:  du  sagst  uns, 
dass  der  Lago  di  Como  nahezu  einem  deutschen  Gebirgssee 
gleiche,  warum  soll  ich  dann  erst  über  den  St.  Gotthard  oder  den 
Splügen  steigen,  wenn  ich  in  der  Heimath  unter  deutschen  Ge- 
sichtern, bei  deutschen  Gesprächen  und  deutschen  Wirthshaus- 
preisen  das  gleiche  geniessen  kann? 

Wenn  man  den  italienischen  Himmel  über  den  Tegern-See 
oder  den  Traun-See  ausspannen  könnte,  würde  man  Recht  be- 
halten. Um  jedoch  nicht  missverstanden  zu  werden,  müssen  wir 
gleich  hinzusetzen,  dass  wir  unter  dem  italienischen  Himmel  nicht 
eine  besondere  Färbung  der  Luft  verstehen.  Es  ist  möglich,  dass 
im  südhchen  Italien,  welches  der  Verfasser  nicht  kennt,  das  at- 
mosphärische Blau  ein  anderes  Blau  ist,  als  wie  an  der  Nordsee 
oder  auf  den  süddeutschen  Hochebenen.  In  Oberitahen  aber  bis 
lat.  44°  ist  weder  im  Frühjahr  noch  im  Sommer,  noch  im  Herbst 
der  Himmel  anders  angestrichen  als  bei  uns'),  so  dass  man  sich 
des  Verdachtes  nicht  erwehren  kann,  der  sogenannte  italienische 
Himmel  sei  nur  in  der  Einbildung  von  Naturfanatikern  vorhanden. 
Wenn  man  aber  unter  italienischem  Himmel  die  lebensweckende 
Kraft  versteht,  welche  südliche  Früchte  zeitigt,  immergrüne  Laub- 
gewächse im  Winter  behütet,  die  Nächte  geniessbar  und  (im  an- 
dern Sinne  wie  Philine  meint),  sie  zur  schöneren  Hälfte  des  Le- 
bens umwandelt,  die  uns  in  der  guten  Jahreszeit  fast  jeder  Sorge 


nämlich  aufmerksam  gemacht,  dass  die  Glasur  der  Karten  von  Bleiweiss  her- 
rühre und  dass  der  Ueberzug  von  Mädchen  aufgestrichen  werde,  die,  wie  ärzt- 
lich sich  nachweisen  Hess,  der  Vergiftung  unterlagen.  Etliche  Todesfälle  waren 
bereits  constatirt  worden.  Kaum  war  dieser  Umstand  bekannt,  so  gab  es  wie 
auf  Verabredung  keine  glasirten  Visitenkarten  mehr  in  England.  Die  Sache 
verdient  in  Deutschland  Nachahmung. 

1)  In  der  Villa  Melzi  begegnete  dem  Verfasser  ein  Engländer,  der  frisch 
über  den  Splügen  gekommen  war  und  der  ihn  fragte:  Teil  me,  Sir,  is  this  an 
Italian  sky?  Auch  er  hatte  also  an  das  Himmelsblau  über  dem  Comer  See  die 
Frage  gerichtet:  bist  du  ein  italienischer  Himmel  oder  bist  du's  nicht?  Als  er 
beruhigt  wurde,  dass  er  sich  geographisch  ohne  Zweifel  unter  dem  Gold- 
orangenhimmel befinde,  bemerkte  er  enttäuscht :  dass  er  mit  dem  aufrichtigsten 
Willen  keinen  Unterschied  mit  andern  Himmeln  zu  erkennen  vermöge. 


486 


Ferienreisen. 


um  das  Wetter  enthebt;  wenn  man  unter  dem  Ausdruck  italieni- 
scher Himmel  die  Milde  und  Lieblichkeit  des  Klimas  und  alle 
Milde  und  Liebhchkeit  der  klimatischen  Producte  zusammenfasst, 
dann  fühlt  man  auch  die  Nothwendigkeit  über  die  Alpen  zu  stei- 
gen, dann  hört  man  gern  die  melodische  Sprache  Italiens,  und 
zahlt  mit  Gold,  was  in  der  That  unbezahlbar  bei  uns  wäre.  Man 
findet  am  Comer  See  nirgends  zum  Ruhen  einen  schöneren  Gar- 
ten, als  in  der  Villa  d'Este,  und  nur  jenseits  der  Alpen  ist  ein 
solcher  Garten  überhaupt  denkbar.  Bei  uns  sind  die  Gärten  ent- 
weder sonnig  heiss,  oder  schwül  und  dumpfig,  wo  sie  Schatten 
geben.  Diess  kommt  daher,  weil  die  Ast-  und  Laubbildung  un- 
serer Bäume  am  Boden  beginnt,  so  dass  nur  unsere  Buchenwälder 
hin  und  wieder  an  begünstigten  Stellen  eine  Ausnahme  gewähren. 
Im  Garten  der  Villa  d'Este  bilden  Bignonien,  ächte  Akazien  und 
vor  allen  abendländische  Platanen  von  Patriarchengrösse,  bei  de- 
nen die  Astbildung  gewöhnlich  erst  30  Fuss  oder  höher  über  dem 
Boden  beginnt,  einen  schattigen  Dom,  durch  dessen  Pfeiler  die 
kühlende  Seeluft  ungehindert  sich  verbreitet. 

Dort  kann  man  manche  goldene  Morgen-  und  Mittagstunde 
im  sündlichen  Nichtsthun  verträumen  oder  verplaudern  und  den 
Fahrzeugen  nachschauen,  die  mit  dem  Erwachen  der  Breva,  eines 
Thalwindes,  der  um  Mittag  von  Süd  nach  Nord  streicht,  gesellig 
mit  geschwelltem  Barkensegel  von  Como  nach  Colico  ziehen. 

Der  Comer  See,  obgleich  er  nur  650  Fuss  absolute  Höhe  be- 
sitzt und  nur  1^/2°  tiördlicher  als  die  nächste  Küste  des  Mittel- 
meeres, sonst  aber  weit  geschützter  liegt  als  die  lombardische 
Ebene,  zeigt  doch  schon  merkliche  klimatische  Unterschiede  gegen 
die  Ufer  des  genuesischen  Golfes.  Sehr  viele  Gewächse,  die  im 
Freien  dort  überwintern,  können  am  Comer  See  nur  in  Kübeln 
gezogen  werden  und  müssen  im  Winter  ein  Obdach  suchen.  In 
der  dritten  Maiwoche  wurden  an  der  Riviera  schon  die  köstlichen 
Naspole  oder  Naspi  di  Giapone  öfifentlicht  verkauft,  saftige  Früchte 
von  Pflaumengrösse,  deren  Reifen  am  Comer  See  erst  Mitte  Juni 
erwartet  wurde,  und  wenn  es  nicht  allzu  gewagt  wäre,  aus  diesem 
einzelnen  Falle  eine  Regel  zu  bilden,  so  würde  der  Pflanzenwuchs 
am  Comer  See  etwa  vier  Wochen  hinter  dem  der  nördlichen 
Mittelmeergestade  zurückstehen. 

Berge  werden  selten  auf  der  italienischen  Seite  der  Alpen 
bestiegen.     Unsere  Reisehandbücher  und  die    Keller'schen  Karten 


Der  Corner  See.  ^gy 

rühmen  den  Monte  Salvatore  am  Luganer  See,  der  jedoch  nach 
den  Angaben  der  ersteren  keinen  BUck  auf  den  Montblanc  ge- 
währt. Unmittelbar  hinter  Cemobbio  erhebt  sich  der  Monte  Bis- 
bino  (sprich:  -  ^  -  ),  den  man  vom  Dampfschiff  auf  der 
Fahrt  nach  Como  leicht  an  der  Capelle  und  den  ehemaligen  Klo- 
stergebäuden erkennen  wird,  die  seinen  Gipfel  krönen.  Zufolge 
einer  italienischen  Karte  vom  Comer  See,  der  eine  österreichische 
Generalstabskarte  zu  Grunde  lag,  ist  er  4144  Fuss^  hoch,  und 
Hegt  daher  3500  Fuss  über  dem  Comer  See,  oder  750  Fuss  nie- 
driger als  der  Rigi  über  dem  Vierwaldstätter  See.  Eine  gepfla- 
sterte Strasse,  nur  an  wenigen  Stellen  etwas  rauh  und  steil,  führt 
rüstige  Bergsteiger  in  weniger  als  2  ^/g  Stunden  bis  auf  den  Kamm 
des  Berges,  wo  noch  eine  kurze  Strecke  über  Matten  bis  zum 
Kloster  zurückzulegen  ist.  Obgleich  wir  vor  8  Uhr  die  Höhe  er- 
reichten, war  die  westliche  Aussicht  doch  schon  von  Nebeln  um- 
lagert und  der  Montblanc  wurde  bald  gänzlich  eingehüllt.  Länger 
blieb  der  Monte  Rosa  frei,  und  ganz  klar  erhielt  sich  im  Nord- 
westen die  Kette  der  Berner  Alpen,  Wildstrubel,  Schildhorn,  Jung- 
frau, Mönch,  Eiger  sowie  die  Klippe  des  Finsterarhorns.  Gegen 
Norden  verdecken  Vorberge  die  Aussicht  auf  Schneeketten,  gegen 
Nordosten  aber  erhebt  sich  über  den  Spaltenrändern  des  Comer 
Sees  die  zackige  Schneelinie  der  Bergamasker  Alpen,  die  bisher 
von  Alpen  Wanderern  noch  viel  zu  sehr  vernachlässigt  worden 
sind.  Nach  Süden  sinken  die  Höhen  oder  Bergränder  des  Comer 
Sees  sanft  in  die  Ebene,  und  verleiten  zu  der  Vermuthung,  dass 
auch  der  Lago  di  Como  ehemals  wie  der  Lago  di  Lecco  einen 
Abfluss  besessen  haben  möchte,  wenn  dieser  Anschauung  nicht 
die  vorhandenen  Messungen  entschieden  widersprächen.  Man  be- 
hauptet, dass  vom  Gipfel  des  Bisbino  sieben  Seen  sichtbar  seien. 
Uns  war  es  nicht  möglich,  ausser  dem  Comer  See  mehr  zu  ent- 
decken, als  den  Lago  di  Varese  und  einen  Streifen  des  Maggiore. 
Obgleich  wir  uns  reichlich  belohnt  hielten  für  ein  so  kurzes  Stei- 
gen, mussten  wir  uns  doch  gestehen,  dass  die  Alpen,  von  der  Süd- 
seite gesehen,  trotz  ihres  jäheren  und  tieferen  Abfalles  viel  zahmer, 
also  viel  weniger  überwältigend  erscheinen  wie  von  der  deutschen 
Seite.     Ganz  besonders  gilt  diess  von  den  Berner  Alpen,  wie  man 


i)  Jedenfalls  ist  die  absolute  Erhebung  gemeint,   ob  aber  unter  der  Maass- 
einheit pieds  zu  verstehen  sind,  Hess  sich  nicht  ermitteln. 


488  Ferienreisen. 

diess  übrigens  schon  im  Wallis,  z.  B.  vom  Col  de  Balme  und 
beim  Uebergang  über  den  Simplon  wahrnehmen  kann.  Wahr- 
scheinlich beruht  dieser  Eindruck  darauf,  dass  die  SchneeHnie  auf 
der  sonnigen  Seite  der  Alpen  viel  höher  steigt  als  auf  der  schat- 
tigen Seite,  doch  möchten  wir  jedem  Wanderer,  dem  die  Sache 
noch  neu  wäre,  dringend  rathen,  sich  die  Alpen  auch  von  der 
italienischen  Seite  und  zwar  vom  Bisbino,  nicht  bloss  vom  Mai- 
länder Dom  anzuschauen,  schon  um  des  belehrenden  Gegensatzes 
willen. 

Man  klagt  oft  darüber,  dass  durch  die  Geschwindigkeiten  un- 
serer Verkehrsmittel  die  Reisebeochtungen  flüchtiger  werden.  Wir 
theilen  diese  Besorgniss  nicht.  Es  steht  ja  jedem  frei  auszustei- 
gen wo,  und  an  einem  Orte  zu  verweilen  wie  lange  ihm  beliebt. 
Dagegen  giebt  es  eine  Menge  anregungsloser  Räume ,  die  man 
gewiss  mit  Zeitgewinn  und  ohne  irgend  einen  Verlust  an  Erfah- 
rungen durchfliegt.  Die  Geschwindigkeit  der  Ortsveränderung  hat 
dagegen  den  Nutzen,  dass  uns  die  Gegensätze  von  Landstrichen 
weit  fühlbarer  werden,  weil  wir  die  allmählichen  Uebergänge  über- 
springen. Verlässt  man  Genua  mit  der  nördlichen  Bahn ,  so  ge- 
langt man  durch  einen  langen  Tunnel  von  dem  Mittelmeergestade 
plötzlich  in  die  Thäler  der  Küstengebirge,  wo  die  Gewässer  schon 
wieder  nach  dem  adriatischen  Meer  abfliessen,  und  man  fühlt  sich 
wie  durch  Zauber  aus  einer  fremden  in  eine  bekannte  Welt  zu- 
rückversetzt, aus  Itahen  nach  der  hausbackenen  Heimath.  Die 
lombardische  Ebene  zwischen  Alessandria  und  Mailand  erscheint 
uns  fast  nordeuropäisch,  und  wenn  die  Reisfelder  nicht  wären, 
deren  Modergeruch  selbst  in  den  vorübereilenden  Eisenbahnzug 
eindringt,  so  könnte  man  sich  einbilden  in  Belgien  zu  reisen.  Die 
Maisonne  in  Mailand  mit  ihrer  Fegefeuergluth  straft  uns  freilich 
sehr  rasch  für  solche  vorwitzige  Vergleiche ,  und  lässt  uns  erken- 
nen, dass  wir  noch  immer  auf  ultramontanen  Erdstrichen  ver- 
weilen. Am  Corner  See  fühlt  man  sich  zwar  immer  noch  in  Ita- 
lien, aber  doch  schon  merklich  der  Heimath  näher  gerückt,  viel 
näher  als  unter  dem  lichterfüllten  Schatten  in  den  Olivenhainen 
der  genuesischen  Riviera.  Kommt  man  schliessHch  durch  eine 
nächtliche  Fahrt  über  den  Splügen ,  das  Bild  des  italienischen 
Chiavenna  noch  lebendig  und  ergreifbar  vor  Augen ,  so  merkt 
man  erst,  dass  man  der  sonnigen  Seite  Europa's  gänzlich  den 
Rücken  gedreht  hat.     Die  wohlbekannten  Abhänge  des  geräumigen 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  480 

Rheinthaies  erscheinen  uns  zum  erstenmal  wieder  fremd,  und  fast 
erschrickt  man  vor  dem  Eindruck,  dass  die  Pflanzenwelt,  die  dort 
und  am  Bodensee  doch  schon  viel  entwickelter  ist  als  auf  den 
süddeutschen  Hochebenen,  neben  der  Fülle,  dem  stattUchen  Wuchs, 
der  Mannigfaltigkeit  und  vor  allem  der  Anmuth  der  italienischen 
Gewächse,  so  prosaisch  und  so  unzierlich  sich  ausnimmt.  Aber 
dieser  Eindruck  wird  rasch  verwischt,  ein  Spazierweg  in  die  rau- 
schende Taminaschlucht  mit  ihrem  jugendHchen  Grün ,  oder  eine 
Fahrt  nach  dem  stillen,  so  wenig  besuchten  und  doch  so  unend- 
lichen malerischen  Wallenstädter  See  genügt  vollkommen,  die  alte 
Begeisterung  für  diese  Wanderziele  aus  der  Asche  wieder  zu  heller 
Gluth  anzufachen,  und  man  gesteht  sich,  halb  beschämt  über  die 
eigenen  Zweifel,  dass  die  Schweiz  auch  Schönheiten  besitzt,  die 
vollständig  aufwiegen,  was  die  Sonne  jenseits  der  Berge  bescheint. 
Was  drüben  uns  durch  Farbe,  Glanz  und  Anmuth  fesselte ,  das 
ersetzt  uns  diesseits  die  Natur  durch  ihre  Hoheit,  und  alle  heitern 
und  lachenden  Bilder  der  Mittelmeergestade  werden  vergessen, 
wenn  wir  uns  die  Schauspiele  zurückrufen,  die  der  Vierwaldstätter 
See  zu  bieten  vermag  oder  der  Thuner  See,  wenn  die  Schnee- 
massen der  BIümhs-Alp  nebelfrei  unter  der  Beleuchtung  einer 
kräftigen  Morgensonne  glänzen. 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin. 

I. 

(Ausland   1869.     Nr.  24.     12.  Juni.) 

Im  Jahr  1869  über  ItaUen  in  einer  Wochenschrift  etwas  zu 
veröffentlichen,  ist  ein  bedenkliches  Unternehmen,  denn  die  ge- 
feierte Halbinsel  ist  schon  längst  der  Bädeker-  und  Förster-Litera- 
tur unterthänig  geworden.  Auch  hört  man  auf  dem  Marcusplatze 
Venedigs,  im  Vatican,  in  florentinischen  und  römischen  Kaffee- 
häusern, sowie  auf  classischen  Aussichtspunkten  um  Neapel  mehr 
deutsch  und  zwar  deutsch  in  allen  Mundarten  reden  als  englisch, 
von  der  Landessprache  selbst  ganz  abgesehen.  Wer  also  noch 
schreibt,  wird  neues  wenigen  sagen,  sondern  höchstens  über  be- 
kanntes seine  Eindrücke  zum  Vergleiche  mittheilen  können.  Selbst 


490 


Ferienreisen. 


solche,  die  nie  ihren  Fuss  über  die  Alpen  setzten,  kennen  Italiens 
beste  Schätze  bereits  durch  die  darstellenden  Künste,  zu  denen 
sich  in  neuester  Zeit  die  darstellenden  Gewerbe  gesellt  haben. 
Keines  der  gepriesenen  Kunstwerke  ist  uns  völlig  neu,  besonders 
nicht  diejenigen,  die  in  Marmor  oder  Bronze  ausgedrückt  werden. 
Es  sind  uns  davon  irgendwo  oder  irgendwann  Lichtbilder  zum 
einfachen  oder  doppelten  Sehen,  künstlerische  Wiederholungen  oder 
Stückarbeiten  in  Gyps  schon  vorgelegen.  Die  einzelnen  Pracht- 
bauten, die  Plätze  und  die  Strassen  grüssen  uns  als  alte  Bekannte 
dieser  oder  jener  Aquarellensammlung,  und  die  Landschaften  sahen 
wir  schon  als  Oelgemälde,  wenn  nicht  grau  in  grau  auf  Photo- 
graphien. Ferner  sorgen  die  reisenden  Schriftsteller  dafür,  uns 
mit  den  Städtebevölkerungen  und  dem  öffentlichen  Treiben  in 
nähere  Berührung  zu  bringen.  Wem  es  an  deutschen  Darstel- 
lungen nicht  genügen  sollte,  der  kann  sich  hinterdrein  an  engli- 
schen und  französischen  sättigen.  In  unseren  Tagen  ist  es  sogar 
schwierig,  sich  in  Bezug  auf  Italien  einen  Stand  der  Unschuld  vor 
Erkenntniss  des  Guten  und  des  Bösen  zu  bewahren,  um  auf  der 
Brennerbahn  von  einer  Ueberraschung  zur  andern  fortgerissen  zu 
werden.  Und  dennoch  ist  selbst  ein  wohlvorbereiteter  Wanderer, 
so  oft  er  neue  ihm  unbekannte  Räume  Italiens  betritt,  weder  ge- 
schützt vor  Enttäuschungen,  noch  der  Aussicht  beraubt,  durch  un- 
erwartete Genüsse  beglückt  zu  werden.  Von  solchen  Enttäuschun- 
gen und  solchen  Ueberraschungen  soll  daher  vorzugsweise  in  den 
folgenden  Bruchstücken  gesprochen  werden. 

Zunächst  sind  es  Wärme  und  Wetter,  worüber  noch  immer 
falsche  Begriffe  herrschen,  denn  gewöhnlich  gelten  der  März  und 
der  April  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahres  als  die  Monate,  in  de- 
nen man  reisen  solle.  Selbst  für  Süditalien  ist  dem  Mai  unbe- 
dingt ein  Vorzug  einzuräumen,  ja  der  Verfasser  würde,  wenn  er 
zwischen  April  und  Juni  wählen  müsste,  bis  zur  Polhöhe  von  Ne- 
apel den  Juni  unbedingt  dem  April  vorziehen.  Daheim  stellt  man 
sich  vor,  dass  von  den  drei  Hauptstädten,  Florenz,  Rom  und 
Neapel ,  sicherlich  das  letztere  es  sein  müsse ,  wo  man  von  der 
Tageshitze  am  meisten  belästigt  werde,  und  doch  ist  wenigstens 
in  der  zweiten  Hälfte  des  Mai  unter  jenen  drei  Plätzen  Florenz 
unbedingt  am  meisten  zu  fürchten.  Reisende,  die  den  letzten 
Winter  in  Palermo  verlebt  hatten,  versicherten  dem  Verfasser,  dass 
sie  am  Beginn  des  heurigen  April  in  grosser  Versuchung  geschwebt 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  4^1 

hätten,  ihre  Zimmer  zu  heizen.  Gewiss  ist,  dass  am  6.  Mai 
Abends  die  Mehrzahl  der  neapolitanischen  Damen  bei  ihrer  Cor- 
sofahrt  noch  Pelzwerk  trug,  allerdings  wohl  zum  Theil  nur  des 
Pelzwerks  wegen,  und  weil  die  Mode  es  erlaubte,  nur  bei  bedeck- 
tem Himmel  an  schwülen  Sciroccotagen  wird  man  im  Mai  in 
Neapel  von  der  Wärme  belästigt  werden.  Mit  Befremden  bemerkt 
der  Neuling,  dass  an  den  Morgenstunden  oft  die  Sonne  des  hei- 
ligen Januarius  ihre  glühendsten  Pfeile  abdrückt.  Es  ist  jetzt  neun 
Uhr,  sagt  er  sich  im  stillen,  wie  soll  es  erst  um  2  oder  3  Uhr 
Nachmittags  werden?  Kurz  nachher  aber  hat  sich  schon  eine  Brise 
von  der  See  her  erhoben,  und  um  2  oder  3  Uhr  fühlt  er  sich 
ganz  behaglich  in  der  Stadt  selbst  oder  im  Freien,  Dazu 
kommt,  dass  in  dem  fraglichen  Monate  die  Nächte  stets  erquickend 
frisch,  um  nicht  zu  sagen  kalt  bleiben.  In  und  um  Rom  nament- 
lich kühlt  sich  die  Luft  schon  vor  Sonnenuntergang  sehr  rasch  ab, 
und  die  Rathschläge  Ernst  Förster's  in  Bezug  auf  Schutz  gegen 
Erkältung  sind  für  alle,  die  in  einer  empfindlichen  Haut  stecken, 
gewiss  nicht  zu  verschmähen.  Einstimmig  erklärten  die  Reise- 
genossen des  Verfassers,  zwei  Damen  und  ein  Herr,  beim  Ab- 
schied, dass  der  italienische  Mai  nichts  redenswerthes  an  Hitze  sie 
habe  erdulden  lassen.  Noch  war  es  zum  Glück  Frühjahr  in  Wäl- 
dern und  in  Gärten,  ja  auf  den  Abhängen  des  Apennin  zwischen 
Bologna  und  Florenz  waren  die  laubwerfenden  Bäume  sogar  noch 
kahl,  und  begannen  erst  ihre  Knospen  zu  entfalten.  Selbst  bei 
Sorrent  sah  man  um  die  Mitte  des  Monats  wenigstens  eine  leider 
nicht  näher  zu  bestimmende  Baumart  noch  nicht  im  Blätter- 
schmuck. Wem  für  landschaftlichen  Genuss  blättergefüllte  Wipfel 
und  Schatten  in  den  Hainen  unentbehrlich  sind,  wird  jedenfalls 
im  April  noch  viel  vermissen.  Das  erste  südeuropäische  Vegeta- 
tionswunder, welches  der  nordische  Barbar  schon  in  Wälschtirol 
zu  kosten  bekommt,  ist  die  sogenannte  „Vermählung"  des  Wein- 
stocks mit  irgend  einem  Laubwerfer,  mit  der  Weide,  der  Pappel, 
der  Ulme,  dem  Nussbaum.  In  den  Po-Ebenen  kann  er  daran  sein 
Genüge  finden,  denn  dort  vollstrecken  sich  die  ,, Vermählungen" 
in  Reih  und  Glied,  im  Carre  geordnet,  auf  viele  Bahnmeilen.  So 
lange  er  nur  das  ItaUen  zwischen  Alpen  und  Apennin  kennt,  miss- 
fällt ihm  schliesslich  dieses  schöne  Wort  für  eine  sehr  unmalerische 
gewerbliche  Absicht.  Wird  bei  dieser  „Vermählung"  die  Rebe  als 
weiblich  gedacht,  so  ist  der  Ehemann  ofienbar   nichts    anders    als 


^q2  Ferienreisen. 

der  Pfahl  zur  Unterstützung,  denn  der  Landwirth  umgeht  damit 
die  Kosten  eines  Rebsteckens.  Da  ferner  alte  Bäume  zu  viel 
Schatten  verursachen  würden,  so  sieht  man  nur  schmächtige  Jüng- 
linge, und  wie  die  englischen  Jockeys  immer  unter  schweren 
Decken  schlafen  müssen,  um  sich  durch  Schwitzen  ihre  orthogra- 
phische Magerkeit  zu  erhalten,  so  werden  die  Kronen  der  stützen- 
den Bäume  beständig  durch  die  Säge  wieder  abgeworfen.  Man 
denke  sich  nun  diese  verstümmelten  Schäfte  im  Frühjahr,  umklet- 
tert von  den  Strängen  des  blätterlosen  Rebstocks,  und  man  wird 
wohl  einsehen,  dass  im  zeitigen  April  unmöglich  günstige  Ein- 
drücke von  einer  solchen  Staffage  zu  holen  sind.  ,,Die  Vermäh- 
lung" ist  trotzdem  ein  hübscher  Gegenstand  zum  Zeichnen  in  das 
Album  eines  Dilettanten.  Weiter  im  Süden  Italiens  lässt  man 
nämlich  die  Laubbäume  zu  höherem  Alter  gelangen,  die  Sägen- 
schnitte verbirgt  rasch  das  junge  Laub,  die  Rebe  wird  nicht  mehr 
so  regelmässig  gespannt,  sie  läuft  gewöhnlich  schräg  nach  der 
nächsten  Stütze  empor,  und  man  lässt  ihr  wohl  gar  die  Luft  sich 
im  Wipfel  auszubreiten  und  von  den  Aesten  ihre  Ausläufer  nieder- 
schweben zu  lassen.  In  jenen  südHchen  Gefilden  ist  daher  auch 
der  dichterische  Ausdruck  für  das  beständig  wiederkehrende  Bild 
der  Rebzucht  ein  angemessener. 

Wer  nicht  mit  bessern  Kenntnissen  vorher  gerüstet  war,  wird 
auch  in  Beziehung  auf  Pflanzenverbreitung  beim  ersten  Ueber- 
schreiten  der  Alpen  einer  bittern  Enttäuschung  entgegengehen. 
Aus  den  Studentenjahren  des  Verfassers,  als  die  jungen  Götter 
Heidelbergs  es  noch  nicht  verschmähten  ihre  fahrende  Habe  im 
Ranzen  sich  tragen  zu  lassen,  und  am  Ende  der  Reise,  wo  die 
Gasse  ein  Ende  mit  Schrecken  nahm,  selbst  zu  tragen,  erinnert  er 
sich  noch  lebhaft,  dass  ihn  beim  ersten  Betreten  Italiens  jenseits 
des  Simplon  das  Gefühl  einer  Mystification  beschlich.  Wo  war 
vor  allem  der  verheissene  Himmel  von  unsäglichem  Blau?  Wo 
waren  die  Orangenwälder,  die  Lorbeerhaine  und  die  stillen  Myr- 
ten? Nun  fehlt  es  allerdings  nicht  weder  in  der  italienischen 
Schweiz  noch  in  Wälschtirol  an  Lorbeeren,  an  Kamellien  und  der- 
gleichen. Selbst  Citronen  und  sogar  Orangen  sind  sichtbar,  aber 
doch  nur  in  Brutkästen  und  gleichsam  als  Menageriegewächse.  Zur 
guten  Zeit  stehen  sie  im  Freien,  im  Winter  aber  hinter  Glas  und 
Mauern.     So  etwas  bringt  aber  der  blonde  Barbar  auch  daheim  zu 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  40» 

Wege,  und  wenn  er  nach  Italien  reist,  verlangt  er  unter  freiem 
Himmel  Orangen  bis  zur  Uebersättigung  zu  sehen. 

Der  Unterrichtete  verlangt  es  freilich  nicht,  er  weiss  im  Voraus, 
dass  die  Citrusarten  in  Rom  noch  unter  Bedeckung  überwintert 
werden  müssen,  dass  er  sie  wohl  findet  an  dem  bevorzugten  Ge- 
stade des  genuesischen  Golfes  von  Nizza  angefangen  bis  Genua, 
dass  er  aber  in  dem  peninsularen  Italien  seine  Polhöhe  beträcht- 
lich vermindern  muss,  ehe  sich  für  ihn  die  Anfangsstrophen  von 
Mignons  Sehnsuchtslied,  die  er  auf  den  Lippen  trägt,  erfüllen 
sollen.  Bewegt  man  sich  auf  der  Eisenbahn  von  Padua  über 
Florenz  und  Rom  südwärts,  so  gewahrt  man  erst  im  Golfe  von 
Neapel  die  ersten  Citrusbäume.  Noch  aber  sind  es  nur  Citronen, 
die  sichtbar  werden,  nicht  einmal  bei  Pozzuoh  oder  am  Golfe  von 
Bajä  werden  Orangen  gebaut  oder  sie  verstecken  sich  wenigstens 
hinter  schützende  Mauern.  Eine  kurze  Eisenbahnfahrt  versetzt  uns 
jedoch  rasch  von  Neapel  nach  dem  geschäftigen  Hafenort  Castel- 
lamare  und  mit  dem  Vetturin  weiter  eilend  nach  Sorrent,  leuchten 
endlich  nach  einer  halben  Stunde  bei  dem  malerisch  gelegenen 
Vico  Equense  die  Hesperidenäpfel  aus  dem  dunklen  Laube. 
Wälder  wie  auf  Sicilien  sind  indessen  es  noch  immer  nicht,  son- 
dern vorläufig  nur  Gärten  von  geringer  Tiefe,  hinter  deren  Mauer- 
fronten die  Orangenbäume,  beladen  mit  abendgluthfarbigen  Aepfeln, 
die  lüsternen  Blicke  fesseln.  Vico  Equense  hegt  am  Nordrande 
der  gebirgigen  Halbinsel,  die,  nach  Capri  sich  verlängernd,  den 
Golf  von  Neapel  gegen  Süden  abschhesst,  auf  dem  andern  Ab- 
hänge aber  öftnet  sich  die  sonnige  Bucht  von  Salerno.  Auch  dort 
giebt  es  eine  Riviera,  an  malerischen  Reizen  ebenso  reich  be- 
schenkt, wie  die  berühmte  Küstenstrasse  westlich  von  Genua. 

Wer  nach  Neapel  reist,  um  in  den  Schönheiten  der  Natur  zu 
schwelgen,  sollte  nicht  versäumen,  wenigstens  einen  Tag  für  den 
Golf  von  Salerno  aufzusparen.  Die  Bahnzüge  setzen  ihn  nach 
zwei  Stunden  bei  dem  kleinen  Hafenort  Vietri  ab,  malerisch  an 
einem  steilen  Abhang  hinaufgebaut,  mit  einer  Rhede,  vor  der  et- 
liche Zweimaster  ankern.  Dort  dingt  er  einen  Vetturin,  der  ihn 
sogleich  über  eine  hoch  gesprengte  Brücke  an  die  andere  Thalseite 
auf  einer  Musterstrasse  westwärts  dem  Gestade  des  Golfes  von 
Salerno  enüang  führt.  Wohl  vermissen  wir  etliche  Zierden,  die 
dem  Busen  von  Neapel  zu  seinem  gerechten  Preise  verholfen  ha- 
ben.    Das  Meer  beherrscht  nicht  nur  die  grössere  Hälfte  des  Ge- 


494 


Ferienreisen. 


sichtskreises,  sondern  es  fehlen  vor  allem  die  beiden  Kleinode  des 
hinter  uns  liegenden  Golfes,  seine  Inseln,  das  sanft  ansteigende 
Ischia  mit  seinem  geschärften  Gipfel  und  das  sehnsuchtweckende 
Capri  in  träumerisches  Blau  gekleidet.  Wir  entbehren  auch  den 
Vesuv,  der  zwischen  den  Festlandshörnern  des  Golfes  sich  im 
Hintergrund  die  rechte  Mitte  ausgesucht  hat,  dort  als  Herrscher 
aus  der  Campagna  Feiice  aufsteigt,  und  am  Ufer  als  schimmern- 
den Saum  die  Häuserfronten  der  Orte  Portici,  Resina,  Torre  del 
Greco  und  Torre  del  Annunziata  trägt,  die  uns  immer  und  immer 
wieder  in  die  willkommene  Täuschung  versetzen,  als  verlängere 
sich  Neapel  selbst  sichelförmig  vom  Posilip  bis  nach  den  Trüm- 
mern Pompei's.  Frische  vulkanische  Erhebungen,  wenn  sie  kegel- 
förmig mit  abgestumpfter  Spitze  aufgeschüttet  werden,  sind  viel 
zu  regelmässig,  um  durch  ihre  Umrisse  das  Auge  zu  befriedigen. 
Erweitert  sich  aber  nach  längerer  Ruhe  durch  Einstürzen  der 
Krater,  beginnt  die  Verwitterung  seinen  Rand  auszuzacken,  werfen 
spätere  Erdstösse  einen  Theil  des  Ringwalles  nieder,  dass  durch 
die  Bresche  hindurch  das  Innere  des  vulkanischen  Gerüstes,  die 
Trümmer  des  ehemals  feurigen  Rundtheaters  sichtbar  werden,  und 
erhebt  sich  auf  der  erschütterten  vulkanischen  Ruine  im  zweiten 
Acte  ein  neuer  Feuerberg,  vom  alten  halb  zerstörten  Kraterrand 
wie  von  einem  Mantel  umgeben,  dann  entstehen  Linien  und  Um- 
risse von  eigenthümlicher  Anmuth.  Und  was  wir  soeben  erzähl- 
ten, ist  ja  nichts  anders  als  die  Lebensgeschichte  der  Vesuvgruppe, 
nur  dass  der  ehemalige  Vulkan  der  Vorzeit  oder  vielmehr  die 
Reste  seines  Trichters  Jetzt  die  Somma  genannt  werden. 

Dem  Golfe  von  Salerno  fehlen  also  die  Inseln  Ischia  und 
Capri  sowie  der  Vesuv.  Er  bietet  uns  dafür  am  P'estlandgestade 
übereinander  eine  Reihe  von  Bergzügen,  abgestumpft  von  mildem 
kräftigen  Blau  bis  zur  Luftfarbe,  die  vordersten  Stufen  sind  nicht 
hoch,  allein  die  malerische  Wirkung  ist  von  absoluter  Höhe  un- 
abhängig, wenn  nur  die  Linien  klar  sich  abheben  und  anmuthig 
bewegt  erscheinen,  wie  diess  gerade  vor  uns  der  Fall  ist,  wo  sie 
sich  bald  heben,  bald  senken,  bald  zuspitzen,  bald  besänftigen. 
Wir  zählen  vier,  fünf,  ja  sechs  solche  Kämme  hintereinander,  und 
ganz  in  äusserster  Ferne  wird  auf  duftig  blauen  Gipfeln  noch  eine 
Schneebedeckung  sichtbar.  Wo  es  auf  Erden  wirklich  schön  ist, 
da  erwacht  in  uns  die  Sehnsucht  des  Weiterstrebens.  Dort  über 
jene  blauen  Kämme  hinüber  würde  uns  die  Strasse   nach    Sicilien 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  4^5 

führen,  wenn  nicht  Geschäftspflichten  uns  am  Zipfel  hielten.  Dort 
gegen  Südwesten  unter  der  Kugelkrümmung  der  Meeresfläche  lie- 
gen die  liparischen  Inseln,  liegt  unter  ihnen  wieder  der  Stromboli, 
der  rührigste  Vulkan  der  alten  Welt,  der  beständig  seine  Schlacken- 
garben ausstösst  und  des  Nachts  den  Schiff"ern  als  Leuchtthurm 
dient!  Das  ist  der  Zauber  des  Mittelmeeres,  dass  es  uns  unwill- 
kürlich entführt  hinaus  über  die  silbernen  Ränder  seines  blitzen- 
den Schildes.  An  der  Riviera  di  Ponente,  wo  man  hart  am  Meer 
die  Palmen  in  Wäldchen  stehen  sieht,  und  zugleich  schroffe  Thäler 
abschliessen  mit  den  schneebedeckten  Hörnern  der  Seealpen,  sucht 
das  unersättliche  Auge  südwärts  nach  den  Schattenumrissen  Cor- 
sica's,  hier  am  Salemer  Gestade  späht  es  nach  Sicilien,  auf  Sici- 
lien  würde  es  Malta  suchen  oder  Pantellaria,  und  auf  Pantellaria 
nach  dem  Strande  von  Carthago. 

Mittlerweile  ist  während  unserer  Fahrt  hinter  dem  kleinen 
Vietri  das  statthche  Salerno  hellfarbig  hervorgetreten,  aus  der  Ferne 
wie  alle  südlichen  Städte  lockend  anzusehen.  Die  Strasse  wird 
nun  einsam.  Sie  biegt,  vielfach  in  den  Felsen  eingesprengt,  be- 
ständig in  Hufeisenform  um  die  Einbuchtungen  des  hochaufstre- 
benden Uferrandes  und  gewinnt  allmählich  etwa  500  Fuss  an  un- 
bedingter Erhebung.  Unten  zu  unsern  Füssen  bäumt  sich  das 
Meer  gegen  die  Klippen  oder  überfluthet  die  Köpfe  abgestürzter 
Felsmassen,  um  in  schäumenden  Bächen  wieder  abzufliessen.  Wo 
man  es  auch  sieht,  immer  ist  Meer  oder  Ocean  lebendig  und  fes- 
selnd. Das  Mittelmeer  aber,  die  Thalassa  ist  fesselnd  und  schön. 
Wir  gedenken  nicht  einmal,  dass  es  die  jugendliche  Menschheit  zur 
Sitte  und  zum  Anstand  erzogen,  dass  dort  unsere  Muster  und 
Meister  zu  „politischen  Bestien"  erwuchsen,  um  Aristotelisch  zu 
sprechen.  Wir  kümmern  uns  nicht  um  die  Zeiten  vor  und  nach 
den  punischen  Kriegen ,  vor  und  nach  den  Kaisern ,  wir 
denken  nicht  einmal  an  den  lauernden  Tiber,  obgleich  wir 
doch  bei  der  nächsten  Biegung  ein  Stück  der  Ostküste 
von  Capri  gewahr  werden,  wohin  sich  der  glatte  Sünder 
vor  der  Lästerchronik  der  Römer  zu  verbergen  pflegte.  Malerisch 
tritt  die  Insel  ins  Meer,  etliche  KUppen  wie  Pfähle  in  das  Wasser 
vorschiebend.  Wir  denken  nicht  daran,  dass  wir  Amalfi  zustreben, 
Amalfi,  welches  vor  Zeiten  die  ersten  Pilger  nach  den  heiligen 
Landen  beförderte,  nicht  aus  Barmherzigkeit,  sondern  um  ein 
schönes  Stück  Geld  zu  verdienen ;    Amalfi ,    das  im  Wappen   den 


4g6  Ferienreisen. 

Compassstern  führt,  weil  1302  dort  ein  geschichtlich  nicht  auffind- 
barer Ehrenmann  die  Nordweisung  der  Magnetnadel  entdeckt  ha- 
ben soll,  die  hundert  und  etliche  Jahre  zuvor  ein  Milchbruder  des 
löwenherzigen  Richard  bereits  genau  beschrieben  hat.  Und  bevor 
wir  noch  Amalfi  erreichen,  wird  der  Vetturin  mit  der  Geissei  auf 
eine  Höhe  über  Atrani  deuten,  wo  der  Geburtsort  von  Tommasso 
Aniello  steht.  Was  gilt  uns  aber  in  diesem  sonnigen  Augenblicke 
Masaniello  oder  Flavio  Gioja?  Was  Grossgriechen  oder  Altitaler, 
was  die  mittelalterlichen  Italiener?  Die  physische  Gegenwart  wollen 
wir  geniessen,  das  was  uns  dieser  Tag  gebracht  hat,  der  nicht 
mehr  zurückkehrt.  Und  eben  hält  der  Wagen  vor  einem  frisch 
getünchten  Zollhause,  zur  Vertheidigung  wohl  gerüstet  und  mit 
einer  Zugbrücke  versehen,  die  emporgezogen  worden  ist,  denn  die 
Herrschaft  scheint  nicht  zu  Hause.  In  jenem  festungsartigen  Schilder- 
hause, so  erzählt  der  Vetturin,  hausten  jüngst  zwei  verdienstvolle 
Carabinieri  (im  Zweifelsfalle  wahrscheinlich  Piemontesen),  die  nach 
und  nach  23  Briganten  einfingen,  welche  zwischen  Sorrent  und 
Amalfi  ihr  Unwesen  getrieben  hatten.  Drei  von  ihnen  litten  die 
Todesstrafe,  und  die  abschreckende  Wirkung  erwies  sich  so  kräftig, 
dass  seit  Jahresfrist  kein  Verbrechen  mehr  verübt  worden  war. 
Das  Zollhaus  liegt  am  Gap  Tumolo,  etlichen  prachtvoll  zerspalte- 
nen  Klippen,  zwischen  denen  herumkletternd  wir  vergeblich  den 
äussersten  Vorsprung  zu  erreichen  suchen.  Auf  den  niederen 
Felsenzungen  hart  am  Meere  folgen  jezt  in  kurzen  Zwischenräu- 
men die  Ruinen  von  alten  Thürmen,  sogenannte  Saracenenburgen, 
sei  es  nun,  dass  sie  von  Saracenen  oder,  was  äusserlich  wahr- 
scheinlicher, zum  Schutz  gegen  saracenische  Seeräuber  erbaut  wurden. 
Von  Cap  Tumolo  senkt  sich  die  Strasse  abwärts,  stets  den 
Einschnitten  in  die  felsige  Küste  folgend ,  immer  zur  Linken  das 
bewegte  Meer.  Die  Zerklüftung  der  Felswände  ist  so  malerisch, 
wie  an  den  classischen  Punkten  der  ligurischen  Riviera.  Die  Far- 
ben des  Gesteins  theils  braunroth,  theil  von  zartem  Grau ;  nur  wo 
die  Brandung  wäscht,  umsäumt  es  ein  sepienfarbiger  Streifen. 
Wenn  wir  aber  um  die  nächste  Felsennase  gebogen  sein  werden, 
erwartet  uns  ein  heiteres  Gemälde.  Dort  folgt  nicht  ein  Einschnitt, 
sondern  es  eröffnet  sich  ein  geräumiges  Thal,  dessen  Sohle  als 
flacher  Strand  vorrückt,  damit  das  Mittelmeer  dort  seinen  weissen 
Schaum  als  Gürtel  absetzt.  Auf  den  trockenen  Kieseln  des  Strandes 
liegen  die  Fischerboote  und  grösseren  Barken,  während  weit  draussen  im 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin. 


497 


Meer  in  langen  Gassen  die  Netze  für  die  Thunfische  sich  erstrecken. 
Drüber  hinaus  in  grösserer  Wasserferne  zählen  wir  mehr  als  20 
Barken  mit  aufgespannten  Segeln,  geflügelten  Insecten  nicht  un- 
ähnlich ,  die  uns  am  Abend  auf  hohem  Meer  nach  Vietri  noch 
zurückbegleiten  sollen.  Das  Marinebild  ruft  uns  lebendig  ins  Ge- 
dächtniss  die  kleinen  Ortschaften  der  genuesischen  Riviera  zurück, 
nur  vermisst  man  ungern  die  schönen  ligurischen  Trachten  der  Män- 
ner, ihre  makellos  weissen  Hemden  und  die  brennendrothen  Wol- 
lenmützen. Als  Entschädigung  begegnet  uns  auf  der  Strasse  nach 
Amalfi,  und  in  Amalfi  selbst  die  Tracht  oder  vielmehr  ein  Man- 
gel an  Tracht  bei  den  Frauen.  Das  Haupt  mit  langen  Bündeln 
Holz  belastet,  schürzen  sie,  wahrscheinlich  um  besser  das  Gestrüpp 
zertheilen  zu  können,  den  Rock  auf,  dass  das  nackte  Bein  bis 
zum  oder  über  das  Knie  sichtbar  wird.  Die  drei  kleinen  Fischer- 
örter  Majuri,  Minuri  und  Atrani  sind  voller  Leben  und  Geschäftig- 
keit. Bevor  man  sie  erreicht  hat,  bemerkt  man  längs  der  Strasse 
von  Culturgewächsen  nur  den  Oelbaum  mit  graugrüner  und  den 
Johannisbrodbaum  mit  schwarzgrüner  Belaubung,  während  an 
Felsen  und  über  Gartenmauern  regungslos  amerikanische  Agaven 
(Aloes)  ihre  fleischigen  Blattschwerter  krümmen,  oder  Feigencactus 
(Opuntien)  ihre  tellerförmigen  Gliederstücke  hölzern  an  einander- 
reihen.  Jetzt  aber  erheben  sich  an  Abhängen  des  Gestades  ge- 
mauerte Stufen  über  gemauerte  Stufen ,  und  jede  von  ihnen  be- 
schattet ein  Schirm  von  Citruslaub,  in  dessen  Dunkel  die  Citronen 
so  dicht  herabhängen,  dass  selbst  auf  weitem.  Abstand  ihre  gelbe 
Farbe  wirksam  bleibt.  Aber  weit  länger  fesseln  uns  die  Orangen- 
terrassen wegen  des  warmen  Grünes  ihres  dunkeln  Laubes,  eine 
Lust  für  das  Auge,  der  unwillküriich  ein  Ausbruch  des  Ent- 
zückens folgt.  Vergnügt  gestehen  sich  die  Theilnehmer  des  Aus- 
fluges, dass  selbst  nach  allen  Zaubern  des  Golfes  von  Neapel  die 
Fahrt  nach  Amalfi  zu  den  glanzvollsten  Tagen  der  W^anderung 
zählen  müsse.  Vor  Amalfi  angekommen,  der  weiland  glänzenden 
Meeresbeherrscherin,  jetzt  zusammengeschrumpft  zu  einer  Klein- 
stadt, lässt  uns  unser  gedruckter  Reisevormund  (Bädekers  Süd- 
itahen  in  englischer  Ausgabe)^)  die  Wahl  zwischen  zwei  Wirths- 
häusern,  dem  Albergo  dei  Capuccini  und  della  Luna.  Obgleich 
das  letztere  höherer  Preise  verdächtigt  wird,  wählen    wir    es    den- 


i)  Die  deutsche  war  nämlich  vergriffen. 
Peschel,  Abhandlungen.     II.  3^ 


498 


Ferienreisen. 


noch,  weil  der  König  Friedrich  Wilhelm  IV.  dort  eine  Nacht  verweilte, 
denn  mit  Recht  galt  der  vorige  Monarch  Preussens  als  ein  feiner 
Kenner  der  Naturschönheiten,  und  wirklich  erwies  sich  auch  der 
hochgelegene  Bau  gegenüber  den  Ruinen  eines  alten  Castells  als 
günstiger  Punkt  zum  Niederblick  auf  den  Marinestrand,  und  die 
kleine  Stadt,  die  sich  hineinzwängt  in  eine  enge  Schlucht,  in  das 
Valle  de'  Molini,  das  seinen  Namen  einem  oder  zwei  Dutzend 
Papiermühlen  verdankt,  mit  denen  es  beginnt,  um  schliesslich  in 
einer  Papiermühle  für  alle  diejenigen  zu  endigen ,  die  nicht  die 
Thalwand  emporklettern  wollen.  Der  Hof  des  Wirthshauses  zum 
Monde  ist  obendrein  ein  hübsches  Denkmal  der  Baukunst,  denn 
es  läuft  um  ihn  herum  ein  Säulengang,  ganz  ähnlich  dem  im 
Klosterhof  neben  der  römischen  Basilica  S.  Paolo  fuori  le  mura, 
nur  dass  bei  diesem  letztern  Rundbogen,  hier  aber  Hufeisenbogen 
auf  doppelten  Säulchen  ruhen  und  uns  ein  klein  wenig  an  die 
Alhambra  gemahnen,  so  weit  wir  sie  aus  Aquarellen  oder  Stereo- 
skopien kennen.  Wir  lesen  oft,  dass  Amalfi's  Handelsgrösse  ge- 
sunken sei,  weil  sein  Hafen  versandete.  Von  einem  Hafen  ist 
aber  nichts  zu  sehen,  sondern  nur  von  einer  offenen  Rhede,  auch 
kann  vormals  aus  geologischen  Gründen  irgend  ein  geschütztes 
Becken  nicht  vorhanden  gewesen  sein,  denn  die  Front  der  heu- 
tigen ,, Marine"  bilden  alterthümliche  Gebäude.  Amalfi's  Glanz 
erlosch  während  der  Kreuzzüge,  wahrscheinlich,  weil  man  damals 
Schiffe  von  grösserem  Tonnenregister  und  mächtigerem  Tiefgang 
zu  bauen  begann,  die  aber  nur  in  geschützten  Häfen  vor  Anker 
gehen  konnten,  wie  wir  in  unsern  Tagen  genug  ähnliche  Vorgänge 
erleben,  da  selbst  Amsterdam  nicht  den  Schiffen  höchsten  Tief- 
gangs mehr  erreichbar  ist.  In  der  frühern  günstigen  Beschaffen- 
heit der  Häfen  liegt  wohl  die  physische  Ursache  der  einstmaligen 
Grösse  Pisa's,  Genua's  und  Venedig's. 

Aber  was  gehören  diese  alten  Geschichten  zu  dem ,  was  wir 
aussprechen  wollten?  Es  lag  uns  nur  daran,  die  Gränze  zu  be- 
stimmen, wo  unter  freiem  Himmel  die  ersten  Orangen  sichtbar 
werden,  und  mit  Beschämung  bemerken  wir,  dass  touristische  Ge- 
schwätzigkeit uns  verführt  hat,  die  Eindrücke  einer  Spazierfahrt 
zu  erzählen.  Aber  freilich  italienische  Eindrücke  —  nicht  alle, 
aber  manche  —  sind  so  scharf  und  mächtig,  dass  die  Nennung 
eines  Namens  wie  Salerno  oder  Amalfi  genügt,  uns  plötzlich  wie- 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  4QQ 

der  frisch  an   die  Gestade    des   heitern   Mittelmeeres    zurückzuver- 
setzen 1 

Erinnern  M-ir  uns  recht,  so  sprachen  wir  von  der  Täuschung 
eines  NeuHngs,  der  jenseits  der  Alpen  nicht  alsbald  eine  faust- 
grobe Veränderung  der  Landschaft  wahrnimmt.  Schroffe  Wechsel 
gehören  aber  zu  den  höchsten  Seltenheiten,  denn  wo  die  Natur 
sie  vermeiden  kann,  scheut  sie  alle  Sprünge  und  dennoch  beginnt 
schon  bei  Botzen  für  denjenigen,  der  schärfer  sucht,  eine  neue 
Welt.  So  oft  man  das  offene  Thal  erreicht,  wo  der  Eisack  mit  der 
Etsch  sich  vereinigt,  kann  man  sich  an  der  Wahrheit  eines  Goe- 
the'schen  Wortes  aufs  neue  ergötzen.  ,,Eine  milde  sanfte  Luft 
füllte  die  Gegend,"  bemerkt  er  bei  seiner  Annäherung  in  Botzen. 
Der  geheime  Sinn  dieser  Worte  liegt  offenbar  darin,  dass  er  das 
Thal  mit  Luft  sich  angefüllt  denkt.  Vielleicht  halten  wir  zu- 
gleich damit  den  Schlüssel  zum  Verständniss  dessen,  was  man 
italienischen  Himmel  nennt.  Der  Verfasser  hat  viermal  Itahen, 
theils  im  Herbst,  theils  im  Mai  und  Juni  besucht,  aber  mit  dem 
besten  Willen  konnte  er  niemals  eine  andere  tiefere  Färbung  der 
Luft  entdecken.  In  Neapel  freiHch  behauptete  ein  Eingewanderter 
mit  grosser  Gelassenheit,  dass  erst  im  JuU  und  August  das  Blau 
des  Himmels  auch  für  Ungläubige  sich  mächtig  dunkle.  Etwas 
nicht  gesehenes  soll  als  etwas  unglaubwürdiges  hier  nicht  darge- 
stellt werden.  Entdecken  wir  doch  auf  jedenfalls  guten  Bildern, 
dass  die  Beleuchtung  der  Abendluft  über  Venedig  im  December 
ganz  ungewöhnliche  Töne  hervorruft,  und  das  farbenkundige  Auge 
des  Malers  unterscheidet  wohl  genauer  als  der  ungeübte  Bhck  des 
Laien  die  verschiedenen  Brechungen  des  Lichtes.  Doch  bleibt  es 
immerhin  möglich,  dass  das,  was  man  unter  „itaUenischem  Him- 
mel" versteht,  nichts  anderes  sei  als  die  Farbentonarten  der  be- 
leuchteten Landschaft.  Die  höhere  Erwärmung  bringt  es  mit  sich, 
dass  jenseits  der  Alpen  nicht  nur  mehr  Wasser  verdunstet,  son- 
dern auch  mehr  verdunstetes  Wasser  schwebend  in  der  Luft  sich 
zu  erhalten  vermag,  ohne  zu  Nebel  oder  zu  Wolken  sich  zu  ver- 
dichten, und  dass  eine  solche  mit  durchsichtigem  Dampf  gesättigte 
Luft  die  Thäler  „anzufüllen"  scheint,  wie  Goethe  ahnungsvoll  es 
aussprach  zu  einer  Zeit,  wo  das  Verhalten  unseres  Dunstkreises 
zum  Wasser  noch  unergründet  war.  Jenem  Umstände  der  höhe- 
ren Sättigung  der  Luft  mit  Wasser  verdanken  Maler  und  Natur- 
freunde das  sonnige  Blau  der   Fernen,    sowie   ihre    vielen   Abstu- 

32* 


cqo  rerienreisen. 

fungen  ohne  Verlust  an  Schärfe  der  Umrisse.  Der  höhere  Glanz 
der  Farben  dagegen  rührt  sicherlich  von  der  verminderten  Pol- 
höhe, also  den  steileren  Einfallswinkeln  der  Sonnenstrahlen,  oder 
mit  andern  Worten,  von  der  gesteigerten  Lichtfülle  her,  und  diese 
Lichtfülle  ist  es  wiederum,  welche  in  den  Blättern  der  Gewächse 
eine  grössere  Menge  von  Chlorophyll  oder  Blattgrün  abscheidet. 
Ein  so  warmes  Grün  wie  das  eines  Orangenhaines  ,  oder  ein  so 
schwärzliches  wie  das  der  Johannisbrodbäume ,  oder  ein  so  bräun- 
liches wie  das  der  immergrünen  E-ichen  setzt  daher  immer 
wieder  südliche  Wärme  und  südliche  Beleuchtung  voraus.  Da  nun 
aber  bekanntlich  die  physiologische  Empfindung  der  Farbe  nichts 
absolutes  ist,  sondern  die  Farbe  von  der  Farbe  beherrscht  wird, 
ein  weisser  Punkt  z.  B.  im  grünlichen  Feld  immer  röthlich,  im 
röthlichen  Feld  immer  grünlich  erscheinen  wird,  so  kann  es  auch 
geschehen,  dass  die  höher  erwärmten  Farben  des  Vordergrundes 
zurückwirken  auf  die  Empfindungen  der  Lufttöne,  und  dass  man 
dem  Himmel  selbst  zugeschrieben  hat,  w^as  nur  durch  einen  ver- 
schärften Gegensatz  der  irdischen  Gegenstände  erzeugt  wurde. 
Die  höhere  Erwärmung  und  die  grössere  Lichtfülle  verursachen 
ferner  die  Milderung  und  Besänftigung  alles  Fernen,  und  so  ent- 
stehen jene  zarten  Farbentöne,  welche  uns  an  südliche  Landschaf- 
ten zum  Nimmersattwerden  fesseln.  In  diesem  Sinne  aber  beginnt 
Italien  wirkHch  dort,  wo  die  Etsch  zur  Adige  wird.  Freilich  än- 
dern sich  noch  wenig  die  Culturgewächse,  denn  Mais  wird  ja  auch 
in  Deutschland  gebaut,  edle  Castanien  wachsen  am  Rhein,  und  der 
Maulbeerbaum  erfordert  selbst  auf  der  süddeutschen  Hochebene 
keine  besondere  Pflege.  Was  daher  in  Bezug  auf  Verbreitung  der 
Pflanzen  uns  zwingt,  Oberitalien  zu  Südeuropa  zu  zählen,  ist  das 
Auftreten  der  ersten  immergrünen  Laubhölzer,  der  Lorbeeren, 
Camelien  und  Magnolien,  welche  letztere  selbst  den  harten  Winter 
Mailands  noch  überstehen.  Den  Blicken  des  Neulings  entzieht 
sich  freilich,  was  zur  Zierde  nur  an  geschützten  Orten  gebaut  wird. 
Mit  der  Gränze  der  immergrünen  Belaubung  halten  jedoch  glei- 
chen Schritt  zwei  weithin  kenntliche  Coniferen ,  nämlich  die  Cy- 
presse  und  die  Pinie.  Die  Cypressen  Norditaliens  sind  hässliche, 
steife  dünne  Gestalten ,  so  regelmässig  zugespitzt  als  kämen  sie 
von  der  Drehbank  oder  ständen  sie  unter  der  Scheere  eines  fran- 
zösischen Gärtners  aus  der  Rococozeit ,  aber  jenseits  des  Apen 
nin  wie  jenseits  der  Seealpen  in  Ligurien  gewinnt  inan  sie  lieb, 
zumal  wenn  sie  aus  dem  mattgrünen  Baumschlag  der  Olivenwipfel 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin. 


501 


schwärzlich  emporsteigen  und  wenn  sie  ihre  Aeste  ebener  von 
sich  strecken,  so  dass  die  Obeliskengestalt'  mehr  und  mehr  ver- 
drängt wird  und  in  eine  Nadelholzpyramide  übergeht.  Vielleicht 
werden  südlicher  andere  Unterarten  gezogen,  deren  die  Botaniker 
für  Cupressus  sempervirens  nicht  mehr  als  vier  geschaffen  haben. 
Pinien  sieht  man  seltener  als  Ziergewächse  in  Oberitalien.  Der 
nördlichste  Punkt  östlich  vom  Apennin,  wo  dieser  edle  Baum 
als  Wald  auftritt,  liegt  in  dem  Delta  der  Etsch,  und  kann  als 
Ziel  eines  Tagesausfluges  von  Venedig  benutzt  werden,  denn  mit 
einer  Barke  erreicht  man  bei  günstigem  Winde  durch  die  Lagunen 
in  wenigen  Stunden  Chioggia,  und  von  dort  mit  einem  Vetturin 
den  nahen  Pinienwald.  Die  Pinie  ist  in  der  Jugend  keine  sonder- 
lich anziehende  Pflanzengestalt,  aber  sie  wird  es  in  höherem  Alter. 
Kein  Maler  und  kein  Photograph,  der  vom  Posihp  aus  Neapel 
aufnehmen  will,  lässt  es  sich  entgehen,  zur  Belebung  des  Vorder- 
grundes links  oder  rechts  eine  der  dortigen  Pinien  zu  wählen.  Je 
südlicher  sie  angetroffen  wird,  desto  schirmartiger  breitet  sie  sich 
aus,  aber  nirgends  erscheint  sie  günstiger  als  bei  einer  Heimkehr 
von  den  Albanerbergen  nach  Rom ,  wenn  neben  altem  Gemäuer 
durch  das  Astwerk  einer  einsamen  Pinie  der  Abendhimmel  glüht, 
und  warme  Lichter  durch  die  Lücken  ihres  ernsten  Nadeldaches 
fallen,  oder  wenn,  wie  in  dem  Parke  der  Villa  Doria  Pamfili  bei 
Rom  über  dunkeln  Laubmassen,  auf  dem  Lufthintergrund  erst  die 
Schäfte  eines  Pinienwaldes  aufsteigen,  oben  sich  die  Aeste  theilen, 
und  an  den  Aesten  die  Zweige  fast  wagrecht  sich  ausbreiten,  dar- 
über aber  der  dunkle  Schirm  der  Nadelpolster  sich  ausspannt. 

Wenn  w'ir  fast  ausschliesslich  von  den  Gewächsen  Italiens 
sprechen,  so  geschieht  es,  weil  ja  nächst  den  Luft-  und  Licht- 
wirkungen von  ihnen  allein  die  landschaftlichen  Veränderungen 
abhängen,  denn  jedermann  hat  als  Wahrheit  anerkannt,  was  A.  v. 
Humboldt  zuerst  aussprach,  dass  nämlich  alle  Felsarten  überall 
unter  allen  Breiten  oder  Längen  sich  finden  oder  wenigstens  fin- 
den können,  und  die  nämlichen  Felsarten  allenthalben  auch  die- 
selben Berggestalten  wiederholen,  so  dass  also  die  Fremdartigkeit 
irgend  eines  Naturraumes  vorwiegend  nur  von  seinem  Pflanzen- 
kleide herrührt.  Wer  sich  daher  seiner  Eindrücke  durch  Zerglie- 
denmg  bewusst  werden  will,  der  muss  den  Pflanzengestalten  ein 
scharfes  Auge  widmen.  In  diesem  Sinne  trennt  ein  auffallender 
Gegensatz  OberitaUen  und  MitteUtaHen,    oder  die   Po-Gebiete    von 


1-02  Ferienreisen. 

dem  südlichen  Abhang  des  Apennin  oder  der  Seealpen.  Wer 
Genua  in  der  Richtung  nach  Alessandria  verlässt,  folgt  nur  eine 
kurze  Strecke  dem  Meeresgestade,  plötzlich  schwenkt  der  Zug 
nach  rechts  ab,  und  ein  endloser  Tunnel  nimmt  ihn  auf,  der  rasch 
nach  oben  führt.  Gelangen  wir  wieder  ans  Tageslicht,  so  hat 
sich  alles  verändert,  der  Glanz  des  Mittelmeeres  ist  uns  entrückt, 
wir  werden  eingeschlossen  von  Bergen,  und  eilen  durch  eine 
Landschaft,  die  weit  eher  an  die  frostige  Heimath  uns  erinnert, 
als  an  Italien.  Der  Torhang  fiel  gleichsam,  und  als  er  sich  wie- 
der hob,  lag  eine  veränderte  Bühne  vor  uns.  Etwas  ähnliches 
widerfährt  dem  Reisenden  auf  dem  Wege  nach  Florenz.  Zwischen 
Venedig  und  Bologna  bleibt  der  Boden  völlig  flach,  nur  dass  die 
Bahn  hinter  Padua  an  der  und  streck  :;nweis  zwischen  der  euga- 
neischen  Gruppe  hindurchführt,  bekannthch  eine  Zusammenscha- 
rung vulkanischer  Kegel  von  längst  erloschener  Thätigkeit ,  die 
höheren  bis  zu  den  Gipfeln  bewaldet,  die  niederen  mit  Ortschaften, 
Schlössern  oder  Burgruinen  gekrönt.  Liegt  aber  diese  anmuthige 
Berggruppe  hinter  uns,  dann  umfängt  uns  wohlbebautes  Land  in 
tödtlicher  Einförmigkeit,  nur  unterbrochen  durch  das  Stillhalten 
vor  den  grösseren  Städten  wie  Rovigo  und  Ferrara,  zwischen 
denen  der  Zug  den  schlammfarbigen  wohlangefüllten  Po  in  behut- 
samem Schritt  auf  einer  Brücke  mit  hölzernem  Oberbau  über- 
schreitet. Vom  Einerlei  ermüdet,  begrüsst  der  Reisende  daher  mit 
lebhafter  Erregung  die  ersten  Anhöhen  hinter  Bologna,  durch  die 
sich  der  Apennin  ihm  ankündigt.  Die  Bahn ,  welche  jetzt  dem 
Erosionsthale  des  Reno  aufwärts  folgt,  versetzt  ihn  mitten  in  die 
Berge,  an  deren  Abhängen  parkartig  der  schöne  Baumschlag  Ita- 
liens uns  mit  einem  Gefühl  der  Erlösung  beseligt,  dass  wir  end- 
lich nach  lauter  Fruchtbarkeit  und  Menschenfleiss  wieder  in  der 
Natur  uns  bewegen.  Noch  standen  wie  daheim  um  die  nämliche 
Jahreszeit  die  Apfelbäume  in  Blüthe,  und  zugleich  sprossten  zwi- 
schen den  Gesteinen  in  hohen  Sträuchern  hübsche  weisse  Ericen, 
mit  denen  sich  leicht  ein  Preis  auf  einer  heimathlichen  Blumen- 
musterung hätte  gewinnen  lassen.  Je  weiter  wir  uns  erheben, 
desto  schluchtenreicher  wird  das  Thal.  Blaue  Gebirgskämme  wer- 
den überragt  von  blauen  Gebirgskämmen.  Der  Frühling,  in  den 
Ebenen  schon  völHg  hervorgebrochen  ,  lauscht  dort  noch  in  den 
Blattknospen  der  kahlen  Wipfel.  Hinter  Pracchi  beginnt  der 
Uebergang  über  die  Höhenscheide  durch  fortgesetzte  Tunnelbauten. 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  eo3 

Endlich  ist  der  Kamm  erreicht,  und  der  BHck  fällt  abwärts  in  die 
lustigen  Gefilde  Toscana's.  Unter  uns  liegt  altersgrau  Pistoja, 
aber  weiter  abwärts  ist  die  grüne  Thalsohle  des  Arno,  oder  viel- 
mehr des  Ombrone,  durchschwärmt  von  zahllosen  hellen  Punkten, 
den  weit  nach  allen  Richtungen  in  schimmerndes  Grün  hinaus- 
gestreuten Landhäusern,  Das  verlockende  Gemälde  ist  aber  viel 
kürzer  sichtbar,  als  der  Leser  an  Zeit  gebrauchte,  um  unsere 
Zeilen  zu  durchfliegen.  Wieder  folgt  ein  langer  Tunnel,  wieder 
ein  kurzer  Blick,  und  auf  ihn  —  man  möchte  vor  Aerger  bersten 
—  ein  neuer  Tunnel.  So  geht  es  geraume  Zeit  weiter,  dass  man 
sich  fast  auf  neun  Zehnteln  der  Strecke  zwischen  Bergdurchstichen 
und  nur  auf  einem  Zehntel  im  Freien  befindet.  Dafür  empfängt 
uns  aber  jenseits  ein  neues  verwandeltes  Italien,  nicht  mehr  das 
adriatische,  sondern  das  transapenninische.  Sogleich  auf  der 
nächsten  Station,  zu  der  sich  die  Bahn  in  Windungen  hinab- 
gesenkt hat,  wird  die  Veränderung  der  Natur  durch  ein  wichtiges 
Culturgewächs  angekündigt,  nämlich  durch  den  Oelbaum ,  denn 
keine  Olive  wird  sichtbar  von  dem  Brenner  angefangen  bis  Pitec- 
cio,  dem  letzten  Rastplatze  vor  Pistoja.  Der  Oelbaum  bezeichnet 
die  klimatische  Gränze  zwischen  Ober-  und  Mittelitalien ,  wie  die 
im  Freien  gedeihende  Orange  als  das  Wahrzeichen  von  Unter- 
italien uns  gelten  darf,  so  dass  also  seltsamerweise  die  ligurische 
Riviera  wegen  ihrer  Erzeugnisse  um  beinahe  drei  geographische 
Grade  zu  nördlich  liegt,  wenn  das  Klima  gehorsam  mit  der  Pol- 
höhe sich  ändern  würde. 

Um  zum  Schluss  noch  einer  Enttäuschung  zu  gedenken,  sei 
erwähnt,  dass  der  Reisende  beim  Abschied,  so  oft  ihm  wohlwol- 
woUende  Freunde  gutes  Wetter  wünschten,  zuversichtHch  behaup- 
tete, eines  heitern  Himmels  sicher  zu  sein ,  denn  nie  erinnerte  er 
sich,  von  früheren  Besuchen  her  je  eines  Tropfen  Regens  oder 
nur  eines  trüben  Tages  in  Italien,  mit  Ausnahme  der  Alpenseen 
oder  bei  der  Annäherung  an  das  Gebirge.  Wie  sollte  es  sich  auch 
anders  zutragen?  Die  Halbinsel  fällt  in  den  Gürtel  der  Winter- 
regen, und  ist  einmal  der  März  und  April  überstanden,  dann  ver- 
heissen  ja  die  Lehrbücher  den  ewig  lächelnden  Himmel  des  Sü- 
dens. In  der  That  fiel  auch  im  vergangenen  Monat  Mai  der 
erste  Regen  nicht  früher  als  bei  der  Rückkehr  nach  Verona,  ab- 
gesehen von  einem  heftigen  Guss  in  Rom,  der  zehn  Minuten  an- 
hielt, und  etlicher  zählbarer  Tropfen,  die    auf  dem    Römerpflaster 


coA  Ferienreisen. 

von  Pompeji  rasch  verdunsteten.  Sollte  den  Verfasser  aber  noch 
einmal  sein  Weg  nach  Italien  führen,  wäre  selbst  Sicilien  sein  Ziel 
und  der  August  der  erwählte  Jahresabschnitt,  er  würde  freundliche 
Wünsche  dankbar  entgegennehmen.  Trüber  Tage  erinnert  er  sich 
zwar  nur  zwei,  beide  fielen  jedoch  in  den  Aufenthalt  von  Neapel. 
Wenn  die  Sonne  aber  nicht  scheint,  oder  wenn  sie  nur  geschwächt 
durch  die  Dünste  bricht,  ist  auch  der  Golf  von  Neapel  ein  Ge- 
mälde, dem  das  beste  fehlt.  Das  leuchtende  Blau  der  Fernen  er- 
lischt, die  Farbe  des  Meeres  wird  finster,  Villen,  Castelle  und 
Häusermeer  erscheinen  unbehaglich,  und  das  gesammte  Bild  er- 
hält einen  Anstrich  des  gemeinen  und  werktäglichen,  der  sehr  er- 
nüchternd wirkt.  Wir  fügen  diess  hinzu  als  Trost  für  solche,  die 
vielleicht  Neapel  bei  trübem  Wetter  erreichen,  und  dann  bestürzt 
sich  fragen  sollten  :  ob  nicht  alles,  was  sie  zuvor  gesehen,  gehört 
und  gelesen,  auf  Uebertreibung  beruht  habe?  Alle  Verklärung  des 
Physischen  stammt  vom  Licht,  und  wenn  sich  die  südliche  Sonne 
verbirgt,  erscheint  auch  der  Süden  kalt  und  freudelos. 


II. 

(Ausland   1869.     Nr.  26.     26.  Juni.) 

Hatten  wir  uns  in  dem  früheren  Abschnitt  hauptsächlich  an 
die  Gewächse  Itahens  gehalten,  um  die  Eindrücke  der  landschaft- 
lichen Verschiedenheiten  zu  zergliedern ,  so  sollen  jetzt  ein  paar 
Worte  folgen  über  das,  was  kreuchet  und  was  fleuget.  Freilich 
ändert  sich  für  denjenigen,  der  nicht  gerade  sucht  und  sammelt, 
jenseits  der  Alpen  oder  des  Apennin  beinahe  gar  nichts.  Nur  der 
Esel,  bei  uns  eine  rara  avis,  wird  im  Süden  mehr  und  mehr  zu 
Pflichten  für  die  menschliche  Gesellschaft  herangezogen,  womit  er 
den  Klagelauten  oder  Klageliedern  zufolge,  die  er  häufig  genug 
ausstösst,  nicht  immer  ganz  einverstanden  zu  sein  vorgiebt.  Zu 
kurzen  Ausflügen  in  die  Berge  eignet  er  sich  viel  vorzüglicher  als 
die  Rosse,  wegen  seiner  sanften  Bewegungen,  und  ein  Galopp  auf 
Eseln  in  lustiger  Gesellschaft,  befördert  nicht  wenig  eine  heitere 
Stimmung.  Einem  Vordergrund  als  Verzierung  zu  dienen,  darauf 
erstrecken  sich  die  Ansp-üche  des  vielverkannten  biblischen  Thiers 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  toc 

derzeit  noch  nicht,  wohl  aber  können  als  ein  lebendiger  Schmuck 
der  Landschaft  die  Rinder  Mittel-  und  Süditaliens  verwendet  wer- 
den, die  an  der  römischen  Gränze  bei  Narni  zuerst  unsere  Be- 
wunderung auf  sich  zogen.  Ueber  den  Ursprung  dieser  Race 
wollen  wir  uns  nicht  weiter  ,, verbreiten",  wie  man  im  Professoren- 
Deutsch  zu  sagen  pflegt,  da  ja  ohnehin  die  Leser  des  Auslandes 
das  classische  Werk  des  Basler  Anatomen  Rütimeyer  über  die 
Fauna  der  Pfahlbauten  bis  zum  Auswendigwissen  sich  schon  an- 
geeignet haben  werden.  Durch  die  urweltliche  Grösse  ihrer  Hör- 
ner setzen  uns  die  Thiere  bei  jedem  neuen  Begegnen  in  freudiges 
Erstaunen.  Wegen  ihrer  ebenmässigen  Biegung  und  Stellung, 
mehr  Schmuck  als  Waffe,  fordern  diese  Hörner  unwillkürlich  her- 
aus, dass  man  sie  —  vorläufig  nur  in  Gedanken  —  unterhalb  der 
Spitzen  mit  einer  Querleiste  verbinde,  um  daran  Seiten  für  eine 
Leier  zu  bespannen,  wie  diess  Kaulbach  schon  in  seinen  Reinecke- 
Jahren  bildlich  dargestellt  hat.  Von  der  Schreckens  -  Fauna  der 
Halbinsel  sind  Schlangen  noch  am  zahlreichsten,  doch  gehört  im- 
merhin Glück  dazu,  auf  irgend  ein  Muster  zu  stossen.  Ein  sehr 
stattliches  Exemplar,  einer  hastigen  Schätzung  zufolge  etwa  sechs 
Schuh  lang,  sah  der  Verfasser  vor  Jahren  vom  Fahrweg  hastig 
nach  den  Reisfeldern  in  der  Nähe  der  Etschmündung  entschlüpfen. 
Eine  kleine  Schlange  sonnte  sich  zu  unentgeltlicher  Betrachtung 
diessmal  zwischen  den  Schlacken  am  Abhang  des  Monte  nuovo. 
Scorpione,  die  doch  schon  in  Südtirol  vorkommen,  sind  dagegen 
zur  Befriedigung  seiner  Neugier  dem  Erzähler  noch  nicht  begeg- 
net. Dessgleichen  sind  von  der  menschenblutsaugenden  Thierwelt 
im  Frühjahr  die  Zinzari,  gegen  die  man  sich  mit  Moscitovorhängen 
vertheidigt,  nicht  vorhanden.  Von  jenem  Ungeziefer,  welches  in 
Zimmern  und  Betten  nistet,  und  welches  dem  Alterthum  wie  dem. 
Mittelalter  noch  unbekannt  war,  von  dem  der  Europäer  überhaupt 
erst  seit  zwei  Jahrhunderten  geplagt  wird,  hat  der  Reisende  dieses- 
mal  keine  Angriffe  erlitten.  In  neuen  Häusern  und  Hotels  bessern 
Ranges  wird  überhaupt  darüber  nicht  geklagt.  Um  so  geschäf- 
tiger erwies  sich  die  durstige  Zunft  des  Ungeziefers,  welches  um- 
gekehrt der  Europäer  in  der  neuen  Welt  und  in  Australien  ver- 
breitet hat.  Wenn  selbst  die  besten  Wirthshäuser  von  dieser  Plage 
nicht  frei  sind,  so  darf  diess  kaum  anders  erwartet  werden,  da  die 
Reisenden  selbst  sie  hineinschleppen.  In  Florenz  und  in  Neapel 
(ausser  bei  Theaterbesuchen)  hält  sich  das  Uebel  in  billigen  Grän- 


eo6  Ferienreisen. 

zen ,  in  Rom  aber  tritt  es  bedenklicher  auf,  wahrscheinlich  weil 
der  Fremde  genöthigt  ist,  so  viele  vorgeschriebene  Kirchen  zu  be- 
suchen, in  denen  jenes  Ungeziefer  am  zahlreichsten  sich  aufhält. 
Vor  anderen  ekelhaften  Schmarotzern  ist  man  in  Neapel  nicht 
völlig  sicher,  denn  da  jedermann  die  Fiaker  sowie  die  Droschken 
benutzt,  die  dortigen  Wagenlenker  aber  fast  ohne  Ausnahme  mehr 
oder  weniger  zerlumpt  und  mehr  oder  weniger  schmutzig  sind, 
so  kann  eine  solche  Nachbarschaft  die  widerwärtigsten  Folgen  ha- 
ben. Die  Geschöpfe  des  Meeres  endlich  bewundert  oder  beschau- 
dert der  Reisende  am  besten  auf  den  Fischmärkten  und  in  Ve- 
nedig, wenn  er  neugierig  ist,  locken  ihn  ausserdem  als  rares  Ge- 
richt die  Tintefische,  welche  ungestüme  Verehrer  unter  den  Ein- 
gebornen  zählen  sollen.  Das  Aufspringen  eines  Delphin  auf  einer 
Rückkehr  von  Capri  nach  Sorrent  war  schliesslich  der  beste 
Leckerbissen  zoologischer  Staffage,  die  dem  Verfasser  zu  Theil 
geworden. 

Was  dagegen  unter  der  Fauna  Italiens  die  Zweihänder  be- 
trifft, so  warnen  wir  alle,  die  das  Land  nur  aus  Gemälden  oder 
Büchern  kennen,  von  überspannten  Erwartungen.  Vor  allem  miss- 
traue man  den  Bildern,  nicht  etwa,  dass  die  Maler  Gesichter  und 
Gestalten  auf  die  Leinwand  faselten,  die  nicht  vorhanden  wären, 
sondern  weil  sie  auch  in  Italien  unter  Tausenden  dasjenige  her- 
ausmustern, was  zu  ihrem  Zweck  taugt.  Römer  und  Römerinnen 
gelten  vor  allem  und  mit  Recht  als  abbildungswürdige  Gegen- 
stände. In  unserer  Unschuld  erwarten  wir  daher,  dass  jedes  dritte 
oder  doch  wenigstens  jedes  dreissigste  Frauengesicht  diesseits  oder 
jenseits  des  Tiber  sich  zur  Judith  idealisiren  Hesse,  jeder  zehnte 
Pflastertreter  entweder  ein  bonapartisches  Profil  oder  ein  Locken- 
haupt uns  bieten  sollte,  auf  welches  letztere  wir  nur  eine  rothe 
Mütze  zu  stülpen  brauchten,  damit  der  Masaniello  fertig  sei.  Das 
was  uns,  ohne  es  genau  bezeichnen  zu  können,  vor  den  Sinnen 
als  italienischer  Typus  schwebt,  kommt  vergleichsweise  so  selten 
vor,  wie  die  vierblättrigen  Kleeblätter.  In  den  Wartesälen  der 
Bahnhöfe  und  in  den  Theatern  haben  wir  einen  ganzen  Katalog 
von  Physiognomien  vor  uns,  und  wenn  wir  unter  einer  Schar 
Harrrender  oder  Schauender  bei  jeder  einzelnen  Nummer  uns  fra- 
gen, ob  wir  sie  mitten  unter  andern  Nummern  in  der  Heimath 
sogleich  als  ein  Kind  Italiens  herausgreifen  würden,  in  wie  selte- 
nen Fällen  werden  wir  zu  bejahen  haben?  Diese  Seltenheiten  sind 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  507 

dann  meistens  solche  bedeutende  Köpfe,  nach  denen  der  Künstler 
lechzt,  und  nach  denen  wir  wiederum  das  Typische  uns  zusam- 
mensetzen. Das  Typische  ist  desshalb  durchaus  nicht  der  Mittel- 
schlag, sondern  gewöhnlich  nur  das  Ergebniss  einer  sorgfältigen 
Auswahl.  Dazu  kommt  in  neuester  Zeit  noch  das  Verschwinden 
der  Ortstrachten.  Wem  das  Glück  hold  ist,  der  kann  in  Ve- 
rona noch  Damen  mit  dem  schwarzen  Spitzentuch  als  Kopfbe- 
deckung, in  Genua  sie  mit  bräutlich  wallenden  weissen  Schleiern 
sehen.  Die  weissen  Tücher  um  den  Kopf  mit  einem  nach  der 
Stirn  vorfallenden  Wulst  sind  nicht  selten  bei  den  Orangenver- 
käuferinnen zwischen  Rom  und  Neapel.  Die  echte  Albanertracht 
dagegen  ist,  wie  es  bereits  die  Reisebücher  aussprechen,  in  Albano 
selbst  an  gewöhnlichen  Tagen  nicht,  und  an  hohen  Festtagen  nur 
selten  zu  sehen.  Wir  selbst  fuhren  in  Albano  durch  officielle  Be- 
willkommnungsbogen,  als  unter  Musik  und  Böllerschüssen  Se.  Hei- 
ligkeit empfangen  wurde ,  ohne  durch  irgendeine  Aenderung  der 
Tracht  gestört  zu  werden.  Die  malerischen  Bekleidungen  der 
Halbinsel  sind  daher  nur  anzutreffen  auf  der  spanischen  Treppe 
in  Rom,  wo  sich  die  unbeschäftigt  gebliebenen  Modelle  für  Trach- 
ten feil  bieten.  Mit  solchen  gewerbsmässigen  Nationalpuppen  ist 
aber  dem  Fremden  nicht  gedient,  denn  in  grösserer  Fülle  geniesst 
er  ja  dasselbe,  wenn  er  sich  daheim  für  die  Stumme  von  Portici 
einen  ihm  zusagenden  Theaterplatz  erwirbt.  Was  dagegen  die 
Quantität  an  fremdartiger  bewegHcher  Staffage  betrifft,  so  wird 
Neapel  wohl  die  feurigsten  Ansprüche  befriedigen.  Als  colorirte 
Photographien  verkauft  man  an  den  dortigen  Läden  eine  Samm- 
lung von  Darstellungen  unter  dem  Titel  ,, Neapolitanische  Trach- 
ten" (Costumi  di  Napoli).  Der  Begriff  Tracht  ist  dabei  in  einem 
ungewöhnlich  weiten  Sinn  gefasst,  denn  es  gehört  zu  jener  beleh- 
renden Reihenfolge  auch  eine  strenge  Mutter,  die  ihrem  Buben  auf 
dem  Schoosse  eine  auch  bei  uns  nicht  völlig  ungebräuchliche  Züch- 
tigung auf  entblösste  Körperräume  ertheilt,  die  fast  die  Mitte  des 
Gemäldes  einnehmen,  aber  gerade  der  Gegensatz  dessen  sind, 
was  der  gemeine  Mann  sonst  unter  „Tracht"  oder  „Costüm"  ver- 
steht. Ein  jeder  von  uns  und  eine  jede  der  unsrigen  könnte  sich 
übrigens  gänzlich  kostenfrei  und  nur  durch  Geduld  in  solche  nea- 
politanische Vorbilder  umwandeln,  es  gehört  dazu  nur,  dass  man 
sich  zunächst  das  Waschen  abgewöhnt,  etwa  entstehende  Risse  in 
Kleidern  und  Unterkleidern,  sowie  andere  Erosionseffecte  des  tag- 


co8  Ferienreisen. 

liehen  Lebens  beharrlich  unbeachtet  lässt.  In  grösseren  Zeitpau- 
sen könnte  man  dem  anmuthigeren  Geschlechte  ein  Kämmen  des 
Haares  nachsehen,  doch  müsste  in  solchen  gutbegründeten  Fällen 
der  Stuhl  auf  die  Strasse  hinausgeriickt,  das  Geschäft  auch  nicht 
selbst,  sondern  durch  die  Hand  einer  Freundin  ,  mit  der  man  in 
Cartellverträgen  steht,  verrichtet  werden.  Auch  andere  Reinigun- 
gen des  Haupthaares,  die,  nach  berühmten  Gemälden  von  Murillo 
zu  schliessen,  in  Spanien  gleichfalls  üblich  zu  sein  scheinen,  haben 
die  Costumi  di  Napoli  als  ,, Charakterköpfe"  in  ihre  Auswahl  auf- 
genommen. Eine  andere  volksthümliche  Sehenswürdigkeit,  näm- 
lich den  Maccarönischlürfer,  darf  der  Fremdling  aufzusuchen  nicht 
versäumen.  Es  war  am  vorletzten  Abend  und  dem  achten  Tage 
eines  mit  grossen  Anstrengungen  ausgenützten  Aufenthaltes,  dass 
uns  einfiel,  in  Neapel  noch  nicht  das  Verzehren  von  Maccaroni 
gesehen  zu  haben.  Beiläufig  wollen  wir  bemerken,  dass  die  Rohr- 
nudelerzeugung in  ein  ehrwürdiges  Alterthum  hinaufreicht,  denn 
der  arabische  Geograph  Edrisi,  der  am  Hofe  des  Normannenkönigs 
Roger  II.  von  Sicilien  lebte,  preist  schon  die  Maccaroni,  die  in 
Palermo  verfertigt  wurden.  Gegen  neun  Uhr  Abends  traten  wir 
also  auf  der  Strada  di  Porto  hinter  einem  off'enen  Laubengang  in 
eine  Nudelküche.  Es  kostete  uns  wenig  Mühe,  auf  der  Strasse 
zwei  dienstfertige  Landeskinder  aufzugreifen,  die  bereit  waren,  die 
Nudeln  zu  verzehren,  die  wir  bezahlen  wollten.  Der  Koch  ergriß 
sogleich  einen  Teller,  schöpfte  Nudeln  aus  dem  brodelnden  Kessel, 
griß"  mit  der  Hand  in  einen  Vorrath  zerriebenen  Käses,  womit  das 
Gericht  überstreut  wurde,  und  würzte  es  ausserdem  mit  einem 
Löffel  voll  goldbraunen  geschmalzenen  Mehles;  wenigsten  hielten 
wir  diese  Zugabe  für  nichts  anderes.  Wind  und  Sonne  blieb  zwi- 
schen den  beiden  Zweikämpfern  ritterlich  getheilt.  Mit  ihren 
Greifwerkzeugen,  die  man  bei  den  gewaschenen  Menschenracen 
Hände  zu  nennen  pflegt,  rafften  sie  gierig  eine  Nudelmasse  auf, 
in  der  sie  durch  eine  gelungene  rasche  Bewegung  eine  Drehung 
der  Faden  bewirkten,  und  die  sie  hierauf  von  der  dicken  Mitte 
gleichzeitig  nach  beiden  Enden  hinunterzuwürgen  begannen.  Mit 
anerkennenswerther  Geschwindigkeit  wurde  der  Teller  geleert  und 
vom  Koche  abermals  gefüllt.  Nachdem  das  Schauspiel  noch  ein- 
mal sich  wiederholt  hatte,  entfernten  wir  uns  jedoch,  völlig  des 
Schauens  satt,  ohne  abzuwarten,  bis  das  bewilligte  Budget,  nämlich 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  eog 

zwei  Franken,  der  Betrag  einer  verlorenen  Wette,  sich  erschöpft 
haben  würde. 

Ergötzliche  Bilder  liefert  der  Equus  ■  asinus  des  Linnd.  Sehr 
häufig  trägt  der  arme  Dulder  über  seinem  Rücken  eine  Strohdecke, 
die  zu  beiden  Seiten  fast  bis  auf  den  Boden  reicht.  Nun  denke 
man  sich,  dass  links  und  rechts  die  Zipfel  der  Decke  zu  einem 
Dreieck  zusammengelegt  und  festgenäht  worden  sind,  so  dass  sie 
zwei  geräumige  Düten  bilden,  die  mit  Zwiebeln,  Salat,  Artischocken 
und  anderen  Gemüsen  vollgestopft  werden.  Auf  den  Rücken  des 
Esels  und  auf  die  strotzenden  Taschen  wird  eine  weitere  grüne 
Last  aufgethürmt,  und  schliesslich  setzt  sich  der  Eigenthümer  noch 
hinter  dem  Gemüse  auf.  Selbst  unbelastete  Esel  werden  so  be- 
bestiegen, dass  der  Reiter  seinen  Sitz  auf  den  Hintervierteln  nimmt, 
ein  Anblick,  der  am  meisten  durch  das  Ungewohnte  uns  befrem- 
det hat.  Da  die  Leute  auch  gern  zu  zweit  sitzen,  so  gewöhnen 
sie  sich  durch  Uebung  an  den  Platz  hinter  dem  Sattel.  Sehens- 
werth  sind  ferner  die  zweirädrigen  Karren,  bespannt  mit  einem 
einzigen  kräftigen  Rösslein ,  auf  denen  inwendig ,  sowie  vor  und 
hinter  den  Rädern,  ja  bis  auf  die  Deichsel  hinaus,  eine  Bevölke- 
rung jeden  Alters  und  Geschlechts ,  man  kann  anständigerweise 
nicht  sagen  Platz,  wohl  aber  irgend  einen  Schooss  oder  eine  Leiste 
gefunden  hat,  um  zu  sitzen  oder  sich  schwebend  zu  erhalten. 
Wir  zählten  bei  einem  Beispiele  dieser  Art  fünfzehn  Köpfe  oder 
Seelen,  wie  die  Statistiker  sagen,  den  Gaul  nicht  mitgerechnet. 
Doch  äusserte  sich  unser  Vetturin,  dessen  Gaul  damals  nur  drei 
„Seelen"  zu  befördern  hatte,  selbst  missbilligend  über  jenen  Ueber- 
fluss.  Zur  Erklärung  muss  hinzugefügt  werden ,  dass  sich  solche 
einspännige  Personenbeförderungen  meist  auf  den  Strassen  der 
Vesuvstädte  zutragen,  die  mit  grossen  Bruchsteinen  belegt,  um 
nicht  zu  sagen  getäfelt,  sind,  und  beinahe  eben  fortlaufen.  Die 
kleinen  neapolitanischen  Rosse  sind  übrigens  durch  ihre  Ausdauer 
bewunderungswürdig,  und  so  flink,  dass  die  Kutscher  im  Trab  die 
schiefen  Strecken  der  Strassen  hinanfahren.  Nähert  man  sich 
vollends  einer  Ortschaft,  dann  wird  aufgeklatscht,  bis  die  Funken 
unter  den  Hufen  sprühen. 

Ein  anderes  nationales  Genrebild,  nämlich  die  Tarantella, 
wurde  uns  zweimal  aufgetischt,  einmal  auf  Verlangen  mit  nach- 
folgender freiwilliger  Belohnung  in  einer  Osteria  bei  Pompeji,  ein 
andermal  völlig  unentgeltlich  auf  dem  Pflaster  einer  Seitengasse  in 


510 


Ferienreisen. 


Resina.  Es  sind  immer  drei  Mädchen  dazu  erforderlich,  nämUch 
eins  zum  Schlagen  des  Tambourins  und  zwei  mit  Castagnetten, 
die,  ohne  sich  zu  berühren,  auf  einem  sehr  engen  Raum  hin-  und 
herhüpfen  und  mitunter  die  Plätze  wechseln.  Die  Bewegungen 
der  Tambourinschlägerin  fanden  wir  in  dem  ersten  Fall  sehr  ge- 
fällig, und  die  Anmuth  war  zugleich  eine  freie  Gabe  der  Natur, 
nichts  erworbenes.  Mit  dem  Umherhüpfen  sind  zugleich  Biegun- 
gen des  Oberkörpers  in  den  Hüften  und  Bewegungen  der  Arme 
verbunden,  die  bei  einem  gewissen  Vorrath  von  gutem  Willen 
plastisch  genannt  werden  könnten,  wenn  die  Tänzerinnen  selbst 
nur  schon  das  plastische  Alter  erreicht  gehabt  hätten,  so  aber 
traten  nur  reifende  oder  eben  nur  reif  gewordene  Mädchen  bei  den 
tarentinischen  Leibesbewegungen  auf,  und  es  verlangte  die  Wirk- 
lichkeit zur  Würze  immer  noch  eine  Nachhülfe  der  Phantasie. 
Die  Tarantella  gleicht  übrigens  einer  Schraube  ohne  Ende,  denn 
wenn  eine  Tänzerin  ermüden  sollte,  lauert  schon  eine  frische  in 
dem  dichten  Zuschauerkreise,  die  zum  Ersatz  hineinspringt.  So  kann 
dieses  Hüpfen  stundenlang  fortgesetzt  werden,  während  der  Be- 
schauer schon  nach  den  ersten  zehn  Minuten  an  dem  Einerlei 
völlig  Genüge  hat. 

In  Bezug  auf  ein  gewisses  Capitel  öffentlicher  Reinlichkeit  hat 
übrigens  Auge  und  Geruch  des  Fremden  in  Neapel  sehr  selten 
und  viel  weniger  als  in  Venedig  zu  leiden.  Es  ist  überall  gesorgt, 
dass  ein  jeder  findet  was  er  sucht,  und  das  da  per  tutto,  welches 
noch  zu  Goethe's  Zeit  ländlich  sittlich  war,  scheint  mehr  und 
mehr  vermieden  zu  werden.  Doch  ist  niemand  sicher,  Zeuge  der 
gröbsten  Unsauberkeiten  zu  werden.  Was  wir  selbst  zu  erleben 
hatten,  soll  als  warnendes  Beispiel  schonend  erwähnt,  ausserdem 
aber  leicht  verletzliche  Gemüther  eingeladen  werden  bis  zum  näch- 
sten Absätze  alles  zu  überspringen.  Wenn  man  Oberitalien  ver- 
lässt,  ist  es  nicht  rathsam,  anders  zu  reisen  als  in  Eisenbahnwagen 
erster  Classe,  worüber  wir  sogleich  bei  dem  ersten  Versuche  be- 
lehrt wurden,  als  wir  von  Padua  aus  noch  die  zweite  Classe  zu 
benutzen  gedachten.  Da  man  jedoch  genöthigt  wird,  von  Neapel 
dieselben  Strecken  vier-  oder  fünfmal  hin  und  her  zu  fahren, 
immer  jedoch  nur  auf  geringe  Entfernungen,  so  schien  uns  auch 
die  zweite  Classe  zu  genügen.  So  geschah  es  denn,  dass 
wir  auf  der  Fahrt  nach  Salerno  mit  einem  Herrn  reisten,  der  ein 
kleines  Mädchen  von  etwa    drei   Jahren    bei    sich    hatte.     Es    war 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  511 

hübsch  angeputzt  in  einem  halbseidenen  Kleidchen,  mit  breiter 
hellblauseidener  Schärpe  und  trug  ein  zierliches  Hütchen.  In 
Deutschland  würde  man  dem  äussern  Anstrich  zufolge  eine  solche 
Gesellschaft  zu  den  „gebildeten"  Classen  gezählt  haben,  ob  und 
wann  aber  sich  diese  Qualification  oder  in  welchem  Sinne  sie  für 
Neapolitaner  anwendbar  ist,  darüber  soll  kein  Urtheil  hier  gewagt 
werden.  Der  Zug  hielt  und  es  gab  ein  paar  Minuten  Aufenthalt. 
Das  Kind  fühlte  in  dieser  Zeit  ein  Bedürfniss  und  der  Vater 
wandte  sich  an  einen  gegenübersitzenden  Landsmann  mit  der 
Frage,  ob  er  etwas  dagegen  habe,  wenn  das  Dringende  vor  seinen 
Füssen  erledigt  werde.  Der  Gefragte  antwortete  mit  wohlwollen- 
der Duldsamkeit:  non  fa  niente!  und  die  Verunreinigung  fand 
statt  —  sie  fand  statt,  wie  ausdrücklich  bemerkt  werden  muss, 
während  der  Zug  still  hielt,  so  dass  der  zärtliche  Vater  nur  neben 
sich  die  Wagenthüre  hätte  zu  öffnen  gebraucht,  um  das  Kind 
herauszuheben. 

Wer  sich  tröstet,  dass  man  gegen  den  Anblick  von  Schmutz 
und  Verwahrlosung  abgestumpft  werde,  täuscht  sich.  Neapel  bleibt 
immer  und  immer  nichs  anderes,  als  ein  grosses  Ghetto.  Sein 
blendendes  Häusermeer,  seine  Castelle,  die  theils  am,  theils  im 
Meere  liegen  oder  die  Höhen  des  Posilip  beherrschen,  mögen  aus 
der  Ferne  uns  entzücken,  gerade  so  wie  in  der  Nähe  das  Getüm- 
mel am  Hafen  mit  seinen  ausserordentUch  belebten  Gruppen  höchst 
malerisch  sich  darstellt,  die  Wirklichkeit  selbst  bleibt  aufs  höchste 
abstossend.  Gesäuberte  Strassen  finden  sich  nur  längs  dem  Meere 
vom  Garten  Villa  Reale  angefangen,  am  königlichen  Palast  vorü- 
ber bis  zur  Toledo-Strasse,  dann  die  Toledo-Strasse  abwärts  bis 
zum  vormals  bourbonischen  Museum  und  von  da  über  die  Piazza 
della  Pigne  die  Strada  S.  Carlo  alF  Arena  abwärts.  So  oft  man 
sich  dagegen  zwingt,  in  Seitenstrassen  einzubiegen,  bereut  man  es 
immer  wieder  von  neuem.  Es  ist  nicht  sowohl  Armuth,  der  man 
begegnet  als  Verwahrlosung.  Alle  Häuser  haben  einen  höchst 
unwohnlichen  Anstrich,  denn  sie  werden  nicht  ausgebessert,  son- 
dern man  lässt  sie  herunterkommen.  Durch  die  geöffneten  Thüren 
sieht  man  in  das  Innere  der  Erdgeschosse,  wo  ein  einziger  Raum 
eine  Familie  beherbergt.  Kein  Fenster  ist  vorhanden,  denn  Licht 
und  Luft  kommt  nur  durch  die  Thüre.  Drinnen  steht  ein  grosses 
Bett,  gemeinsam  für  zwei,  vielleicht  drei  Generationen.  Wie  die 
Familie  es  am  Morgen  verliess,  so  wird  es  am   Abend   bestiegen. 


e  I  2  Ferienreisen. 

Aller  sonstige  Raum  ist  angefüllt  mit  zerbrochenem  Geräth,  lah- 
men Tischen  und  Stühlen  und  einem  Composthaufen  abgedienter 
Lumpen  und  Geschirre.  Heinrich  Heine,  der  nicht  weiter  als  bis 
Mittelitalien  vordrang,  brach  bei  seiner  Rückkehr  nach  Deutsch- 
land in  den  bekannten  Lästerreim  aus : 

Schöner  Süden,  wie  verehr'  ich 
Deine  Menschen,  Deine  Götter, 
Seit  ich  diesen  Menschenkehrich' 
Wieders^i'   und  dieses  Wetter. 

Wenn  aber  den  europäischen  Bevölkerungen  der  Name  Men- 
schenkehricht nach  Prioritätsgrundsätzen  ertheilt  werden  sollte, 
gewiss  stehen  die  NeapoHtaner  dann  am  vordersten  Ende  der 
Queue.  Frisch  ist  dem  Verfasser  noch  in  der  Erinnerung  der  be- 
hagliche, fast  möchte  er  sagen  erquickende  Eindruck,  als  er  rasch 
von  Neapel  nach  Rom,  von  den  Neapolitanern  wieder  unter  Men- 
schen versetzt  wurde.  In  der  ewigen  Stadt  sieht  man  eben  so 
selten  einen  zerlumpten  wie  in  Neapel  einen  geflickten  und  ge- 
bürsteten Rock.  Physischer  Schmutz  geht  nicht  immer,  aber  doch 
häufig  mit  moralischem  Hand  in  Hand ,  und  der  Fremde  muss 
daher  stets  auf  der  Hut  vor  Betrügereien  sein.  Unerträglich  ist 
es,  jedes  Geldstück  nachzählen,  jedes  Werthzeichen  prüfen  zu 
müssen ,  ob  nicht  ein  ,,LTthum"  zu  unserm  Nachtheil  sich  ein- 
geschlichen hat.  Fast  jede  Fahrt  in  einer  Droschke  oder  einem 
Fiaker  endigt  mit  einem  Wortwechsel,  da  immer  der  Versuch 
stattfindet,  den  Tarif  zu  überschreiten.  An  Frechheit  überbietet 
dabei  der  Neapolitaner  jedes  Mass.  So  fuhren  wir  einst  den  To- 
ledo hinab  um  beim  Museum  in  die  Strada  dell'  Infrascata  einzu- 
biegen und  dort  an  einer  Stelle  auszusteigen,  wo  das  Museum 
noch  nicht  hinter  der  ersten  Biegung  der  Häuser  verschwunden 
war.  Dem  Rathe  Bädekers  gehorsam ,  der  unbedingt  der  beste 
ist,  hatten  wir  den  vorgeschriebenen  Fahrpreis  in  der  Hand,  nicht 
einen  Centime  darüber.  Es  schien  dem  Fiaker  nicht  genug,  denn 
der  Tarif  gelte  nur  ,,für  die  innere  Stadt."  Wir  wiesen  auf  das 
nahe  Museum,  aber  der  Unverschämte  behauptete,  indem  er  das 
Geldstück  auf  den  Boden  warf,  eben  beim  Museum  endige  der 
Bereich  der  Fahrtaxen!  Natürlich  überliessen  wir  es  ihm,  das  Geld- 
stück selbst  aufzulesen. 

Ein  anderer  guter  Rath  Bädekers  sollte  nie  ausser  Acht  ge- 
lassen   werden,    nämlich    beim    Ausdingen    irgend    einer   Leistung 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  cj^ 

immer  ein  tutto  compreso  hinzuzufügen.  Zur  Belehrung,  welchen 
Anforderungen  der  Reisende  dadurch  entgeht,  mag  hier  eine  Gast- 
hausepisode folgen.  Wir  waren  fünf  Stunden  in  einer  offenen 
Barke  unterwegs  gewesen,  anfangs  bei  rauher  See  zwischen  Sorrent 
und  der  Insel  Capri.  Unsern  beiden  Damen  hatte  die  Thalassa 
übel  mitgespielt,  die  eine  rechts  die  andere  links  hatte,  über  Bord 
gebeugt,  mehr  als  einmal  dem  Mittelmeer  tief  ins  Angesicht 
schauen  müssen.  Endlich  war  für  sie  die  Pein  überstanden,  denn 
die  Barke  hielt  wieder  an  dem  Felsenafesturz  unter  Sorrent.  Wir 
hatten  gehofft,  das  Uebel  werde  endigen,  sobald  sie  das  euro- 
päische Festland  wieder  unter  ihren  Füssen  fühlen  würden,  und 
wirklich  geschah  es  auch  so,  abgesehen  von  einem  heftigen  Finale 
unmittelbar  nach  dem  Aussteigen.  Eine  Treppe  in  den  Felsen 
führte  uns  hinauf  nach  der  ,, Sirene",  die  wir  gewählt  hatten  wegen 
ihres  schicklichen  Wirthshausnamens  in  der  Sirenenstadt.  Es  war 
fünf  Uhr  Nachmittags,  und  da  die  Essstunde  des  Hotels  erst  zwei 
Stunden  später  schlug,  wir  aber  mit  dem  Vetturin  noch  nach 
Neapel  zurückkehren  wollten,  wozu  mindestens  4V2  Stunden  er- 
forderlich waren,  bestellten  wir  nach  dem  Vorschlag  des  Kellners 
ein  Gabelfrühstück  zu  drei  Franken  die  Person.  Da  wir  für  dieses 
Geld  nur  drei  Schüsseln  und  ein  Dessert  erhalten  sollten,  verlangten 
wir  obendrein  noch  Suppe,  wodurch  sich  der  ausbedungene  Preis 
auf  3V2  Franken  steigerte.  Die  Suppe  kam,  es  folgte  ein  Teller 
mit  theilweise  ungeniessbaren  Fischen,  ein  Gericht  Fleisch,  und 
nach  diesem  wurde  plötzlich  das  Dessert  aufgetragen.  Auf  die 
Frage,  wo  die  dritte  Schüssel  bleibe,  wurde  uns  erwidert,  dass 
wir  mit  der  Suppe  ja  schon  drei  Gerichte  erhalten  hätten.  Erst 
als  wir  scharf  erinnerten,  dass  die  Suppe  besonders  bezahlt  werde, 
und  streng  auf  Erfüllung  des  Ausbedungenen  drangen,  erschien 
nach  längerer  Pause  noch  ein  Eierkuchen.  War  der  Versuch  fehl- 
geschlagen, die  dritte  Schüssel  zu  überspringen,  so  erschien  dafür 
auf  der  Rechnung  für  die  Bedienung  von  vier  Personen  eine  For- 
derung von  zwei  Franken.  Wir  erklärten  jedoch  dem  Kellner 
gelassen,  dass  wir  für  das  Auftragen  eines  Frühstücks  uns  nichts 
vorschreiben  Hessen,  strichen  kaltblütig  die  zwei  Franken,  bezahl- 
ten den  Rest  und  wurden  trotzdem  unter  Bücklingen  und  Reise- 
glückwünschen von  dem  Hotelpersonal  an  den  Wagen  geleitet. 
Diess  war  das  einzigemal,  wo  wir  uns  gegen  überspannte  Forder- 
ungen zu  wehren  hatten,    im  Gegentheil  waren   wir  sonst   überall 

Pesc/iel,  Abhandlungen.    II.  33 


514 


Eine  Ferienreise. 


zufrieden,  und  nur  ein  einzigesmal  durch  ungerechtfertigte  An- 
sprüche überrascht  worden,  jedoch  nicht  in  ItaUen,  sondern  in 
Innsbruck'). 

Wir  haben  von  so  viel  Widerwärtigkeiten,  Enttäuschungen, 
und  Verbitterungen  gesprochen,  dass  vielleicht  mancher  Leser,  der 
eine  Reise  nach  Neapel  im  Schilde  führt,  einige  Abkühlung  em- 
pfinden möchte.  Das  Inventar  der  Unannehmlichkeiten  ver- 
schwindet jedoch  im  Vergleich  zu  dem,  was  man  dafür  an  werth- 
voUen  Eindrücken  gewinn*,  im  Vergleich  vor  allem  zu  der  schönen 
Natur,  die  man  begierig  in  sich  aufsaugen  möchte.  Jedem  Tag  in 
Neapel  seufzt  man  nach,  dass  er  allzu  rasch  an  uns  vorüberglitt, 
und  bang  erwartet  man  den  letzten,  an  dem  man  sich  losreissen 
soll.  So  mag  denn  auch  versucht  werden,  dem  Leser  einen  Be- 
griff zu  geben  von  dem  Glanzpunkt  der  ganzen  Wanderung.  Nach 
einem  anstrengenden  Tage  im  weiland  bourbonischen  Museum 
hatten  wir  uns  zur  Belohnung  das  Beste  aufgespart.  Kunstenthu- 
siasten denken  vielleicht,  dass  das  Museum  selbst  der  höchste 
Genuss  sei.  Dort  steht  in  Marmor  der  farnesische  Herkules,  die 
unvergessliche  Psyche  von  Capua,  die  berühmte  Venus  ,  die  ihr 
Hemd  aufliebt,  um  einen  Blick  über  ihre  Schulter  zu  werfen,  ne- 
ben unzähligen  Gewandstatuen  und  Marmorbildern  mit  und  ohne 
Sternen  im  Katalog.  Dort  sind  die  prächtigen  Broncegestalten 
aus  Herculanum  und  Pompeji ,  der  betrunkene  Faun ,  der  sich  auf 
Weinschläuchen  wälzt,  mit  der  einen  Hand  schnalzt,  sonst  aber 
im  Lustgefühl  alles  andere  von  sich  streckt,  daneben  die  beiden 
Discuswerfer,  im  Hintergrund   der  sogenannte    Läufer.     Es    folgen 


l)  In  den  Hotels  ersten  Ranges,  wie  Hotel  de  la  Ville  in  Florenz,  Hotel 
de  Russie  in  Neapel  und  Stadt  Rom  in  Rom  zahlten  wir  für  Zimmer,  letztere 
freilich  ohne  Aussicht  mit  zwei  Betten  6  Frcs.,  unser  Begleiter  für  je  ein  Zim- 
mer und  ein  Bett  3  Frcs.  Der  Mittags-  (d.  h.  Abend-)Tisch  wurde  mit  4*;^ 
Frcs.,  in  Rom  mit  5  Frcs.  berechnet,  doch  speisten  wir  so  oft  wir  es  für  gut 
fanden  bei  Restaurants,  aber  nur  um  sehr  weniges  wohlfeiler.  Im  österreichi- 
schen Hof  in  Innsbruck  dagegen,  wo  wir  um  11  Uhr  Abends  ankamen,  und 
den  wir  um  7  Uhr  Morgens  verliessen,  hatten  wir  zu  zahlen:  Zimmer  im  dritten 
Stock  mit  2  Betten  2  Fl.  50  kr. ;  Bedienung  (sehr  mangelhaft) :  90  kr. ;  Ker- 
zen 80  kr. ;  Frühstück  (zwei  Tassen  dünnen  Kaffees  mit  zwei  trockenen  Broden) 
I  Fl.  40  kr. ;  Omnibus  von  und  nach  der  Bahn  (der  aber  im  letzteren  Falle 
vor  uns  abfuhr)  l  Fl.  60  kr.,  zusammen  7  Fl.  20  kr.  Vier  Wochen  zuvor 
hatten  wir  beim  Elephanten  in  Brixen  für  die  nämliche  Bewirthung  und  ein- 
schliesslich eines  Abendessens  zwei  Gulden  und  etliche  Kreuzer  gezahlt! 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  e  j  e 

dann  —  immer  noch  im  Erdgeschoss  —  die  Mosaiken  und  die 
abgelösten  Wandgemälde  aus  Pompeji,  die  mit  Recht  so  fleissig 
copirt  werden,  eine  Sammlung,  die  allein  einen  Vormittag  ausfüllen 
könnte.  Noch  sind  wir  weder  in  die  Keller  hinabgestiegen  ins 
ägyptische  und  etruskische  Alterthum,  noch  hinaufgestiegen  zur 
Bibliothek,  den  Pretiosen,  den  Geschirren,  den  alten  Geräthen  und 
der  Bildergallerie  mit  ihren  Kleinoden  von  der  Hand  Rafael's, 
Correggio's,  Titians  and  anderer  Meister  ersten  Ranges.  Wer 
lange  in  Neapel  verweilen,  nicht  zwei-  und  dreimal,  sondern 
zwei-  und  dreidutzendmal  das  Museum  besuchen  könnte,  aber 
jedesmal  nur  auf  höchstens  eine  Stunde,  dem  wird  es  unerschöpf- 
lichen Genuss  bieten.  Wer  aber  rasch  und  aufmerksam  sehen 
will,  für  den  ist  es  nur  anfangs  Genuss ,  dann  Anstrengung  und 
zuletzt  eine  Qual.  Kunstgegenstände  höchsten  Ranges  hinterlassen 
einen  mächtigen  Eindruck,  und  das  Mass  solcher  Erschütterungen, 
die  wir  in  uns  aufzunehmen  vermögen,  ist  ein  viel  begränzteres, 
als  wir  gewöhnlich  voraussetzen,  denn  jedes  Bild  und  jede  Statue 
nöthigt  uns  zu  innerlichen  Erklärungen  und  Beobachtungen ,  die 
unsere  Denkkräfte  mächtig  spannen  und  rasch  erschöpfen.  Nach 
drei  oder  vier  Stunden  stellt  sich  dann  eine  solche  Ermüdung  der 
Augennerven  ein,  dass  man  halb  taumelnd  und  zugleich  reizbar 
ärgerlich  das  Pantheon  der  Kunstschätze  verlässt.  Diess  geschieht 
jedenfalls  vor  drei  Uhr,  wo  das  Museum  geschlossen  wird,  und  es 
bleibt  uns  noch  eine  Zwischenpause  für  einen  Teller  mit  Austern, 
ehe  wir  zur  „Krönung"  des  Tages,  nämUch  zu  einem  Besuche  des 
Carthäuserklosters,  dem  nächsten 'Höhenpunkte  bei  Neapel,  141 6 
Fuss  (feet?)  über  dem  Meere  schreiten.  Bädeker  sagt,  der  Aus- 
flung  erfordere  vom  Museum  aus  hin  und  zurück  3V2  Stunden, 
wenn  Esel  zum  Reiten  benutzt  werden,  zu  Fuss  etwas  mehr.  Er 
hat  auch  recht,  nur  hätte  noch  hinzugesetzt  werden  sollen ,  dass 
ein  sehr  reichlicher  Aufenthalt  bei  obigem  Zeitansatze  mit  inbe- 
griffen sei. 

Wer  sich  einen  Luxus  vergönnen  will,  besteigt  einen  Esel  in 
der  Strada  dell'  Infrascata,  die  ihn  hinaufführt  auf  die  Anhöhen 
hinter  Castell  S.  Elmo.  Liegt  die  Stadt  und  die  Finanzmauer 
hinter  uns,  so  führt  ein  höchst  unterhaltender  Pfad  meist  durch 
niedern  Laubwald,  oft  als  Hohlweg  zunächst  eben  weiter,  später 
ansteigend  auf  einen  höheren  weiter  binnenwärts  gelegenen  Rücken 
hinauf.     Zwischen  4  und  5   Uhr   ist  die  Sonne  nicht    mehr  lästig, 

33* 


e  1 6  Ferienreisen. 

auch  bewegt  man  sich  zwischen  dem  Grünen  meist  im  Schatten, 
die  Luft  weht  erquickend  und  in  verborgenen  Büschen  schlagen 
Nachtigallen  oder  in  Wipfeln  jubiliren  die  Amseln.  Der  Pfad  ver- 
schweigt uns  vollständig,  dass  wir  uns  einem  Naturgemälde  zum 
Nimmermehrvergessen  nähern,  der  schönsten  Aussicht,  die  sich 
bisher  in  Italien  oder  irgend  anderswo  uns  erschlossen  hat.  Nur 
ein  einzigesmal  öffnet  sich  eine  Schlucht  gegen  Süden  und  zeigt 
uns  den  Golf,  die  Sorrentiner  Halbinsel  und  Capri.  Zuletzt  wird 
der  Abhang  wieder  frei  von  Laubholz  und  wir  gelangen  an  eine 
Klostermauer,  vor  der  wir  absitzen.  Ehemals  Öffnete  sich  die 
Pforte  nur  für  Männer,  seit  der  piemontesischen  Herrschaft  sind 
jedoch  nicht  bloss  die  Brüder  in  ihrer  Zahl  bis  auf  sieben  herabge- 
mindert, sondern  zugleich  auch  ihr  Asyl  gegen  die  früheren  Or- 
densregeln dem  anderen  Geschlechte  zugänglich  geworden.  Einer 
der  Brüder  erweist  den  Gästen  die  Ehren,  erquickt  die  Dürstenden 
mit  Wein,  sowie  mit  trockenen  Früchten  und  Backwerk.  Natür- 
lich wird  alles  unentgeltlich  gereicht,  doch  steht  es  dem  Reisenden 
frei ,  für  das  Kloster  irgend  etwas  verstohlen  auf  dem  Tisch  zu- 
rückzulassen. Der  Höhenrücken  Camaldoli's  gewährt  eine  völlige 
Rundsicht  nicht,  sondern  man  muss  sich  an  zwei  verschiedene 
Punkte  begeben,  um  den  einen  Blick  mit  dem  andern  zu  ergänzen. 
Nach  Nordwesten  und  Norden  ist  die  Landschaft  minder  be- 
deutend. Zunächst  breitet  sich  vom  Fuss  des  Höhenrückens  eine 
bebaute  und  bewachsene  Ebene  aus,  die  links  durch  das  Meer 
und  in  weiter  Ferne  durch  die  Berge  von  Gaeta  begränzt  wird. 
Von  Norden  herab  bis  Osten  ^iert  den  Hintergrund  mit  scharf 
gezeichnetem  Kamme  der  neapolitanische  Apennin,  von  dem  uns 
wieder  ein  grünes  Flachland  trennt,  schimmernd  mit  ausgestreuten 
Städten.  Dann  erhebt  sich  etwas  rechts  vom  Ostpunkt  im  Mittel- 
grund der  Vesuv,  von  der  Somma  als  Mantel  oder  Ringwall  zur 
Hälfte  umgeben.  Aus  seinem  Krater  quillt  weisser  Dampf,  leider 
nicht  wie  bei  Aschenauswürfen  als  ,, Pinie"  aufsteigend  mit  Schaft 
und  Schirm,  sondern  unmittelbar  vom  Kraterrande  seitwärts  ge- 
bogen und  rasch  ins  Blaue  zerfliessend,  von  einer  Nebelwolke 
durch  nichts  anders  als  durch  sein  träges  Verharren  zu  unter- 
scheiden. Das  Observatorium  des  Vesuv  ist  deutlich  wahrnehm- 
bar, auch  lassen  sich  die  einzelnen  Lavaströme  aus  jüngerer  Zeit 
wenigstens  von  demjenigen,  der  sie  zuvor  in  der  Nähe  gesehen 
hat,  noch  unterscheiden,  sonst  verschwimmt  Grünendes  und  Graues, 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  517 

Weinberge  und  Schlacken,  Lebendiges  und  Starres  in  der  blauen 
Lasur  der  Ferne.  Wie  selbstleuchtende  Lichtpünktchen  glänzen 
ausgestreut  am  untern  Abhang  des  Feuerberges  unzählige  Häuser, 
die  nahe  dem  Meere  sich  zusammenschliessen  zu  einem  lücken- 
losen Städtegürtel,  den  Golf  auf  zwei  deutsche  Meilen  Erstreckung 
mit  einem  hellen  Saum  umgebend.  Neapel  selbst  wird  uns 
grossentheils  verdeckt  durch  den  Höhenzug  des  Posilip,  der  das 
Fort  St.  Elmo  ebenso  beherrscht  wie  wir  wiederum  das  Fort  von 
unserm  hohem  Standort.  Ueber  dem  Posilip  ist  das  Meer  sicht- 
bar, massig  belebt  von  Segeln.  Hier  aber  gewahren  wir,  wie  Pli- 
nius  sich  ausdrückt,  dass  das  Land  zur  Golfbildung  zwei  Arme 
vorstreckt.  Gegen  Süden  erhebt  sich  nämlich  als  der  eine  Arm 
die  Gebirgskette  von  Sorrent  beinahe  senkrecht  gegen  den  Apen- 
nin streichend.  Dort  suchen  wir  alle  Plätze  auf,  an  die  sich  be- 
reits beglückende  Erinnerungen  knüpfen :  das  lebendige  Castella- 
mare,  das  malerische  Vico  Equense,  endlich  Meta  und  Sorrent, 
beide  auf  einer  jäh  abstürzenden  Höhenstufe ,  hinter  der  sich  ein 
Kranz  höherer  Berge  herumschhngt.  Zuletzt  endigt  die  Sirenen- 
halbinsel noch  mit  einem  aufsteigenden  Gipfel  und  einem  scharf 
gezeichneten  Vorgebirge.  Dann  folgt  eine  Meerenge  und  zuletzt 
Capri,  von  der  Abendsonne  getroffen,  dass  die  Häuser  des  Haupt- 
ortes auf  halber  Höhe,  wie  die  am  Landungsplatz  oder  an  der 
Marine,  hell  aufleuchten.  Die  Insel  selbst  ist  fast  gänzlich  in 
wonniges  Blau  getaucht,  und  nur  wo  das  Licht  die  Abhänge  gün- 
stig trifft,  schimmert  noch  ein  zartes  Grün  hindurch.  Die  anmuth- 
vollen  Formen  dieser  Insel,  die  nichts  anderes  ist ,  als  die  Fort- 
setzung der  Sorrenter  Kette,  ihr  schroffes  Aufsteigen  aus  dem 
Meere  ohne  Zungen  oder  sichtbaren  Strand,  die  unvergleichlichen 
Linien  und  Umrisse  des  kleinen  Hochlandes,  mit  einer  aufgesetz- 
ten Bergkette  nach  dem  weiten  Meere  herabfallend,  verleihen  Capri 
einen  eigenthümlichen  Zauber,  denn  es  fehlt  ihm  nichts  von  den 
gepriesenen  Reizen  der  atlantischen  Inseln  an  der  Westküste  von 
Schottland,  nur  dass  diese  gar  zu  oft  in  ossianische  Regenschleier 
eingehüllt  sind,  während  auf  Capri  feurige  Trauben  von  den 
Gluthen  einer  südlichen  Sonne  gezeitigt  werden.  Während  wir 
verloren  an  dem  Anblick  haften,  nähert  sich  der  Insel  auf  hoher 
See  ein  Dampfer.  So  meinten  wir  nämlich,  denn  bald  nachher 
hatte  er  sie  zur  Linken  gelassen,  um  einem  uns  unerreichbaren 
Ziel,  nämlich  Palermo,  zuzustreben. 


5i8 


Ferienreisen. 


Wenn  wir  das  so  eben  Geschilderte  uns  eingeprägt  und  dann 
uns  heimbegeben  hätten,  so  wären  wir  nicht  bloss  belohnt  gewe- 
sen für  den  Weg  auf  einen  so  geringen  Höhenpunkt  von  1400 
Fuss,  sondern  selbst  eine  weite  Reise  wäre  würdig  beschlossen 
worden.  Aber  noch  sind  gar  nicht  alle  Herrlichkeiten  von  Ca- 
maldoli  aufgezählt.  Wir  stellen  uns  vielmehr  jetzt  so ,  dass  wir 
dem  Vesuv  beinahe  den  Rücken  kehren,  dann  bleibt  uns  Capri 
hnks,  und  auf  dieses  folgt  das  freie  Mittelmeer,  vor  und  unter  uns 
aber  liegt  als  zweiter  Arm  des  Golfes  eine  vulkanische  Landschaft,  die 
berühmten  phlegräischen  Gefilde,  die  nicht  bloss  als  Merkwürdigkeit, 
sondern  durch  neue  Reize  uns  fesseln.  Der  Garten  der  Carthäuser 
selbst  ist  nur  der  höchste  Punkt  am  Rande  eines  schon  stark  ver- 
wischten, auf  der  Karte  besser  als  in  der  Landschaft  sichtbaren 
Kraters.  Es  folgen  dann  noch  in  massiger  Entfernung  nach  und 
neben  einander  der  Astroni,  der  Monte  Barbaro,  die  Solfatara  und 
der  jüngste  von  allen,  der  Monte  Nuovo,  sämmtlich  an  ihren 
Becheröffnungen  als  Vulkane  kenntlich.  Ferner  liegt  ein  alter,  aber 
seiner  kreisförmigen  Gestalt  schon  beraubter  Kratersee,  nämlich 
der  von  Agnano,  unter  uns  in  der  Nähe  der  Küste.  Hinter  dieser 
Gruppe  setzt  sich  das  Gestade  in  ungewöhnlicher  Gliederung  fort. 
Gegen  Westen  zu  liegt  hinter  dem  blitzenden  Strand  eine  Kette 
von  Seen  oder  Lagunen,  darunter  der  Lago  dell  Fusaro.  Links 
schliessen  sich  aber  an  sie  die  Umrisse  des  Golfes  von  Bajä  oder 
von  Pozzuoli,  wie  ihn  einige  Karten  nennen.  Die  Küste  krümmt 
sich  hier  fast  sichelförmig,  und  theilt  sich  an  der  Spitze  wiederum 
in  zwei  Finger,  auch  bestehen  diese  Gliederungen  keineswegs  aus 
flachen  Landzungen,  sondern  sind  selbst  wieder  mit  selbstständig 
aufsteigenden  Höhen  besetzt,  wie  diejenigen  mit  dem  Castell  von 
Bajä  und  wie  das  Vorgebirge  Miseno,  ein  einsamer  Felsen ,  nur 
durch  eine  ganz  dünne  Sandenge  ans  Land  befestigt.  Vor  dem 
andern  Hörn  des  Golfes  von  Bajä,  da,  wo  der  Abhang  des  Posilip 
sich  zum  Meere  senkt,  liegt  die  kleine  halbmondförmige  Insel  Ni- 
sita,  wahrscheinhch  ein  beschädigtes  altes  Kratergerüste,  jetzt  mit 
einer  malerischen  Veste  besetzt.  Ausserhalb  des  Golfes  über  Gap 
Miseno  hinaus  folgen  die  Schwesterinseln  Procida  und  dahinter 
Ischia.  Von  Camaldoli  aus  war  bei  der  Abendbeleuchtung  nicht 
deutlich  wahrnehmbar,  dass  Procida  und  Ischia  zwei  getrennte 
Körper  seien,  denn  Procida  mit  seinen  Anhöhen  verdeckt  die 
Wasserenge,    die    es    von  Ischia    absondert.     Ischia    selbst    besitzt 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  5  I Q 

nicht  ganz  so  schöne  Kammlinien  wie  Capri,  immerhin  sind  aber 
seine  Umrisse  höchst  gefällig,  doch  würde  sein  höchster  Gipfel, 
der  Epomeo,  zu  dem  es  sich  zuspitzt,  obgleich  er  noch  im  Jahre 
1302  thätig  gewesen  war,  gewiss  nicht  an  seiner  Gestalt  allein  als 
unzweifelhaft  vulkanisch  erkannt  werden.  Rechts  von  Ischia,  also 
gegen  Westen  und  am  Meereshorizont  verloren,  tauchen  noch 
duftig  die  ponzischen  Inseln  auf,  von  denen  zwei  deutlicher,  eine 
dritte  nur  schwierig  zu  erkennen  war.  Hinter  ihnen  hätte  die 
Sonne  sinken  und  sie  als  dunkle  scharfe  Gestalten  auf  der  Abend- 
glorie erscheinen  lassen  sollen.  Am  westlichen  Horizont  lagerte 
aber  eine  spinnenwebfarbige  Dunstbank,  und  als  die  Sonne  hinter 
diesen  Schleier  trat,  ermattete  auch  der  lebhafte  Glanz  der  Land- 
schaft. Hatten  wir  aber  auch  jenes  namenlos  holde  Stück  Erd- 
boden nicht  in  seiner  höchsten  Verklärung ,  erwärmt  durch  das 
scheidende  Licht,  gesehen,  so  hatten  wir  doch  hinreichend  befrie- 
digendes genossen,  um  von  der  freundlichen  Abgeschiedenheit  des 
Klostergartens  heiter  erregt,  fast  ausgelassen,  den  Rückweg  an- 
zutreten. 

Ueber  solche  Bilder  und  Schönheiten  vergisst  man  völlig  alle 
sonstigen  Widerwärtigkeiten,  man  gesteht  sich  etwas  schöneres 
nicht  gesehen  zu  haben,  man  fragt  sich  sogar,  ob  es  noch  über- 
boten werden  könne.  Ganz  ähnlich  wirkt  ein  zweiter  Aussichts- 
punkt in  der  Nähe  von  Neapel,  an  dem  aber  die  meisten  Tou- 
risten vorübereilen.  Beim  Besuch  der  Grotten  von  Curaä,  der 
Grotte  der  Sibylle  am  Averno  See,  sowie  der  sogenannten  Bäder 
des  Nero  und  Bajas,  bringen  die  Führer  oder  die  Vetturini  ihre 
Miethherren  bis  zu  der  abgesperrten  Seefläche  des  Mar  Morto, 
zeigen  ihnen  die  Felsen  des  Vorgebirges  Miseno  und  kehren  dann 
mit  ihnen  um.  Reichlich  lohnt  es  sich  aber,  möchte  selbst  die 
Mittagssonne  vielleicht  lästig  zu  werden  drohen,  auf  das  Vor- 
gebirge selbst  hinaufzusteigen,  das  in  drei  Viertelstunden  sich  er- 
reichen läs.st.  Dort  oben  steil  über  der  See  am  äussersten  Hörn 
des  Golfes  von  Bajä,  ist  die  Rundsicht  unbeschränkt.  Neapel 
entzieht  sich  zwar  hinter  dem  Posilip  dem  Beschauer  gänzlich, 
nicht  einmal  Portici  ist  sichtbar,  wohl  aber  die  andern  Vesuv- 
stääte:  Resina,  Torre  del  Greco  und  Torre  del  Annunziata, 
ausserdem  aber  befindet  man  sich  Pozzuoli  gegenüber  und  hat 
Bajä  mit  seinen  römischen  Tempelruinen  gerade  unter  sich.  Vor 
Camaldoli  besitzt  das  Cap    den   Vorzug,    dass  man   sich    auf  ihm 


520 


Ferienreisen. 


den  beiden  Inseln  Procida  und  Ischia  am  meisten  zu  nähern  ver- 
mag, und  nun  deutlich  wahrnimmt,  dass  beide  durch  einen  Mee- 
resarm von  einander  abgesondert  werden. 


III. 

(Ausland    1869.     Nr.  27.     3.  Juli.) 

Vielleicht  erinnert  sich  ein  günstig  gesinnter  Leser  dieser 
Wochenschrift,  dass  der  Verfasser  im  Jahr  1865  eine  Ferienreise 
nach  dem  Mittelmeer  geschildert  hat.  Damals  lag  ihm  daran, 
die  beiden  in  Südeuropa  verbreiteten  Palmenarten  im  Freien 
wachsen  zu  sehen.  Diessmal  betrachtete  er  es  als  höchste  Auf- 
gabe über  vulkanischen  Boden  zu  wandeln.  Den  Vesuv  zu  be- 
steigen, in  die  Krater  des  Albanergebirges  zu  schauen,  vom 
Montenuovo  sowie  von  der  Solfatara  ein  lebendiges  Bild  heimzu- 
bringen, endlich  womöglich  den  Finger  in  die  Bohrlöcher  der 
Miessmuscheln  an  den  Säulen  des  Serapistempels  zu  legen,  waren 
für  ihn  Dinge,  die  gewissenhaft  erledigt  werden  mussten,  und  zur 
Bestürzung  von  Kunst-  und  Alterthumsschwärmern  hatte  er  im 
Scherz  geäussert,  Rom  werde  er  nur  als  eine  Eisenbahnstation  auf 
der  Reise  nach  Neapel  betrachten.  Aus  dem  Scherze  wurde  aber 
Ernst,  denn  als  er  von  Florenz  aus  mit  dem  Nachtzuge  die  ewige 
Stadt  um  neun  Uhr  Morgens  just  an  einem  der  drei  grossen  Tage 
erreichte,  an  denen  der  Papst  dem  versammelten  Volke  seinen 
Segen  spendet,  obgleich  von  der  Bahn  aus  sichtbar  war,  dass 
vom  Lateran  eine  Fahne  bedeutungsvoll  wehte,  ja  dass  schon  ein 
Segeltuch  über  der  Loggia  ausgespannt  war,  von  der  aus  die  feier- 
liche Spende  zu  erfolgen  pflegt,  sollte  Rom  vorläufig  doch  nur 
eine  Raststelle  zum  Frühstücken  bleiben.  Sehr  viele  ziehen  es 
vor,  fremde  Städte  an  Tagen  ungewöhnlicher  Aufregung  zu  be- 
treten. Ob  sie  klug  handeln,  lässt  sich  bestreiten,  und  wir  möch- 
ten nur  hinzufügen,  dass  ein  hochgeschätzter,  in  Rom  seit  20 
Jahren  weilender  deutscher  Künstler  uns  ermahnte ,  wir  möchten 
allen  Landsleuten  dringend  abrathen,  die  ewige  Stadt  gerade  um 
die  Osterfeste  zu  besuchen,  eben  wegen  des  jährlich  unerträglicher 
werdenden  Zusammenströmens  von  Fremden,  welche  zu  jener  Zeit 
völlig  die  ruhige  und  wahre  Physiognomie  der  Stadt  verändern. 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  ^21 

Unsere  Besteigung  des  Vesuvs  wurde  von  Resina  aus  um 
7  Uhr  Morgens  begonnen.  Der  oft  geschilderte  Weg  führt  zuerst 
aufwärts  zwischen  Weinbergen ,  hinter  deren  Mauern  die  Reben 
mit  den  Christusthränen  wachsen,  endlich  ins  Freie  über  den  Lava- 
strom des  Jahres  1858,  dessen  Breite  und  Mächtigkeit  alle  Er- 
wartungen überstieg.  Aeltere  wie  jüngere  Ströme  und  Bäche,  die 
nördlicher  aus  dem  Atrio  del  cavallo  herabflossen,  haben  sich  mit 
dem  obigen  Erguss  später  vereinigt,  so  dass  zwischen  ihnen  ein- 
geschlossen als  grünende  Insel  nur  ein  schmaler  noch  ^  erschonter 
Höhenrücken  aufragt,  dessen  Tage  aber  gezählt  sind,  wenn  sich 
der  Vesuv  nicht  wieder  eines  bessern  besinnt,  wie  in  den  Jahr- 
hunderten seiner  Erstarrung  vor  dem  Jahr  79  unserer  Zeitrechnung. 

Auf  jener  bedrohten  Oase  mitten  zwischen  den  Laven  Hegt 
das  Observatorium,  dessen  gefälUger  Hüter  die  Beobachtungsjour- 
nale führt,  und  den  einsprechenden  Besuchern  eine  völlig  fass- 
liche Beschreibung  der  aufgestellten  Instrumente  gewährt.  Er 
führt  uns  zunächst  in  einen  untern  Raum ,  um  uns  zu  zeigen, 
dass  der  scheinbar  beruhigte  Berg  noch  immer  leise  aufathmet. 
Diese  Bewegung  wird  auf  dreierlei  Wegen  zur  Wahrnehmung  ge- 
bracht. An  einem  Tisch  in  der  Mitte  des  Zimmers  befinden  sich 
drei  Fernrohre,  die  nach  drei  entfernten  Instrumenten  speichen- 
artig gerichtet  sind.  Das  erste  ist  ein  wagrecht  schwebender 
Magnet  oder  eine  Compassnadel ,  wenn  diess  deutlicher  klingen 
sollte.  Das  zweite  ist  eine  Magnetnadel,  die  sich  in  senkrechter 
Ebene  bewegt  (Inclinationsnadel) ,  das  dritte  ist  eine  frei  schwe- 
bende Stahlnadel,  die  durch  zwei  Magnete  von  gleich  abgewogenen 
Kräften  in  einer  beabsichtigten  Richtung  festgehalten  werden  soll. 
Durch  Spiegel  wird  das  Bild  der  Nadelspitzen,  die  sich  vor  einer 
Scala  von  sehr  feinen  Theilstrichen  befinden,  in  die  Fernrohre  ge- 
worfen, und  durch  diese  gewahren  wir,  dass  jene  Spitzen  bestän- 
dig, jedoch  gleichmässig ,  etwa  mit  der  Geschwindigkeit  eines  Se- 
cundenpendels  oder  noch  ruhiger  um  einen  mittleren  Theilstrich 
hin-  und  herschwanken.  Wird  ihre  Bewegung  heftiger  und  tritt 
namentUch  eine  starke  Ablenkung  der  nicht  magnetischen  Nadel 
ein,  so  telegraphirt  der  Hüter  nach  Neapel  an  Prof.  Palmieri  — 
denselben  Palmieri,  der  die  Bulletins  über  das  Betragen  des  Vesuvs 
zu  verfassen  pflegt  —  und  dieser  eilt  herbei  in  der  sichern  Er- 
wartung grösserer  Dinge.  Vom  Erdgeschoss  besteigen  wir  den 
Thurm,  in  dessen  höchstem  Zimmer  die  Erdbebenbeschreiber  auf- 


522 


Ferienreisen. 


gestellt  sind').  Die  äusserst  einfachen  und  eben  desswegen  sinn- 
reichen, oder,  wie  man  auch  zu  sagen  pflegt,  eleganten  Werkzeuge 
sind  eine  italienische  Erfindung.  Als  sinnliche  Wesen  sind  wir 
Menschen  für  strenge  Beobachtungen  sehr  untaugliche  Geschöpfe. 
Wir  sehen,  hören  und  fühlen  nicht  scharf  genug,  ja  was  noch  viel 
schlimmer  ist,  wir  täuschen  uns  nur  zu  gern  über  unsere  Wahr- 
nehmungen. So  ständen  wir  höheren  Aufgaben  hoffnungslos 
gegenüber,  wenn  wir  uns  nicht  von  Vorrichtungen  vertreten  lassen 
könnten ,  die  wir  selbst  erdacht  und  zusammengesetzt  haben ,  die 
also  unsere  eigenen  Geschöpfe  sind.  Mit  Hülfe  unserer  Instru- 
mente nöthigen  wir  bildlich ,  ja  bisweilen  buchstäblich  der  Natur 
einen  Griffel  auf,  um  ihr  Thun  und  Treiben  eigenhändig  aufzu- 
zeichnen. So  soll  uns  ein  Erdstoss  zunächst  angeben,  zu  welcher 
Zeit  er  einen  Ort  erreichte,  dann  aus  welcher  Richtung  er  kam» 
und  wie  oft,  sowie  in  welchen  Zwischenräumen  er  sich  wiederholte. 
Ein  Chronometer  im  Thurm  des  Observatoriums  ist  daher  mit 
einem  elektrischen  Apparat  derartig  verbunden  worden ,  dass  jede 
merkliche  Erschütterung  des  Gebäudes  die  elektrische  Strömung 
in  Thätigkeit  setzt,  von  der  wieder  im  nämhchen  Moment  die 
Uhr  zum  Stehen  gebracht  wird.  Eine  andere  elektrische  Vor- 
richtung erstreckt  ihre  Herrschaft  auf  eine  Bleifeder,  und  nöthigt 
sie,  so  oft  ein  Stoss  erfolgt,  auf  einem  vor  ihr  abrollenden 
Papierstreifen  einen  Punkt  zu  hinterlassen.  Die  Geschwindigkeit 
des  Abrollens  wird  durch  ein  Uhrwerk  in  genauem  Gang  erhalten, 
so  dass  die  Abstände  der  Punkte  auf  dem  Papierstreifen  die  Zeit- 
zwischenräume von  einem  Stoss  zum  nächsten  berechnen  lassen. 
Ferner  wird  die  Richtung,  von  welcher  der  Stoss  gekommen  war, 
von  zwei  andern  unparteiischen  Beobachtern  aufgezeichnet.  Man 
denke  sich  eine  tellerförmige  Vertiefung  und  am  Rande  des  Tellers 
wieder  nach  sechszehn  Himmelsrichtungen  sechszehn  kleine  Näpf- 
chen ausgehöhlt.  Füllen  wir  nun  den  Teller  bis  zum  Rande  mit 
Quecksilber,  so  jedoch,  dass  die  Näpfchen  gerade  noch  leer  bleiben, 
so  wird  jede  noch  so  leichte  seithche  Erschütterung  das  Queck- 
silber zum  Ueberfliessen  in  das  oder  in  diejenigen  Näpfchen 
zwingen ,  die  in  der  Richtung  angebracht  sind ,  von  welcher  der 
Stoss  kam.     War    er  also    ein   wagerechter,    so  vermögen  wir  aus 


i)  Vergl.    dazu    die  Beschreibung    des  Seismographen    in  Algier.     Ausland 
'867.     S.  355- 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  523 

der  Füllung  der  Näpfchen  genau  zu  sagen,  er  kam  aus  dieser  oder 
jener  Himmelsgegend.  Die  Erdstösse  erfolgen  aber  nicht  immer 
wagrecht,  sondern  sie  kommen  bisweilen  auch  senkrecht  aus  der 
Tiefe.  Für  solche  Aeusserungen  ist  wieder  ein  anderer  Beobachter 
aufgestellt.  Wir  haben  einen  kleinen  Galgen  aus  Messing  vor  uns. 
Vom  Galgen  hängt  ein  Metalldraht  herab ,  der ,  nach  unten  zu 
federartig  in  elastische  Spiralen  gewunden ,  einen  kleinen  magne- 
tischen Bolzen  trägt,  unter  dem  ein  Näpfchen  mit  Eisenstaub  steht. 
Der  geringste  Stoss  von  unten  her  hat  ein  Nachgeben  der  Draht- 
feder zur  Folge.  Der  Bolzen  wird  in  das  Näpfchen  tauchen  ,  die 
Eisenspäne  bei  seiner  Annäherung  an  sich  ziehen  und  diese  so 
lange  festhalten,  bis  der  herzueilende  Hüter  sie  wieder  abwischt. 
Sammler  wollen  wir  noch  benachrichtigen,  dass  sie  im  Observa- 
torium die  meisten  der  geschätzten  Mineralien  der  Somma  käuflich 
erwerben  können.  An  der  Somma  befinden  sich  ^;^  Mineralspecies, 
am  Vesuv  nur  vier.  Es  kann  auch  nicht  wohl  anders  sein,  denn 
die  Somma  ist  die  Mutter,  aus  deren  Schooss  der  heutige  Vesuv 
erwachsen  ist.  Der  Vesuv,  erst  1790  Jahre  alt,  ist  aber  noch  viel 
zu  jung,  als  dass  sich  schon  durch  Umbildungen  aus  seinen  Bau- 
stoffen mannigfaltige  Gesteinsarten  hätten  ausscheiden  können. 

Vom  Observatorium  tragen  uns  die  Rosse  in  zehn  Minuten 
fast  auf  ebenem  Saumpfade  in  das  Atrio  del  Cavallo.  So  heisst 
bekanntlich  das  Thal,  welches  zwischen  dem  heutigen  Vesuv  und 
dem  Kamm  des  ehemaligen  Somma- Kraters  sich  erstreckt,  und 
durch  welches  alle  Lavaströme  abfliessen  müssen ,  die  aus  dem 
nördlichen  oder  dem  östlichen  Quadranten  des  thätigen  Vulkans 
hervorbrechen.  Die  Wände  jenes  alten  Feuerschlundes  stürzen 
jäh  vor  uns  ab,  und  ihre  schroffen  Vorsprünge  wie  die  Zacken  im 
Walle  gewähren  prachtvolle  Umrisse.  An  dem  Punkte ,  wo  wir 
absitzen,  harren  Träger  mit  einer  Bahre  für  schwache  Bergsteiger, 
aber  heute  harren  sie  vergeblich,  denn  eine  Dame  und  ein  Herr, 
die  mit  uns  von  Resina  abgeritten  waren,  kehren  abgeschreckt 
um,  ohne  die  Besteigung  zu  versuchen,  wir  aber  vertrauten  unsem 
eigenen  Kräften.  Die  Pferde  haben  uns  bis  zu  einer  Höhe  von 
etwa  2200  Fuss  gebracht  und  der  Rand  des  Vesuvkraters  liegt 
noch  mehr  als  1500  Fuss  über  uns.  Ohne  Biegung  führt  der 
Pfad  stracks  aufwärts  über  Schlacken ,  die  ein  sicheres  Auftreten 
meist  verstatten.  Nur  an  seltenen  Stellen  artet  das  Steigen  in  ein 
Klettern  aus  oder  rutscht  der  Fuss  an  abgelösten  Brocken  zurück. 


524 


Ferienreisen. 


Ausser  dem  Führer  und  einem  Verkäufer  von  Lebensmitteln  folgen 
uns  anfangs  zwei,  später  nur  ein  freiwilliger  Begleiter.  Sie  erbieten 
sich  an  Schlingen,  in  die  wir  die  Hand  legen  sollen,  uns  den 
Abhang  hinauf  zu  ziehen.  Der  Führer  ermahnt  uns,  ihre  Dienste 
nicht  zu  verschmähen.  Wenigstens  für  die  Signora,  so  predigt  er 
unaufhörlich,  sollte  ein  solcher  Mann  gemiethet  werden,  zumal  er 
nur  drei  Franken  verlange.  ,,Herr",  setzte  er  hinzu,  „die  Dame 
könnte  krank  werden,  sie  könnte  ihrer  Gesundheit  schaden  und 
Sie  möchten  es  für  das  ganze  Leben  bereuen."  Der  Ermahnte 
kannte  jedoch  die  Signora  etwas  genauer,  er  war  mit  ihr  schon 
ein  Dutzendmal  in  den  Alpen  gewandert  bis  zum  und  über  den 
Firn,  und  zwar  bisweilen  zehn  Stunden  im  Tag,  so  dass  die  heu- 
tige Aufgabe  fast  ruhmlos  erschien.  Als  die  Bettelei  immer  lästiger 
wurde,  bemerkt  er  dem  Führer:  ,,Noch  ein  Wort  und  es  ist  um 
die  Bottiglia  (Trinkgeld)  geschehen."  Schwieg  der  Bedrohte  seit- 
dem standhaft,  so  begann  jetzt  der  übrig  gebliebene  Helfer  das- 
selbe Lied.  Endlich,  als  zwei  Drittel  des  Abhanges  unter  uns 
lagen,  gab  ihm  der  Verfasser  zu  bedenken,  dass  er  besser  thäte, 
seine  Schuhe  zu  schonen,  da  er  das  Fruchtlose  seiner  Bemühungen 
jetzt  doch  einsehen  müsse.  Wirklich  nahm  er  auch  Abschied  und 
wünschte  uns  treuherzig  eine  glückUche  Reise.  Nach  Ablauf  von 
etwas  mehr  als  einer  Stunde  hatten  wir  das  erreicht.,  was  wir  von 
unten  für  den  Rand  des  Kegelschlundes  hielten,  um  einmal  einen 
trefflichen  Ausdruck  Goethe's  statt  des  herkömmlichen  Fremd- 
wortes zu  gebrauchen.  Der  Krater  selbst  iwar  indessen  noch 
keineswegs  erstiegen,  sondern  nur  ein  Stufenabsatz,  auf  dem  sich 
erst  der  Aschenkegel  erhob.  Zum  Schutze  gegen  den  Wind  beim 
Niedersitzen  stehen  dort  drei  niedere  Mauern  aufgerichtet  und  die 
Führer  versuchen  fast  stets,  zur  Abkürzung  ihrer  Anstrengungen, 
den  Fremden  vorzuspiegeln,  dass  die  Besteigung  des  Aschenkegels 
mit  Gefahren  verbunden  sei,  zumal  man  dort  die  Dampfwolken, 
welche  der  Krater  ausstösst,  dicht  über  sich  hat.  Der  Träger  der 
Lebensmittel  hätte  gern  das  gewissenlose  Kunstmittel  angewendet, 
doch  war  der  Führer  verständig  genug,  mit  den  Worten:  Non 
hanno  paura  (die  lassen  sich  nicht  abschrecken)  unnützen  Erör- 
terungen vorzubeugen.  Die  Besteigung  des  Aschenkegels  ermüdet 
sehr  stark,  weil  man  in  dem  losen  Schutt  immer- bis  über  die 
Knöchel  einsinkt.  Wie  rasch  man  hinaufkommt,  hängt  hauptsäch- 
lich von  dem  eigenen  Körpergewicht   ab,    und   wenn  hinzugesetzt 


Eine  Ferienreise  über  den   Apennin.  525 

wird,  dass  der  Verfasser  in  zehn  Minuten  oben  war,  so  darf  be- 
ruhigt daraus  geschlossen  werden ,  dass  er  für  Besteigung  von 
Aschenkegeln  von  der  Natur  sehr  begünstigt  worden  sei. 

Hart  am  Rande  des  Kraters,  der  nach  innen  zu,  soweit  er 
uns  sichtbar  wurde,  schroff  hinunter  fiel,  setzten  wir  uns  in  die 
weiche  Asche  nieder,  die  so  warm  war,  dass  durch  handbreites 
Einscharren  Eier  nach  zwei  Minuten  schon  bis  zum  Gerinnen 
ihres  Weissen  gebracht  werden  konnten.  Das  Reiten  und  Steigen 
hatte  die  Esslust  geschärft,  und  noch  jetzt  erinnert  sich  der  Er- 
zähler mit  Nachgenuss,  wie  treffhch  ihm  jenes  einfache  Frühstück 
sammt  dem  süssen  goldenen  Vesuvwein,  den  der  Verkäufer  für 
Christusthränen  ausgab,  geschmeckt  habe.  Hart  hinter  unserm 
Rücken  wirbelten  die  weissen  Dämpfe  auf,  und  da  es  ziemlich 
kalt  war,  hätten  wir  ihre  Wärme  gern  willkommen  geheissen,  wenn 
nicht  zugleich  ein  scharfer  Geruch  von  Chlorgas  und  der  widerliche 
von  Schwefelverbindungen  uns  dabei  lästig  gewesen  wäre.  Der 
Krater  selbst  blieb  uns  verhüllt,  denn  der  aufwirbelnde  Dampf 
war  so  dicht,  dass  er  schon  auf  fünf  Schritt  alles  verbarg.  Nur 
hin  und  wieder  wurden  vor  uns  die  Abhänge  gelüftet  und  waren 
dann  bis  auf  40  Fuss  Tiefe  entblösst,  jäh  sich  senkend,  tief  aus- 
gefurcht, und  dabei  citron-  bis  Chromgelb  gefärbt  von  angeblühtem 
Schwefel.  Auf  dieses  Schauspiel  hätte  der  Verfasser  aber  gern 
verzichtet,  wenn  dafür  der  Krater  sichtbar  gewesen  wäre,  denn 
viel  leichter  stellt  man  sich  einen  leeren  Krater  mit  Dampf  erfüllt 
vor,  als  einen  dampferfüllten  leer. 

Unterrichtend  war  daher  unsere  Besteigung  des  Vesuvs  nur 
insofern,  als  jetzt  die  angeschaute  Wirklichkeit  an  die  Stelle  der 
Bilder  trat.  Uebrigens  zieht  weit  mehr  die  Somma,  als  der  Vesuv 
die  Blicke  der  Fachmänner  auf  sich.  Die  Somma  ist  aber  von 
den  Gelehrten  Neapels  so  gründlich  erforscht  worden,  dass  selbst 
Sir  Charles  Lyell  bei  seinem  letzten  Verweilen  nichts  besseres 
thun  konnte,  als  sich  der  Führerschaft  eines  Guiscardi  völlig  zu 
überlassen.  Bekanntlich  gehört  die  Somma  zu  den  Trümmern  von 
Feuerbergen,  die  Leop,  v.  Buch  als  Erhebungskrater  unterschieden 
wissen  wollte  von  den  Auswurfskratern.  Der  Bildung  vieler  Feuer- 
berge, so  meinte  er,  sei  zunächst  eine  Aufblähung  der  Erdschich- 
ten vorausgegangen,  bis  zuletzt  die  domförmige  Wölbung  an  ihrer 
Kuppel  von  den  Gasen  aufgesprengt  wurde  und  ein  Theil  der 
Decke    „in   die   hohle  Achse   der  Erhebung"    hinabstürzte.     Nicht 


526 


Ferienreisen. 


bloss  auf  Erden  hätte  sich  die  Entstehung  auf  diese  Weise  zuge- 
tragen, sondern  die  Ringberge  oder  Bergringe  an  der  Oberfläche 
des  Mondes  sollten  durch  ihren  Bau  den  gleichen  Hergang  bezeu- 
gen. Schon  vor  mehr  als  dreissig  Jahren  widerlegte  aus  seinen 
Beobachtungen  auf  den  Canarien  Sir  Charles  Lyell  diese  Anschau- 
ung, indem  er  die  sogenannten  Erhebungskrater  genau  so  wie  die 
Auswurfskrater  durch  abwechselndes  Ueberfliessen  von  Lava  und 
Aufschütten  von  Schlacken  und  Asche  entstehen  hess.  Sir  Charles, 
unter  den  jetzigen  Geologen  pontifex  maximus  und  Begründer  der 
gegenwärtig  herrschenden  Schule  ,  erhielt  von  allen  Fachmännern 
unter  allen  Himmelsstrichen  die  Bestätigung  dieser  Sätze ,  und  nur 
in  Deutschland  wie  in  Frankreich  wollen  sich  vereinzelte  wissen, 
schaftliche  Grössen  von  der  alten  Lehre  nicht  gänzlich  lossagen. 
Zu  diesen  gehört  auch,  oder  gehörte  wenigstens  noch  im  Jahr  1858, 
ein  deutscher  Geolog ,  der  ein  mit  Recht  sehr  hochgeschätztes 
Lehrbuch  verfasst  hat ,  worin  er  noch  einmal  versucht ,  die  Ver- 
muthung  unseres  Leopold  v.  Buch  zu  retten.  Es  Hess  sich  von 
vornherein  vermuthen,  wenn  es  nicht  der  Augenschein  ergäbe,  dass 
das  Gerüst  oder  der  Kegelschlund  unter  dem  glühenden  Herd 
eines  Vulkans  viele  Erschütterungen  erleiden,  und  dass  sich  Risse 
oder  Klüfte  in  seinen  Wänden  bilden  müssen.  Solche  Risse 
werden  bei  alten  vielfach  erschütterten  Feuerbergen  sehr  zahlreich 
auftreten,  allein  die  meisten  von  ihnen  erscheinen  so  wenig  mächtig 
im  Vergleich  zum  Krater  selbst,  dass  sie,  von  weitem  gesehen, 
etwa  sich  mit  den  Sprüngen  in  einer  Mauer  vergleichen  lassen. 
Die  Sprünge  blieben  jedoch  nie  unausgefüUt,  sondern  zwischen 
ihren  Wänden  stiegen  geschmolzene  Felsarten  aus  dem  Feuerherd 
empor,  bis  sie  am  äussern  Abhang  irgend  einen  Ausweg  erreichten, 
um  als  Lavabäche  ins  Freie  durchzubrechen.  Erreichten  sie  einen 
Ausweg  nicht,  so  erstarrten  sie  zwischen  den  Klüften  und  bildeten 
dann  das ,  was  die  Bergleute  und  Geologen  einen  Gang  nennen. 
Diese  Gänge  verbreiten  sich  strahlenförmig  von  der  Mitte  des 
Schlundes  durch  den  Kratermantel  und  sind  verglichen  worden 
mit  den  sternförmigen  Sprüngen  (dtoilement)  einer  Fensterscheibe 
oder  einer  Eisdecke.  Sowohl  senkrecht  von  unten  nach  oben,  als 
auch  vom  innern  Mittelpunkt  nach  dem  Umfang  des  aufgehäuften 
Kraters  verlieren  sie  an  Mächtigkeit  und  endigen  wie  zugeschärfte 
Klingen.  Wenn  man  sich  daher  diese  Gangausfüllung  aus  der 
Somma    mit    einem   Ruck    sämmtlich    herausgezogen    dächte ,    so 


Eine  Ferienreise   über  den  Apennin.  527 

müsste  der  Berg  um  einen  gewissen  Betrag  einsinken  und  seine 
aufgerichteten  Schichten  würden  nur  noch  einen  sanften  Abhang 
bilden  können.  Die  Aufrichtung  wäre  demnach  wesentlich  nur 
durch  das  Eintreiben  jener  keilförmigen  Gangausfüllungen  bewirkt 
worden. 

Ueber  diese  von  Lyell  bestrittene  Ansicht  hoffte  nun  der 
Verfasser  auf  dem  Vesuv  selbst  zur  Klarheit  zu  gelangen.  Scharf 
und  deutlich  lagen  ihm  die  inneren  Abstürze  des  Somma-Kraters 
gegenüber ,  ebenso  liessen  sich  etliche  der  senkrecht  aufsteigenden 
Gänge,  jedoch  nur  die  mächtigeren  darunter,  erkennen,  denn  die 
vielen  dünnen  mussten  bei  der  grossen  Entfernung  verschwinden  ^). 
Die  wenigen  sichtbaren  jedoch  erweckten  durchaus  nicht  den  Ein- 
druck, als  käme  ihnen  an  der  Aufrichtung  der  Schichten  irgend 
ein  merkliches  Verdienst  zu.  Nicht  die  Somma  allein,  auch  der 
junge  Vesuv  zeigt  schon  ausgefüllte  Spalten,  und  zwar  waren 
deren  1828  im  Innern  des  Kraters  sieben  sichtbar,  von  denen 
Lyell  jedoch  nur  drei  wahrnehmen  konnte.  Diese  Gänge  zu  be- 
trachten, war  der  Wunsch  und  die  Absicht  des  Verfassers  gewesen, 
aber  bei  der  Ausfüllung  des  Kraters  mit  Wasserdämpfen  musste 
dieser  Zweck  der  Vesuvbesteigung  als  gänzlich  verfehlt  betrachtet 
werden.  Uebrigens  bedarf  es  kaum  des  Sehens ,  um  sich  sagen 
zu  können ,  dass  eine  so  geringe  Anzahl  von  Gängen  schwerlich 
die  Aufrichtung  des  Kegels  erheblich  gefördert  haben  könne,  und 
da  wir  vom  Vesuv  wissen,  dass  er  aufgeschüttet  worden  sei, 
warum  wollen  wir  von  der  Somma  annehmen,  sie  müsse  durch 
Gangausfüllungen  emporgetrieben  worden  sein? 

Was  die  Aussicht  vom  Kraterrande  betrifft,  so  enthält  sich 
der  Verfasser  eines  Urtheiles,  denn  die  Luft  war  nicht  rein,  sondern 
Wolkenmassen  verhüllten  bald  den  einen ,  bald  den  andern  Theil 
des  Golfes ,  so  dass  nur  stückweise  seine  Schönheiten  aufgerollt 
wurden.     Jedenfalls    wird    demjenigen ,    der   auf  dem  Vesuv   steht, 


i)  Der  Abstand  der  Somma  vom  heutigen  Trichterrand  des  Vesuv  beträgt 
nicht  ganz  zwei  Kilometer,  aber  gewiss  V*  deutsche  Meile.  Goethe's  Bericht 
von  seiner  Vesuvbesteigung  ist  daher  ganz  unverständlich,  denn  er  verbirgt  sich 
unter  einem  vorspringenden  Felsen  der  Somma  vor  einem  Stein-  und  Schlacken- 
regen und  eilt  dann  in  zehn  Minuten  bis  an  den  Rand  des  Vesuvkraters. 
Offenbar  ist  das ,  was  er  als  Somma  bezeichnet ,  nicht  das  Gebirge ,  welches 
alle  Welt  jetzt  darunter  versteht,  während  zu  Strabo's  und  Plinius'  Zeiten 
wiederum  die  heutige  Somma  Vesuvius  hiess. 


528 


Ferienreisen. 


dieser  selbst  zum  Vordergrunde  und  fehlt  also  dem  Fernblick. 
Als  Vordergrund  aber  bietet  er  nur  ein  Gemälde  unerfreulicher 
Verwüstung,  daher  als  Aussichtspunkt  der  Vesuv  nur  denen  em- 
pfohlen werden  sollte,  welche  alle  besser  gewählten  Standorte  schon 
besucht  haben.  Nach  Bädekers  Reisehandbuch  (engl.  Ausgabe 
von  1867)  sollte  man  vom  Gipfel  in  einem  Aschenfelde  wieder 
nach  dem  Atrio  hinabgelangen  können ,  allein  der  jüngste  Lava- 
Erguss  vom  Jahre  1868  hat  dieses  Aschenfeld  abgeschnitten,  und 
zum  Atrio  hinab  könnte  man  jetzt  nur  gelangen,  wenn  man  am 
rauhen  Schlackenkegel  abwärts  kletterte,  was  gewiss  nicht  rathsam 
ist,  weil  man  sich  leicht  eine  Beschädigung  am  Fusse  zuziehen 
könnte,  die  grösste  Widerwärtigkeit,  die  gerade  einen  Reisenden 
betreffen  kann.  Wir  gingen  daher  in  einem  andern  Aschenfelde 
am  Hnken  Ufer  des  Lavastromes  vom  Jahre  1858  abwärts.  Es 
geschieht  diess  fast  so  geschwind,  wie  im  Gebirge  an  Schneeab- 
hängen ,  nur  sinkt  man  bei  jedem  Schritt  weit  über  die  Knöchel 
in  die  lockere  und  erwärmte  Asche,  die  in  Wolken  aufstiebt,  durch 
die  Kleider  eindringt  und  sich  auf  der  Haut  festsetzt.  Mitten  in 
diesem  Aschenfelde  gelangten  wir  zu  einem  vulkanischen  Trichter, 
der  sich  wenige  Monate  zuvor  gebildet  hatte.  Ein  kegelförmiger 
Schlund  von  höchstens  drei  Klafter  Breite  senkte  sich  jäh  vor 
uns,  nach  Versicherung  des  Führers  40 — 50  Fuss  tief,  eine  An- 
gabe, die  wir  jedoch  nicht  zu  bestätigen  vermochten,  da  weiter 
unten  der  aufwirbelnde  Dampf  alles  unsern  BUcken  verbarg. 

Der  Vesuv  ist  nicht  die  einzige  vulcanische  Merkwürdigkeit 
in  der  Nähe  Neapels,  sondern  ihm  gegenüber  liegt  auf  Ischia  der 
Epomeo,  der  zu  den  thätigen  Feuerbergen  gezählt  werden  muss, 
da  sein  letzter  Auswurf  1302  erfolgte.  Noch  auf  dem  Festlande 
westlich  vom  Vesuv  und  nordöstlich  vom  Epomeo  lagert  ferner 
eine  ganze  Brüderschaft  kleiner  Kegelschlünde  auf  den  bekannten 
phlegräischen  Feldern,  denn  dort  haben  sich  die  Ausbrüche  in 
kleinen  Versuchen  zersplittert,  anstatt  etwas  Grosses  aufzurichten, 
wie  Vesuv  oder  Epomeo.  Der  Weg  zu  ihnen  führt  am  südwest- 
lichen Ende  der  Stadt  Neapel  durch  die  „Grotte"  des  Posilip. 
Die  italienische  Sprache  hat  für  alle  Hohlräume  in  Gebirgen 
künstlichen  oder  natürlichen  Ursprungs  nur  das  Wort  grotta.  Es 
ist  daher  gedankenlos  und  führt  jeden  Leser  in  die  Irre,  wenn 
wir  im  Deutschen  nicht  je  nach  den  F^rfordernissen  mit  den  Aus- 
drücken   wechseln.      Unter    Grotte    verstehen    wir    eine    Bergaus- 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin,  520 

höhlung,  in  die  das  Tageslicht  noch  bequem  hereinschaut,  unter 
Höhle  einen  leeren  Raum  in  Bergmassen ,  in  den  nur  wenig  oder 
gar  kein  Licht  eindringt.  Wollte  man  selbst  diesen  Unterschied 
nicht  gelten  lassen  und  Grotte  wie  Höhle  als  gleichbedeutend  ge- 
brauchen ,  so  wird  doch  sicherlich  ein  künstlich  angelegter  Gang 
durch  Erdschichten  oder  Gestein ,  wenn  er  senkrecht  führt ,  ein 
Schacht,  wenn  er  wagrecht  verläuft,  ein  Stollen  bei  den  Bergbauten, 
bei  Eisenbannen  aber  ein  Tunnel  genannt.  Wenn  also  Leser  von 
den  Grotten  Cumä's,  des  Posilip,  des  Sejan  und  der  Sibylle  hören, 
so  hätte  es  statt  dessen:  Tunnel  des  Posilip,  Tunnel  der  Sibylle, 
Tunnel  von  Cumä  u.  s.  w.  heissen  sollen.  Der  Tunnel  des  Posilip 
ist  ein  kilometerlanger  Bergdurchstich,  der  von  Neapel  nach  Poz- 
zuoli  führt.  Er  wird  mit  Gas  erleuchtet,  ist  so  breit,  dass  zwei 
Wagen  sich  bequem  ausweichen  können,  am  Eingang  80  Fuss 
hoch,  im  Innern  allmählich  niedriger  werdend  bis  zu  20  Fuss. 
Ganz  ähnlich  verhält  sich  der  Tunnel  von  Cumä  und  der  sibyl- 
linische  Tunnel ,  welche  letztere  jedoch  mit  Fackelbeleuchtung  be- 
treten werden  müssen,  weil  ihr  Boden  nicht  mehr  geebnet  erhalten 
wird.  In  früheren  Zeiten  muss  der  Tunnel  des  Posilip  als  Leistung 
menschlicher  Arbeit  jedem  Besucher  Bewunderung  abgerungen 
haben,  jetzt  sind  wir  völlig  verwöhnt  von  unsern  grossartigen  zehn- 
mal längern  Durchstichen,  und  erst  wenn  wir  uns  bewusst  werden- 
dass  jene  alterthümlichen  Aushöhlungen  von  den  Römern  ohne 
Anwendung  von  Pulver  nur  mit  dem  Meissel  und  nur  durch  Feuer 
setzen  zum  Mürbemachen  des  Gesteißs  ausgetrieben  worden  sind, 
können  wir  wieder  in  Staunen  gerathen.  Es  müssen  übrigens 
damals  die  phlegräischen  Gefilde  eine  dichtere  Bevölkerung  ernährt 
haben  als  gegenwärtig,  dass  so  viele  Durchstiche  für  ihre  Bedürf- 
nisse erforderhch  waren,  denn  heutigen  Tages  würden  die  Nea- 
politaner gewiss  den  Posihp  unversehrt  lassen,  um  ihren  Verkehr 
mit  den  Bewohnern  ,,vor  der  Grotte"  oder  Pozzuoli's  zu  erleichtern. 
Auf  dem  Wege  von  dem  letzteren  Orte  nach  der  Solfatara 
treten  wir  rechts  in  einen  geräumigen  bewohnten  Hof  und  stehen 
unvermuthet  auf  dem  Raum  des  berühmten  Serapis  -  Tempels. 
Sein  schönstes  Alterthum,  nämlich  die  sitzende  Jupiter  -  Serapis- 
Statue,  ist  nach  dem  (weiland  bourbonischen)  Museum  entführt 
worden,  sonst  ist  nichts  weiter  sichtbar  als  mehrere  umgeworfene, 
sowie  drei  aufrechte  Marmorsäulen  und  sonstige  andere  Bautrümmer. 
Ursprünglich    erhob  sich  dort    ein  Heiligthum,    dessen    viereckiges 

Peschel,  Abhandlungen.     II.  34 


^30  Ferienreisen. 

Dach  von  24  Säulen  aus  Granit  und  22  aus  Marmor  getragen 
wurde.  Eine  aufgefundene  Inschrift  bezeugt  uns ,  dass  das  Ge- 
bäude schon  im  Jahr  105  v.  Chr.  stand  und  dem  Dienste  des 
Serapis  geweiht  war.  Die  Sockel  der  Säulen  sind  gegenwärtig 
nicht  völlig  in  gleicher  Ebene  mit  der  Flur  des  Hofes,  doch  hat 
man  den  Boden  rings  um  sie  her  ausgegraben,  wodurch  jedoch 
das  Meerwasser  durch  Seitendruck  an  ihren  Fuss  gelangt  ist.  Als 
der  Tempel  gegründet  wurde,  muss  dagegen  der  Baugrund  immer- 
hin höher  als  der  Seespiegel  gelegen  haben.  Die  Kaiser  Septimius 
und  Alexander  Severus  beschenkten  den  Tempel  mit  kostbaren 
Marmorarbeiten  noch  bis  zum  Jahre  235  n.  Chr.  Nach  dieser 
Zeit  aber  senkte  sich  der  Boden  sammt  dem  Tempel,  und  die 
Säulen  wurden  gleichzeitig  eingehüllt  von  Schutt  und  vulkanischer 
Asche  bis  zu  einem  Drittel  ihrer  Höhe  über  dem  Sockel,  während 
das  nächste  Stück  des  Schaftes  noch  unter  den  Seespiegel  gerathen 
war.  Um  jene  Zeit  nämhch,  zwischen  dem  3.  und  16.  Jahrhundert, 
standen  die  Säulen  12  Fuss  im  Schutt,  während  die  See  diesen 
Schutt  noch  um  neun  Fuss  überragte ,  so  dass ,  wenn  man  die 
Höhe  der  Sockel  einrechnet,  der  Boden  um  mehr  als  23  Fuss  sich 
gesenkt  haben  musste.  Die  untere  Einhüllung  durch  Schutt  be- 
zeugten die  Ausgrabungen,  die  erst  im  vorigen  Jahrhundert  statt- 
fanden, dass  aber  die  Säulen  von  einer  9  Fuss  tiefen  Schicht 
Seewasser  umgeben  gewesen  waren,  verkündigt  ein  Gürtel  von 
Bohrlöchern,  der  allen  drei  Säulen  gemeinsam  ist  und  der  zwischen 
14  und  23  Fuss  über  dem  jetzigen  Wasserstand  liegt.  Diese 
Löcher  sind  von  Muscheln  (Mytilus  lithophagus  Linne)  gebohrt 
worden,  deren  Gehäuse  noch  jetzt  vollständig  vorhanden  wären, 
wenn  nicht  gewissenlose  Besucher  die  meisten  als  Merkwürdigkeiten 
geraubt  hätten.  Dass  Reste  ehemaliger  Bauwerke  unter  das  Meer 
sinken,  dass  andere,  die  am  Meer  standen,  gehoben  werden,  ge- 
hört nicht  zu  den  Seltenheiten,  aber  unschätzbar  sind  die  Serapis- 
säulen und  ihre  Spuren  desswegen,  weil  sie  uns  ein  Sinken  und 
nach  dem  Sinken  wieder  ein  Steigen  nachzuweisen ,  und  zugleich 
genau  die  Zeit  anzugeben  erlauben ,  in  welcher  die  letztere  Be- 
wegung sich  vollzog.  Schon  am  Beginn  des  16,  Jahrhunderts, 
erhellt  aus  alten  Urkunden,  gewann  um  Pozzuoli  herum  das  Land 
wieder  der  See  einigen  Raum  ab,  eine  beträchtliche  und  ziemUch 
rasche  Hebung  trat  jedoch  erst  am.  29.  September  1538  ein,  als 
in  der  Nähe  der  Monte  nuovo  aus  der  Erde  aufstieg,  wie  Banquo's 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  e^l 

Geist  im  Macbeth.  In  der  Zeit  vom  October  1822  bis  zum  Juli 
1838  will  man  ein  abermaliges  Sinken  des  Serapis-Tempels  um 
7  Millimeter  im  Jahre  wahrgenommen  haben ,  doch  haben  andere 
Beobachtungen  gelehrt,  dass  seit  1852  diese  Bewegung  entweder 
völlig  stillsteht,  oder  nur  in  unmerklicher  Weise  fortdauere. 

Vom  Serapis-Tempel  führt  unser  Weg  den  Abhang  eines  alten 
Feuerberges  aufwärts,  und  gegen  Eintrittsgeld  öffnet  sich  oben  ein 
Thor  zur  Besichtigung  der  Solfatara.  Wir  befinden  uns  in  einem 
alten  Kraterring  mit  steil  abfallenden  Wällen,  über  deren  Ränder 
freundlicher  Baumwuchs  herunterblickt.  Der  Boden  des  Schlundes 
ist  völlig  eben  und  mit  Kraut  und  Buschwerk  zum  Theil  bewachsen. 
Dem  Eingange  quer  gegenüber  an  der  Kraterwand  befindet  sich 
die  Mündung  des  gesuchten  Gasbrunnens.  Um  ihn  herum  ist  der 
Boden,  ein  weisser  Sand ,  aufgegraben  worden  ,  damit  der  Zutritt 
erleichtert  werde,  und  wir  nähern  uns  nun  einer  Oeflfnung  des 
Kraterwalles ,  die  dem  Schürraume  eines  grossen  Ofens  gleicht. 
Aus  dieser  Höhlung  zischen  wei*e  schwefelhaltige  Dämpfe  hervor, 
die  uns  heiss  entgegenhauchen.  Das  Gestein  an  den  Wänden  der 
Oeffnung  ist  gelb  und  orangenroth  angeflogen,  und  aus  der  Tiefe 
des  Ofens  lassen  wir  uns  gegen  Trinkgeld  ein  hübsches  Stück 
rother  Schwefelkrystalle  hervorscharren.  Solfataren,  deren  es  auf 
vulkanischen  Strichen  sehr  viele  giebt ,  nennt  man  alle  Vulkane, 
aus  deren  Wänden  Schwefeldämpfe  ausbrechen,  und  von  denen 
man  daher  vermuthet,  dass  ihre  Friedfertigkeit  nur  ein  trügerisches 
Ausruhen  bedeute.  Von  einem  Ausbruch  der  Solfatara  stammen 
unter  andern  die  Tuffe  her,  welche  eine  der  Einhüllungsschichten 
für  die  Säulen  des  Serapis-Tempels  lieferten. 

Eine  halbe  Wegstunde  vom  Serapistempel  führt  die  Strasse 
dem  Meer  entlang  am  Monte  nuovo  vorüber.  Der  Berg  hat  nichts 
einladendes,  und  von  unten  gesehen  möchte  ein  argloser  Wanderer 
vorüberziehen,  ohne  zu  ahnen,  welche  Merkwürdigkeit  er  unbe- 
achtet gelassen  habe.  Da  der  Berg  am  höchsten  Rande  nur  428 
Fuss  aufragt,  so  steigen  wir  bequem  in  zehn  Minuten  am  sanften 
Abhang  über  Schlacken  und  Asche,  zwischen  denen  magere 
Kräuter  spriessen,  bis  zum  Rand  empor.  Selbst  für  den  Verfasser, 
der  sich  völlig  vorbereitet  hatte,  war  der  AnbHck  überraschend. 
Wir  blickten  hinab  gleichsam  in  das  Rohr  eines  verschütteten 
Brunnens.  Unter  uns  scheinen  die  Wände  fast  senkrecht,  allent- 
halben sonst  sehr  schräg  abzufallen.     Der  Krater  ist  beinahe  kreis- 

34* 


e  T  2  Ferienreisen . 

förmig,  sein  Boden  aber,  der  nur  52  Fuss  über  dem  nahen  See- 
spiegel liegt,  erscheint  völlig  geebnet,  ist  in  Felder  abgetheilt,  von 
Ackerfurchen  durchzogen  und  allenthalben  angebaut.  Könnten 
wir  den  Monte  nuovo  in  die  norddeutsche  Tiefebene  versetzen, 
er  würde  meilenweit  als  Merkzeichen  dienen  können.  Nun  wissen 
wir  aber,  dass  dieser  Berg  innerhalb  48  Stunden  von  i  Uhr 
Nachts  am  Sonntag  29.  September  1538  bis  Montag  aufgeschüttet 
wurde,  nachdem  an  den  beiden  vorhergehenden  Tagen  die  Poz- 
zuolaner  von  Erdstössen  beständig  geängstigt  worden  waren.  Am 
dritten  Tage  konnte  der  beherzte  Pietro  Giacomo  di  Toledo  bereits 
auf  den  ,, Neuberg"  hinauf  und  in  den  Krater  hinabsteigen,  wo  er 
noch  Lava  in  einem  Kessel  kochen  sah.  An  etlichen  der  nächsten 
Tage  warf  der  Schlund  wieder  einige  Schlacken  aus,  jedoch  ohne 
die  frühere  Heftigkeit,  und  dann  blieb  alles  ruhig  und  kalt  bis  auf 
den  heutigen  Tag. 

An  den  Kraterwällen  des  Monte  nuovo  sind  keine  Klüfte 
wahrnehmbar,  die  durch  aufsteigende  Lavamassen  gangartig  aus- 
gefüllt wären ,  auf  ihn  passt  also  nicht  die  verfeinerte  Lehre  von 
der  Aufrichtung  alter  Vulkane  zu  sogenannten  Erhebungskratern. 
Dennoch  hatte  Leopold  v.  Buch  auch  den  Monte  nuovo  zu  den- 
jenigen Bergen  gezählt,  die  durch  ein  blatternartiges  Aufschwellen 
des  Erdbodens  und  spätem  Einsturz  im  Gipfel  der  Erhebung, 
also  nicht  durch  einfaches  Aufschütten  um  einen  Auswurfsschlund 
entstanden  sein  sollten.  Glücklicherweise  haben  wir  Mittel,  diesen 
Irrthum  zu  widerlegen,  denn  der  italienische  Geolog  Scacchi  hat 
daran  erinnert,  dass  hart  am  Fusse  des  Monte  nuovo  ein  Tempel 
des  Apoll  sich  befindet,  dessen  Mauerreste  noch  genau  im  Lothe 
stehen.  Wären  also  die  Erdschichten  durch  die  Spannung  ein- 
geschlossener Dämpfe  blasenartig  emporgetrieben  worden,  so  hätten 
gewiss  die  Mauern  umfallen  müssen,  während  durch  Aufschüttung 
eines  Berges  in  der  Nähe  sie  gar  keine  Störung  zu  erleiden 
brauchten.  Wäre  endlich  der  Monte  nuovo  nichts  anderes  als 
eine  aufgesprengte  Erdblatter,  so  müssten  seine  Wände  sternförmig 
zerrissen  sein,  wir  selbst  konnten  uns  aber  überzeugen,  und  jeder, 
der  noch  hinaufgestiegen  ist,  hat  sich  überzeugt,  dass  die  Wälle 
des  Kraters  fest  zusammenschliessen. 

Was  wir  hier  sagen,  kann  übrigens  ein  jeder  in  dem  neuesten 
Werke  von  Sir  Charles  Lyell  (Principles,  I,  612.  loth  ed.  London 
1867)   noch    viel    ausführUcher    dargestellt    finden.      Wenn   jedoch 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  e  •?  •j 

dieser  treffliche  Lehrer  an  einer  andern  Stelle  behauptet,  dass 
gerade  während  der  Bildung  des  Monte  nuovo  der  nahe  Serapis- 
Tempel  sammt  seinen  Schlammbetten  um  mehr  als  20  Fuss  wieder 
emporgelüftet  worden  sei  und  auch  seine  Säulen  jetzt  noch  senk- 
recht stehen,  welchen  Werth  kann  dann  für  uns  der  Umstand  be- 
sitzen, dass  auch  die  Mauern  des  Apollo-Tempels  am  Fusse  des 
Monte  nuovo  nicht  umsanken.  Die  Zeugen  vom  Jahre  1538  sagen 
übereinstimmend,  dass  bis  Pozzuoli  die  See  an  manchen  Stellen 
viele  hundert  Fuss  „zurücktrat".  Die  See  freilich,  das  wissen  wir 
besser  als  die  es  zu  sehen  meinten,  tritt  nie  zurück,  wohl  aber  hebt 
sich  das  Land  aus  der  See  empor  und  hob  mit  sich  den  Serapis- 
Tempel,  aber  doch  so  sanft  und  gleichmässig,  dass  die  monolithen 
Säulen  und  ihre  Sockel  so  senkrecht  blieben,  wie  zur  Zeit  ihrer 
Aufstellung.  Mithin  hätte  also  doch  eine  Erhebung  der  angrän- 
zenden  Gebiete  stattgefunden ,  wenn  auch  keine  Aufblähung  ,  wie 
Leopold  v.  Buch  den  Hergang  sich  vorstellte. 


IV. 

(Ausland  1869.     Nr.  29.     17,  Juli.) 

Es  giebt  vielleicht  auf  dem  ganzen  Erdkreise  keine  anspruchs- 
vollere und  schwerer  zu  befriedigende  Sorte  von  Reisenden,  als  die 
Bewohner  Süddeutschlands,  und  zwar  steigert  sich  ihre  Ungenügsam- 
keit ,  je  näher  sie  den  Gränzen  der  Heimath  wohnen.  Dazu  ge- 
sellt sich  noch  der  Umstand ,  dass  sie  für  ihr  Gebahren  eine  ge- 
wisse Berechtigung  beanspruchen.  In  einem  halben  Tag,  behaup- 
ten sie,  befinden  wir  uns  mitten  im  bayerischen  Alpengebirg,  oder 
in  Tirol,  oder  schwimmen  bereits  über  schweizerische  Seen.  Bei 
günstigem  Zustande  der  Luft  vermögen  wir  von  unsern  Fenstern 
schon  eine  blaue  Kette  mit  schneeleuchtenden  Gipfeln  zu  be- 
grüssen ,  die  unsere  Kinder  schon  in  der  Jugend  zu  benennen 
lernen.  Wird  der  genügsame  Bewohner  des  flachen  Nordens 
schon  befriedigt,  wenn ^  er  in  Sicht  der  ersten  deutschen  Höhen- 
schwellen geräth,  so  wollen  die  südlichen  dagegen  den  Ausdruck 
Gebirge  für  alles  das  nicht  gelten  lassen,  was  nicht  heranreicht 
an  die  gewaltigen  Kämme  der  mittleren  Ketten,  denn  alles  andere 
Erfreuliche    heisst    in    ihrer    Sprache     nur    Vorberge.     Grau    oder 


534 


Ferienreisen. 


lehmig,  immer  in  verdriesslichen  Farben,  rinnen  fast  alle  deutschen 
Flüsse  in  die  Nordsee.  Im  Süden  dagegen ,  wenn  die  Schnee- 
schmelzen überstanden  sind,  eilen  die  hastigen  Gebirgsflüsse  grün 
oder  blaugrün  durch  die  Ebenen,  oder  durch  liebliche  Schluchten 
im  rothen  Sandstein.  Mit  den  Anpreisungen  von  bewegten  oder 
stürzenden  Wassern  kann  man  gegenüber  diesen  Leuten  nicht 
Mass  genug  halten,  am  schlimmsten  aber  fahren  die  Italiener  in 
dieser  Beziehung.  Sie  stehen  andächtig  vor  ihren  kleinen,  zahmen, 
springenden  Bächen,  die  durch  lange  Wasserleitungen  irgend  einer 
ihrer  Magnaten  miglienweit  zur  Belebung  seines  Parkes  herbei- 
gezogen hat,  und  die  ihm,  so  flüstert  irgend  ein  Cicerone,  wöchent- 
lich Tausende  von  Franken  kosten.  Mit  ironischem  Bedauern 
betrachtet  dann  der  Wanderer  aus  Hochdeutschland  die  bezahlte 
kümmerliche  Gartenzierde,  und  seine  Gedanken  heben  ihn  im 
Flug  hinweg  zu  dem  urkräftigsten  Wassersturz  seiner"  Heimath. 
Es  donnern  die  Felsen,  es  dröhnt  das  Thal  von  dem  niederstür- 
zenden Gewicht.  In  milchweissen  Garben  springt  die  zerschmet- 
terte Masse  empört  wieder  von  unten  auf,  unsäglich  schön  durch 
den  Ausdruck  ihres  Zürnens.  Zu  beiden  Seiten  der  Schlucht 
lauschen  als  schweigende  Zeugen  die  geschlossenen  Tannenwälder. 
Im  Hintergrund  aber  starren  aus  Schneefeldern  die  steinernen 
Zacken  der  Tauernkette.  Oben  steht  alles  eingehüllt  in  den  blen- 
denden Winter,  dessen  kühler  Hauch  das  Thal  herabweht,  wo  die 
Wiesen  ihr  buntes  Sommerkleid  tragen.  Nichts  ist  vernehmbar, 
als  der  Donner  des  Alpenwassers ,  nichts  stört  die  Einsamkeit  als 
ein  gefiederter  Räuber,  der  in  den  Lüften  seine  Kreise  zieht. 

Mindestens  so  etwas,  meint  der  verwöhnte  Wanderer,  womög- 
lich etwas  besseres,  sollte  ihm  die  Fremde  bieten.  Er  weiss,  dass 
jene  Welt,  die  er  seine  Berge  nennt,  nicht  bloss  schön  ist  beim 
Sonnenschein,  bei  aufqualmenden  Nebeln,  bei  herannickenden 
Hochgewittern ,  beim  geheimnissvollen  Mondlicht,  sondern  dass 
ihr  zu  allen  Zeiten  neben  der  Schönheit  nie  der  Ausdruck  des  Er- 
habenen mangelt.  Er  weiss  aus  eigener  oder  doch  aus  fremder  Er- 
fahrung, dass  mit  den  Alpen  nicht  die  Pyrenäen,  nicht  einmal  Nor- 
wegen, geschweige  die  schottischen  Hochlande  sich  messen  dürfen. 
Zu  jener  schwer  befriedigten  Sorte  von  Wanderern  zählt  sich  der 
Verfasser,  und  wenn  die  italienischen  und  südfranzösischen  Gestade 
an  Reiz  und  Lieblichkeit  die  Alpen  sehr  oft  aufwiegen,  die  See 
auch  beständig  gross  und  ergreifend  wirkt,  so  ist  doch  keinesweges 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin,  t  -^  e 

alles,  was  man  diesseits  oder  jenseits  des  Apennin  uns  preist,  be- 
friedigend oder  nur  sehenswürdig  zu  nennen.  Besonders  ärgerlich 
aber  ist  uns  eine  Classe  von  touristischen  Schriftstellern,  die  mit 
der  Mundfertigkeit  von  Handelsreisenden  uns  die  fremden  Natur- 
reize aufzunöthigen  suchen.  Ihnen  zufolge  müsste  unter  anderm 
die  blaue  ,, Grotte"  der  Insel  Capri  ins  Feenreich  gehören.  Alle 
Gemälde  dieser  Höhle ,  die  dem  Verfasser  noch  vorgekommen 
sind,  sündigen  durch  verwegene  Uebertreibung  der  Räume,  wie 
ihrer  Färbung.  Vielleicht,  denkt  mancher  im  Stillen,  habe  es  dem 
Ungenügsamen  an  dem  Wetter  gefehlt.  Der  Himmel  hätte  aber 
nicht  wohl  klarer  sein,  die  Sonne  nicht  heller  scheinen  können,  als 
während  seines  Besuches.  Oder  der  strenge  Herr,  tröstet  sich  ein 
anderer,  war  nicht  zur  günstigen  Tageszeit  in  der  Höhle.  Freilich 
war  es  2  Uhr  Nachmittags,  der  Dampfer  aber,  der  von  Neapel 
abgeht  und  die  Touristen  vor  der  Höhle  absetzt,  pflegt  dort 
Morgens  nach  10  Uhr  zu  halten.  Nun  war  jedoch  am  Morgen 
des  nämlichen  Tages  ein  anderer  deutscher  Wanderer  mit  dem 
Dampfer  abgefahren,  war  zwischen  10  und  11  Uhr  in  der  Höhle 
gewesen  und  beklagte  sich  nicht  minder  niedergeschlagen,  dass  er 
etwas  staunenswerthes  nicht  gesehen  habe,  tröstete  sich  jedoch, 
dass  er  vielleicht  seine  Zwecke  erreicht  haben  möchte,  wenn  er 
Nachmittags  die  Wunderhöhle  besucht  hätte.  Als  sich  gegenüber 
einem  deutschen  Halb  -  NeapoHtaner  der  Verfasser  über  den 
„Schwindel"  beschwerte,  der  mit  der  ,, blauen"  Höhle  getrieben 
werde,  betheuerte  der  Biedermann ,  dass  daran  nur  die  Jahreszeit 
schuld  sei.  ,,Im  Mai  dürfe  man  nicht  die  Fahrt  unternehmen, 
der  Himmel  sei  ja  noch  gar  nicht  wie  er  sein  solle  ,  erst  im  Juli 
werde  er  völlig  dunkelblau."  Ueber  italienische  Lufttöne  im  hohen 
Sommer  will  der  Verfasser  nicht  urtheilen,  da  er  sie  nicht  kennt, 
dass  sie  aber  nichts  mit  der  Beleuchtung  der  Höhle  zu  schaffen 
haben,  ergiebt  sich  aus  einfachen  optischen  Gründen.  Der  Ein" 
gang  zur  sogenannten  Grotte  nämlich  ist  ein  kurzer  Tunnel  von 
kaum  3  Fuss  lichter  Höhe.  Nussschalenartige  Kähne,  die  den 
Fremden  erwarten,  vermögen  allein  sich  einen  Durchgang  zu  er- 
zwingen, auch  muss  sich  der  Besucher  in  das  Boot  niederlegen 
während  der  Durchfahrt,  die  bei  rauher  See,  wo  die  Wogen  den 
Zugang  verschliessen ,  sich  gar  nicht  ausführen  lässt.  Innen  an- 
gekommen, umfängt  ihn  eine  kleine  Kuppel,  die  sich  bis  zu  etwa 
40  Fuss  wölbt.     Da  die  Höhle  bei  einer  Breite  von   100  Fuss  auf 


536 


Ferienreisen. 


165  Fuss  in  das  Gebirge  sich  erstreckt,  so  gleicht  sie  daher  in 
ihren  Grössenverhältnissen  einem  unserer  massigen  öffentlichen 
Tanzsäle,  erscheint  aber  wegen  der  geringen  Beleuchtung  viel 
enger,  und  der  erste  Eindruck  ist  daher  eine  verdriessliche  Ent- 
täuschung, denn  nach  den  Gemälden,  die  man  zuvor  gesehen 
hatte,  musste  man  sich  die  Höhle  weit  geräumiger  vorstellen.  Das 
Tageslicht  bricht  blendend  weiss  durch  die  kleine  Oeffnung  herein, 
in  deren  Nähe  denn  auch  die  Felsen  hell  beleuchtet  erscheinen. 
Der  Eingang  reicht  aber  auch  weit  unter  das  Wasser  hinab, 
welches  8  Faden  (48  Fuss)  Tiefe  besitzt.  Duich  diesen  untersee- 
ischen Spalt  wird  nun  das  klare  Seewasser,  dessen  Farbe  aus  einem 
smaltblau  mit  einem  kleinen  Schatten  von  Neutraltinte  besteht, 
ebenfalls  leuchtend,  und  wirft  nun  das  durchgegangene  Licht  gegen 
die  Felsen  ,  denen  sie  jedoch  nur  in  der  Nähe  des  Eingangs  bis 
etwa  zur  Mitte  der  Höhle  eine  schwache  schmutzig  graublaue 
Färbung  verleiht.  Die  Gemälde  also ,  welche  die  Steinwände  der 
Höhle  ultramarinblau  verklären ,  gehören  in  das  Reich  der  Dich- 
tung. Schön  ist  nur  das  flüssige  Licht  des  Seewassers,  aber  wer 
solche  Farbenspiele  liebt,  der  wird  sich  mehr  Befriedigung  holen, 
wenn  er  den  Giessbach  bei  bengahschem  Feuer  oder  einen  der 
Brunnen  ansieht ,  die  mit  elektrischem  Lichte  durch  bunte  Gläser 
von  oben  beleuchtet  werden.  Der  wahre  Genuss  beim  Besuch 
der  ,, blauen"  Höhle  besteht  also  nur  in  der  Ueberfahrt  nach  Capri 
und  in  dem  Anblick  des  Golfes  von  Neapel. 

Ganz  andere  Erfahrungen  erfreuten  den  Ferienreisenden  bei 
einem  Ausflug  in  die  Umgebungen  Roms.  Als  er  sie  zum  ersten- 
mal sah,  geschah  es  an  einem  hellen  Morgen,  aber  bei  wässeriger 
Luft,  so  dass  alle  Umrisse  dunstig  und  verwaschen  erschienen, 
und  überhaupt  nichts  von  dem  Farbenzauber  der  römischen  Steppe 
oder  von  den  ,,Tiriten  der  Campagna",  wie  man  sich  auszudrücken 
liebt,  wahrzunehmen  war.  Von  der  ewigen  Stadt  selbst  ist  übrigens 
wenig  von  der  Eisenbahn  zu  sehen ,  denn  diese  hält  sich  auf 
der  Steppe,  welche  vom  Meer  aus  sich  sanft  bis  zum  Fusse  der 
nächsten  Berggruppen  erhebt.  Der  Tiber  dagegen  hat  das  lockere 
Erdreich  tief  ausgewaschen ,  und  die  sogenannten  sieben  Hügel 
sind  nichts  als  die  einzelnen  schwach  gegliederten  Vorsprünge  der 
Hochebene ,  an  deren  Abhängen  in  den  Thalkessel  die  heutige 
Stadt  hinabgestiegen  ist ,    so  dass  sie  sich  grösstentheils  dem  Beo- 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  c^j 

bachter  entzieht,  der  sich  nicht  hinreichend  nähert,  um  vom  Ab- 
sturz der  Hochebene  in  die  Thalervveiterung  hinabzuschauen. 

An  einem  tadellosen  Maimorgen  fuhren  wir  um  6  Uhr  vom 
Corso  ab.  In  mehreren  Strassen  waren  Leute  geschäftig,  gelben 
Sand  über  das  Pflaster  auszubreiten.  Diess  geschieht  aus  Vorsicht, 
damit  kein  Pferd  stürze,  so  oft  der  Papst  aufs  Land  sich  begiebt, 
und  zwar  hörten  wir  auf  Befragen,  dass  die  damalige  Abfahrt  auf 
sieben  Uhr  angesetzt  und  Castel  Gandolfo  ihr  Ziel  sei.  Wirklich 
nahmen  wir  auch  sogleich  wahr,  dass  die  neue  Via  Appia  bis  nach 
Albano  mit  berittenen  Carabinieri  bevölkert  war,  die  sich  auf 
Kilometerlänge  in  kleineren  und  grösseren  Posten  aufgestellt  hatten. 
Der  Kirchenstaat  ernährt  gegenwärtig  5000  Mann  Carabinieri  oder 
Gendarmen,  so  dass  es  im  Patrimonium  Petri  an  Ueberwachung 
nirgends  fehlt.  An  jeder  noch  so  kleinen  Eisenbahnstation  sieht 
man  diese  schützenden  Engel  aufgestellt ,  und  in  Rom  wandeln 
sie  immer  zu  viert  beim  Dunkelwerden  langsam  die  Strassen  auf 
und  nieder.  Für  die  Sicherheit  von  Leben  und  Eigenthum  scheint 
ihnen  wenig  Zeit  übrig  zu  bleiben,  da  Strassenräuber  vor  nicht 
geraumer  Zeit  sogar  am  Nemi-See  sich  zeigen  durften.  Die  neue 
Via  Appia  läuft  in  Bogenwindungen  neben  der  alten  schnurgeraden 
Römerstrasse  her  und  hebt  sich  merklich  bei  der  Annäherung  an 
das  Albanergebirge.  Dieses  Gebirge  ist  aus  der  Ebene  wie  ein 
Stück  Mondoberfläche  herausgewachsen.  Es  bildet  nämlich  im 
Grunde  nur  einen  gewaltigen  vulkanischen  Ring,  aus  dem  wieder 
ein  zweiter  engerer  Ring,  der  Monte  Cavo,  sich  erhoben  hat.  An 
dem  Aussenabhang  dieses  alten  Vulkans  nach  der  See  zu  sind 
zwei  andere  Krater  eingesprengt  worden,  die  wir  jetzt  den  Albaner- 
und  den  Nemi-See  nennen.  Je  höher  wir  nun  an  den  Abhängen 
dieser  vulkanischen  Familiengruppe  aufwärts  gelangen,  desto  besser 
überblicken  wir  rechts  die  Steppe  und  jenseits  der  Steppe  das 
Meer.  Hinter  Albano  wird  die  Strasse  von  einer  geräumigen 
Schlucht  mit  reicher  Belaubung  gekreuzt.  Ein  Viaduct ,  an  dem 
sich  ein  jeder  vor  der  Eisenbahnzeit  als  an  einem  Bauwunder 
ergötzt  hätte,  der  uns  aber  jetzt  nicht  lange  zu  fesseln  vermag, 
führt  hinüber  nach  dem  Städtchen  Arriccia,  welches  wir  durcheilen, 
um  von  dort  nach  Genzano  zu  gelangen.  Auf  eine  Eintrittskarte 
öffnete  sich  uns  daselbst  der  Garten  der  Familie  Cesarini,  welcher 
sich  vom  Rande  des  Kraters  am  Abhang  hinunter  bis  zum  Nemi- 
See  erstreckt.     Der  Nemi-See    soll   wie  der  Albaner-See   unter  die 


538 


Ferienreisen. 


sogenannten  Maare  gehören,  denn  er  bildet  eine  regelmässige  napf- 
förmige  Einsenkung  in  die  vulkanischen  Schichten  des  Monte 
Cavo ,  und  soll  nach  den  Ansichten  einer  älteren  geologischen 
Schule  wie  die  kreisrunden  Seen  der  Eifel,  die  jedoch  in  geschich- 
teten krystallinischen  Felsarten  liegen ,  durch  |eine  Explosion  wie 
eine  Trichtermine  entstanden  sein.  Wohin  die  höchst  beträcht- 
lichen Stoffe,  die  der  Sprengschuss  emporgeworfen  haben  müsste, 
gekommen  seien  ,  darüber  schauen  wir  uns  vergeblich  nach  Be- 
lehrung um.  Eben  so  suchen  wir  mit  Eifer,  aber  ohne  Glück, 
nach  den  gepriesenen  Reizen  des  Nemi-Sees.  Sein  Spiegel  ist 
nahezu  kreisrund ,  sein  Wasser  freundlich  grün ,  die  Wände  des 
eingesenkten  Napfes  sind  bis  zum  Wasserspiegel  hinab  mehr  oder 
weniger  bewachsen ,  uns  gegenüber  aber  am  Rande  des  Kraters 
liegt  der  kleine  Ort  Nemi,  eng  zusammengerückt,  einsam  zwischen 
Wald  und  Wald.  Links  von  dem  Ort  erhebt  sich  als  grüner 
kahler  Abhang  der  Krater  des  Monte  Cavo,  einförmig  wie  alle 
vulkanischen  Erhebungen  und  als  Hintergrund  der  Aussicht  wenig 
ansprechend.  Eine  besondere  Ueppigkeit  des  Pflanzenwuchses 
vermochten  wir  beim  redlichsten  Willen  nicht  zu  entdecken,  viel- 
leicht weil  die  Erinnerungen  an  Sorrent  und  Amalfi  noch  zu  frisch 
waren.  Einstimmig  erklärten  wir  daher  die  bayerischen  Seen 
zweiten  und  dritten  Ranges  für  weit  malerischer,  als  dieses  einför- 
mige Bild  eines  Kraters. 

Ein  abwechselnd  schattiger  Weg  führte  uns  nach  Albano 
zurück,  wo  wir  im  Parke  der  Villa  Torlonia  die  Mittagsstunden 
verbrachten.  Von  den  Gartenmauern  schaut  man  hinüber  nach 
einem  Hügel,  wo  mittelalterliche  Ruinen  auf  der  Stätte  des  alten 
Lanuvium  liegen,  und  weit  über  die  Steppe  hinweg  nach  dem 
Strande,  wo  ein  paar  Gebäude  als  Porto  d'Anzo  uns  genannt 
werden.  Links  in  grosser  Ferne  steht  einsam  aufgerichtet  das  Gap 
Circe,  und  dahinter,  noch  duftiger  und  blauer,  treten  die  Berge 
von  Gaeta  an  das  Meer  heran.  Da  die  Küste  ziemlich  glatt  und 
ungegliedert  verläuft,  so  ist  die  Aussicht  ausserordentlich  einförmig 
und  der  würdigste  Gegenstand  ist  die  gewölbte  blaue  See,  die 
aber  wie  abgekehrt  und  von  jedem  freundlichen  Segel  verlassen 
erscheint.  Wenige  Tage  zuvor  schwebte  dort  auf  der  Höhe  ein 
Geschwader  mit  der  nationalen  Tricolore  vorüber,  und  gewiss 
würden  sich  die  5000  Gendarmen  um  die  weltliche  Herrschaft 
verdient  gemacht  haben ,    wenn  sie  eine   lebendige  Wand  gebildet 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  e^n 

hätten,  damit  die  Römer  nicht  die  verpönten  Farben  gewahr  ge- 
worden wären. 

Herabgestimmt  in  unsern  Erwartungen  von  den  Schönheiten 
des  Albanergebirges ,  wendeten  wir  uns  des  Nachmittags  nach 
Castel  Gandolfo,  wo  alles  in  den  päpstHchen  Farben  flaggte.  Der 
Ort  ist  nicht  ohne  Reize,  hart  über  dem  Albaner-See  gelegen. 
Dieser  letztere  ist  eine  eirunde  Kratersenkung,  zwar  kahler  und 
flacher  als  der  Nemi-See,  aber  dbch  viel  anziehender  und  mannich- 
faltiger,  auch  fesselt  jetzt  am  Monte  Cavo  in  einer  Lücke  des 
Kraterringes  auf  luftiger  Höhe  das  graue  Städtchen  Rocca  di 
Papa  längere  Zeit  die  Blicke.  Von  Castel  Gandolfo  wird  der  Weg 
immer  schattiger,  und  wir  überschreiten  eine  malerische  Schlucht 
mit  einem  Gewässer  und  Brücke,  an  deren  Abhang  der  Flecken 
Marino  hinaufgemauert  worden  ist.  Endlich  gelangen  wir  zwischen 
zwei  Mauern ,  über  welche  die  hohen  Wipfel  zweier  Parke  ihre 
Schatten  werfen,  nach  Frascati.  lieber  der  Stadt  erhebt  sich  am 
Abhang  des  Belvedere  ein  ehemahger  Landsitz  der  Aldobrandini, 
mit  statthchem  Garten,  der  Familie  Borghese  angehörig,  deren 
Villa  bei  Rom  wir  schon  bewundert,  und  deren  reiche  Gallerie  im 
Stadtpalast  auf  der  nächsten  Tagesordnung  stand. 

Bis  dahin  hatte  uns  der  Ausflug  nichts  sonderliches  einge- 
tragen ,  denn  wenn  auch  dem  Berichterstatter  die  vulkanischen 
Gerüste  des  Albaner  -  Gebirges  mit  den  beiden  Krater-Seen  ,  sowie 
die  Peperinschichten ,  zwischen  denen  die  durchzogene  Strasse 
vielfach  sich  hindurchwindet.  Neues  und  Sehenswürdiges  genug 
geboten  hatten,  so  waren  seinen  Begleitern  dagegen  Peperin  und 
Explosionskrater  nicht  viel  mehr  als  Hekuba  dem  Schauspieler  im 
Hamlet.  Sie  hatten  sich  landschaftliche  Genüsse  hohen  Ranges 
als  Ersatz  für  einen  verlorenen  Tag  in  der  Stadt  der  Christenheit 
versprochen,  und  das  bisher  Genossene  wäre  ihnen  allen  gern 
feil  gewesen  für  einen  Spaziergang  von  Heidelberg  nach  Neckar- 
steinach. Beim  Heraustreten  auf  die  Terrasse  des  Belvedere  war 
jedoch  alles  vergessen.  Zunächst  schaut  man  hinab  auf  Frascati 
selbst,  und  alle  italienischen  Orte  sind  fast  ausnahmslos,  wenn 
auch  nicht  nach  unsern  Begriffen  zum  Bewohntwerden,  doch  zum 
Gezeichnetwerden  vorzüglich  gebaut.  Schon  an  der  Etsch,  eine 
kleine  Strecke  unterhalb  Botzen,  ändert  sich  die  Bauart  vollständig. 
Der  Unterschied  beruht  zunächst  darauf,  dass  bei  dem  einzelnen 
Hause  wenig  Holzwerk   verwendet  wird.     Die   hohen  Giebel,    die 


540 


Ferienreisen, 


aussen  sichtbaren  Stiegen,  die  Gallerien  und  vorspringenden  Dächer, 
das  Niedrige  und  Breite  der  deutschen  Gebäude  fällt  weg,  und 
vergeblich  suchen  wir  nach  den  scharfgespitzten  Kirchthürmen, 
die  uns  hinter  vorliegendem  Wald-  und  Berggrund  in  der  Heimath 
das  deutsche  Dorf  schon  verrathen,  wenn  es  noch  nicht  sichtbar 
ist.  Der  Italiener  wählt  überall  kahle  Anhöhen ,  oder  wohl  gar 
die  Gipfel  von  Bergen,  oder  die  Abstürze  kleiner  Hochlande,  um 
ihnen  eine  Mauerkrone  aufzusetzen.  Haus  wächst  neben  Haus  zu 
zwei  oder  drei  Stockwerken  auf,  und  über  die  untere  schaut  eine 
zweite  und  dritte  Häuserreihe  hinweg,  bis  zuletzt  die  Akropolis 
fertig  ist.  Kein  Raum  geht  verloren ,  kein  Fenster  versteckt  sich 
hinter  Gärten  oder  hinter  Gruppen  kuppeltragender  Laubbäume. 
Der  Unterschied  zwischen  Dorf  und  Stadt  verschwindet  daher  in 
Italien  gänzlich ,  denn  alle  dortigen  Dörfer  erscheinen  wie  kleine 
Städte.  Unsere  Kirchthurmspitzen  werden  durch  weniger  bemerk- 
bare, gemauerte  Glockenthürme  ersetzt,  die  uns  jedoch  ein  freund- 
liches Geläute  vermissen  lassen,  denn  in  Italien  werden  die  Glocken 
geschlagen,  nicht  gezogen,  und  Rom  mit  seinen  angeblichen  365 
Kirchen  ist  im  Vergleich  zu  mancher  glockenseligen  Stadt  des 
lieben  Vaterlandes ,  welche  die  Morgenstunde  mit  den  ehernen 
Zungen  aus  allen  Winkeln  begrüsst,  eine  auffallend  stille  Stadt. 
Einen  veränderten  Anstrich  bewirken  auch  die  flacheren  Dach- 
stühle, die  freiHch  nicht  im  Winter  eine  schwere  Schneedecke  zu 
tragen  haben,  wie  die  unsrigen.  Erst  bei  Neapel  stösst  man  auf 
Häuser  mit  sogenannten  ebenen  Dächern,  oder  richtiger  mit  Ge- 
bäuden ohne  Dachstuhl.  An  diesen  Anblick  muss  sich  das  Auge 
längere  Zeit  gewöhnen,  denn  anfangs  meinen  wir  immer,  unwirth- 
liche  Brandstätten  von  Gebäuden  vor  uns  zu  haben.  Bei  dem 
Zusammenrücken  der  Bauern  und  Pächter  in  enge  Ortschaften 
fehlen  der  Ackerflur  die  ausgestreuten  Gehöfte ,  und  dieser  Um- 
stand kann  streckenweise  uns  in  die  Täuschung  versetzen,  als  ob 
das  flache  Land  ganz  unbewohnt  wäre,  zumal  an  solchen  Tagen, 
wo  keine  Arbeiten  auf  dem  Felde  verrichtet  werden.  Damit  hängt 
vielleicht  zusammen,  dass  in  Italien  länger  als  anderwärts  der 
gewerbsmässige  Strassenraub  sich  erhalten  konnte,  denn  zwischen 
Ort  und  Ort  herrscht  meist  Einsamkeit ,  und  da  obendrein  fast 
alle  Strassen  zur  Rechten  und  zur  Linken  Mauern  haben,  die  bei 
einem  Anfall  dem  Wanderer  jede  Flucht  abschneiden,  so  verführt 
die  Gelegenheit   zu    dem    bequemen   Verbrechen.     Uebrigens   hört 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin.  C41 

man  in  neuester  Zeit  nichts  mehr  von  Strassenraub ,  selbst  an 
verrufenen  Strecken  wurde  von  einer  mögUchen  Gefahr  nirgends 
etwas  gesprochen. 

Begeben  wir  uns  wieder  auf  die  Terrasse  der  Villa  Aldobran- 
dini zurück,  so  haben  wir  also  unter  uns  zur  Rechten  das  an- 
ziehende Frascati,  zur  Linken  den  Park  der  Villa  Torlonia  mit 
seinen  dunkelnden  Massen  immergrünen  Laubes.  Drüber  hinaus 
aber  wird  von  der  späten  Sonne  die  gelbgrüne  Campagna  warm 
beleuchtet  und  von  mächtigen  Schattenflecken  durchzogen,  die 
wir ,  getäuscht ,  für  Waldgruppen  hielten ,  während  es  nur  die 
schattenwerfenden  Wände  vieler  Erdeinsenkungen  waren.  In  weiter 
Ferne  verkünden  die  Bogen  der  verschiedenen  noch  vollständigen 
oder  lückenhaften,  oder  bis  auf  wenige  Reste  zerstörten  Wasser- 
leitungen uns  das  alte  Rom  der  Kaiserpracht.  Von  der  christ- 
lichen Stadt  ist  dagegen  wenig  sichtbar,  mit  Ausnahme  der  Peters- 
kuppel, deren  Herrschergrösse  immer  mehr  wächst,  je  weiter  man 
sich  von  ihr  entfernt.  Am  Saume  der  Steppe  ist  noch  das  Meer 
als  dünner  Streifen  sichtbar,  jedoch  ohne  einen  sonderlichen  Ein- 
druck zu  erregen.  Zu  dem  freundlichen  Grün  der  Steppe  erhebt 
sich  als  Hintergrund  nicht  etwa  ein  Gebirge,  sondern  eine  Anzahl 
selbstständiger  Berggruppen.  So  sind  hinter  Rom  die  Höhen  bei 
Civitavecchia  ,  sowie  die  Berge  sichtbar ,  wo  der  Orvieto  wächst 
Weiter  nach  Norden ,  in  gemessenem  Abstand  über  die  Niede- 
rungen, ragt  der  Rücken  des  Soracte ,  auf  den  jedoch  heute  die 
berühmte  Strophe  des  Horaz  nicht  passt,  denn  nicht  in  blendenden 
Schnee,  sondern  in  sommerUches  Blau  gekleidet  steht  er  vor  uns. 
Auf  den  Soracte  folgt  dann  weiter  rechts  aus  dem  nördlichen 
Hintergrunde  heranziehend  das  Sabinergebirge ,  unter  dessen 
Kammlinien  als  scharf  gezeichneter  Gipfel  der  Monte  Genaro  immer 
und  immer  wieder  als  das  Kleinod  des  Bildes  unsere  Blicke  an 
sich  zieht.  Der  sabinische  Apennin  stösst  keineswegs  mit  dem 
selbstständigen  Albaner-Gebirge  zusammen,  sondern  golfartig  drängt 
sich  die  Steppe  zwischen  uns  und  ihm  nach  Osten  hinein. 

Da,  wo  sich  die  Sabiner-Kette  am  meisten  nähert,  schimmert 
vom  Höhenrand  eines  Abhanges  Tivoli  hell  und  viel  versprechend 
aus  der  Ferne.  Vergnügt  gestehen  wir  uns,  dass  dieser  Blick,  so 
völlig  neu  und  sich  nur  selbst  gleich,  uns  für  alles  entschädige, 
was  wir  in  Rom  versäumt  haben  möchten.  Ohne  Schatten,  ohne 
Wälder  strahlt  die  Steppe  allen    aufgesaugten  Glanz  zurück.     Fast 


542 


Ferienreisen. 


durchsichtig  erscheint  darüber  das  Blau  der  Fernen ,  und  doch 
fehlt  nirgends  eine  klare  Begränzung  aller  Umrisse.  Vor  allen 
Dingen  aber  ist  es  der  Reichthum  an  nahen  und  fernen  abge- 
sondert aufsteigenden  Berggruppen,  oder  wie  man  vor  zwanzig 
Jahren  in  Berlin  zu  sagen  pflegte,  ,,die  Individualisirung  der  senk- 
rechten Gliederung",  welche  dem  Bild  eine  ganz  unvergleichliche 
Wirkung  giebt,  und  dankbar  bekennen  wir,  dass  die  Campagna 
recht  wohl  verdient,  gefeiert  zu  werden  von  allen  Herzen,  die  bei 
landwirthschaftlichen  Schönheiten  sich  stürmischer  regen.  Fügen 
wir  noch  hinzu,  dass  jene  Individualisirung  auch  entscheidend  ge- 
wesen ist  für  die  geschichthche  Grösse  der  Stadt  in  ihren  ersten 
Anfängen ,  denn  nach  und  nach  musste  ihr  wohl  als  der  Beherr- 
scherin des  flachen  Landes  von  jenen  kleinen  Sonderherrschaften 
in  den  Bergen  eine  nach  der  andern  anheimfallen. 

Wir  reissen  uns  übrigens  von  dem  Bilde  los,  denn  es  ist  die 
höchste  Zeit,  nach  Hause  zu  eilen,  da  die  Sonne  ihren  Tagesbogen 
bald  vollendet  haben  wird.  Je  länger  sie  ihre  Höhe  vermindert, 
desto  mehr  erhöht  die  römische  Landschaft  ihre  Schönheit.  Das 
Albaner-Gebirge,  vorher  als  Standort  für  uns  nicht  sichtbar,  löst 
sich  jetzt,  wo  wir  uns  von  ihm  entfernen,  schwärzlicher  und  satter 
gefärbt  streng  von  dem  Hintergrund  ab,  an  dem  Sabiner-Gebirge 
werden  die  blauen  Schatten  immer  frischer  und  glänzender,  vor 
allem  aber  umleuchtet  uns  die  Steppe  in  hellem  Olivengrün.  Sie 
erscheint  ganz  leer  und  unbewohnt,  und  unsere  Strasse  bleibt  ohne 
belebte  Staffage.  Frascati  mit  seinen  Villen  rückt  uns  immer  ferner, 
aber  Tivoli  schimmert  noch  immer  blendend  weiss  am  blauen 
Abhang.  Rechts  vom  Wege,  weit  draussen  in  der  Steppe,  steht 
oasenartig  eine  edle  Gruppe  von  Pinien  mit  schwärzlichen  Schirni- 
dächern.  Die  Sonne  sinkt  immer  tiefer  und  wir  treiben  zur  Eile, 
denn  wir  wollen ,  bevor  das  Licht  scheidet ,  noch  hinter  eine  der 
Wasserleitungen  gelangen.  Schon  an  einem  früheren  Abend,  nach 
dem  Besuch  der  Katakomben,  hatten  wir  bei  einem  etwas  mangel- 
haften Sonnenuntergänge  bemerkt,  wie  viel  die  Steppe  gewinnt, 
wenn  man  sich  zum  Vordergrund  eine  Wasserleitung  wählt. 
Pfeiler  und  Bogen  sind  nämlich  von  gelblich  braunen,  schmalen 
Backsteinen  prächtig  aufgemauert,  und  wenn  die  scheidende 
Sonne  diese  Farben  noch  erwärmt,  dann  wirken  die  blauen  Lichter 
über  und  unter  den  Bogen  des  Mauerwerkes  mit  gesteigertem 
Glanz.     Und    wirklich    geschah  es  auch  diessmal    so,    wie    wir  es 


Eine  Ferienreise  über  den  Apennin,  e^^ 

erwartet  hatten.  Alles  strahlte  in  Farbenpracht,  wie  wir  sie  daheim 
vergeblich  suchen  würden.  Alles  Mauerwerk  im  nächsten  Vorder- 
grund warf  schon  blaue  Schatten ,  im  hellen  Goldgrün  lag  die 
Steppe  ausgespannt,  und  dahinter  prangten  in  namenlosem  Blau 
die  Berge.  So  konnten  wir  denn  heimkehren  mit  der  Beruhigung, 
dass  wir  die  „Tinten  der  Campagna"  gesehen  hatten ,  wenn  sie 
auch  bei  herbstlichen  Lichtern  noch  viel  kräftigere  Stufen  zeigen 
mögen. 


Nachtrag. 
I. 

Zu  der  Abhandlung  „Ueber  den  Mann  im  Monde"  sind  nach 
vollendetem  Druck  derselben  noch  folgende  Notizen  von  Peschels 
eigener  Hand  gefunden  worden.  Sie  mögen  nachträglich  hier  ihre 
Stelle  finden : 

Lubbock ,  Prehistoric.  times  2d  ed.  London  1869  p.  190: 
Der  Hase  wurde  von  den  alten  Briten  und  noch  jetzt  nicht  von 
den  Lappen  gegessen.  —  Nach  Burton  (First  Footsteps  p.  155) 
vermeiden  ihn  die  Somali  und  nach  Schlegel  enthielten  sich  seiner 
die  alten  Chinesen.  —  Hassencamp,  Globus  1873.  Bd.  XXIII. 
Nr.  9.  S.  139:  Ein  Mädchen,  das  bei  Mondschein  gesponnen 
hat,  wurde  hinaufgezogen  und  spinnt  jetzt  die  Herbstfäden  (nach 
deutschen  Sagen).  —  Die  Adschibwas  sagen:  Der  Mond  beisse 
denen  die  Finger  ab,  die  nach  ihm  zeigen.  —  Humboldt,  Monu- 
mens  fol.  159:  In  der  alten  chinesischen  x'Vstrologie  wird  im 
Monde  ein  Hase  auf  den  Hinterfüssen  dargestellt,  der  in  einem 
Geschirr  mit  einem  baton  umrührt,  als  mache  er  Butter.  —  Dr. 
R.  Hassencamp,  Globus  Bd.  XXIII.  Nr.  7.  1873.  Febr.  S.  109: 
Mondflecken  seien  Maria  Magdalena  und  ihre  Thränen,  nach  mit- 
telalterlicher Sage.  —  Buddhisten  auf  Ceylon  berichten,  ein  Hase 
sei  freiwillig  in  das  Feuer  gesprungen,  um  sich  dem  hungernden 
Buddha  als  Braten  zum  Präsent  zu  machen;  aus  Dankbarkeit  ver- 
setzte ihn  Buddha  in  den  Mond.  —  Die  Khasias  sagen:  Der 
Mond  entbrenne  in  Liebe  zur  Schwiegermutter  der  Sonne,  die 
ihm  dann  Asche  ins  Gesicht  werfe,  daher  die  Flecken.  Taylor, 
Anfänge  I.  349.  —  Die  Fanten,  von  einer  Halbblutsrace  in  Nor- 
wegen, kennen  die  Sage  von  dem  kämpfenden  Monde  und  dem 
Siege  desselben,  behaupten  aber,  es  seien  nur   Adam   und   Eva, 


Nachtrag.  t  ac 

deren  Bilder  man  im  Monde  sehe.  Globus  1874.  Bd.  XXVI. 
S.  185.  —  Ansichten  buddhistischer  Kalmüken:  Mond  a  globe 
of  crystal  filled  with  water  inhabited  by  luminous  Tingheri  (Ge- 
nien) ;  the  Spots  are  de  shadows  of  the  different  marine  animals 
in  the  universal  ocean.  —  Dr.  Miklucho  Maclay  war  unter  den 
Papuanen  der  Astrolabbucht.  Sie  hielten  ihn  für  den  Mann  im 
Monde  (Käram  tämo)  und  verehrten  ihn  standesmässig.  Nature 
Vol.  9.     Nr.  226.     Febr.  26.   1874.     p.  328. 

A.  d.  H. 


II. 

In  dem  Artikel  ,,Ueber  die  Aufgabe  einer  Geschichte  der  Geo- 
graphie" (Bd.  I.  S.  250)  heisst  es:  „Wir  besitzen  eine  Geschichte 
der  Geographie  von  Loewenberg,  die  nichts  gewährt,  als  eine 
nicht  einmal  aus  den  Quellen  geschöpfte  Geschichte  der  Ent- 
deckungen." —  Der  Herausgeber  liess  diese  Aeusserung  ohne 
weitere  Bemerkung,  ist  aber  jetzt  veranlasst,  hier  nachträglich  eine 
Stelle  aus  Peschels  späterer  strengen  aber  gerechten  Besprechung 
des  Buches  (Ausland  1867.     S.  93)  hervorzuheben.     Sie  lautet: 

,, Löwenbergs  Geschichte  der  Geographie,  die  zuerst  1839 
und  jetzt  nach  27  Jahren  in  neuer  Auflage  erschienen  ist,  giebt 
dem  Begriff  der  Geographie  seinen  weitesten  Umfang,  d.  h.  sie 
umfasst  das  ganze  Gebiet  der  Länder-  und  Wasserkunde ,  und  sie 
beginnt  ihren  ersten  Zeitraum  „von  Adam  bis  Herodot",  sie  ver- 
spricht auch  den  mathematischen  und  physikalischen  Theil  zu  be- 
handeln ,  und  reicht  herab  bis  auf  die  neuesten  Forschungen  in 
Afrika  und  Australien,  sowie  im  amerikanischen  Polarmeer.  Der 
Text  umfasst  nur  29  Bogen  Kleinoctav,  und  der  Verfasser  findet 
darin  noch  Raum  zu  weit  gesponnenen  Schilderungen  der  Aus- 
breitung des  Christenthums ,  des  Islams  und  der  Reformation, 
Betrachtungen  über  Völkerwanderung ,  Entwickelung  des  Handels 
und  der  Colonialpolitik ,  Entdeckung  von  Goldlagern  mit  Beigabe 
statistischer  Tabellen,  ja  sogar  zu  einer  umfassenden  Schilderung 
des  deutschen  Touristenwesens  im  17.  Jahrhundert  und  anderen 
Streifzügen  auf  das  Gebiet  der  Cultur-  und  Sittengeschichte.  Na- 
türlich können  dann  die  eigentlichen  geographischen  Begebenheiten 
bloss  flüchtig  berührt  oder  vielmehr  nur  angedeutet  werden.     Wer 

34** 


546  Nachtrag. 

rasch  Namen  und  Thaten  einer  mehr  als  zweitausendjährigen  Ge- 
schichte der  Wissenschaft  vor  sich  wie  die  Bilder  einer  Zauber- 
laterne vorüber  ziehen  lassen  will,  dem  gewährt  Löwenbergs  Buch 
«ohne  allen  anmasslichen  Schein  von  Gelehrsamkeit  eine  leich 
lesbare,  lebensfrische,  anschauliche  Uebersicht  der  Entwickelung 
der  geographischen  Disciplin»,  wie  der  Verfasser  sein  eigenes  Werk 
in  der  Vorrede  kritisirt." 

Ueber  die  Schilderungen  von  Humboldt  und  Ritter  heisst  es : 
,,Weit  besser  ist  die  Darstellung  Karl  Ritters  gelun- 
gen, der  dem  Verfasser  offenbar  näher  stand.  Einige  Belegstellen 
aus  den  Schriften  sind  so  glücklich  gewählt,  dass  sie  das  Streben 
dieses  grossen  Mannes  vollständig  vergegenwärtigen."   .... 

A    d.  H. 


Pierer'sclie  Hofbiiclulriickerei.     Steph.in  Geil)el  &  Co.  in  Alteiiburg. 


4 

I 


D        Peschel,  Oscar  Ferdinand 
20         Abhandlunen  zur  Erd- 
P4.7      und  Völkerkunde 


Bd,2 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 

UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


^3%**  f. 


2r  -^if^  »^^- 


z% 


^^MTSttk 

'^^^^ 

^'•Ji^ti 

M'- 


F 


^  ''«^;'s^ 


V". 


**• 


^ 


>^,itei 


^-Nj 


W 


mm